Über das Buch
Maya ist hoffnungslos romantisch. Sie liebt nostalgische Kleider und französisches Gebäck und glaubt an die Liebe auf den ersten Blick. Als sie eines Morgens im Zug einem jungen Mann gegenübersitzt, dessen sanfte Augen konzentriert auf die Seiten eines Romans blicken, ist es um sie geschehen. Mit Schmetterlingen im Bauch steigt sie nun jeden Morgen in den Zug, doch der schöne Fremde scheint sie nicht zu bemerken. Ein kleiner Zettel soll ihrem Glück auf die Sprünge helfen – mit ungeahnten Folgen …
ZOË FOLBIGG
Dein erster Blick für immer
Roman
Aus dem Englischen von
Sabine Schilasky
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2017 by Zoë Folbigg
Titel der englischen Originalausgabe: »The Note«
Originalverlag: Aria, an imprint of Head of Zeus, London
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Beate De Salve, Pulheim
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München
unter Verwendung von Illustrationen von © Freepik: 20390 |
11716 | 115451-OP1YYL-567 | 2488331
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-9480-1
www.luebbe.de
www.lesejury.de
»You know I dreamed about you …
I missed you, for 29 Years«
[Übrigens habe ich von dir geträumt …
Du fehlst mir, seit 29 Jahren]
THE NATIONAL, »SLOW SHOW«
Mai 2014
Maya hat es getan. Sie hat drei Sätze sowie einen freundlichen Gruß überreicht, und jetzt hat sie es nicht mehr in der Hand. Der Weg durch den Zug kommt ihr beschwerlich vor, als würde sie bergan gehen. Ihre Beine zittern. Ihr Mund ist ausgetrocknet, und einen Fuß vor den anderen zu setzen – oder sich überhaupt zu konzentrieren – ist in diesem Moment unmöglich.
Ihre Beine knicken ein, als Maya auf den Sitz hinter der schmuddeligen Innentür sackt. Was ein guter Platz ist, denn sie will bleiben, bis die letzten Fahrgäste ausgestiegen sind, und sich unsichtbar für all jene Pendler machen, vor denen sie sich eben blamiert hat. Deshalb versteckt Maya sich zwischen den schläfrigen Leuten und denen, die in fiktive Welten fliehen, hektisch Seiten umblättern oder überfliegen, um herauszufinden, ob das Mädchen am Ende den Jungen bekommt, der Abenteurer es zurück nach London schafft oder der Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird.
Der Bahn-Mann ist kein Trödler. Jeden Tag sieht Maya an derselben Stelle zwischen Fußballstadion und Tunnel, wie er sich selbstsicher erhebt, während sich die Bahn dem neuen Tag entgegenschlängelt. Lange Beine, starke Arme. Er schwingt sich einen grauen Rucksack mit zwei dünnen, braunen Lederriemen auf den Rücken und stellt sich an die Tür. Wenn der Zug hält und die orangefarbenen Lichter angehen, steigt er schnell und zielstrebig aus.
Gewöhnlich folgt Maya ihm in einigem Abstand. Ihre Absätze klackern laut, wenn sie über den Bahnsteig und durch die Schranken eilt, alles unter dem hohen Baldachin, der strahlend weiß über ihnen leuchtet. Er bildet eine Art schützenden Metall-Regenschirm für Tausende Menschen, die nicht einmal aufschauen.
Der Bahn-Mann geht immer direkt durch den Bahnhof, und Maya fragt sich, welche Musik er gerade hört, versucht es am Takt seiner Schritte zu erkennen. Sie kann nicht ahnen, dass er bei vier oder fünf der Konzerte war, die sie im letzten Jahr besucht hat.
Täglich sieht sie ihn vor dem Bahnhof nach rechts abbiegen und rasch in einem Meer von Menschen die Straße hinab verschwinden. Bald kann sie nicht mehr mit seinen großen Schritten mithalten. Er trägt Converse, sie hohe Absätze – manchmal auch Ballerinas, wenn sie anschließend schnell in ein Meeting muss.
Normalerweise verliert sie ihn an der großen Kreuzung beim Krankenhaus. Aber nicht heute. Heute würde er längst weg sein.
Als Mayas Beine nachgegeben haben, hat sie sich möglichst weit weg von der Stelle, an der er gesessen hat, auf einen freien Sitz fallen lassen – in der Sicherheit eines peinlichkeitsfreien Wagens.
Während sie tief durchatmet, wartet sie drei Minuten, bis sie, Maya Flowers, die Letzte ist. Die mit dem roten Gesicht und dem pochenden Herzen.
Ich habe es getan!
In dem leeren Wagen hören ihre Beine auf zu zittern, und sie streicht sich das Haar glatt, sammelt sich wieder. Während sie tief ein- und ausatmet, legt sie die Fingerspitzen an ihren Brustkorb, um zu fühlen, wie sich ihre Lunge füllt.
Ein großer Mann in einem leuchtend blauen, kurzärmligen Hemd, das gut zu seiner dunklen Haut passt, steigt ein und beginnt Zeitungen in einen Sack zu stopfen, bevor die Fahrgäste in Richtung Norden einsteigen.
Maya steht auf und versucht, den zielgerichteten Gang des Bahn-Manns nachzuahmen. Ihr ist klar, dass sie ihn heute nicht einholen wird. Sie wird nicht sehen, ob er ihre Nachricht an sein Herz drückt, sie zerknüllt in seine Tasche stopft oder in einen Mülleimer wirft. Vorerst spielt es auch keine Rolle. Es zählt einzig, dass sie es getan hat.
Sanft scheint die Frühlingssonne herab. Es passt nicht zu der Hetze und Drängelei in der engen Unterführung. Maya jedoch hört inmitten von Vogelgezwitscher, hastigen Schritten und Autohupen einzig die Worte einer Amerikanerin in ihrem Kopf.
»Was wäre das Schlimmste, das passieren könnte?«
Sie lächelt stolz, während sie an einem Mülleimer vorbeikommt und flüchtig hineinschaut.
Maya huscht an einer Ampel über die Straße und bahnt sich ihren Weg zwischen Radfahrern hindurch vorbei an dem Krankenhaus, in dem letzte Nacht neun Babys geboren wurden. Als sie zur Marylebone Road wechselt, fragt sie sich, was der heutige Tag bringen wird. Sie kann es nicht erwarten, ihren Kollegen zu erzählen, dass sie es tatsächlich getan hat: Sie hat ihrem Bahn-Mann eine Nachricht zugesteckt!
Doch zunächst ist etwas anderes wichtiger. Um halb zehn wird dem Marketingteam und allen Abteilungsleitern mitgeteilt, wer den Chefredaktionsposten bekommt. Der ist eine große Sache bei FASH, dem Modegiganten, bei dem Maya arbeitet.
Für einen Moment vergisst sie ihr Herz und erinnert sich daran, wie sie nervös vor den fünf Mitgliedern der Geschäftsleitung gestanden hat, einschließlich ihrer Chefin Lucy, die für den Inhalt verantwortlich ist. Sie war es auch, die Maya dazu geraten hatte, sich für den Posten zu bewerben, und sie hat sie dort als Einzige wirklich ermutigend angesehen.
Maya hielt eine Präsentation darüber, wie sie sich die Zukunft der FASH-Website vorstellte, und machte Vorschläge, wie man am besten die modebewussten jungen Frauen an sich band, die mit nur drei Klicks auf ihrem Handy schnell die neuesten Sachen bestellten. Und sie erläuterte, wie sie plante, den Content ansprechend zu gestalten.
Dabei hat sie es gehasst! Ihre Stimme kippelt ein bisschen, wenn sie vor einer Gruppe von mehr als vier Leuten sprechen muss, und eigentlich will sie den Job auch gar nicht wirklich. Ihr gefällt es, Redakteurin bei FASH zu sein. Es ist zwar belanglos, macht aber Spaß.
Sie darf sich den ganzen Tag Klamotten ansehen und originelle Beschreibungen zu ihnen entwerfen. Als wäre ein silberner Midirock in Camouflage-Jacquard nicht genug, darf Maya ihm einen Namen wie »Lupita« geben, den sie dann anschließend an die Texter im Team weiterreicht, Alex und Liz, die einen Slogan dazu entwerfen, um den Rock zu verkaufen (bei »Lupita« war es »Blendend aussehen und gesehen werden«), und – schwups – wollen FASH-Kundinnen weltweit das Teil haben.
Wenn man ein Kleid, einen Rock oder ein Top kauft, das »Hepburn« oder »Elissia« heißt, fragt man sich dann, wer auf den Namen gekommen ist? Bei FASH ist genau das Mayas Job. Namen für Kleidungsstücke erfinden, Trends benennen, sie auf der Website beschreiben. »Zehn Arten, den Barock zu rocken« und »Die Neunziger neu erfunden« waren zwei von FASHs meistgeklickten Looks im letzten Jahr, und Maya war die Star-Wortschmiedin hinter ihnen.
Aber die Chefredaktion für die Website? Das ist ein richtiger Erwachsenenjob, bei dem man sich mit Finanzen, Mitarbeiterbewertungen, Verhandlungen mit Managern von Markenfirmen und Ressortchefs, die ihre Sachen online besonders hervorgehoben sehen wollen, herumschlägt. Maya mag es, die Vertrauensperson im Team zu sein, nicht die Chefin. Auch wenn das zusätzliche Geld nicht ungelegen käme. Erst letzten Dezember hat sie sich ihre erste Immobilie gekauft, eine viktorianische Maisonette-Wohnung mit hohen Decken und verschimmelten Fensterrahmen, und in die muss einiges an Geld und Liebe gesteckt werden. Maya genießt es, zum ersten Mal allein zu wohnen, und sie hat die ganze Wohnung in Weiß- und Grautönen gestaltet, um sie kennenzulernen, bevor sie richtig mit Limonengrün und dunklem Blaugrau loslegt. Und das wiederum kostet.
Außerdem wollte sie nicht den Eindruck vermitteln, keinen Ehrgeiz zu haben oder undankbar zu sein. Lucy stand hinter ihr, spornte sie an, und das bedeutete Maya viel. Lucy, eine enge Beraterin des FASH-Gründers Rich Robinson, hat Maya immer gefördert. Nicht zuletzt, weil Maya klug ist und fleißig, sich nie wie eine Diva aufführt, sondern loslegt und mit anpackt. Und ganz nebenbei findet Lucy Mayas Schwärmerei für den Fremden im Zug einfach entzückend.
Als Lucy das erste Mal von Maya Flowers gehört hat, arbeitete sie noch bei FASHs größtem Konkurrenten, Walk In Wardrobe. Dort hatte Maya direkt nach der Uni angefangen. Das Reisefieber hatte sie schon mit achtzehn gepackt, und sie wollte Karriere machen. Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, in der Modebranche zu arbeiten, sehr wohl aber mit Sprache, weshalb sie hin und weg war, als sie ihren ersten echten Job bei Walk In Wardrobe bekam. Mayas Gewissenhaftigkeit und ihr freundliches Auftreten waren unter den »Sloane Rangers«, wie die betuchte, modebewusste junge Elite genannt wurde, eine Seltenheit. Doch sie arbeitete sich still und leise in nicht einmal vier Jahren von der Redaktionsassistentin zur Redakteurin hoch, bevor Lucy sie zu FASH abwarb, als sie gerade fünfundzwanzig war. Jetzt, zwei Jahre später, findet Maya, dass sie vielleicht eine Beförderung verdient hat.
Maya staunt über die Schlange vor dem Planetarium und überquert die Straße, um den Pulks ausländischer Schüler mit ihren Rucksäcken auszuweichen, wobei ihr einfällt, dass deren pastellfarbene Röhrenjeans gut zu der »Fondantlust«-Kollektion passen würden, die sie gerade zusammenstellt. Sie eilt nach links in die Baker Street, in deren unterem Drittel sich die Zentrale von FASH befindet. Es handelt sich um ein Jugendstilgebäude im ägyptischen Stil mit einem sehr schmückenden Säulengang vorn. Zwischen vier der Säulen ragen zwei geneigte Glaselemente hervor, die das Licht auf denselben Punkt auf dem Pflaster lenken. Maya fragt sich oft, welchem Spiegelstrahl sie folgen soll, denn beide führen zu denselben Glastüren und hinein in ein modernes Atrium.
Heute wählt sie die Seite mit dem schmalen Laufsteg, und ihre Haare fliegen ein wenig hoch, als sie durch die Türen und vorbei an den drei kahlköpfigen, gelangweilten Sicherheitsleuten geht. Sie passiert eine zweite Glastür und steuert auf die silbern funkelnde Stahltreppe zu.
Der Eingang von FASH fasst es passend zusammen: Aufregend! Farbig! Witzig! Toll! Links ist der Empfang, wo kichernde Praktikantinnen auf den zwei sich farblich beißenden Sofas sitzen und nervös darauf warten, ihre glänzende Karriere in der Modewelt zu starten. Rechts ist ein Konferenzzimmer mit Glaswänden, durch die man die Frühaufsteher mit ihren Kaffeebechern sehen kann, wie sie sich Muster und Stoffproben ansehen, anhand derer sie entscheiden, was im nächsten Jahr getragen wird.
Models schlendern in Bademänteln vorbei und warten darauf, in den Tausenden neuer Teile geknipst zu werden, die heute aus der Fabrik angekommen sind. Und mittendrin sitzt eine Empfangssekretärin mit ambitioniert blondiertem Haar, ihr Headset in Position, um jederzeit Anrufe entgegenzunehmen, während sie sich durch unendlich viele Klamotten-Websites scrollt und entscheidet, was sie mit ihren vierzig Prozent Mitarbeiterrabatt kaufen will.
Hinter ihrem Platz ist ein riesiger Bildschirm, der von dieser Etage bis hinauf zur nächsten ragt und die wichtigsten Looks der Saison zeigt. Die fröhliche Rothaarige in dem gelb-weißen Etuikleid mit Schößchen, dazu zweifarbige Riemchensandalen. Die Brünette in der schwarzen Latzhose über einem schlichten schwarzen Bandeau-Top zu Skater-Schuhen.
Auf ihren High Heels hüpft Maya die Treppe hinauf zur offenen Kantine. Hier ist die Decke niedriger als im Atrium oder am Empfang, und es wirkt unangenehm kalt, weil alle Metallrohrleitungen oberhalb der bunten Stühle und zerkratzten Holztische willentlich freigelegt sind.
Maya sieht nach vorn. Links wäre ein Stand mit warmem Frühstück. Ganz vorn ist Porridge. Rechts von ihr gibt es Croissants. Hier ist alles umsonst, also was soll sie wählen?
FASH ist die beste Firma in der Modebranche, die man sich als Arbeitnehmer wünschen kann. Das Essen ist umsonst, die Klamotten bekommt man vierzig Prozent billiger, und es gibt legendäre Sommer- und Weihnachtspartys. Jeder, der hier arbeitet, ist stolz darauf, weil sich um die Leute gekümmert wird und alle ganz vorn bei der digitalen Mode-Revolution dabei sind.
Nach dem, was Maya in der 08:21-Bahn getan hat, kann sie nichts essen, und sowieso kann sie schlecht Eier, Bacon und Tomate mit nach oben zur Verkündung schleppen. Also geht sie an den warmen Sachen vorbei und zum Gebäck.
»Hi, Maya!«, grüßt sie Sam und greift über ihre Schulter nach einem Schokocroissant. Seine Schulter kollidiert dabei mit Mayas, und Sam wird rot. »Entschuldige, jetzt hast du Krümel auf dem Top.« Sam macht Anstalten, sie von Mayas Bluse zu wischen, bremst sich aber.
»Schon gut, ist ja nur Blätterteig«, sagt Maya und schnipst die Krümel weg, wobei sie hofft, dass die Butter keine Fettflecken auf ihrer Seidenbluse hinterlassen hat. Maya trägt eine grün-weiße Seidenbluse, die sie in graue, »awkward-length« Culottes (auch die Bezeichnung hat Maya sich ausgedacht) gesteckt hat, dazu knöchelhohe Stiefeletten mit Schleifen an den Seiten. Heute Morgen hat sie sich aus gleich zwei Gründen so schick gemacht: 1) um den Unbekannten im Zug zu beeindrucken und 2) für ihren Auftritt vor der Geschäftsleitung in der nächsten halben Stunde, wenn sie mit einem bescheidenen Lächeln die Beförderung zur Chefredakteurin annehmen wird.
»Nervös vor der großen Bekanntmachung?«, fragt Sam.
»Egal, was passiert, immer ein Lächeln auf den Lippen«, antwortet sie mit einem sehr gekünstelten.
Sam ist in der IT – er ist sogar der Leiter des Teams – und fest davon überzeugt, dass Maya die Beförderung bekommen wird, seit sie ihm von Lucys Rat erzählt hat, sie solle sich für den Posten bewerben.
»Du wirst super sein!«, sagt er.
Vor wenigen Wochen, kurz vor Mayas Präsentation, hat Sam ihr ein Mixtape mit lauter Songs auf den Schreibtisch gelegt, die sie in die richtige Stimmung bringen sollten.
»Ich kann das nicht abspielen. Ich habe gar keinen Kassettenrekorder!«, hat Maya daraufhin lachend geantwortet.
»Tja, aber der Gedanke zählt«, sagte Sam und mailte ihr die Trackliste, damit sie die Songs über ihren Computer hören konnte, während sie die letzten Änderungen an ihrer Präsentation vornahm.
Maya wickelt ihr Schokocroissant in eine weiße Papierserviette und blickt zu Sam auf.
»Die Website braucht eine Galionsfigur, um richtig zu punkten, und niemand eignet sich dazu besser als du, Maya. Du wirst perfekt sein. Die Leute schätzen deine Meinung, du hast Autorität, und – was wichtig ist – du bist kein Arsch.« Eloquent wie immer.
Wie die meisten Entwickler bei FASH interessiert Sam sich nicht für Mode. Er arbeitet dort, weil es eine der weltweit am meisten angeklickten Websites ist, und das macht sich in einem IT-Lebenslauf immer gut. Sam trägt alte, löchrige Rock-T-Shirts, ausgeblichene, eingerissene Jeans und selbst im Winter Flip-Flops. Er ist groß, hat struppiges Haar und ein rundes Gesicht, in dem die Fältchen in den Augenwinkeln den Eindruck vermitteln, er würde immerzu lachen.
»Aber vergessen wir das mal kurz«, sagt Maya. »Ich habe selbst etwas bekannt zu geben.«
Sam sieht sie sehr erwartungsvoll an.
»Ich habe dem Bahn-Mann die Nachricht gegeben!«, quiekt sie und wartet insgeheim auf eine Fanfare.
Sam weiß von Mayas Schwärmerei für den Bahn-Mann. Sein Schreibtisch ist direkt hinter Mayas, und er ist einer von insgesamt zwei Männern an den beiden Arbeitsinseln, an denen sie sitzen. Seit zehn Monaten hört er Maya von dem Bahn-Mann reden: was er anhat, was er liest, ob er an dem Morgen aufgeblickt hat.
Und Maya weiß, was Sam von ihrer Verknalltheit und ihrem pubertären Stalking hält. Als sie ihn vor Weihnachten fragte, wie er reagieren würde, wenn ihm eine Frau, die er nicht kennt, auf seiner täglichen Fahrt von Brighton zur Arbeit einen selbst gebackenen Mince Pie und eine Weihnachtskarte mit ihrer Telefonnummer darauf schenkte, hat er geantwortet: »Ich würde beides in den Müll werfen und sie für irre halten.« Was genügt hat, um Maya von dieser Idee abzubringen.
»Na ja, heute Morgen hat er nichts gesagt. Er war ein bisschen verunsichert, und ich habe ihm auch gar keine Chance gegeben, sondern bin gleich wieder weggegangen. Allerdings habe ich noch nicht nach meinen E-Mails gesehen. Da könnte schon eine Nachricht sein …« Maya holt ihr Handy aus der Tasche. Es ist 09:28 Uhr. »Mist, gehen wir lieber nach unten.«
Der größte Besprechungsraum ist riesig, hat einen Holzfußboden, eine Bar und bunte Patchwork-Pouffes, die wie eckige Strohballen aussehen. Hier finden alle großen Events statt, und hierhin werden die Leute zu größeren Bekanntmachungen einbestellt. Es ist auch der Raum, in dem Maya jeden Montagvormittag die neu eingetroffenen Sachen durchgeht, damit sie sich für die unzähligen Schals, Schuhe, Kleider, Röcke, Haarbänder, Tops, Hosen und Taschen Namen ausdenken kann, bevor sie, geradezu militärisch streng organisiert, im Studio fotografiert werden. Die wirklich guten Teile landen in gigantischen Koffern und werden an glamourösen Drehorten von dem Fashion-Team aufgenommen, das Zara leitet. Maya begutachtet jedes der Teile einzeln, um mehr aus ihnen zu machen als Artikelnummern.
Manchmal hat sie sofort Ideen. Der Nena-Rock war leicht und bunt wie eine von Frida Kahlo inspirierte Kreation. Er schrie förmlich nach ihrer besten Freundin Nena. Die beige Tasche, die Maya wegen ihrer quadratischen Form »Boxy« getauft hat, war dagegen etwas weniger einfallsreich. Auch die Spitzenkleider und Stehkragen-Blusen von »Zehn Arten, den Barock zu rocken« haben in diesem Raum ihren Anfang genommen. Vielleicht wird es ihre Managerkarriere auch gleich.
Sam und Maya hocken sich auf einen der Patchwork-Strohballen, wobei Maya überlegt, ob man eine kurze Rede von ihr erwarten wird. Hätte Lucy sie dann nicht vorgewarnt? Nein, man würde sie wohl kaum zwingen zu improvisieren, nicht vor so gut wie allen Abteilungsleitern.
Sie blickt sich um. Es ist eine beängstigende Anzahl der ranghöchsten FASH-Mitarbeiter versammelt. Zum zweiten Mal heute bekommt Maya weiche Knie. Nach zwei Jahren hier erkennt sie die meisten von ihnen, auch wenn die sie umgekehrt sicher nicht erkennen. Da ist die Geschäftsleitung, einschließlich der fünf Leute, vor denen sie letzte Woche ihre Präsentation gehalten hat: der CEO Rich Robinson, gekleidet wie Bobby Ewing in Blazer, weißem Hemd und Jeans; CFO Rich True, groß und dünn wie eine Bohnenstange, auch wenn sein Job das Erbsenzählen ist; die Chefredakteurin Lucy; die winzige Powerfrau Geri, Leiterin der Kundenbetreuung; Andy, Leiter der Rechtsabteilung, dessen hoher Glatzkopf Maya an das Planetarium erinnert, an dem sie zweimal täglich vorbeikommt; Sarah, die Leiterin der internationalen Vertretungen, die ständig schläfrig wirkt, was wahrscheinlich daran liegt, dass sie mindestens zweimal wöchentlich die Datumsgrenze überfliegt; die Chefin für Damenbekleidung, Zara, mit dem pechschwarzen Haar und dem Zahnlückenlächeln, das sie wie eine Rockerin aus den Siebzigern wirken lässt, und der Technische Leiter Sam. Zu ihnen gesellen sich sechs andere Mitglieder aus Mayas Redaktionsteam, die eingeladen sind, um zu erfahren, wer bei ihnen künftig die Leitung haben wird.
Ganz vorn sitzen Rich und Rich, die FASH zu Beginn des neuen Jahrtausends gegründet haben, als noch alle behaupteten, dass sich Online-Handel nicht durchsetzen werde. Innerhalb von zehn Jahren brachten sie es zum weltweiten Versandhandel. Mütter mochten noch lokal einkaufen, wo sie Sachen sehen, anfassen und in mies beleuchteten Kabinen anprobieren konnten, aber ihre stilbewussten Töchter bissen schnell an. Und inzwischen stellen Frauen in den Zwanzigern von Mailand bis Paris, von Madrid bis Moskau, von New York bis Sydney ihre Outfits bei FASH zusammen. Damenbekleidung hat Rich und Rich sehr reich gemacht.
Lucy kam kurz nach der FASH-Gründung an Bord, als die beiden Richs begriffen, dass Männer in den Vierzigern, die sich wie Ölmagnaten kleiden, mehr von Einzelhandel verstehen als von Stil. Und Lucy ist die stilsicherste Frau bei FASH.
Sie steht auf und macht sich für die große Ankündigung bereit. Ihr schulterfreies, schwarzes Top betont ihre perfekten Pilates-Arme und ihren sehnigen Körper. Ihr schimmernder, blonder Bob umrahmt ihre braunen Augen, und sie streicht ihre makellos gebügelte Marlenehose glatt. Man käme nie auf die Idee, dass Lucy zwei Kinder im Vorschulalter hat.
»Danke fürs Kommen. Weil ihr alle viel zu tun habt, fasse ich mich kurz«, sagt Lucy in dem typischen Singsang des Nordwestens, obwohl sie seit Jahren in London lebt. Das bewundert Maya an ihr. Sie hätte sich leicht in der übertriebenen Modeblase verlieren können, die mit ihrer Stilsicherheit und ihrem Gehalt einhergeht, doch sie ist im Herzen eine stolze Frau aus Lancashire geblieben. »Es freut mich sehr, dass ich euch heute Morgen unsere neue Chefredakteurin vorstellen darf, der ihr gewiss alle zu dieser fantastischen Rolle gratulieren wollt.«
Blicke wandern durch den Raum.
»Wir haben Gespräche mit einigen der besten Moderedakteure geführt, doch am Ende stach sie ganz klar heraus – durch ihre Wortgewandtheit, ihr Gespür für kommende Trends und ihre Fähigkeit, sie Millionen von Kundinnen weltweit zu vermitteln, gepaart mit der nötigen sozialen Kompetenz, um ein überarbeitetes Team zusammenzuhalten und glücklich zu machen.«
Maya wird rot, und Sam stupst ihr mit dem Ellbogen in die Rippen.
»Sie ist solch ein Lichtblick, dass ich nicht widerstehen konnte, sie von Walk In Wardrobe abzuwerben …«
Oh mein Gott.
Maya malt sich neue, doppelt verglaste Fenster aus, die im Sonnenschein blitzen.
»Ich bitte um Beifall für Cressida Blaise-Snellman!« Lucy reckt ihren Kopf in Richtung Tür. »Wir sind sehr froh, dich bei FASH willkommen zu heißen, Cressida. Komm rein!«
Applaus.
Cressida, eine spindeldürre Frau, betritt den Raum, ihren Mund kokett geschürzt und die Wangen gerötet. Ihre Wangenknochen sind wie gemeißelt, ihr langes, blondes Haar hat sie hinter die Ohren gestrichen. Sie trägt dasselbe Outfit aus schwarzer Latzhose und Bandeau-Top wie das Model auf dem großen Bildschirm an der Rezeption, nur dass Cressida es mit einem schwarzen Blazer kombiniert hat, der wie ein Cape über ihre Schultern drapiert ist.
»Cressida?«, haucht Maya entgeistert und rümpft die von Sommersprossen gesprenkelte Nase ein wenig. Zum Glück hört sie bei dem Applaus keiner, denn bei FASH muss jeder Triumph gefeiert werden. Maya hat bei Walk In Wardrobe mit Cressida zusammengearbeitet, und sie erinnert sich definitiv nicht wegen ihrer sozialen Kompetenz an sie.
»Echt blöd«, sagt Sam bedauernd, auch wenn seine Augen dabei aussehen, als würde er lachen. »Zurück an die Arbeit.«
Maya und der Rest des Redaktionsteams gehen zurück durch die Rezeption und die Treppe hinauf zu ihren Schreibtischinseln. Alle bewegen sich etwas weniger schwungvoll als auf dem Hinweg.
»Tja, das ist zum Kotzen«, sagt die Bildredakteurin Olivia, als sie auf den Stuhl an ihrem Fensterplatz neben Maya sackt. Olivia ist in jeder Beziehung voluminös, und ihre wilden, orangefarbenen Korkenzieherlocken sind bei jedem Wetter wie eine Explosion von Sonnenschein und Wärme.
Die Social-Media-Managerin Emma sitzt Olivia gegenüber, ebenfalls direkt am Fenster. Ihre blauen Augen leuchten im Sonnenlicht und bilden einen hübschen Kontrast zu ihrem schulterlangen, sehr dunkelbraunen Haar. Sie ist Mayas älteste Freundin bei FASH und Tag und Nacht online, um auf Tweets zu reagieren, nach Trends zu forschen sowie das Team darüber zu informieren, was die Kundinnen mögen und was sie hassen. Und sie ist viel zu lieb, um in der Modebranche zu arbeiten. Sie sitzt neben Lucy, deren Platz wiederum Maya gegenüber ist, um sie über die neuesten Modenachrichten auf dem Laufenden zu halten. Vorausgesetzt, Lucy ist an ihrem Schreibtisch. In letzter Zeit ist sie immer so beschäftigt. Seit Monaten könnte sie eine neue Redakteurin brauchen, die sie unterstützt und ihr einiges an Arbeit abnimmt, während sie sich mehr auf ihre Rolle als Strategin konzentriert.
An den Schreibtischen hinter Lucy und Emma sitzen die anderen vier Mitglieder des Redaktionsteams, der leitende Texter Alex und seine Mitarbeiterin Liz. Die beiden übersetzen die Looks in Artikel, die man teilen, klicken und vor allem kaufen kann, damit jede Besucherin der Website sieht, warum sie das neueste Teil haben muss – und es dann kauft.
Liz ist ein schüchternes, mausgraues Mädchen mit einem enzyklopädischen Wissen zu jedem Kleidungsstück jedes Modelabels, das jemals auf einem Laufsteg zu sehen war. Und sie ist so nett, dass selbst Lucy ein schlechtes Gewissen hat, wenn sie Liz bittet, ihr ein Sandwich aus dem Café gegenüber zu besorgen. Alex ist ein sorgfältig frisierter Modekenner mit reichlich Erfahrung, der jeden Trend mitgemacht hat, seit er sich in den Achtzigern die Bügelverschlüsse von Grolsch-Bierflaschen an die Schuhe hakte.
Gegenüber von Liz und Alex kichern Chloe und Holly, die jüngsten und witzigsten Teammitglieder. Will man wissen, wer auf der Sommerparty mit wem geknutscht hat, erfährt man es von ihnen. Nebenher entwirft Chloe all die tollen Grafiken auf der Homepage. Holly ist Bilderscout, und wann immer sie nicht durch Instagram scrollt oder ihr langes, an den Spitzen gefärbtes Haar flechtet, sichtet sie die Hunderten von Aufnahmen, die täglich im FASH-Studio gemacht werden.
Sie alle sind Mayas Acht-Stunden-Freundinnen, und Maya ist ihre Vertraute. Die meisten im Team haben sie schon irgendwann mal um »ein kurzes Gespräch in der Kantine« gebeten; gewöhnlich geht es um ein familiäres Drama, Beziehungsstress oder Outfit-Tipps für eine Party. Sie alle, offenbar abgesehen von Lucy, wünschen sich, dass Maya den Posten als Chefredakteurin bekommen hätte, nicht die dürre Frau, die man ihnen eben unten präsentiert hat.
*
Maya sitzt an ihrem Computer in dem großen, offenen Büro und fixiert den Bildschirm. Inzwischen weiß sie nicht mehr, wie oft sie auf »aktualisieren« geklickt hat. Doch keine einzige E-Mail von jemandem, der der Bahn-Mann sein könnte.
Maya denkt über Cressida Blaise-Snellman nach, blickt jedoch nicht auf, als die neue Chefredakteurin sich an den Schreibtisch gegenüber setzt und Lucys leere Zeitschriftenordner mit ihren Ausgaben von Vogue, Vanity Fair und The New Yorker füllt. Maya weiß, dass Cressida sie erkennt. Ihre Zeiten bei Walk In Wardrobe hatten sich ein Jahr lang überschnitten, ehe Lucy sie abwarb. Doch als Cressida sich dem Redaktionsteam vorstellt, gibt sie vor, Maya nicht zu kennen.
»Bitte alle mal zu meinem Schreibtisch kommen!«, ruft sie. Chloe und Holly gehen hin, während Liz, Alex und Emma ihre Stühle herumdrehen. Maya und Olivia stehen an ihren Schreibtischen auf. »Ich finde es natürlich total aufregend, hier zu sein«, sagt sie in einem sehr geschliffenen Chelsea-Akzent. »Wie wer heißt, lerne ich mit der Zeit, versprochen. Allerdings bin ich mit Gesichtern besser als mit Namen.« Sie hält ein Models-1-Verzeichnis in die Höhe und steckt es zu ihren Zeitschriften.
Wir sind nur sieben Leute.
Vielleicht erinnert sie sich doch nicht mehr an Maya, weil sie zu unscheinbar ist. Der Bahn-Mann hat sie fast ein Jahr lang nicht bemerkt, obwohl sie ihm jeden Morgen beinahe gegenübergesessen hat.
Oder Cressida ist verlegen. Sie arbeitet jetzt mit einer Person zusammen, die sich eventuell noch daran erinnert, dass sie eine Praktikantin so übel schikaniert hat, dass die eines Mittags ihren Schreibtisch verließ und nicht wiederkam. Als Cressida sie endlich auf dem Handy erreichte und ihr befahl, zurückzukommen, gab die Praktikantin vor, sie wäre von einem Bus angefahren worden und könne nicht kommen. Nie mehr.
Am nächsten Abend hat Maya die Praktikantin in einem Pub in Soho getroffen, ohne gebrochene, eingegipste Knochen. Verlegen gestand sie, dass sie von Cressida wegwollte. Maya hat Cressida damals nichts erzählt, weil sie sie nicht in Verlegenheit bringen wollte, aber das ganze Team vermutete, dass Cressida die junge und einst begeisterte Praktikantin zu dieser drastischen Lüge getrieben hatte.
»Selbstverständlich führe ich auch noch Einzelgespräche mit euch allen. Mein Freund hat eine kleine Bar in der Marylebone High Street, die eignet sich prima dafür.« Um des Effekts willen legt sie eine Pause ein. »Aber erst mal zurück an die Arbeit, hopp, hopp.«
Olivia kehrt an ihren Platz zurück und schickt eine E-Mail an Maya und Emma.
Hat sie gerade »hopp, hopp« gesagt?!
Ehe Emma die Nachricht lesen kann, bittet Cressida sie, den Schreibtisch mit ihr zu tauschen, sodass sie den Fensterplatz bekommt.
»Cressie ist einfach ein Albtraum, wenn sie nicht optimales Tageslicht hat«, erklärt sie. Sie spricht von sich in der dritten Person.
Maya versucht, sich in »Uni-Chic« zu verlieren, einem neuen Trend aus dem Herbst/Winter-Lookbook, in dem sich alles um College-Jacken, Sportstrümpfe und gestreifte Blazer dreht. Es erinnert sie so sehr an Cressidas Stil, dass Maya ein bisschen schlecht wird.
Aktualisieren, aktualisieren, aktualisieren. Sie kann sich nicht konzentrieren. Cressida Blaise-Snellmans Erscheinen lässt Mayas Sommersprossen blasser werden, aber noch schlimmer ist, dass der Bahn-Mann ihr Herz verkümmern lässt. Es ist schon nach elf Uhr, und er hat sich noch immer nicht gemeldet.
Der Frühlingsnachmittag neigt sich dem Ende zu, und die Sonne über den Dächern von Marylebone taucht London in einen magischen Glanz, da erscheint endlich die Nachricht auf Mayas Bildschirm, nach der sie sich so sehr sehnt. Sie öffnet blitzschnell ihren Posteingang.
17:08 Uhr. Betr.: Der Typ aus dem Zug.
»Oh Gott, er hat mir eine E-Mail geschickt«, sagt Maya mit matter Stimme, die das Flattern in ihrem Bauch verrät. Seit Cressidas Ernennung heute Morgen herrscht eine neue Atmosphäre im Büro, es ist still. Deshalb fand Maya es unangebracht, Emma, Olivia oder irgendwem sonst zu erzählen, dass sie dem Bahn-Mann endlich ihre Nachricht gegeben hat.
»Wer hat dir gemailt?«, fragt Emma, deren fast schon unheimliche Intuition ihr sagt, dass es wichtig sein könnte.
»Pst, ich telefoniere«, zischt Cressida und wedelt mit dem Arm.
»Hat der Bahn-Mann geantwortet?« Sam dreht sich auf seinem Stuhl um.
»Der Bahn-Mann?«, ruft Olivia begeistert und klatscht in die Hände.
Verdammt.
Hätte Maya doch bloß den Mund gehalten, die E-Mail geöffnet und stumm gelesen! Allein hätte sie mit allem umgehen können, was da stehen mochte. Doch das kommt jetzt nicht mehr infrage. Wenigstens haben Chloe und Holly nichts gehört, denn die sind mit ihrem Insta-Klatsch beschäftigt.
Alex steht auf, streicht sich vorsichtig mit der Hand über sein perfekt sitzendes Haar und schiebt seine runde Hornbrille ein wenig nach unten, um Maya über den Rand hinweg anzusehen.
»Ähm, haben wir Neuigkeiten?«, fragt er.
Mit dem Telefon in der Hand runzelt Cressida die helle Stirn und legt einen Zeigefinger an ihren Mund, damit das Team ruhig ist.
»Scheiße, Mann«, flüstert Sam. »Was sagt er?«
Maya,
danke für die Nachricht. Es tut mir leid, dass ich in der Bahn etwas benommen gewirkt habe, aber ich kämpfe gerade mit meinem Heuschnupfen.
Es ist richtig süß von dir, nur habe ich eine Freundin, und ich denke, sie wäre wenig begeistert, wenn ich mit dir etwas trinken ginge.
Trotzdem war es nicht blöd, was du gemacht hast. Das erfordert eine Menge Mut, den ich an deiner Stelle sicher nicht gehabt hätte.
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!
James
Er heißt James. James, denkt Maya. Ein netter, verlässlicher Name. Wenige Sätze und ein freundlicher Gruß. Darunter steht: James Miller, Account Director, MFDD – was immer das bedeutet.
Vier Augenpaare sind auf Maya gerichtet. Sie liest die Mail wieder, wünscht sich, die anderen würden verschwinden, fühlt sich zugleich aber auch mies, weil sie die anderen enttäuschen muss. So ist Maya eben: besorgt, ihre Freunde zu enttäuschen, sogar wenn sie selbst verzweifelt ist.
Ich habe eine Freundin.
»Was schreibt er?«, drängt Sam, der vorgibt, nicht auf den Bildschirm zu sehen.
Ich denke, sie wäre wenig begeistert.
Maya möchte heulen. Es gibt eine andere, die der Unbekannte beeindrucken will. Eine Frau, die er liebt. Mayas Gesicht ist heiß. Sie hat geahnt, dass das passieren würde. Das Leben entwickelt sich nie so, wie es soll.
Ich habe eine Freundin.
Andernfalls wäre es ja auch zu schön, um wahr zu sein.
Ich denke, sie wäre wenig begeistert.
»Er hat eine Freundin.« Maya winkt lässig ab.
Ein kollektives Stöhnen. Nur Emma ist stumm, denn sie erkennt, wie sehr die E-Mail Maya verletzt.
»Vergiss ihn«, sagt Olivia auf ihre typisch barsche, brillante Art, um der Situation die Peinlichkeit zu nehmen. »Du bist umwerfend. Sein Pech.«
Cressida hält das Mundstück ihres Telefons zu und sieht verärgert zu Olivia hinüber.
»Leute, könnt ihr bitte still sein? Ich telefoniere mit der Personalabteilung wegen meines Codes für den Mitarbeiterrabatt.«
Alle kehren an die Arbeit zurück. Maya steht auf und geht durch die Glastüren zur Kantine, vorbei an den Tresen, an denen längst kein Essen mehr serviert wird. Ihr Gesicht ist brennend heiß, und ihr Herz schrumpft mit jedem Schritt ein wenig mehr. Die niedrig hängenden Metallrohre der hippen Industriedecke geben ihr das Gefühl, keine Luft mehr zu kriegen.
Benommen eilt sie durch die Glastüren am anderen Ende, bis sie die Toilette erreicht. Sie öffnet die Tür und geht hinein. Dabei blickt sie nach unten, damit keiner ihre glänzenden Augen sieht, obwohl niemand hier ist.
Ihre Schuhe sind hübsch. Ihr Lieblingspaar. Maya hat sich heute besonders angestrengt, genau wie die letzten elf Tage. Eigentlich müsste sie sich jetzt so umwerfend fühlen wie vor drei Wochen, als sie das Paar mit ihren vierzig Prozent Rabatt gekauft hat, aber je mehr Abstand sie zu den Worten des Bahn-Manns bekommt, desto kleiner und schwächer fühlt sie sich. Sie ist vor elf Tagen achtundzwanzig geworden. Heute ist nicht mal ihr Geburtstag.
Maya sieht in den Spiegel und drückt sich ein feuchtes Papiertuch auf die Wangen, um die Haut zu beruhigen. Ihre Freunde denken wahrscheinlich, dass sie weint, also kämpft sie dagegen an. Maya ist immer die Ruhige, die Beherrschte. Und es ist ja keiner gestorben. Heute jedenfalls nicht.
Ich habe geahnt, dass es so ausgehen könnte.
Auch wenn Maya nicht erklären kann, warum, überrascht es sie trotzdem. Vielleicht geschieht es ihr recht, weil sie geglaubt hat, eine Chance zu haben.
Natürlich hat der Bahn-Mann eine Freundin. Er ist viel zu schön, um keine zu haben.
Doch ein Teil von ihr ist auch überrascht, weil sie sich mit dem Bahn-Mann in einer glücklichen Zukunft sehen konnte. Nicht in so einer albernen Hollywood-Version, sondern in einer echten Zukunft, in der Haare grau werden, ihrer beider Lächeln dünner wird, sie sich aber immer noch an den Händen halten, auch wenn sie die schlimmste Seite des anderen kennengelernt haben. Ihre Intuition war falsch.
Früher hat ihre Intuition sie selten im Stich gelassen. Manchmal hatte sie fast das Gefühl, sie könne in die Zukunft blicken. Wie jenes Mal in ihren frühen Zwanzigern, als sie eine Wochenendreise nach Paris gewonnen hat. Noch während Maya die Münze aus ihrem Portemonnaie holte, um das Los zu kaufen, sah sie sich kichernd und eisverschmiert mit ihrer Schwester Clara die Seine entlangschlendern – ganz genau so, wie es sechs Wochen später dann tatsächlich geschehen ist.
Oder jenes Mal vor vielen Jahren, als jemand in den Garten der Familie Flowers gerannt kam. Maya war damals acht und machte gerade Parfüm unter dem alten Flieder, zerrieb Rosenblätter mit Wasser. Doch es roch einfach nie so gut wie der hübsche, rosenförmige Flakon auf der Frisierkommode ihrer Mutter. Trotzdem versuchte Maya den ganzen Sommer über, es genau so hinzubekommen, und manchmal sprühte sie sich den Duft ins Gesicht, wenn sie an der Kommode saß und in Dolores Flowers’ dreiteiligen Spiegel sah. Als der dünne, bärtige Mann damals durch ihre Gartenpforte angerannt kam, wusste Maya sofort, dass Clara etwas Furchtbares zugestoßen war, noch bevor der Mann sagen konnte, dass sie drei Straßen weiter mitten auf der Fahrbahn lag.
Diesmal muss ich etwas falsch verstanden haben.
Vielleicht funktionierten ihre hellseherischen Fähigkeiten nur, wenn es um Clara ging. Schließlich hat sie schon einmal katastrophal falschgelegen. Damals, als ihre Welt ganz plötzlich zusammenbrach.