Sie würde sterben.
Panisch schlug sie um sich, kämpfte mit Armen und Beinen gegen die Wassermassen an, die von allen Seiten auf sie einströmten.
Doch sie konnte sich nicht aus dem festen Griff ihres Angreifers befreien. Erbarmungslos drückte er sie unter Wasser. Melissas Drang zu atmen wurde immer stärker. Ihre Lungen brannten. Verzweifelt öffnete sie den Mund, doch statt rettender Luft schmeckte sie nur das ekelhafte Chlorwasser, das ihr in die Kehle drang.
Irgendjemand musste ihr helfen!
Aber die anderen waren alle im Haus, die kleine Insel zu weit weg vom Festland.
Melissa wollte schreien, weinen. Mit letzter Kraft bäumte sie sich auf, und es gelang ihr tatsächlich, ein Stück weit nach oben zu kommen. Kühle Luft strich über ihren Haaransatz, der nun aus dem Wasser ragte. Nur noch ein winziges Stück, und ihre Nase und ihr Mund wären frei. Frei zum Atmen. Aber der Druck auf ihre Schultern nahm erneut zu, und ehe sie den erlösenden Atemzug überhaupt tun konnte, fand sie sich am gekachelten Grund wieder. Blaue Fliesen, graue Fugen. Sie sah über sich die von den Wellen verzerrte Maske, die nur den oberen Teil des Gesichts verbarg. Ein hämisches Grinsen spiegelte sich darunter. Sollte es das Letzte sein, was sie sah?
Ihre Beine zuckten unkontrolliert, strampelten hilflos gegen die Wassermassen an, die über ihr zusammenschlugen.
Sie würde sterben.
Es geschah.
Ihre Sinne schwanden. Bilder zogen an ihr vorbei. Der Film ihres Lebens.
Alles hatte ganz harmlos begonnen. Traumhaftes Mittelmeerwetter. Ein schönes Hotel mitten in Nizza. Gutes Essen. Und Andrew an ihrer Seite.
Mehr hätte sie nicht gebraucht, von dem einen oder anderen romantischen Abendspaziergang am Neptune Strand einmal abgesehen. Aber Andrew war nicht mit ihr hierhergekommen, um romantisch zu sein. Er hatte, wie er es nannte, ihre Beziehung, die schon seit der Schulzeit bestand, auf die nächste Stufe heben wollen.
Melissa hatte das zunächst falsch verstanden und schon von Verlobung und späterer Hochzeit geträumt. Schnell war aber klar geworden, dass Andrew etwas ganz anderes im Sinn hatte. Und noch bevor er den Flug überhaupt buchte, hatte er ihr die Annonce gezeigt, die er im Internet auf einer Partnerseite entdeckt hatte.
Ein Pärchen, beide Amerikaner, suchte nach einem anderen Pärchen zwecks Partnertausch. Melissa war aus allen Wolken gefallen, nie hätte sie vermutet, dass Andrew auf so etwas abfuhr, dass er gern einmal Sex mit einer anderen Frau ausprobieren wollte. Wahrscheinlich war sie naiv gewesen, dies zu glauben. Genauso naiv wie in dem Moment, in dem sie diesem verruchten Plan, wenn auch widerwillig, zugestimmt hatte.
»Denk doch mal drüber nach, wie aufregend das wäre. Einen anderen Körper zu erkunden. All die neuen Eindrücke, neuen Gerüche. Ich stelle mir das geil vor«, hatte Andrew gesagt. Und Melissa hatte ihn nicht enttäuschen wollen, obwohl ihr Andrews Körper und sein Geruch völlig genügten.
Und erst jetzt, da sie auf der weitläufigen Terrasse von Opéra Plage nahe der Innenstadt saßen und auf die Ankunft der beiden Amerikaner warteten, wurde ihr klar, wie ernst die Sache wirklich war.
Andrew legte seine kräftige Hand auf ihre und lächelte ihr aufmunternd zu. »Du wirst sie mögen«, versprach er. Er wusste wohl, was er sagte, denn er hatte mit den beiden bereits telefoniert und täglichen Mailkontakt gehalten. Wenn er von den beiden gesprochen hatte, war er immer so begeistert gewesen, dass er sie kurzzeitig mit seiner Euphorie angesteckt hatte. Nun war sie jedoch alles andere als euphorisch. Sie war nervös. Kaute ständig an ihren Nägeln und zwirbelte die Spitzen ihres Haars, das im warmen Licht der Mittelmeersonne so rot wie überreife Erdbeeren leuchtete.
»Willst du das wirklich durchziehen?«, fragte sie und nahm einen großen Schluck von ihrer eisgekühlten Cola.
»Aber ja. Natürlich.«
Andrew war ihr in diesem Augenblick merkwürdig fremd. Mehr als einmal hatte sie sich gefragt, ob sie ihm nicht mehr genug war, weil es ihn plötzlich nach einem anderen Frauenkörper verlangte, doch sie hatte sich nicht getraut, ihn danach zu fragen. Vielleicht weil sie die Antwort fürchtete.
Jetzt ist es ohnehin zu spät, sagte sie zu sich, sie konnten nicht mehr zurück, denn genau in diesem Moment kam ein Paar auf die Terrasse.
»Das sind sie«, sagte Andrew und drückte ihre Hand fester.
Der Mann war etwas kleiner als Andrew und naturgemäß weniger athletisch gebaut, denn Andrew betrieb seit seinem achtzehnten Lebensjahr Bodybuilding. Nichtsdestotrotz war der Amerikaner sehr ansehnlich. Er hatte breite Schultern, schmale Hüften und kräftige Oberschenkel. Da er nur eine Badehose trug, konnte Melissa auch einen Blick auf sein Sixpack werfen. Er schien ebenfalls zu trainieren, aber nicht so exzessiv wie Andrew. Die dunklen vollen Haare waren stufig geschnitten und reichten bis knapp oberhalb seiner Schultern. Seine Augen waren hinter aufsteckbaren verspiegelten Gläsern verborgen.
Die Frau war auch nicht gerade unansehnlich. Im Gegenteil. Sie hatte eine unverschämt schlanke Taille, eine nicht gerade kleine Oberweite und die berühmte Sanduhrfigur, die Männer bekanntermaßen bevorzugten. Sie steckte in einem äußerst knappen dunkelblauen Bikini. Ihre Frisur hingegen passte weniger in das männliche Beuteschema, denn ihre Haare waren raspelkurz und blondiert. Sie war fast genauso groß wie ihr Begleiter.
Melissa neigte dazu, sich schnell von anderen Frauen, besonders dann, wenn sie gut aussahen, bedroht zu fühlen. Eine Eigenart, die sie nicht an sich leiden mochte. Erstaunlicherweise war dies bei der Amerikanerin nicht der Fall. Vielleicht deshalb, weil sie wusste, dass Andrew auf weibliche Frauen stand, die er beschützen konnte, nicht auf Amazonen.
Andererseits, wie gut kannte sie Andrew wirklich? Den Vorschlag, sich mit einem anderen Pärchen zusammenzutun, hätte sie ihm jedenfalls nicht ohne weiteres zugetraut.
Andrew winkte dem Paar zu, und die beiden steuerten sofort in ihre Richtung, lächelten gleichzeitig, als hätten sie es einstudiert.
»Andrew und Melissa, nehme ich an?«
»Das ist richtig. Freut mich.«
Die beiden Männer reichten erst den Damen die Hand, dann sich. »Ich bin Espen, und das ist meine bessere Hälfte Serena.«
Melissa bemerkte, dass Serena, die fast einen Kopf größer war als sie, sie von oben bis unten musterte. Vielleicht checkte sie ebenso das »Bedrohungspotential« ab. Aber gleich darauf nahm sie ihre Sonnenbrille ab und steckte sich einen Bügel in den Mund, lutschte sinnlich daran, wie an einem männlichen Glied. Das fing ja gut an.
»Setzen Sie sich doch«, bat Andrew und deutete auf die beiden leeren Stühle.
»Wir sollten Du zueinander sagen«, schlug Espen vor und klappte seine Sonnengläser hoch. Darunter kamen eine gewöhnliche Brille und Augen verschiedener Farben zum Vorschein. Melissa stutzte. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Eine Pupille schien dunkler als die andere, und Melissa konnte den Blick nicht von seinen Augen abwenden.
»Schließlich werden wir viel Zeit miteinander verbringen.« Espen blickte sie nun an, und Melissa erschauderte. Sie war peinlich berührt, da ihr erst jetzt klar wurde, dass sie ihn unerhört lange angestarrt hatte.
Eine Kellnerin nahm die Bestellungen auf. Melissa war dankbar für die kurze Unterbrechung, doch die Dame war viel zu schnell wieder weg.
»Das ist das erste Mal für uns beide«, erklärte Andrew, und sie hörte an seiner belegten Stimme, dass er ebenfalls nervös war.
»Nur keine Scheu, ihr könnt uns alles fragen.« Serena musste Raucherin sein. Jedenfalls hörte sie sich wie eine an. Tief. Rau. Dennoch sinnlich.
»Vielleicht können wir uns erst mal näher kennenlernen«, schlug Melissa vor, die mit dem Tausch wirklich keine Eile hatte. Erneut fühlte sie Espens Blick auf sich, doch sie erwiderte ihn nicht. Er machte sie nervös.
»Eine hervorragende Idee, Melissa. Allerdings haben Serena und ich ein paar Regeln, an die wir uns gern halten möchten.«
»Regeln? Was denn für Regeln?« Sie hörte zum ersten Mal von Regeln, doch vielleicht waren Regeln nicht das schlechteste in ihrer Situation.
»Serena und ich wissen aus Erfahrung, dass manche Dinge besser unerwähnt bleiben sollten.«
Erfahrung? Wie oft hatten sie sich denn schon mit anderen Pärchen getroffen? Hatten sie hier etwa Profis vor sich? Melissa musste über ihre eigenen Gedanken schmunzeln und bemühte sich, Espen weiter zuzuhören.
»Wir reden nur ungern über zu persönliche Dinge wie Berufe, Wohnorte und so weiter.«
Was blieb dann noch übrig? Die beiden waren ziemlich schräg, befand Melissa und lachte leise.
»Und worüber dürfen wir denn sprechen?« Die Frage hatte sie sich nicht verkneifen können.
»Über alles andere, zum Beispiel unsere sexuellen Vorlieben.«
Natürlich. Worüber auch sonst. Wieder ein intensiver Blick von Espen.
»Und wozu sind diese Regeln nötig? Ich habe kein Problem damit, meine Identität preiszugeben, ich habe nichts zu verbergen. Andrew Murphy, siebenundzwanzig, Versicherungskaufmann, London«, stellte Andrew sich vor. Ganz wahr war diese Aussage allerdings nicht, doch das konnten Espen und Serena nicht wissen. Andrew verschwieg, dass er ein Ex-Cop war, der in seinem Job alle erdenklichen menschlichen Abgründe gesehen und ihn daraufhin an den Nagel gehängt hatte. Melissa konnte das nur zu gut verstehen, und er hatte recht, das gehörte hier wirklich nicht her.
»Ihr könnt das handhaben, wie ihr wollt«, erwiderte Serena mit sinnlich gekräuselten Lippen. »Aber wir möchten es bei Serena und Espen belassen. Bitte habt Verständnis dafür.«
»Jetzt macht ihr uns aber umso neugieriger«, sprach Andrew aus, was auch Melissa dachte.
Betretenes Schweigen. Melissa hatte den Eindruck, dass sich nun niemand am Tisch mehr so wirklich wohl fühlte. Diese Geheimnistuerei schreckte mehr ab, als dass sie in irgendeiner Weise förderlich war. Melissa hatte Hoffnung, dass Andrew Abstand von dieser obskuren Idee des Partnertausches nahm. Wer stieg auch schon gern in die Kiste mit jemandem, der nichts über sich preisgeben wollte?
In dem Moment kam die Kellnerin und brachte die Getränke. Espen bezahlte für alle, beugte sich dann vor und fixierte sie mit seinem Gänsehautblick. Nein, es waren keine unterschiedlichen Augenfarben, seine Iriden hatten lediglich verschiedene Größen, stellte sie fest. Aber das irritierte sie nur noch mehr. Während die eine Iris fast vollständig geöffnet war, war die andere nur ein winziger Punkt.
»Das war ein schlechter Start, ich will mich dafür entschuldigen. Vertrauen ist die Basis unserer neuen Freundschaft. Wir haben ebenfalls nichts zu verbergen. Doch in der Vergangenheit trafen wir uns mit Paaren, von denen einer oder beide hohe Posten bekleideten und die erpressbar geworden wären, hätten sie uns mehr gesagt. Die Gesellschaft ist oft noch sehr prüde, wenn es um Sex geht. Und meine und Serenas Leidenschaft wird oft noch als etwas … Unanständiges … ja sogar Perverses … angesehen.« Er lächelte seine Begleiterin an, die ihm einen Luftkuss zuhauchte.
»Uns ist es wichtig, dass niemand zu Schaden kommt. Weder wir noch ihr. Diese Regeln sollen ein Schutz sein.«
»Ich verzichte auf den Schutz«, wiederholte Andrew, und Melissa wartete gespannt auf die nächste Reaktion der Amerikaner. Insgeheim hoffte sie, dass sich diese Sache ganz von allein erledigte, doch zu ihrer Überraschung kam es anders. Die beiden nickten sich kurz zu.
»Espen Hannigan, fünfunddreißig, Unternehmer, New York. Serena Adams, einunddreißig, Leiterin einer Modelagentur.«
Sie waren nicht verheiratet, schloss Melissa überrascht aus den unterschiedlichen Nachnamen. Und wenn sie jetzt genauer darauf achtete, trugen sie auch keine Eheringe. Waren die beiden am Ende genau solche Ehemuffel wie Andrew?
Melissa merkte erst jetzt, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren. »Oh … ich … bin Melissa Voight. Siebenundzwanzig.« Ihr fiel es überraschend schwer, diese Informationen über sich preiszugeben. »EDV-Lehrerin.« Obwohl sie sonst eigentlich ein offener Typ war. Doch da Espen und Serena zuvor so ein Aufhebens um ihre Identitäten gemacht hatten, fühlte sie sich nun, nachdem sie sich vorgestellt hatte, seltsam nackt. »London.«
»Und ihr habt schon Erfahrung, sagt ihr?«, hakte Andrew noch einmal nach.
»Ja. Serena und ich lieben die Abwechslung, das Abenteuer, so wie ihr auch, nehme ich an. Aber, wie ich schon sagte, Vertrauen ist die Basis. Wenn wir merken, dass die Chemie stimmt, ist von unserer Seite alles möglich.« Sein durchdringender Blick wanderte wieder zu ihr, und Melissa fühlte einen Kloß im Hals.
»Und was … habt ihr da so erlebt … wenn ich fragen darf?«
Wollte Andrew tatsächlich Details hören?
»Alles.«
Ein fast schon dämonisches Lächeln erschien auf Serenas Lippen. »Du bist neugierig, das gefällt mir, Andrew. Die Neugier ist es, die uns neue Welten entdecken lässt. Die uns verändert. Evolution.«
»Treffend formuliert«, stimmte Andrew ihr zu, dabei hatte Melissa ihn nie wirklich als neugierig wahrgenommen. Der typische Forscherdrang, den oft schon kleine Jungen zeigten, fehlte ihm sonst. Aber vielleicht lag es auch nur daran, dass ihre Beziehung, die ja nun schon immerhin elf Jahre dauerte, irgendwann dem Alltag anheimgefallen war. Melissa merkte, dass sie sich gar nicht so recht an ihre ersten Male erinnern konnte. Sie wusste nur, dass es im Gegensatz zu heute sehr aufregend gewesen war.
»Ich erinnere mich gut an ein junges Mädchen, das wir auch über das Internet kennengelernt hatten. Sie sah dir sogar ein wenig ähnlich, Melissa. Ihre Haare glänzten rot in der Sonne, und sie hatte eine sehr helle Haut und hübsche Sommersprossen. Ein experimentierfreudiges kleines Ding, das seine Grenzen austesten wollte. Und das hat sie getan, nicht wahr, Liebling?«
»O ja. Aus ihr wurde, ohne jede Übertreibung, ein anderer Mensch. Das zeigt doch, dass wir erst dann wirklich zu uns selbst finden, wenn wir uns nicht vor uns selbst verstecken.«
Was für ein pseudo-intellektuelles Geschwafel.
»Das … das klingt heiß«, sagte Andrew und rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her, während Melissa hoffte, dass Espen und Serena nicht noch mehr ins Detail gingen. Sie wollte gar nicht wissen, was ihre vorherigen Liebschaften für Vorlieben hatten. Für sie stand auch jetzt schon fest, dass sie nicht zusammenpassten. Die Amerikaner waren ihr eindeutig zu offenherzig, was Sex anging.
»Laure hat uns immer gern zugesehen. Eine echte Voyeurin. Sie lag auf der Sonnenliege, wir schwammen im Pool. Und als Espen und ich aus dem Wasser kamen, brachte sie uns Champagner an den Beckenrand, dann massierte sie mir den Nacken, hauchte Küsse auf meine Ohrläppchen.«
»Sie hat eine andere Frau geküsst?« Melissa spürte, wie es in ihren Wangen prickelte. Doch sie war nicht sicher, ob es aus Scham war oder weil ihr die Geschichte tatsächlich doch irgendwie gefiel.
»Ja, warum. Hast du ein Problem damit, Süße?« Serena leckte sich über die Lippen. »Das kann sehr aufregend sein.«
»Klingt auch so«, meinte Andrew und hing förmlich an Serenas Lippen, doch es war Espen, der nun fortfuhr. »Sie verschwand zwischen Serenas Schenkeln.«
»O ja, das war geil.«
»Und ich stellte mich hinter sie. Sie mochte keine Unterwäsche und auch keinen Bikini. Wenn sie sich am Pool sonnte, war sie immer nackt. Und wie ihr euch vorstellen könnt, war sie auch sehr feucht.«
Das war jetzt nicht wahr, oder? Die erzählten hier tatsächlich alles, was sie mit dieser Laure getrieben hatten. Für Melissa war das, vor allem für das erste Kennenlern-Treffen, deutlich zu viel.
»Ich … ich muss noch mal ins Hotel«, sagte sie eilig und packte ihre Sachen zusammen. Worauf hatte sie sich hier nur eingelassen? Sex war offenbar das einzige Thema, über das diese Leute reden wollten. Nicht, dass sie prüde wäre. Auch sie wünschte sich ein sexuell erfülltes Leben. Aber sie gehörte nicht zu den Menschen, die in einer Sekunde zur nächsten von null auf hundert gehen konnten.
»Aber Schatz, das geht doch auch später noch«, meinte Andrew. Er packte sie am Handgelenk und zog sie auf ihren Stuhl zurück. Sie warf ihm einen, wie sie hoffte, unauffälligen, aber äußerst giftigen Blick zu.
»Für Melissa ist das alles noch ganz neu und … unanständig. Geben wir ihr Zeit, sich erst einmal an uns zu gewöhnen«, schlug Serena vor und lächelte sie verständnisvoll an. Sie brauchte sich an nichts zu gewöhnen. Für sie stand jetzt schon fest, diese Partnertauschgeschichte war nichts für sie. Das wurde ihr nun, da sie beisammensaßen und über ihre Erlebnisse redeten, nur umso klarer. Es war nicht so, dass ihr Serena und Espen unsympathisch gewesen wären. Sie waren freundlich, höflich, zuvorkommend, geduldig, aber ihre Hobbys schreckten sie einfach ab, und es klang danach, als hätten sie sich durch sämtliche Betten der Ostküste gevögelt. Außerdem, und das war der entscheidende Grund, hatten sie etwas an sich, was sie nur schwer einordnen konnte. Etwas, das sie in Alarmbereitschaft versetzte.
Sie hatte sich schon vorher nur schwer vorstellen können, Andrew mit einer anderen Frau zu teilen. Aber sie war dazu bereit gewesen, ihm seinen Traum zu erfüllen. Doch zu dem Zeitpunkt, als sie eingewilligt hatte, hatte sie noch geglaubt, sie ließen das Ganze langsam angehen, lernten sich erst mal entspannt kennen mit der Option, jederzeit auch wieder zurückzukönnen. Ja, vielleicht war sie ein wenig verklemmt, aber die beiden waren das Gegenteil! Ordinär. Sie fühlte sich nicht wirklich wohl, schon gar nicht entspannt.
»Ich möchte jetzt trotzdem lieber gehen.«
Andrew sah sie verärgert an, aber erneut stand Serena auf ihrer Seite. »Dafür haben wir Verständnis. Ihr könnt das alles ja noch mal untereinander besprechen, ob das wirklich der richtige Weg für euch ist.«
»Ja … das machen … wir«, stammelte Andrew. Sie hatte den Eindruck, er wäre es nun, der überfordert war.
Melissa erhob sich, verabschiedete sich und eilte zum Hotel zurück. An der Drehtür angekommen, holte Andrew sie schließlich ein.
»Was sollte das denn?«, fuhr er sie in der Lobby an.
»Sorry, wenn ich eben noch ein bisschen Anstand im Leib habe.«
»Du wusstest doch, worauf wir uns einlassen, und du warst einverstanden.«
»Ich hatte es mir anders vorgestellt. Ich kann das nicht, Andrew.«
Er ließ die Schultern hängen, folgte ihr zum Lift.
»Und was heißt das jetzt? Willst du ihnen absagen?«
Die Tür glitt mit einem Pling auf, und sie betraten den leeren Fahrstuhl, ein älteres Modell und für ihren Geschmack viel zu eng. Melissa drückte auf den Knopf für die fünfte Etage, und der Lift setzte sich ruckelnd in Bewegung.
»Ja … nein, ich … weiß auch nicht.« Sie wollte ihn nicht enttäuschen. Und er hatte ja recht. Etwas Abwechslung konnte ihre Beziehung wirklich vertragen. Nur ob das der richtige Weg war?
»Sie haben nichts über sich erzählt.«
»Doch. Sie heißen Espen Hannigan und …«
»Das meine ich doch nicht. Sie haben viel geredet und doch nichts gesagt. Abgesehen von ihren sexuellen Eskapaden. Die sind mit der Tür ins Haus gefallen, und das bei Tempo einhundert.«
»Für sie war eben klar, worum es geht.«
»Für dich offenbar auch.«
»Natürlich!«
Sie seufzte. Lag es also doch an ihr? Was hatte sie denn konkret erwartet? Die Blümchenversion? Eigentlich ja. Sie hatte geglaubt, man würde zu viert etwas Nettes unternehmen, ausgehen, essen, sich nach und nach kennenlernen, und wenn man sich dann sympathisch wäre, hätte man … über weitere Schritte nachgedacht. Doch während Melissa gerade mal den Start verlassen hatte, waren alle anderen schon über die Ziellinie geprescht.
Die Tür schob sich auf, und sie gingen den Flur hinunter, Andrew hatte Schwierigkeiten, mit ihr Schritt zu halten. An ihrer Zimmertür angekommen, suchte sie in ihrer Bauchtasche nach ihrer Schlüsselkarte, doch weil sie die nicht rechtzeitig fand, öffnete Andrew mit seiner Karte die Tür.
Angenehm kühle Luft wehte ihnen entgegen, als sie das Zimmer betraten. Es war klein, aber sauber und gemütlich, dominiert von einem großen Doppelbett, auf das sich Melissa sofort fallen ließ.
»Findest du die beiden nicht merkwürdig?«
»Merkwürdig?«
»Ja … sie sind … irgendwie unheimlich.«
»Jetzt spinnst du aber. Ich finde sie nett. Was haben sie dir denn getan?«
»Nichts! Und ja, sie sind nett. Aber mein Gefühl sagt mir, dass wir … ihnen nicht trauen sollten.«
Andrew schüttelte verständnislos den Kopf. »Was könnten sie deiner Ansicht nach denn vorhaben?«
»Ist dir nicht aufgefallen, mit wie vielen anderen Paaren sie schon … intim geworden sind? Findest du das normal?«
»Sie haben doch gar keine Zahl genannt und nur ein Mädchen erwähnt.« Er zuckte mit den Schultern, aber sie hatte herausgehört, dass es schon einige Liebhaber gewesen waren. Hatte Andrew am Ende etwa vor, es ihnen gleichzutun? Sollte das gar keine einmalige Sache sein? Melissa schauderte, und sie zog sich die Bettdecke über ihre nackten Füße.
»Ich finde es jedenfalls nicht unnormal«, sagte er.
»Können wir nicht unter uns bleiben?« Sie rollte sich zur Seite und versuchte ganz bewusst, ihn ein wenig anzumachen, indem sie die Bikiniträger über ihre Schultern gleiten ließ, um ihr Oberteil dann ganz langsam von hinten zu öffnen. Ihr entblößter Busen verfehlte seine Wirkung nicht.
Andrews Augen wurden größer.
»Ich meine, wir haben doch uns«, hauchte sie verführerisch.
»Das haben wir.« Er legte sich zu ihr, kraulte sie hinter dem Ohr und beugte sich zu ihren Brüsten herunter. Sanft umschlossen seine weichen Lippen ihren Nippel, zogen sacht an ihm, zwickten hinein.
Melissa drehte sich auf den Rücken und sah ihm in seine dunkelbraunen Hundeaugen. Sie waren es, in die sie sich damals verliebt hatte und bei deren Anblick ihr auch heute noch warm ums Herz wurde. Andrew Murphy, der in ihrer Jugend nie von ihrer Seite gewichen war, der ihr Liebesbriefe und Gedichte geschrieben hatte. Sie vermisste den alten Andrew und die gute alte Zeit, in der sie noch ein echtes Team gewesen waren. Aber sein damaliger Job hatte ihn verändert, und dann hatte er seinen Dienst quittiert, neu angefangen. Heute, so kam es ihr manchmal vor, waren sie eher Gegner als Teamplayer. Andrew bezog Opposition, wann immer es ging. So auch in dem Fall Espen und Serena. Aber jetzt schien er sich zu beruhigen.
Seine Finger glitten unter die Bündchen ihres Bikinihöschens und zogen es langsam herunter, bis sie seinen heißen Atem an ihrer Scham spürte. Bereitwillig öffnete sie die Beine, und er leckte sie. Zärtlich. Hingebungsvoll.
So wie es jetzt war, war es schön. Daran sollte sich nichts ändern. Sie wollte ihn für sich, anstatt ihn mit einer Serena zu teilen. Und dieser Espen mit seinen unterschiedlichen Augen, der jagte ihr nur einen Schauer über den Rücken.
In diesem Moment war sie überzeugter denn je, dass sie es schaffen würden, ihre Beziehung wiederzubeleben, dass Leidenschaft und Liebe zurückkehrten, wenn sie sich beide bemühten.
Sein Zeigefinger drang ihn sie. Fordernd. Es erregte sie so sehr, dass sie glaubte zu kommen. Aber dann zog er ihn wieder heraus, weckte ihren Appetit nach mehr.
»Oh …« Sie stöhnte. Verhalten. Ein weiterer Kritikpunkt in ihrer Beziehung.
Andrew fand, dass sie zu leise im Bett war. Er wollte sie stöhnen und schreien hören, weil das in seinen Augen Leidenschaft zeigte. Und sie versuchte, ihm das zu geben, was er brauchte, indem sie das Stöhnen anschwellen ließ.
Es funktionierte. Sie spürte, wie sein Körper heißer wurde, wie er glühte und sich diese Hitze auf sie übertrug. In seine Augen trat jenes Glänzen, das von Lüsternheit zeugte.
Plötzlich packte er ihre Handgelenke und drückte sie über ihrem Kopf zusammen, dabei verschmolz er mit ihr, und sie spürte, wie sein Glied größer wurde, in ihr pulsierte. Es ging so schnell, sie hatte gar nicht gemerkt, dass er sich die Badehose ausgezogen hatte.
»O ja …« Er stöhnte. »O ja, du Miststück.« Das Stöhnen wurde lauter. Animalischer. »Du Miststück«, rief er wieder und wieder. Melissa erschrak.
Er hatte sie noch nie Miststück genannt, und sie fühlte sich auch wie kein solches. Sie hob den Kopf, um seinen Mund zu erreichen und die Worte, die sie nicht hören wollte, mit einem Kuss zu ersticken. Andrew schob ihr gierig seine Zunge in den Hals, bis Melissa leise würgen musste. Dann stieß er in sie. Gnadenlos. Ihr Unterleib wurde durchgeschüttelt, ihre Brüste hüpften auf und nieder. »Du Miststück. O ja. Du Miststück.«
Andrew kam es, und Melissa täuschte einen Orgasmus vor. Das konnte sie gut, obwohl sie es nie zuvor getan hatte. Andrew gefiel es, wie sie zuckte und vibrierte. Sie sah es in seinem Blick und daran, dass sich der Glanz in seinen Augen verstärkte.
»Danke, Baby, das war heiß«, sagte er und küsste sie auf die Stirn. Dann ging er ins Bad, und wenige Augenblicke später hörte sie das Rauschen der Dusche.
Früher hatte er sich nach dem Sex zu ihr gelegt, mit ihr gekuschelt, sie gestreichelt. Aber jetzt war es nur ein Rein, Raus, und fertig.
Das störte sie. Aber sie hatte es ihm nie gesagt. Sie erhob sich, ging ins Bad und schob die Kabinentür auf, stellte sich zu ihm unter das heiße Wasser.
»Hallo, Baby«, sagte er überrascht, und seine Stimme klang wunderbar zärtlich. Er freute sich, dass sie ihm gefolgt war. Und das motivierte sie.
»Willst du mich einseifen?«, fragte sie und reichte ihm die Duschlotion, von der er sich sogleich etwas in beide Hände tat und in ihre Brüste massierte.
»Du bist schon ein kleines Miststück«, flüsterte er ihr ins Ohr. Das war wie kaltes Wasser, das man über den Kopf ausgeschüttet bekam.
Es mochte Frauen geben, die darauf standen, als Miststück, Schlampe oder Hure bezeichnet zu werden. Sie jedenfalls gehörte nicht dazu.
»Lass das«, sagte sie freundlich und schob ihn ein Stück weit zurück, um sich nun selbst einzuseifen.
»Was hast du denn?«
»Nichts …«
»Ich kenne dich, Mel. Was stört dich?« Schon stand er wieder hinter ihr, zupfte mit den Lippen an ihren Ohrläppchen, während das Wasser weiter auf sie niederprasselte.
»Ich … mag es nicht, wenn du mich … so nennst.«
Sie drehte sich zu ihm um und rieb nun seine muskulöse Brust ein. Er hatte einige Wochen nicht mehr trainiert, das sah ihrer Ansicht nach deutlich besser aus als zu Wettkampfzeiten. Am besten hatte er ihr jedoch gefallen, als sie sich kennengelernt hatten. Vor seiner Bodybuildingphase.
»Wie nennst?«
»Mist … stück.« Sie mochte es ja nicht einmal selbst aussprechen.
Andrew seufzte leise. Als hätte sie es geahnt. »Was ist denn gegen ein bisschen Dirtytalk einzuwenden?«
»Nichts … ich meine, es geht nicht um Dirtytalk, sondern um das Wort an sich. Das … verletzt mich.«
Er verdrehte die Augen. Dann kam er jedoch näher und nahm sie in die Arme. »Tut mir leid, ich dachte, es würde dich auch anmachen. Du hast so geil gestöhnt, daher hab ich es wohl übertrieben.«
»Sag mir doch etwas anderes Schmutziges«, schlug sie vor, um zu beweisen, dass sie Neuem durchaus aufgeschlossen gegenüberstand.
»Wie wäre es, wenn du mir etwas Schmutziges sagst?« Sie spürte etwas Hartes, das gegen ihre Scham drückte, und als sie runtersah, bemerkte sie, dass sein Glied sich aufgerichtet hatte.
»Du weißt doch … so etwas kann ich nicht …« Er streichelte ihre Wange, küsste sie sanft, aber kurz. »Nein, davon weiß ich nichts, Melissa.«
»Ach … Andrew … wie wär’s mit … fick mich?«
»Ein guter Anfang.« Er wirbelte sie herum, und plötzlich hing sie mit dem Oberkörper horizontal in der Luft.
»Kannst du das auch wiederholen?«
»Fick mich?«
Er grinste, und ehe sie sich versah, hatte er sie erneut geentert. Von hinten. Mit einem Stoß schob er sein Becken vor, das Wasser rieselte über ihren Kopf, tropfte von ihren Haarspitzen. Noch einmal wurde sie herumgeworfen. Es törnte sie an. Mit sanftem Druck presste er sie nun gegen die gekachelte Wand. Und dann fing er an, sie zu rammeln. Ja, das war der richtige Begriff, denn so schnell, wie er in sie drang, vermochten es nur die Karnickel. Doch für Melissa war es trotz des kurzen Aufkeimens von erotischen Gefühlen nur ein weiteres Rein, Raus, und fertig.
»Du bist heute wirklich scharf, Baby«, sagte er und lächelte, nachdem er ein weiteres Mal gekommen war. Auch dieses Mal war Melissa leer ausgegangen. Ein entferntes kurzes Aufflammen, ja, vielleicht. Aber kein Orgasmus, wie sie ihn früher mit Andrew erlebt hatte.
Andrew verließ die Dusche, ließ sie unbefriedigt zurück, wie auch zuvor. Merkte er denn nicht, wie viel Mühe sie sich gab? Dass sie für ihn über ihren Schatten sprang. Bereit war, Neues auszuprobieren, damit es zwischen ihnen wieder wie früher wurde.
Offenbar nicht.
Enttäuscht stellte sie die Dusche ab, trat aus der Kabine und hüllte sich in ein großes Frotteehandtuch.