Kjell fand in dieser Nacht keine Ruhe.
Mit zunehmender Ungeduld wälzte er sich hin und her, versuchte es mit Lesen, gab nach zwei Seiten auf, suchte sein Heil in Atemübungen und presste sich schlussendlich das Kopfkissen auf das Gesicht, weil er sich daran erinnerte, dass das Inhalieren des eigenen Atems müde machte. Nichts von all dem brachte das Ersehnte.
Was war los mit ihm? Das Knarzen des alten Hauses und das ferne Rauschen der Brandung hatten ihn immer wohltuend in das Reich der Träume geschickt, doch diesmal erschien ihm jedes Geräusch ohrenbetäubend. Die Welt verschwor sich gegen ihn. Selbst das Fließen seines Blutes und das Trippeln der Mäuse auf dem Dachboden brachten ihn um den Verstand. Sein Herz schlug wie eine dröhnende Pauke, der Wind glich einem außer Rand und Band geratenen Chor, der aus Leibeskräften heulte.
Als die Wut ihn packte und jede Hoffnung auf Ruhe scheitern ließ, zog er seinen Morgenmantel an, schlich nach unten und verließ das Haus. Ein nächtlicher Spaziergang am Strand würde helfen, ganz sicher. Salzige Luft schlug ihm entgegen, als er die Tür öffnete. Kalt und wild, eben die Luft Nordirlands, voll von der Gischt des Meeres und der Frische des Grases.
Der Himmel war klar, das Meer ruhig. Warum hatte er im Bett den Wind so laut gehört? Es ging kaum mehr als eine Brise, die unter dem Dach spielte. Einbildung, nichts weiter. Vermutlich eine Täuschung seines übermüdeten Geistes.
Auf der morschen Hausbank, umringt von flackernden Kerzen und bunten Windlichtern, sah er seine Mutter sitzen.
Sie wandte sich ihm zu und lächelte.
„Kannst du auch nicht schlafen?“
„Nicht wirklich.“
Eine schmerzhafte Form von Glück krampfte sein Herz zusammen. Seine Mutter mit ihrem langen weißen Haar, die Bank, die Kerzen und das uralte Haus, das bereits Dutzende Generationen erlebt hatte: der Inbegriff von Heimat und von Nachhausekommen.
Aber für wie lange noch?
Kjell setzte sich neben Fae und musterte sie. Unfassbar, dass seine Mutter inzwischen auf die Achtzig zuging. Ihr Haar reflektierte das Mondlicht und floss über die mageren Schultern wie Spinnenseide. Er erinnerte sich, wie er als Kind mit ihr durch die Welt gereist war, zusammen mit ihrem Bruder und seinem hawaiianischen Freund. Mit einem Segelschiff waren sie von Insel zu Insel, von Küste zu Küste gezogen. Das Meer war seine Schule gewesen, fremde Kulturen seine Lehrer. Zumindest bis zu seinem fünfzehnten Geburtstag. Damals, als sie das Segelschiff verkauft hatten und sesshaft geworden waren, war er überzeugt gewesen, nie wieder ein Gefühl von Zuhause entwickeln zu können. Jetzt hingen überall im Haus Fotos aus dieser wunderbaren Zeit, und er konnte sie ansehen, ohne sich verloren zu fühlen. All die Zeugnisse unzähliger Erinnerungen, deren Gerüche und Geschmäcker noch auf seiner Zunge lagen. Nur ein Detail der Fotos verriet, das es nie ungetrübtes Glück gegeben hatte: Auf keinem Abbild lächelte Fae. Immer blickte sie mit dieser für sie typischen Wehmut an dem Fotografen vorbei, als wäre nur ihr Körper anwesend, aber nicht ihr Geist.
„Darf ich dich was fragen, Mum?“
„Sicher.“
„Fühlst du dich wohl hier? So allein und abgelegen?“
Sie sah ihn erstaunt an. „Aber natürlich. Ich könnte mich nirgendwo wohler fühlen. Sieh dich doch um.“
Kjell antwortete mit einem verständnisvollen Lächeln. Ja, dieser Ort war etwas ganz Besonderes. Das Wetter mochte rau sein, das Meer kalt und der Strand mit all seinem verrottenden Tang und dem Treibgut weit entfernt von makelloser Bilderbuchidylle, aber es lag etwas in der Luft. Eine Form von unverfälschter Freiheit. Der Blick ging weit über das Meer, das Licht am Abend und am Morgen war schwer von Melancholie.
Kjell liebte dieses Haus. Es war sein Refugium, sein Ruhepol. Der Ort, an dem sich seine Seele ausruhen konnte. Kam er hierher, verlangsamte sich alles auf wundersame Weise und rückte wieder an den richtigen Platz.
Jeden Tag schwamm er im Meer und wusste in jenen Augenblicken, in denen er durch das Wasser tauchte, dass er ganz er selbst war.
Absolut und vollkommen er selbst. Der Gedanke, all das übermorgen wieder hinter sich zu lassen, schmerzte mehr denn je.
„Ich möchte dir etwas schenken“, durchbrach Fae die Stille. „Ich habe lange auf den richtigen Zeitpunkt gewartet. Jetzt ist er gekommen.“
Sie griff neben sich, hob ein Buch auf und reichte es ihm.
Es war alt und abgegriffen. Der Geruch nach Staub und modrigem Papier stieg ihm in die Nase. Kjell nahm es entgegen und drehte es behutsam hin und her. Eine wunderschöne Frau zierte den Umschlag, nackt, mit vor der Brust gekreuzten Armen. Sie sah genauso aus wie seine Mutter in jungen Jahren. Offenbar befand sich diese Frau unter Wasser, denn die Strähnen ihres langen Haares umgaben sie wie wogender Tang.
Die Seele des Ozeans stand in geschwungenen, goldenen Buchstaben unter der Nixe. Kjell fühlte einen unbestimmbaren Stich im Herzen. Vielleicht war es der hingebungsvolle Ausdruck im Gesicht der Frau, die seiner jungen Mutter so ähnlich sah. Vielleicht das Wort Ozean, das wie drei streichelnde Wellen klang, die über die Zunge rollten und genau das vertonten, was das Meer in ihm auslöste: Sehnsucht.
Kjell drehte das Buch um und las den Klappentext:
„Geschichten aus den dunklen Tiefen der nordischen See
erzählen von einer todkranken Schriftstellerin,
die sich an die einsame Küste Nordirlands zurückgezogen hat.
Von einem geheimnisvollen Fremden mit dem Blut des Meeres in den Adern,
der dazu bestimmt ist, für die Liebe das größte aller Opfer zu bringen.
Sie erzählen die Geschichte eines weißen Narwals
und die einer Liebe, so tief wie der Ozean.“
„Es ist von dir?“
„Woher wusstest du das?“ Fae lächelte verschmitzt. „Ich habe ein Pseudonym benutzt.“
„Keine Ahnung, ist einfach dein Stil. Warum zeigst du es mir erst jetzt?“
Sie zuckte nur die Schultern, was er als Antwort akzeptieren musste. In den letzten Jahrzehnten hatte seine Mutter viele Bücher veröffentlicht. Verträumte Märchen, die Welten erschaffen hatten, in denen sich Magie mit grauer Realität vermischte, bis alles in geheimnisvollen Farben strahlte und man glaubte, überall lägen fantastische Rätsel. Fae hatte damit angefangen, als sie sesshaft geworden waren. Oh ja, es hatte eine Zeit gegeben, in der Kjell sie für diese Entscheidung gehasst hatte. An jenem Tag auf dem Indischen Ozean war alles perfekt gewesen. Aber wie aus heiterem Himmel war seine Mutter von einer unerklärlichen Angst überfallen worden. Hals über Kopf hatten sie im nächsten Hafen das Schiff verkauft und waren in eine Kleinstadt nahe Kincraig gezogen. Ohne Begründung, ohne ein erklärendes Wort. Er ging zum ersten Mal in seinem Leben in eine gewöhnliche Schule, abgeschnitten vom Meer und der Freiheit, die fünfzehn Jahre lang selbstverständlich für ihn gewesen war. Ein Teil von ihm, der mal stärker und mal schwächer war, warf ihr diese schrecklichen Jahre immer noch vor.
„Ich möchte, dass du es liest“, sagte Fae. „Bevor du gehst.“
„Bitte?“
„Du hast mich schon verstanden.“
„Aber das schaffe ich nicht. Morgen Abend muss ich wieder los.“
Sie zwinkerte ihm zu. Ein vergnügtes Funkeln huschte durch das klare Grün ihrer Augen.
„Dann solltest du schnell damit anfangen. Die Heldin heißt übrigens genauso wie ich. Eine Schriftstellerin namens Fae, die an der Küste Nordirlands lebt.“
„Klingt spannend, aber hättest du es mir nicht eher geben können? Ich bin kein Schnellleser wie du. Dafür werde ich ewig brauchen.“
„Ich hätte es dir eher geben können.“ Der Blick seiner Mutter verlor sich in der Ferne. Er mochte die Art, wie der Wind durch ihre silbernen Haarsträhnen strich, doch etwas in ihren Augen bereitete ihm Unbehagen. Sie sahen traurig aus, wie immer, aber im Gegensatz zu sonst lag ein Sehnen darin, dessen Stärke ihm nicht gefiel. „Vielleicht hätte ich es dir sogar eher geben müssen. Aber ich war zu feige. Bis heute. Weil ich jetzt weiß, dass es der richtige Zeitpunkt ist.“
„Was meinst du? Der richtige Zeitpunkt wofür?“ Faes Lippen zuckten, als wollte sie lächeln, doch der Ernst trug seinen Sieg davon. Wieder einmal verriet sie ihm ihre Gedanken nicht, zog sich in ihr Schneckenhaus zurück und ließ ihn im Unklaren. Kjell biss sich auf die Unterlippe. Diese Geheimniskrämerei machte ihn irgendwann noch wahnsinnig! Aber er konnte seiner Mutter nicht lange böse sein. Diese verletzliche, traurige Frau stampfte seine Wut mit einem einzigen Blick in Grund und Boden. Sie trauerte um verlorene Zeiten. Um ihre Jugend, um all die fernen Länder, die sie nie wiedersehen würde. Ein schmerzender Kloß brannte in seiner Kehle. Manchmal war seine empathische Gabe ein Fluch. Was brachte es, die Gefühle anderer Menschen zu spüren? Es war eine Last auf seinen Schultern, die er nie ablegen konnte.
„Er ruft mich“, flüsterte Fae. „Nach so langer Zeit hat er mich endlich gefunden. Heute ist meine Nacht. Nein, es ist unsere Nacht.“
„Mum?“
„Ja?“, gab sie zurück.
„Geht es dir gut?“
„Besser als je zuvor. Geh rein und lies. Du sollst endlich alles erfahren.“
Alles erfahren? Indem er einen ihrer Fantasyromane las?
„Von wem hast du gerade geredet? Wer ruft dich?“
„Lies das Buch. Wir haben nicht ewig Zeit.“
„Wie du meinst.“
Kjell erhob sich und sah noch einmal auf das Meer hinaus. An Schlaf war ohnehin nicht zu denken, also warum die Nacht nicht mit Lesen verbringen? Mondschein glänzte hypnotisierend auf dem tanzenden Muster der Wellen. Bald würde er wieder seiner Aufgabe folgen und für das kämpfen, was er über alles liebte. Seltsam, dass er dem Ozean nirgendwo so nahe war wie hier. Nicht einmal in der Weite des Pazifiks, nicht in den kalten Gewässern der Antarktis und nicht über dem schillernden Labyrinth des Great Barrier Reefs.
„Gute Nacht, Mum.“
Sie strahlte ihn glücklich an. „Gute Nacht, Kjell.“
Er schlurfte zurück in das Dachzimmer, schaltete die Nachttischlampe ein und streckte sich auf dem Bett aus, ohne seinen Morgenmantel auszuziehen. Er liebte dieses Ding, seit Fae es ihm zu seinem zwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Es war blau und schwarz gestreift, wies zahlreiche Löcher auf und würde erst zu Grabe getragen werden, wenn es ihm vom Körper bröckelte.
„Er passt so gut zu deinen schwarzen Haaren und den blauen Augen“, betonte seine Mutter immer wieder. „Als wäre er nur für dich gemacht.“
Kjell strich über den fadenscheinigen Ärmel und dachte daran, dass er äußerlich nicht nennenswert gealtert war, seit er dieses Kleidungsstück vor zweiundzwanzig Jahren geschenkt bekommen hatte. Dieser Mantel hingegen schon. Vielleicht sog er das Alter an seiner statt in sich auf, wie das Bildnis des Dorian Gray. Ein Unsterblichkeits-Morgenmantel.
Nachdem Kjell ein paar Mal am Buch geschnuppert hatte – es roch alt, modrig und nach irgendeinem Frauenparfüm – schlug er es auf und blätterte flüchtig hindurch. Kleine Zeichnungen leiteten die Kapitel ein, und als er das Bild einer wunderschönen, weißen Flosse sah, wurde ihm eigenartig zumute. Eine Unruhe rumorte in ihm, gefolgt von dem Gefühl, irgendetwas tun zu müssen. Oder nach etwas suchen zu müssen.
Wann hatte seine Mutter das Buch veröffentlicht?
Er suchte nach der entsprechenden Information, fand sie ganz am Anfang und stutzte. Vor genau zweiundvierzig Jahren im Monat seiner Geburt.
Noch einmal steckte er die Nase zwischen die Seiten. Es war, als atmete er Vergangenheit ein. Eine verborgene Etappe im Leben seiner Mutter, ihre Gefühle und Träume. Die Zeit verrann so schnell, wenn man glücklich war. Sie floss wie der Wechsel der Gezeiten, doch im Gegensatz zu Ebbe und Flut kehrte das menschliche Leben nicht ewig wieder.
Befallen von einer seltsamen Unruhe, begann Kjell zu lesen.
Die Seele des Ozeans
Copyright © 2013
Astrid Behrendt
Rheinstraße 60
51371 Leverkusen
Web: www.drachenmond.de
E-Mail: info@drachenmond.de
Satz & Layout: Martin Behrendt, Leverkusen
Lektorat: Anna Milo, Karlsruhe
Umschlagdesign: Gina Brooks, Melbourne
ISBN: 978-3-95991-005-7
ISBN der Druckausgabe: 978-3-931989-82-8
Alle Rechte vorbehalten
Als Fiona das Leuchten im Meer sah, wusste sie plötzlich, warum sie mitten in der Nacht hierhergekommen war. Das Licht war gespenstisch und wunderschön, bildete mal eine Wolke, mal ein vielarmiges Wesen, das anmutig durch das dunkle Wasser glitt. Genau auf sie zu.
Komm, komm, komm …, schien es sie unhörbar zu rufen.
Fiona spürte die Kälte des Windes, der an ihrem Nachthemd zerrte, nicht mehr. Sie schlang beide Arme um ihren prall gewölbten Bauch, tat einen Schritt in das Meer hinein und spürte, dass es richtig war. Hier zu sein. Jetzt. Und in das Licht zu gehen.
Das Kind in ihrem Leib bewegte sich. Sie spürte seine zarten Tritte intensiver als je zuvor, auch seinen sich windenden Körper und selbst seinen Herzschlag, der sich in vollkommener Harmonie zu dem Pulsieren in ihrem Brustkorb befand. Sie waren eins und würden es immer sein.
Hungrig leckte der Meeresschaum an ihren Füßen.
Komm, komm, komm …
Die Wellen umspülten Fionas Oberschenkel, dann ihren Bauch. Silberreflexe tanzten auf den Wellen. Das Licht des vollen Mondes, der über dem Horizont leuchtete, ergoss sich wie flüssiges Metall auf das Meer. Ihr Kind bewegte sich noch heftiger, als wolle es hier und jetzt hinaus und in das Wasser tauchen. Sie dachte daran, wie ihr Sohn gezeugt worden war, vor neun Monaten in einer ganz ähnlichen Nacht an diesem Strand, als Angus betrunken und sie hoffnungslos romantisch gewesen war. Fiona wusste, dass es in jener Nacht passiert war.
In dieser einen und in keiner anderen. Oder wenigstens hoffte sie es, denn es waren die schönsten Momente ihres Lebens gewesen.
„Wenn es ein Junge wird“, hatte sie in sein Ohr geflüstert, „nennen wir ihn Kjell.“
„Wieso Kjell?“, fragte Angus. „Was heißt das? Ist das irisch?“
„Keine Ahnung. Ich finde den Namen einfach schön.“
„Und wenn wir ein Mädchen bekommen?“
Sie hatte gelacht, sich noch fester an ihn geschmiegt und ihre Beine um seine Hüften geschlungen. „Bekommen wir aber nicht. Ich weiß es.“
Komm!
Fiona blickte sich noch einmal um. Über ihr auf den Klippen stand das Haus, in dem sie geboren worden war. Seit vielen Jahren lebten sie und Angus gemeinsam darin. Es war alt, voller Geschichten und Schicksale. Den Steinen, aus denen es vor Jahrhunderten gebaut worden war, hatten die Elemente ihr wahres Gesicht gegeben: moosige, verwitterte Mienen, die sich mit Erinnerungen vollgesaugt hatten.
Das Haus hatte ihre Geburt gesehen und würde ihren Tod sehen. So wie es viele Geburten und Tode gesehen hatte. Nirgendwo waren sich beide Welten so nah wie auf dieser Insel. Nirgendwo umarmten sie sich so innig.
„Ich liebe dich“, flüsterte sie. „Vergiss mich nicht.“
Komm … komm zu uns …
Das Licht war fast bei ihr. Als es einen leuchtenden Arm nach ihr ausstreckte, sah Fiona, dass sich die Wolke aus winzigen Wesen zusammensetzte. Jedes einzelne glomm wie ein kleiner Stern, und als sie sich von ihnen umhüllen ließ, fühlte es sich an, als tauchte sie in die Seele des Ozeans ein. Zwei Schritte. Drei Schritte. Endlich umhüllte der Glanz ihren ganzen Körper.
Ich bin unter Wasser. Ich kann nicht mehr atmen.
Sie dachte es ohne jede Furcht, denn die hauchzarten Wesen sponnen sie warm und behütend ein. Während Fiona in die Tiefe sank, konnte sie sehen, wie sich ihr Körper in silberblaues Licht verwandelte. Ihr Bewusstsein schwand.
Die kristallreine Lebendigkeit, die von den Wesen ausging, wurde nach und nach ihr ganzes Sein. Alles drehte sich in einem endlosen Kreis aus Verlust und Wiederkehr. Die Strömungen des Meeres, das Leben und der Tod, selbst das Universum. Fiona konnte es spüren, die unveränderliche Kraft aller Existenzen, die wie der Schlag eines einzigen riesigen Herzens war, aus dem sie alle kamen und in das sie alle zurückkehren würden. Und während sie sich auflöste und ein Teil der Seele wurde, die sie umhüllte, begriff sie es. Das einzige und große Geheimnis. Die Frage, die sie sich unzählige Male in ihrem Leben gestellt hatte: Wohin gehen wir? Nein, sie empfand kein Bedauern.
Das Gefühl, etwas Furchtbares sei geschehen, ließ Angus aus dem Schlaf aufschrecken. Sein Blick huschte hin und her, während er versuchte, den Nachhall eines Albtraums abzuschütteln. Doch er griff nur noch fester zu. Das Bett neben ihm war leer – und Fiona fort. Genauso wie in seinem Traum. Angus dachte nicht einmal daran, Morgenmantel und Schuhe anzuziehen. In kurzer Schlafanzughose rannte er aus dem Haus, stürmte die Klippen entlang und schrie sich die Seele aus dem Leib.
„Fiona! Wo bist du? Fiona!“
Sie war merkwürdig gewesen in den letzten Tagen. Launisch und ruhelos. Wahrscheinlich lag es an dem Kind, das nächste Woche zur Welt kommen würde. Ausgerechnet jetzt, wo sie Schutz besonders nötig hatte, fiel ihr dieser Unsinn ein. Nächtliches Schwimmen im eiskalten Meer. Stundenlange Wanderungen, die ihre Lippen blau verfärbten und ihre Zähne klappern ließen. Fast allnächtliches Schlafwandeln.
„Fiona!“
Bestimmt war sie unten am Strand. In den letzten beiden Wochen hatte er sie achtmal dort aufgelesen, schlotternd und durchgefroren, aber mit einem Strahlen in den Augen, das ihm eine Heidenangst eingejagt hatte.
„Fiona!“
Angus stolperte mit rudernden Armen den Hang hinunter, der in einem halbmondförmigen Sandstrand endete. Es war der Lieblingsplatz seiner Frau. Schon als kleines Kind hatte sie dort zwischen Steinen, Tang und all dem verrottendem Zeug gespielt, das der Ozean anspülte. Mondschein übergoss die schroffe Küste mit kaltem Licht.
Doch Fiona war nirgendwo zu entdecken. Das letzte Mal hatte sie wie eine Nixe mitten in einem Haufen aus angespültem Seetang gesessen. Die Nacht davor war sie ihm auf wackeligen Beinen entgegengekommen. Aber jetzt sah er nichts.
„Fiona! Fiona!“
Er taumelte am Saum der Brandung entlang. War sie noch dort draußen? Versteckte sie sich vielleicht oder war sie längst tot? Nein, Unsinn. Er würde es spüren, wenn ihr etwas widerfahren wäre. Aber was spürte er eigentlich? Angst. Schreckliche Panik und Kälte, die nichts mit dem Wind zu tun hatte.
Ein Leuchten etwa fünfzig Meter vor ihm zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Mit polterndem Herzen rannte er darauf zu. Nie zuvor hatte er so etwas gesehen. Zuerst erinnerte es ihn an eine riesige, gestrandete Leuchtqualle.
Das Ding hatte die Größe eines Schweinswals, aber es war unförmiger als ein solches Tier und glomm in gespenstischem Blau, wie das Meer in besonders warmen Sommernächten, wenn Schwärme winziger Tiere in der Brandung leuchteten.
Noch ehe Angus Genaueres erkennen konnte, spürte er, dass etwas mit diesem Ding nicht stimmte. Es war lebendig. Es pulsierte, bewegte sich und zuckte wie ein sterbendes Tier. Das Gewebe, durchzogen von silbernen Adern, schien etwas zu umschließen.
Etwas, das aussah wie …
Angus fiel auf die Knie. Nein! Nein! Nein!
Er griff in das gallertartige Ding hinein, wollte es mit seinen Fingern zerfetzen, wollte Fionas Leib befreien und hinausziehen, doch das Gewebe regenerierte sich, sobald seine Nägel Furchen hineinrissen. Wo er es zerstörte, fügte es sich wie fließendes Wasser neu zusammen. Wo er Stücke herausriss, füllten sich die Löcher binnen weniger Sekunden mit glimmendem Gewebe. Was zur Hölle war das?
„Fiona!“ Angus konnte nicht schreien. Er wimmerte und schluchzte, keuchte und flüsterte.
„Oh Gott! Was ist das? Was ist passiert? Fiona! Ich hole dich da raus! Ich helfe dir. Halte durch!“
Wie von Sinnen riss und zerrte er an dem Kokon. Er musste sie befreien! Er musste! Glühende Klumpen zähen Schleims flogen zu allen Seiten, doch das Gewebe entstand schneller neu, als er es zerstören konnte. Es wurde heißer, immer heißer, bis es sich anfühlte, als tauchte er seine Hände in die Nesseln einer Feuerqualle. Er würde sie beide verlieren! Seine Frau und sein Kind!
„Fionaaaa!“
Ihr Körper begann zu verblassen. Die Augen waren geöffnet, und Angus bildete sich ein, dass sie sich bewegten und seinen Blick suchten. Ihr Gesicht verschwand im glühenden Gewebe, dann ihre Brüste, ihre Arme, ihre Hände. Die Frau, die er über alles liebte, verschwand vor seinen Augen. Großer Gott, dieses verdammte Ding fraß sie bei lebendigem Leib!
Noch einmal bot er all seine Kraft und Verzweiflung auf, doch Fionas Körper wurde unaufhörlich und immer schneller von dem Gallertwesen aufgelöst. Das Leuchten nahm an Kraft zu. Es wurde so hell, dass Angus geblendet wurde. Er schlug die Hände vor seine Augen und spürte, wie das brennende Licht seinen Körper überzog. Eine Explosion aus unerträglichem Glanz. Er verlor die Besinnung.
Als Angus Bewusstsein wiederkehrte, war alles dunkel.
Nein, nicht ganz dunkel. Vor ihm schimmerte ein kleiner Körper. Ungläubig rieb er sich die Augen. Das Gallertwesen war zu einer schleimigen, silberblauen Pfütze zerflossen, in der ein Baby lag.
Fionas Kind!, schrie sein erster Instinkt. Dein Kind! Rette es!
Aber der neugeborene Junge, der vor ihm lag, überzogen von Resten aus schimmerndem Schleim, erfüllte ihn mit Entsetzen. Seine Haut schimmerte wie Mondlicht. Ein silbriger Flaum bedeckte den Kopf, die Augen waren von so hellem Türkis, das ihr Anblick kaum zu ertragen war.
Hilfesuchend starrten sie zu ihm hinauf. Was, bei allen Höllengeistern, war das für ein Geschöpf?
Der Körper des Kindes, seine Hände, sein Gesicht – all das war zu zierlich, zu perfekt. Nicht die Formen eines Babys. Und wie es ihn anblickte. Schweigend und wissend, bohrend geradezu, sodass Angus sich fühlte, als müsse er hier und jetzt alle Sünden offenlegen, die er je begangen hatte.
Ein Teil in ihm wollte nach dem Kind greifen und es an sich drücken, um wenigstens etwas von Fiona festzuhalten, aber der andere ekelte sich davor. Dieses Wesen hatte seine Frau getötet. Es war schuld an ihrem Tod, und es war schuld am Tod ihres gemeinsamen Sohnes. Angus glaubte, den Verstand zu verlieren. Er wiegte sich vor und zurück, vor und zurück. Immer wieder. Vor und zurück.
Nimm ihn an!, verlangte seine Vernunft. Er ist alles, was dir bleibt. Nimm ihn. Fiona hätte es so gewollt. Lass ihn nicht allein.
Das Baby verzog sein Gesichtchen zu etwas, das wie ein Lächeln aussah. Angus konnte kaum noch atmen vor Schmerz. Wieder zog sich ein dunkler Vorhang vor seinen Augen zu, und dann sah er seinen eigenen Händen dabei zu, wie sie sich zitternd ausstreckten. Sie überbrückten die Distanz zwischen ihm und dem Wesen und berührten es. Allmächtiger, wie kalt es war. Er schmiegte seine Hände um den silberweißen Leib, hob es hoch und legte es an seine Brust.
Eisig. Fremd. Unheimlich.
Angus fühlte sich wie in einem Wintersturm gefangen, der eine Schicht aus Frost um alles Lebendige legte. Nein, er konnte keine Liebe empfinden. Er konnte außer bitterer Qual überhaupt nichts empfinden. Fiona war fort.
Nie wieder würde er sich lebendig fühlen, und doch zwang ihn eine höhere Macht dazu, das Kind zu umarmen, ihm von seiner Wärme abzugeben und es hinauf zum Haus zu tragen. Er legte es in die hölzerne Wiege, die er selbst gebaut hatte, hüllte es in zwei Decken und gab ihm eine der Flaschen zu trinken, die Fiona gekauft und im Küchenschrank gehortet hatte.
Unablässig ruhte der kristallhelle Blick des Kindes auf ihm. Angus bildete sich ein, Dankbarkeit darin zu sehen.
Dann wieder war es ihm, als lauere in diesen Augen nichts als heimtückische Bosheit und Kälte, und nur einen Moment später empfand er das Baby als das reinste, wunderschönste und vollkommenste Wesen, das je auf Erden gelebt hatte.
Es dauerte nicht lange, bis es die Flasche leer getrunken hatte.
Angus stellte sie auf den Boden, zog einen Stuhl an die Wiege und sank darauf nieder. Verzweiflung begrub ihn wie ein Felsbrocken unter sich. Fiona war tot. Die Liebe seines Lebens war tot. Sie würde nie wieder zurückkehren.
„Kennst du Lir?“, murmelte er mit gepresster Stimme. „Den Gott des Meeres? Vielleicht sollte ich dich nach ihm benennen. Die Leute hier erzählen sich gerne Geschichten vom Tod. Überall ist der Tod. In diesem vermaledeiten Land hausen mehr Geister als lebendige Wesen.“
Wer ist Lir?, schien ihn der Blick des Kindes zu fragen. Erzähle mir von ihm.
Und Angus gehorchte. Als könnte ihn seine Stimme davor bewahren, den Verstand gänzlich zu verlieren.
„Vor langer Zeit heiratete Lir die wunderschöne Aobh. Vier Kinder brachte sie zur Welt, doch als sie dem letzten das Leben schenkte, holte sie der Tod und entriss sie den liebenden Armen ihres Mannes. Nach langer Trauer verliebte sich Lir erneut. In Aobhs Schwester Aoife, die seiner toten Frau sehr ähnlich sah. Als Aoife aber kinderlos blieb, trachtete sie in ihrer Eifersucht danach, die Kinder ihrer Schwester zu töten. Sie wusste, dass Lir sie nicht um ihretwillen liebte, sondern dass er Aobh in ihr sah. Die einzige Frau, der je sein Herz gehört hatte.
Ihr Zorn war furchtbar, doch bei aller Wut brachte sie es nicht über sich, den Kindern die Kehle durchzuschneiden. Stattdessen verwandelte sie sie in vier wunderschöne Schwäne. Neunhundert Jahre lang irrten die Unglücklichen ruhelos umher, bis der Fluch seine Macht verlor und sie freigab. Aber in jenem Augenblick, da sie zu Menschen wurden, stürzten all die verstrichenen Jahrhunderte, die sie als Schwäne verbracht hatten, auf sie ein. Die Verfluchten zerfielen zu Asche und wurden vom Wind in das Meer geweht, wo ihre Seelen noch heute umherirren. In besonders schönen Vollmondnächten hörst du ihr Klagelied, denn dann ist ihr Schmerz am größten.“
Angus hörte seine Worte in der Stille des Hauses verklingen. Ein solch hasserfüllter Schmerz loderte in ihm auf, dass er glaubte, innerlich zu verbrennen. Er fuhr hoch, stolperte von der Wiege weg und aus dem Zimmer hinaus. Nein, er ertrug es nicht, neben dem Mörder seiner Frau zu sitzen! Dieses Ungeheuer war nicht sein Kind. Niemals! Er sollte es töten. Es ins Meer werfen und dann seinem eigenen Leben ein Ende bereiten.
Kaum warf er die Tür ins Schloss, hörte er das Baby schreien, doch es war ihm gleich.
Nie wieder …
Diese beiden schrecklichen Worte beherrschten all sein Denken.
Nie wieder …
Oh Gott, Fiona, ich dachte, dass wir zusammen alt werden.
Mit letzter Kraft holte er eine Whiskeyflasche aus der Vitrine, fiel in einen Sessel und kippte das brennende Zeug seine Kehle hinunter. Es dauerte viel zu lange, bis sein Bewusstsein endlich verschwamm.
Über ihm im Zimmer weinte das Kind. In seinem Wimmern lag etwas so klägliches, dass Angus hastig weitertrank, um es nicht mehr zu hören. Endlich, als die Flasche leer war, fiel Schwärze über ihn her.
Als Kjell einen Finger zwischen die Seiten legte und das Buch zuklappte, rumorte eine dumpfe Wut in seinen Eingeweiden. Er verabscheute Angus Handeln, und doch spürte er sein Leid, schmeckte seine Verzweiflung wie einen bitteren Pelz auf seiner Zunge und wusste, wie hilflos er sich fühlte.
Empathie selbst für fiktive Buchfiguren.
Aus diesem Roman stammte also sein Name. Ein seltsames Gefühl. Fast war es, als lese er eine Geschichte über sich selbst. Im Altdänischen bedeutete KjellQuelle, das hatte Fae ihm verraten. Auf Norwegisch wiederum umschrieb es ein Opfergefäß. Aber warum war ihre Wahl ausgerechnet auf diesen Namen gefallen?
Eine Quelle und ein Opfer.
Er war sich sicher, dass eine tiefere Bedeutung dahinter lag. Morgen früh würde er Fae danach fragen, obwohl die Wahrscheinlichkeit groß war, dass er nur Schweigen oder einen undurchschaubaren Blick ernten würde. Gedankenverloren strich er über das Buch und dachte an das Gefühl, verlassen worden zu sein. Seine längste Beziehung hatte neun Monate gedauert. Die Liebe zwischen der deutschen Biologiestudentin Emma und ihm war gewachsen, wie eine Zelle zu einem Kind heranwuchs.
Aber dann, im neunten Monat, war alles vorbei gewesen. Emmas Liebe war nicht stark genug gewesen, sie über die drei Wochen seiner Abwesenheit hinweg zu trösten. Er war von seiner Reise zum Great Barrier Reef zurückgekehrt, um eine leere Wohnung vorzufinden. Mit schwarzem Stift hatte sie das Wort „Sorry“ an der Pinnwand am Kühlschrank hinterlassen. Mehr war ihm nicht von Emma geblieben.
Noch am selben Tag hatte er unter ihre Worte ein „Nevermore“ gekritzelt.
Kjell blickte nach links, wo ein großer Spiegel an der Wand neben dem Kleiderschrank hing. Er beobachtete sich selbst, wie er auf dem Bett hockte, den Rücken gegen das Gestell gelehnt, die Beine angezogen, das Buch auf den Knien.
Emma hatte geschworen, er sei ein Kandidat für eine steile Modelkarriere, aber Kjell war sich sicher, dass sie maßlos übertrieben hatte. Er fand seine schwarzen Locken zu wirr und widerspenstig, seine Haut zu blass und seine Hände zu zierlich. Lieber hätte er die schmalen Lippen seiner Mutter geerbt, und mit diesen großen dunkelblauen Augen würde er es nie schaffen, verwegen dreinzublicken. Eher brachte er den Hundeblick zur Perfektion.
Kjell zwinkerte sich selbst zu, bleckte die Zähne und drehte sein Gesicht hin und her. Mit welchem deutschen Schauspieler hatte Emma ihn nochmal verglichen? Mit dem jungen … wie hieß er noch gleich? Ah ja, der junge Horst Buchholz. Na, wenn sie meinte.
So sehr Emmas Entscheidung auch geschmerzt hatte, ein Verlust wie der im Buch war um vieles schlimmer. Angus hatte Fiona geliebt, und sie hatte ihn geliebt. Unzählige gemeinsame Träume und Pläne waren auf einen Schlag vernichtet worden. Ihm war wenigstens die Gewissheit geblieben, dass Emma nicht sonderlich unter ihrem Verlust gelitten hatte. Immerhin war es ihre freie Wahl gewesen.
„Mutation“, murmelte Kjell in Gedanken an die sonderbare Verwandlung. „Faszinierend, Mum. Vermutlich stellt das Gallertwesen eine Kolonie aus symbiotisch lebenden Einzellern dar, die die menschliche DNA umschreiben.“
Er suchte eine neue Position, drehte sich auf die Seite und stützte sich mit dem Ellbogen ab. Auf der nächsten Seite stand geschrieben:
Kapitel II – Kjells Befreiung.
Das Raunen des Windes und das beruhigende Ticken der Wanduhr in den Ohren, blätterte er um und las weiter.
Ein Geräusch riss ihn aus seinem Whiskeyschlaf. Es war so leise, dass er zuerst glaubte, es sei nur der Wind, der um das Haus strich. Doch dann wiederholte es sich. Er hörte leises Knarzen unter vorsichtigen Schritten. Jede Stufe der Treppe gab ihren eigenen Laut von sich, und deshalb sah Angus vor seinem inneren Auge, wie Kjell zu fliehen versuchte.
Dieser dumme, verfluchte Junge!
Augenblicklich war er hellwach und fuhr im Bett hoch. Eine Klinge schien sich in seine Schläfe zu bohren und auf der anderen Seite wieder auszutreten. Bei allen Teufeln, diese Kopfschmerzen brachten ihn nochmal um. Schlimmer waren nur noch die Schmerzen in seinen Gelenken, die zu toben begannen, kaum dass er sich bewegte. Verflucht und zugenäht! Hatte er dem Bengel nicht genug gedroht? Hatte er ihm nicht genug grauenvolle Geschichten über das erzählt, was da draußen auf ihn wartete? Wut klärte seine whiskeytrunkenen Gedanken. Sie steigerte sich zu einem Zorn, in dem nur noch ein Wissen klar hervortrat: Dieses Wesen hatte Fiona getötet, und es versuchte, ihn an der Nase herumzuführen. Angus sprang aus dem Bett und stürzte zur Tür hinaus. Ein Vorschlaghammer ersetzte die Klinge und drosch mit brachialer Gewalt auf seinen Kopf ein, gleichzeitig bohrten sich rostige Nägel in seine Knie. Die Qual goss Öl in das Feuer seines Zorns. Drei torkelnde Schritte trugen ihn durch den engen Flur, vier weitere hinüber zu Kjell, der seine Heimlichkeit gegen verzweifeltes Rütteln austauschte.
„Nutzloser Bengel!“ Angus packte den Jungen, schleuderte ihn herum und schlug ihm mitten ins Gesicht. Kjell ging zu Boden. Schmerz verzog die eisigzarten Züge. Im kristallenen Türkis seiner Augen blitzte die Wut. Gedemütigt kauerte der Junge vor ihm auf den alten Holzdielen und zitterte. Das braune Hemd, das er ihm gegeben hatte, war viel zu groß und ließ ihn zusammen mit den nackten Beinen und Füßen schrecklich verletzlich aussehen. Einen Moment lang klärte sich die Wut in Angus’ Gehirn.
Heilige Mutter Gottes, dieses Wesen war so schnell gewachsen, weitaus schneller als jeder Mensch. Inzwischen sah er aus wie ein Dreizehnjähriger, obwohl er ein kleines Kind hätte sein müssen. Sein Anblick erschreckte Angus jeden Tag aufs Neue.
Kjells Haut war wie dünnes Eis, auf dem sich Mondlicht spiegelt. Sein schulterlanges Haar schien aus Silberfäden zu bestehen und seine Augen aus türkisfarbenem Kristall. Er war so hell und rein, dass es im Herzen wehtat, ihn anzusehen. Wie ein Geschöpf aus frostigem Winterlicht.
Immer, wenn Angus ihn ansah, kamen ihm solche komischen Vergleiche in den Kopf. Tränen brannten in seinen Augen. Was hatte er nur getan? Niemals würde er in den Himmel kommen, wenn er diesem Jungen wehtat. Fiona würde es das Herz zerreißen, könnte sie ihn so sehen, und vielleicht sah sie ihn auch. Dort oben, vom Paradies aus.
Sie würde sagen: Angus, warum bist du nicht mehr der Mann, den ich liebte? Dieses Kind ist mein Fleisch und Blut. Ich habe es geboren. Warum tust du ihm weh?
Er nahm Kjell bei den Schultern und zog ihn behutsam auf die Beine. Der Schmerz in seinem Kopf pochte und hämmerte, als er den Jungen umarmte. Oh, er war solch ein Schwächling. Solch ein unbeherrschter Idiot. Schlaff hing Fionas Sohn in seinen Armen, als sei kaum mehr Leben in ihm. Doch der Atem, der sich in rhythmischer Abfolge gegen Angus’ Brust drückte, war kraftvoll und ruhig.
„Es tut mir leid.“ Das silberne Haar streifte seine Lippen, während er sprach. Es war viel zu weich und roch nach Meer, obwohl er den Jungen nicht einmal ans Wasser gelassen hatte.
„Das ist dir doch klar, oder? Manchmal weiß ich nicht, was ich mache. Verzeih mir.“
Kjell antwortete nicht. Angus schob ihn ein Stück von sich weg, hielt ihn mit ausgestreckten Armen an den Schultern fest und sah ihm in die Augen. Im nächsten Moment glaubte er, in türkisfarbene Abgründe zu stürzen. Er fiel in ein lichterfülltes Meer, das keinen Grund besaß. Die Helligkeit war wunderschön, und doch empfand er nichts als nackte Panik. Ihm wurde heiß. Sein Körper schien zu brennen und sich aufzulösen. Hatte sich so Fiona gefühlt?
Ein Schrei krallte sich in Angus’ Kehle fest, dann endete das Gefühl so schnell, wie es gekommen war. Jetzt war er es, der zitternd in den Armen des Jungen hing. Heilige Mutter Gottes, was war das gewesen?
Geschah das, wovor er sich all die Jahre gefürchtet hatte?
„Ich vermisse sie so sehr“, kam es unkontrolliert über seine Lippen. „Es ist nur das. Ich vermisse sie so furchtbar. Wir hatten so viel vor. Wir hatten so viele Träume. So viele Pläne. Und dann war es einfach vorbei. Ich wollte meiner Familie die Welt zeigen. Ich wollte eine Zukunft mit euch. Alles war in meinem Kopf. Ich habe alles ganz genau vor mir gesehen, und dann ist es einfach vorbei. Bei Gott, das Schicksal ist ein Scheusal. Aber ich darf es nicht an dir auslassen.“
In Kjells Blick lag ein Mitgefühl, das er nicht verdient hatte. Aber da war auch noch etwas anderes. Etwas Fremdartiges, das jeden Augenblick hervorbrechen konnte. Angus’ Knie wurden weich. Diese Macht durfte niemals geweckt werden. Aber was sollte er tun? Wie sollte er ihn kontrollieren? Der Junge wurde so schnell größer und stärker.
„Ich will dich nur beschützen“, drang er auf ihn ein. „Die Welt dort draußen ist schlecht. Sie würde dich vernichten. Komm, ich zeige es dir.“
Er zog die Kette mit dem Schlüssel unter seinem Schlafanzugoberteil hervor, streifte sie über seinen Kopf und schloss auf.
Kjells Blick wurde ungläubig, als sich die Tür vor ihm öffnete.
„Du lässt mich raus?“
Die Stimme des Jungen klang wie kühler, streichelnder Samt. Nein, wie raunender Meeresschaum, wenn er ganz sanft über die Haut streicht. Sie war fast noch unheimlicher als sein Blick.
„Ich will dir etwas zeigen“, sagte Angus. „Aber du musst mir schwören, dass du bei mir bleibst. Ich habe nur noch dich. Ohne dich sterbe ich. Weißt du das? Ich ertrage es nicht, wenn du auch noch weggehst.“
„Aber er ruft mich, Vater.“
Ein Eispanzer schloss sich um Angus’ Herz. Die Wut wollte wieder ihre Krallen ausfahren, doch er drängte sie zurück.
Gottlob hatte er es diesmal bei vier Drinks belassen. Zwei Gläser mehr, und er hätte wieder die Kontrolle verloren.
„Wer ruft dich?“
„Der weiße Narwal.“
„Unsinn. Es gibt hier keine Narwale. Die leben im Norden, mein Junge, wo es nur Eis gibt. Außerdem sind sie grau, nicht weiß.“
Kjell schüttelte den Kopf. Sein kristallener Blick wurde hart. „Er ist hier und ruft mich. Ich soll zu ihm kommen. Wir sind aus derselben Seele geboren.“
Übelkeit stieg in Angus auf. Er wollte solche Dinge nicht hören. Er wollte nicht über solche Dinge reden, zum Teufel!
„Welche Seele? Was meinst du?“
Aber er kannte die Antwort bereits. Das magische Leuchten. Das Licht, in dem die ganze Macht des Meeres lag. Das Strahlen, das Fionas Körper aufgelöst und sie ihm entrissen hatte.
„Die Seele des Ozeans“, flüsterte Kjell. Er schloss die Augen und hielt das Gesicht in den Wind, der durch die offene Tür wehte. Nie hatte Angus eine solche Sehnsucht erblickt wie jene, die das Gesicht des Jungen erfüllte. Kjell zitterte. Eine Träne rann ihm aus dem Augenwinkel. Dort hinten in der Dunkelheit glänzte das Meer im Mondlicht, seine Wellenkämme leuchteten in der Nacht wie tanzende Gespenster. Der Körper des Jungen spannte sich an, als würde er jeden Augenblick loslaufen.
„Er ruft mich. Die ganze Zeit. Ich muss zu ihm.“
„Nichts wirst du.“ Angus packte Kjells Handgelenk und drückte so fest zu, dass der Junge leise stöhnte. „Hast du eine Ahnung, was da draußen auf dich wartet?“
„Nein.“ Das Wort klang wie ätzendes Gift. „Ich habe dieses Haus noch nie verlassen. Du lässt mich nie raus.“
„Aus gutem Grund.“ Angus ging nach draußen und schleifte Kjell hinter sich her. Wieder verbrannte der Zorn jeden klaren Gedanken. „Ich zeige dir, warum ich dich nicht rauslasse. Du kannst Gefühle empfangen. Du weißt immer, wie es mir geht. Du sprichst die Worte aus, bevor ich sie sagen kann. Du spürst viel mehr als jeder Mensch.“
Kjell blieb stumm. Am liebsten hätte Angus diese ekelerregende Reinheit aus seinem Gesicht geschlagen. Er wollte ihn beschmutzen, ihn leiden sehen, ihn bestrafen für all das, was er ihm angetan hatte. Ihm und Fiona. Kjells Anblick war ein hässliches, schmutziges Messer in seinem Herzen. Die Augen des Jungen leuchteten angesichts der nächtlichen Landschaft. Ja, sie leuchteten genauso machtvoll wie das Zeug, das Fiona getötet hatte. Angus packte noch fester zu, hörte mit tiefer Befriedigung Kjells Schmerzenslaut und zerrte ihn weiter, über die grasbewachsenen Hügel hin zu der Ruine. Der Himmel war klar, der Mond war fast voll. Angus hasste die Art, wie er die Hügel beleuchtete, denn es erinnerte ihn an die vielen nächtlichen Spaziergänge, die er zusammen mit seiner Frau unternommen hatte.
Meistens waren sie den Weg gegangen, den sie jetzt einschlugen, um später zu den Klippen hinüberzuschwenken und ihren Ausflug mit einer kuscheligen Decke am Strand zu beschließen.
Mondschein verwandelte die vor ihnen auftauchende Ruine in das Tor zu einer anderen Welt. Fiona hatte diesen Ort geliebt. Der Wind trug den Duft nach wilden Rosen in sich, strich um die efeuüberwucherten Mauern und erzählte jedem, der zuhören wollte, von den grausamen Schicksalen der einstigen Bewohner. Angus ließ sich nicht durch die Blumen täuschen, die sich vor der Dunkelheit verschlossen hatten. Die Natur spross und grünte in verschwenderischer Fülle, als seien verwehtes Leid und alter Tod ein guter Dünger für das Leben.
Angus zog Kjell durch einen Eingang, der fast völlig von Efeu überwuchert war. Eine Halle öffnete sich vor ihnen, eingefasst von zerbröckelnden Mauern. Noch immer ragten bleiche Säulen in den Himmel hinauf wie ein Mahnmal zerstörter Leben. An den Wänden befanden sich in Stein gemeißelte Verzierungen, und dort, wo man die Überreste eines Kamins erkennen konnte, stand die Statue eines Heiligen und starrte mit gefalteten Händen flehend in den Himmel hinauf. Angus spürte, wie Kjell sich versteifte. Die Faszination des Jungen löste sich in Schrecken auf. Er begann zu zittern. Nicht, weil ihm kalt war, denn diesem Wesen war niemals kalt.
Er fürchtete sich. Perfekt.
„Der Besitzer dieser Burg warf seinen eigenen Bruder in den tiefsten Kerker“, begann Angus zu erzählen. „Das war vor sechshundert Jahren.“
„Warum?“ flüsterte Kjell.
„Weil er es gewagt hatte, die falsche Frau zu lieben. Nämlich das Weib des Burgherrn. Deswegen ließ man ihn foltern. Man brandmarkte seinen Körper mit glühenden Eisen, stach ihm die Augen aus und riss ihm die Haut mit eisernen Kämmen vom Leib. Als der Tyrann sein Weib dabei erwischte, wie sie dem Sterbenden Mohnsaft brachte, um seine Qualen zu lindern, schleifte er sie auf den höchsten Burgturm und warf sie in die Tiefe. Jahrelang lag ihr zerschmetterter Körper auf den Felsen, damit alle sehen konnten, wie er verrottete. Die Raben fraßen ihr Fleisch, der Wind und der Regen zernagten ihre Knochen. Hör auf die Stille, Kjell. Sie ist voller Schreie und Schmerz. Du spürst es, nicht wahr?“
Der hin und her hetzende Blick des Jungen kündete von nacktem Entsetzen. Angus zog ihn weiter zum hinteren Teil der Ruine, wo sich eine eingestürzte Kapelle befand. Dohlen flatterten krächzend in die Nacht hinaus, als sie die Überreste des Gebäudes betraten. Eine Welle aus Düsternis schlug über Angus zusammen.
Der Rosenbusch, der seine Wurzeln in die Mauern geschlagen hatte und voller weißer Blüten hing, konnte die boshafte Aura des Ortes nicht mildern.
Ja, hier konzentrierte sich der Schmerz zu einer Dichte, die einem den Atem nahm. Kjell wehrte sich, doch Angus hielt ihn fest und zerrte ihn unerbittlich in die Kapelle hinein. Noch war er stärker, deshalb musste er den Jungen brechen, ehe es zu spät war.
„Siehst du das Loch hier?“ Angus deutete auf den gähnenden Schlund, der tief in die Erde hinabführte. „Man nennt so etwas Oubliette. Es bedeutetvergessen. Hier endete das Leben des unglücklich Verliebten. Sein eigener Bruder stieß ihn dort hinab. Auf dem Grund des Loches befinden sich lange, scharfe Nägel, die jeden aufspießen, der dort hinabgestoßen wird. Kannst du sie spüren? Die unsäglichen Qualen all jener, deren Gerippe noch immer dort unten liegen? Das ist es, was Menschen sich gegenseitig antun. Sie quälen und töten einander, sie hassen und lügen und vernichten. Du gehörst nicht zu ihnen, deswegen würden sie dir noch schlimmere Dinge antun.“
Kjells Gesicht war nicht länger schön, sondern verzerrt vor Entsetzen und Angst. „Schlimmer als das?“, flüsterte er.
„Schlimmer als das“, bestätigte Angus. „Nur in meinem Haus bist du sicher. Nur bei mir. Geh hinaus, und du wirst einen grausamen Tod finden.“
„Aber ich fühle noch anderes. Schöne Gefühle. Gute Gefühle.“
„Nichts als Verzweiflung“, fauchte Angus. Er verließ die Kapelle, zog Kjell hinter sich her und genoss den bitteren Geschmack seines gelungenen Plans. Der Junge fürchtete sich zu Tode. „Menschen klammern sich aus reiner Verzweiflung an schöne Gefühle. Aber sie werden ihnen schnell wieder entrissen, und dann wird alles umso schlimmer. Lausche in die Welt hinaus, mein Sohn. Du kannst ihren Schmerz spüren, ich weiß es.“
„Ich will zum Meer“, hörte er Kjell leise sagen.
„Was?“
„Ich will zum Meer.“
Ehe Angus wusste, wie ihm geschah, hatte er ausgeholt und dem Jungen eine schallende Ohrfeige verpasst. Der Zorn zog brennende Klauen durch sein Gehirn, ließ sein Blut kochen und seine zu Fäusten geballten Hände zittern.
„Das Meer hat deine Mutter getötet!“, schrie er ihn an. „Ich lasse nicht zu, dass es dich auch noch bekommt. Niemals, du undankbarer Bengel. Hast du gehört?“
Jetzt wurde Kjells Blick hart und eiskalt. „Würde es dir nicht besser gehen, wenn ich nicht mehr da bin? Du gibst mir an allem die Schuld. Jedes Mal, wenn du zuschlägst. Jedes Mal, wenn du mir kein Essen bringst. Jedes Mal, wenn du so betrunken bist, dass du nicht mehr weißt, wer du bist.“
„Sei still!“ In Angus Kopf pulsierte es. Die Kontrolle drohte ihm zu entgleiten, aber wahrscheinlich hatte er sie nie besessen. Nicht mehr seit Fionas Tod. Ja, er war ein jämmerliches Nichts. Ein erbärmlicher Mistkerl, der nichts mehr auf die Reihe bekam. „Sei endlich still. Sei still. Sei still!“
„Wozu hast du mir eure Sprache beigebracht? Wozu hast du mich all diese Dinge gelehrt? Wozu bringst du mir Bücher und Essen? Ich werde mein Leben in einem winzigen Zimmer verbringen. Und was ist, wenn du stirbst? Es dauert nicht mehr lange. Dein Körper ist krank, er hat kein Jahr mehr zu leben. Lässt du mich dann eingeschlossen? Soll ich sterben wie du? Mein Platz ist nicht in diesem Zimmer. Er ist …“
Kjell wandte sich in Richtung des Meeres, das verborgen hinter den Hügeln rauschte. „Er ist dort draußen.“
„Unsinn!“ Angus strebte dem Haus entgegen.
Vielleicht sollte er dieses kleine Ungeheuer wirklich zum Meer bringen. Vielleicht würde der Junge dann endlich verschwinden. Aber wollte er allein sein? Mit Kjell würde er das Letzte verlieren, was ihm von Fiona geblieben war.
„Ich will dich nur beschützen, verstehst du das nicht?“
„Ich kann mich selbst schützen“, antwortete der Junge. „Niemand kann mir wehtun. Er ist da draußen und er ist mächtig. So mächtig, wie ich es bald sein werde.“
In Angus zerriss etwas. Er fuhr herum, schleuderte Kjell mit einem Ruck zu Boden, packte ihn bei den Schultern und zerrte ihn wieder hoch. Der Blick des Jungen blieb starr, selbst als er ihn brutal schüttelte.
„Was bist du?“, schrie er ihn an. „Was zum Teufel bist du? Sag es mir! Warum hast du sie umgebracht? Warum sie?“
Die frostige Ruhe im Gesicht des Jungen brachte ihn um den Verstand. Er ballte seine Faust und schlug mitten hinein, spürte den Schmerz in seinen Knochen und Gelenken, sah den Schmerz in Kjells Augen, als er zurücktaumelte, und fühlte widerwärtige Befriedigung genau dort, wo sonst nur Leere herrschte.
„Du hast deine Mutter getötet. Du hast mein Leben zerstört.“ Nach jedem Satz schlug er erneut zu. Kjell wankte, doch er ging nicht zu Boden. „All die Jahre habe ich dich durchgefüttert, dich beschützt und dir alles gegeben, was du brauchst. Das ist der Dank dafür? Ja, ich sollte dich zum Meer gehen lassen. Es wird dich genauso umbringen, wie es Fiona umgebracht hat. Du solltest aus meinem Leben verschwinden. Du bist alles, was ich hasse.“ Angus packte Kjell erneut am Handgelenk und zerrte ihn hinter sich her. „Aber du bist auch alles, was ich liebe. Ich kann dich nicht gehen lassen. Gott hat mich verflucht.“
„Nein. Du hast dich selbst verflucht. Und du verfluchst mich.“
In Angus’ Hand, die die Finger des Jungen umklammert hielt, begann es zu prickeln. Er spürte Hitze. Stark, aber noch nicht unangenehm. Es war die Magie, von der Kjell vorhin gesprochen hatte.
Und er ist mächtig. So mächtig, wie ich es bald sein werde.
Außer sich vor Angst begann er zu rennen. Der Junge, noch benommen von den Schlägen, ging mehrmals zu Boden, bis es Angus zu viel wurde und er ihn auf seine Arme hob. Klingen bohrten sich in sein Herz, als Kjells Arme sich Schutz suchend um ihn schlangen.
Oh Gott, was war er nur für ein Monster!
Tränen liefen wie Sturzbäche über seine Wangen. „Es tut mir so leid. Hör nicht hin, wenn ich so etwas zu dir sage. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Gott, bitte verzeih mir.“
Kjell schmiegte sich an ihn. So leicht und zart lag der Junge in seinen Armen, dass ihm der Gedanke, ihn geschlagen und angebrüllt zu haben, plötzlich unerträglich war.
Besser, er brachte ihn zum Meer. Besser, er ließ ihn frei.
Doch Angus sah sich selbst dabei zu, wie er die Haustür öffnete, sie wieder hinter sich zuschlug, Kjell in sein Zimmer brachte und dort einschloss. Anschließend ging er wieder hinunter, verriegelte alle Schlösser an der Tür, nahm Schinken, Käse und Brot aus dem Schrank und schnitt alles in mundgerechte Stücke, um sie liebevoll auf einem Tablett zu drapieren. Dazu tat er einen Apfel und ein Glas Milch und brachte es zu seinem Sohn.
Der Junge saß auf der Fensterbank, so verletzlich in seinem großen Hemd. Er hatte die Stirn an die Scheibe gelehnt und strich mit den Fingern über die glatte Fläche, als könne er durch die geschlossenen Fensterläden hindurch auf das Meer blicken. Seine Wangen waren tränennass. Lautlose Schluchzer schüttelten seinen Körper.
„Hast du Hunger?“
Keine Antwort. Angus stellte das Tablett ab, ging zu Kjell hinüber und strich ihm über das Haar.
„Du willst weg von mir, nicht wahr?“
Die Worte schnürten ihm die Luft ab. Er wusste nicht, was schlimmer war. Ihr Echo auf seiner Zunge oder das Schweigen, das ihnen folgte.
„Ich kann dich nicht gehen lassen.“ Wieder strich er Kjell über das Haar. Es war, als sei der Junge versteinert. Seine Hand ruhte bewegungslos über dem Fensterglas, seine Miene war reglos. Nur der Körper bebte unter lautlosem Weinen.