MARK AUREL

SELBSTBETRACHTUNGEN

IN EINER NEUÜBERSETZUNG VON GREGORY HAYS

MARK AUREL

SELBSTBETRACHTUNGEN

IN EINER NEUÜBERSETZUNG VON GREGORY HAYS

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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2. Auflage 2021

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Copyright der Originalausgabe © 2003 Modern Library Paperback Edition. Introduction and notes copyright © 2002 by Gregory Hays, all rights reserved. Translation copyright © 2002 by the Modern Library

Die englische Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel Marcus Aurelius: Meditations. A New Translation, with an Introduction, by Gregory Hays

This translation published by arrangement with Modern Library, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Elisabeth Liebl

Redaktion: Silke Panten

Korrektorat: Anke Schenker

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Umschlagfoto: Peter Horree/Alamy Stock Photo

Satz: Carsten Klein

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-95972-352-7

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-647-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-648-1

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INHALT

Einführung von Gregory Hays

Zeittafel

ERSTES BUCH

ZWEITES BUCH

DRITTES BUCH

VIERTES BUCH

FÜNFTES BUCH

SECHSTES BUCH

SIEBTES BUCH

ACHTES BUCH

NEUNTES BUCH

ZEHNTES BUCH

ELFTES BUCH

ZWÖLFTES BUCH

Anmerkungen

Personenverzeichnis

Über den Übersetzer

EINFÜHRUNG

VON GREGORY HAYS

MARCUS AURELIUS ANTONINUS

Wofern nicht entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten, oder die, welche jetzt Könige und Herrscher heißen, echte und gründliche Philosophen werden, […] gibt es keine Erlösung vom Übel für die Staaten.1

Platon, Der Staat

Mark Aurel[1] soll dieses Wort von Platon sehr geschätzt haben. Jene aber, die über ihn geschrieben haben, konnten nur selten der Versuchung widerstehen, es auf den Kaiser selbst anzuwenden. Und tatsächlich haben wir, wenn wir nach einer Verkörperung von Platons Philosophenkönig suchen, in Marcus Aurelius, der beinahe zwei Jahrzehnte lang die Geschicke des Römischen Reiches lenkte und Autor der Selbstbetrachtungen ist, ein vorzügliches Beispiel. Und doch ist bereits diese Titulierung etwas, das Marcus mit Sicherheit abgelehnt hätte. Er hielt sich nicht für einen Philosophen. Er sah sich allenfalls als einen eifrigen Schüler und einen unvollkommenen Praktizierenden einer Philosophie, die andere begründet hatten. Und was den Kaiserthron anging, so war es fast Zufall, dass er letztlich ihm zufiel. Als Marcus Annius Verus im Jahr 121 geboren wurde, hätten ihm seine Zeitgenossen vermutlich im besten Falle eine Karriere im römischen Senat vorhergesagt oder einen Posten in der Verwaltung des Reiches. Dass er tatsächlich einmal den kaiserlichen Purpur tragen sollte und seine in Bronze gegossene Reiterstatue uns 2000 Jahre später mit erhobener Hand vor dem römischen Kapitol grüßen würde, sah wohl niemand voraus.

Dabei war Marcus der Spross einer hochrangigen Familie. Im Jahr seiner Geburt trat sein Großvater gerade seine zweite Amtszeit als römischer Konsul an, was im Grunde das höchste Amt war, das Rom zu vergeben hatte. Allerdings hatte es zu dieser Zeit mehr schon zeremonielle Bedeutung. Tatsächlich sollte der Großvater den Jungen erziehen, denn Marcus’ Vater starb sehr jung. Marcus erwähnt in den Selbstbetrachtungen den Charakter seines Vaters, so wie er ihn in Erinnerung hatte oder vielmehr wie er ihm von anderen geschildert wurde. Denn tatsächlich konnte er ihn kaum gekannt haben. Über seine restliche Kinder- und Jugendzeit wissen wir kaum mehr als das, was wir aus den Selbstbetrachtungen ableiten können. Die Biografie, die uns die Historia Augusta überliefert (ein kurioses und wenig zuverlässiges Werk des ausgehenden 4. Jahrhunderts, das angeblich auf eine verloren gegangene Sammlung von Lebensbeschreibungen des Biografen Marius Maximus zurückgehen soll, der im 3. Jahrhundert lebte), zeichnet Marcus als ernsthaftes Kind. Andererseits aber liebte er wohl den Faustkampf, das Ringen, Laufen und die Beizjagd. Er scheint ein guter Ballspieler gewesen zu sein und die Jagd geliebt zu haben. All dies sind durchweg keine unüblichen Beschäftigungen für einen jungen Mann aus guter Familie.

Das erste Buch der Selbstbetrachtungen erlaubt uns einen gewissen Einblick in die Erziehung des jungen Marcus. Was fehlt, lässt sich mühelos ergänzen durch das, was wir über die Schulbildung der römischen Oberschicht zu jener Zeit wissen. Seine ersten Lehrer waren vermutlich Sklaven wie der nicht namentlich genannte Lehrer, der in Selbstbetrachtungen 1, 5 erwähnt wird. Dieser vermittelte dem Jungen vermutlich grundlegende Kenntnisse im Lesen und Schreiben. Später bekam er dann wohl Privatlehrer, die ihn in die Literatur einführten, zum Beispiel in die Aeneis, Vergils großes Epos. Doch auch die Literatur war nur Vorbereitung auf das eigentliche Ziel: die Rhetorik, den Schlüssel zu einer aktiven Laufbahn als Politiker, was für das Kaiserreich ebenso galt wie zuvor für die Republik. Unter der Anleitung eines ausgebildeten Rhetors hätte Marcus mit kurzen Übungen begonnen, bevor er zu ausgearbeiteten Reden übergegangen wäre, mit denen er in fiktiven Gerichtsverhandlungen jeweils eine Seite hätte vertreten müssen. Oder einer bekannten historischen Gestalt an einem Wendepunkt ihres Lebens einen Rat hätte erteilen müssen. (Sollte Cäsar den Rubikon überschreiten? Sollte Alexander am Indus innehalten? Warum? Oder warum nicht?)

Der Unterricht fand in Griechisch und in Latein statt. Da zu Beginn des 1. nachchristlichen Jahrhunderts die römische Oberschicht weitgehend zweisprachig war, hätte Marcus’ Griechisch in Wort und Schrift mindestens ebenso gut beherrscht wie ein russischer Aristokrat des 19. Jahrhunderts Französisch oder ein japanischer Höfling der Heian-Zeit Chinesisch. Marcus hätte neben der Aeneis Homers Ilias studiert, ebenso die Odyssee und die Tragödien des Euripides, die Reden des großen athenischen Rhetors Demosthenes ebenso wie die des Cicero. Die griechischen Schriftsteller und Künstler waren die intellektuelle Elite Roms. Und wenn der Kaiser später im Leben mit seinem Leibarzt Galen sprach, tat er das mit Sicherheit in der Muttersprache des Arztes. Darüber hinaus war und blieb das Griechische die Sprache der Philosophie. Gegen Ende der Republik und zu Beginn der Kaiserzeit entwickelten Lukrez, Cicero und Seneca mit großem Erfolg eine lateinische Philosophensprache. Doch die großen Denker – Platon, Aristoteles, Theophrast, Zenon, Chrysippos, Epikur und so weiter – waren durchweg Griechen. Wer ernsthaft philosophische Studien betreiben wollte, musste die Sprache dieser Geistesgrößen kennen sowie die Begriffe, die sie geprägt hatten. Dass Marcus seine Selbstbetrachtungen also auf Griechisch verfasste, ist ganz natürlich.

Als Marcus im Jahr 137 sechzehn Jahre alt wurde, trug sich ein einschneidendes Ereignis zu. Hadrian, der herrschende Kaiser, war kinderlos. Eine Krankheit hätte ihn im Vorjahr fast das Leben gekostet. Ohnehin war klar, dass er nicht ewig leben würde. Hadrian verdankte seinen Thron der Tatsache, dass sein Vorgänger Trajan, mit dem er entfernt verwandt war, ihn adoptiert hatte. Also folgte Hadrian dessen Beispiel und ernannte den hochrangigen Adligen Lucius Ceionius Commodus zu seinem Nachfolger. Im Jahr 137 aber starb Ceionius ganz unerwartet, und Hadrian musste sich auf die Suche nach einem neuen Thronfolger machen. Seine Wahl fiel auf den kinderlosen Senator Antoninus – unter dem Vorbehalt, dass Antoninus seinerseits nun Marcus (seinen angeheirateten Neffen) und Ceionius’ damals siebenjährigen Sohn Lucius Verus adoptierte. Marcus nahm also den Namen seines Adoptivvaters an und wurde Marcus Aurelius Antoninus.

Hadrians Tod im Folgejahr versetzte Marcus in puncto Thronfolge in die vorderste Reihe. Seiner Erziehung und der des jüngeren Verus kam damit eine noch größere Bedeutung zu. Es versteht sich, dass nun keine Kosten mehr gescheut wurden. Mit dem Unterricht in griechischer Rhetorik wurde Herodes Atticus betraut, ein unfassbar reicher Rhetoriker aus Athen, dessen turbulente Beziehungen zu seiner Familie, seinen Mitbürgern und dem Kaiserhof massenhaft Material für Seifenopern liefern würde. Marcus’ Lehrer in lateinischer Redekunst war Marcus Cornelius Fronto, ein bekannter Rhetoriker aus der Stadt Cirta in Nordafrika. Es ist ein Glücksfall, dass viele von Frontos Briefen an Marcus die Zeit überdauert haben. Sie zeigen sehr schön, welch enge Beziehung Lehrer und Schüler pflegten. Und sie belegen, wie bedauerlich Fronto es fand, als sein Schüler sich immer mehr von der Rhetorik ab- und der Philosophie zuwandte. Das erste Buch der Selbstbetrachtungen zollt einer ganzen Reihe von Philosophen Dank, von denen Marcus – offiziell und inoffiziell – gelernt hat. Und er hat vermutlich noch bei einer ganzen Reihe anderer studiert oder ihren Ausführungen gelauscht.

Aber natürlich lernte er auch viel außerhalb des Klassenzimmers. Ihre Ausbildung in juristischen und politischen Dingen absolvierten die jungen Adeligen bei älteren Staatsmännern – zum Beispiel Junius Rusticus, dessen Einfluss Marcus in 1, 7 erwähnt. Doch am stärksten prägte ihn wohl der Kontakt zu seinem Adoptivvater Antoninus Pius. Marcus war zugegen, wenn Antoninus Botschafter empfing, Rechtsstreitigkeiten beilegte und Briefe an seine Statthalter diktierte. In der Zwischenzeit wurde Marcus’ Stellung als Nachfolger auf verschiedene Weise deutlich. Im Jahr 140 diente er Rom als Konsul (mit neunzehn Jahren), im Jahr 145 noch einmal. Im selben Jahr heiratete er Antoninus Tochter Faustina, für die er den Göttern in 1, 17 dankt.

Edward Gibbon beschreibt die Regierungszeit des Antoninus in Verfall und Untergang des Römischen Reiches als eine, die »sehr wenig Material für die Geschichte bietet, abgesehen von den Verbrechen, Verrücktheiten und Unglücksfällen der Menschheit«. Sie liefert auch sehr wenig Material, was Marcus’ Biografie angeht. In den fünfzehn Jahren zwischen 145 und 161 erfahren wir nur wenig über Marcus’ Betätigung. Einblick in seine innere Entwicklung erhalten wir nur durch seinen Briefwechsel mit Fronto. Aber die beiden Pole, zwischen denen sich der Rest seines Lebens abspielen wird – der Hof und die Philosophie –, scheinen zu diesem Zeitpunkt schon voll entwickelt zu sein. Es gibt jedenfalls keinerlei Beleg für eine »Bekehrung« zur Philosophie, wie sie so manche antiken Gestalten erlebt (oder empfunden) haben. Von der Mitte bis zum Ende der 140er-Jahre jedenfalls rückte die Philosophie immer mehr in den Mittelpunkt seines Lebens.

Am 31. August 161 starb Antoninus und ließ Marcus als einzigen Erben zurück. Marcus bemühte sich auf der Stelle darum, Hadrians ursprünglichen Willen umzusetzen (was Antoninus möglicherweise nicht beabsichtigt hatte): Er ließ seinen Adoptivbruder Lucius Verus als Mitregenten einsetzen. Verus’ Charakter konnte dem Vergleich mit Marcus nicht standhalten. Antike Quellen – vor allem die klatschsüchtige Historia Augusta – zeichnen ihn als zügellosen und degenerierten Adelsspross, der fast einem zweiten Nero glich. Das mag ungerecht sein, auf jeden Fall zeigen uns die Selbstbetrachtungen Verus in einem anderen Licht. Es scheint klar, dass Marcus tatsächlich der reifere der beiden Kaiser war, wenn sich dies auch nicht in einer offiziellen Rangordnung niederschlug. Es wäre auch erstaunlich, wenn dies anders gewesen wäre. Er war fast zehn Jahre älter und wurde von Antoninus selbst auf seine Stellung hingeführt.

Welche Art von Herrscher war denn dieser Philosophen-Kaiser nun wirklich? Er unterschied sich von seinen Vorgängern nicht so sehr, wie man dies auf den ersten Blick erwarten würde. Obwohl der Kaiser theoretisch allmächtig war, hatte er doch real weit weniger Einflussmöglichkeiten auf die Politik. Den Großteil seiner Zeit verwendete er auf die Lösung von Problemen, die die administrative Leiter hinaufgewandert waren: Er empfing Gesandte der großen Städte des Imperiums, sprach Recht in der Berufung von Strafsachen, beantwortete Anfragen der Statthalter in den Provinzen und entschied über Petitionen von Einzelpersonen. Obwohl das Reich ein gut funktionierendes Kuriersystem hatte, brauchten Botschaften aus dem Herzen des Kaiserreiches in die Randgebiete oft Wochen. Bis ein kaiserlicher Erlass die unteren Ebenen der Befehlskette erreichte, konnte es dauern. Die Entscheidungen des Kaisers hatten Gesetzeskraft, aber ihre Umsetzung lag fast ausschließlich in den Händen der Provinzstatthalter, deren Eifer durch Inkompetenz, Korruption oder den verständlichen Wunsch, die örtlichen Eliten nicht vor den Kopf zu stoßen, mitunter recht eingeschränkt war.

Wie Marcus’ tägliche Pflichten aussahen, lässt sich ansatzweise erahnen, wenn man die Belege für kaiserliche Entscheidungen in Briefen, Inschriften oder Gesetzeskodizes studiert. Die aus dieser Zeit überlieferten Gesetze zeigen ein gewisses Interesse des Kaisers an der Befreiung von Sklaven und der Fürsorge für Waisenkinder. Es gibt Versuche, Ersteres auf Marcus’ philosophische Neigungen zurückzuführen, Letzteres dagegen auf seine eigene vaterlose Jugend. Doch es bleibt unklar, wie viel von dieser Rechtsprechung tatsächlich auf Marcus zurückgeht und ob sie sich von der unter seinem Vorgänger Antoninus wirklich unterscheidet. Interessanter sind vermutlich die Spuren seines Charakters, die sich in kaiserlichen Dokumenten zeigen. Dort finden wir ein gewissenhaftes Bemühen um Details und ein exaktes Bewusstsein für den Sprachgebrauch, die Marcus von seinen Vorgängern unterscheiden. Beides kann beim Autor der Selbstbetrachtungen und Schüler Frontos kaum überraschen. Dessen umfangreicher überlieferter Briefwechsel zeigt, wie sehr auch er immer auf der Suche nach dem richtigen Wort war.

Für Marcus hatten gute Beziehungen zum römischen Senat stets Vorrang. Ziel dieser Bemühungen war, die absolute Macht zu verschleiern, welche die kaiserliche Herrschaft innehatte: die Fassade von Konsens und Kooperation der Bürger aufrechtzuerhalten – mitunter auch, sie real zu erwirken. Hundert Jahre zuvor mochten die Adeligen noch vom Wiedererstarken der Republik geträumt haben (wie einige dies tatsächlich taten). Aber im 2. Jahrhundert war klar, dass es zum Kaisertum keine Alternative gab. Der Senat erwartete, dass ihm öffentlich Respekt gezollt wurde. Und er erhoffte sich Einfluss hinter den Kulissen. »Gute« Kaiser spielten da willig mit. Marcus verwöhnte die Oberschicht und trat damit in die Fußstapfen von Antoninus und Trajan – nicht jedoch in die Hadrians, der zum Senat ein eher schwieriges Verhältnis gepflegt hatte. Daran liegt es wohl – mehr als an allem anderen –, dass er den Ruf eines wohlwollenden Staatsmannes genoss. Ein Kaiser konnte zu Lebzeiten zwar machen, was er wollte, doch am Ende waren es die Chronisten aus dem Senat – Männer wie Cornelius Tacitus in den 120er-Jahren oder Cassius Dio in der Generation nach Marcus’ Tod –, die das letzte Wort hatten.

Ein weiteres Gebiet, auf dem Marcus die Politik seiner Vorgänger fortsetzte, war sein Verhältnis zu einer kleinen und exzentrischen Sekte, die man als »Christen« kannte. Im Verlaufe des nächsten Jahrhunderts sollten sie für die kaiserliche Regierung zum Problem werden. Auch zu Marcus’ Lebzeiten waren sie schon bekannt genug, damit ein gewisser Celsus eine Streitschrift »Gegen die Christen« verfasste, die uns überliefert ist. Die Intellektuellen begegneten ihnen mit Verachtung, sofern sie überhaupt von ihnen Notiz nahmen (wie Marcus’ Lehrer Fronto es tat). Normale Bürger und die Reichsverwaltung betrachteten sie voller Misstrauen und Feindseligkeit. Das lag vor allem daran, dass die Christen die Götter, die die Menschen in ihrem Umfeld anbeteten, ablehnten. Ihr »Atheismus« – ihre Weigerung, einen Gott außer dem ihren anzuerkennen – gefährdete sie ebenso wie ihre Nachbarn. Ihre Ablehnung des göttlichen Status des Kaisers bedrohte die soziale Ordnung und das Wohl des Staates.

Das Christentum war seit Beginn des 2. Jahrhunderts illegal, als Plinius der Jüngere (Statthalter in Bithynien in der Provinz Asia minor) eine Anfrage an Trajan richtete, wie mit den Christen zu verfahren sei. Dieser legte dann eine offizielle Politik fest: Man sollte sie nicht extra aufspüren, doch jene, die sich zu dem Glauben bekannten, sollten hingerichtet werden. Trotzdem breitete sich die Christenverfolgung im Römischen Reich erst sehr viel später aus. Bis dato waren die größte Bedrohung für die Christen übereifrige Provinzregenten, die auf eigene Initiative handelten oder weil die Bürger vor Ort es von ihnen forderten. Ende der 170er-Jahre führte ein Aufstand in Lyon zu einem Pogrom gegen griechischsprachige Christen. Marcus’ Lehrer Junius Rusticus verurteilte als Stadtpräfekt Christen zum Tode (darunter den Apologeten Justin, den Märtyrer). Marcus selbst kannte das Christentum sicher, aber es gibt keinen Anlass anzunehmen, dass es ihn intensiver beschäftigt hätte. Der einzige direkte Verweis in den Selbstbetrachtungen (11, 3) ist vermutlich erst später in den Text gelangt. Die verschiedenen Hinweise, die einige Gelehrte darin zu entdecken meinten, sind sicher illusorisch.

Marcus hatte ohnehin drückendere Sorgen als diese aufmüpfige neue Sekte. Kurz nach seiner Thronbesteigung verschlechterten sich die Beziehungen zum einzig verbliebenen Rivalen Roms, dem Partherreich im Osten, zusehends. Mindestens seit der Zeit Trajans führten die beiden Reiche gegeneinander einen kalten Krieg, der noch 200 Jahre andauern sollte und zumindest alle dreißig Jahre einmal in einem offenen Konflikt entflammte. Der Tod des Antoninus und die Thronbesteigung zweier unerfahrener Herrscher mag den Partherkönig Vologaeses III. verleitet haben, einmal auf den Busch zu klopfen. Im Jahr 162 besetzte er Armenien und löschte eine römische Garnison aus, die den Armeniern zu Hilfe geeilt war. Selbst Syrien war bedroht. Rom hatte keine Wahl: Man musste reagieren.

Es war Verus, der jüngere der beiden Herrscher, der nach Osten entsandt wurde, wo er die nächsten vier Jahre blieb. Weder er noch Marcus besaßen nennenswerte militärische Erfahrung. (Antoninus’ friedliche Herrschaft hatte keine Gelegenheit geboten, eine solche zu erwerben.) Natürlich überließ man die Kämpfe selbst den altgedienten Soldaten. Nach anfänglichen Rückschlägen sammelten sich die Römer, zum Beispiel unter dem Kommando des jungen und dynamischen Avidius Cassius, und zwangen die Parther zum Frieden. Das Partherreich blieb immer eine Bedrohung, doch eine, die man für die nächste Zeit mit diplomatischen Mitteln eingrenzen konnte.

Verus und sein älterer Mitregent hatten keine Zeit, ihren Triumph auszukosten. Innerhalb eines Jahres wurde das Reich von einer tödlichen Seuche[2] ergriffen, aus dem Osten eingeschleppt von Verus’ Truppen. Ihre Auswirkungen waren vielleicht nicht so apokalyptisch, wie spätere Chronisten dies berichteten, doch die Todesrate fiel mit Sicherheit hoch aus. Und sie verzögerte die Reaktion des Kaisers auf eine zweite militärische Bedrohung: die zunehmende Instabilität der nördlichen Grenze, die Rom von den Barbarenvölkern in Germanien, in Osteuropa und Skandinavien trennte. Zu dieser Zeit gerieten die Völker unmittelbar an der Grenze durch Zuwanderung aus dem Norden unter Druck, dem sie dadurch auswichen, dass sie sich auf die andere Seite der römischen Grenze zurückzogen – nicht um Rom zu erobern, sondern um nach neuen Siedlungsgebieten zu suchen. Roms Reaktion schwankte zwischen aggressivem Widerstand und dem Versuch einer Verhandlungslösung. Dass hier keine funktionierende Strategie gefunden wurde, sollte 300 Jahre später zum Zusammenbruch des weströmischen Reiches führen.

In manchen Gegenden ließ sich eine klare Demarkationslinie ziehen. Der Hadrianswall, der Britannien teilte, sollte die fernste Grenze des Reiches sichern. Unter Antoninus kam ein weiterer Wall weiter nördlich hinzu. Aber diese Art Befestigung war auf dem Kontinent nicht realisierbar, daher konzentrierte sich der Druck dort. Rom hatte die Katastrophe des Jahres 9 n. Chr. noch in lebhafter Erinnerung, als der römische General Varus mit drei Legionen in die tiefen Wälder Germaniens marschierte, um niemals wiederzukehren. Im 2. Jahrhundert war die Bedrohung weiter südlich zu fürchten, etwa dort, wo heute Rumänien und Ungarn liegen. Trajans Sieg über die Daker zwei Generationen zuvor hatte zwar eine potenzielle Konfliktquelle beseitigt, doch mögliche Reibungsflächen gab es immer noch genug. Zu Marcus’ Lebzeiten waren es vor allem drei Völker, die Ärger machten: die Quaden, die Markomannen und die Jazygen, auch Sarmaten genannt. Dass drei Legionen von dort abgezogen wurden, um die Parther zu bekämpfen, hatte die römischen Stellungen im Norden geschwächt. Die Barbaren wussten die Situation zu nutzen. Im Jahr 168 marschierten Marcus und Verus nach Norden, um sich ihnen entgegenzustellen.

Einen Großteil seiner Regentschaft würde Marcus mit Kriegführung verbringen müssen, zuerst in den Markomannenkriegen der frühen 170er-Jahre, die gegen Ende des Jahrzehnts noch einmal aufflammen sollten. Diese Bürde würde Marcus allein tragen müssen, denn Verus verstarb Anfang 169 plötzlich (anscheinend an den Folgen eines Schlaganfalls). Dieser Krieg war ganz anders als der, den Verus’ Armeen geführt hatten. Die traditionelle Kriegführung und die diplomatische Mission, die gegen die Parther funktioniert hatten, waren hier von begrenztem Nutzen. An der nördlichen Front mussten die Römer mit unterschiedlichen Stammesführern verhandeln, deren Macht begrenzt und deren Zuverlässigkeit durchweg fraglich war. Schlugen die Verhandlungen fehl, war die einzige Alternative eine sich hinziehende Abfolge kleinteiliger, blutiger Kämpfe anstelle einer großen Schlacht, wie die römischen Legionen sie kannten. Der Fortschritt dieses Kampfes wird auf der Mark-Aurel-Säule in Rom beschrieben, die man anlässlich der Beendigung der Markomannenkriege aufstellte. Allem Siegergestus zum Trotz zeichnen die dargestellten Szenen ein düsteres Bild von brutalen Kämpfen, Zerstörungen und Exekutionen. »Spinnen sind stolz, wenn sie Fliegen fangen«, schreibt Marcus sarkastisch, »Männer aber, wenn sie Hasen, Fische, Eber, Bären und Sarmaten besiegen« (10, 10). Das gruslige Bild von abgeschlagenen Händen und Füßen und einem abgeschlagenen Kopf, mit dem 8, 34 eröffnet, verweist möglicherweise auf eine persönliche Erfahrung des Kaisers.

Im Jahr 175 schienen die Römer die Oberhand gewonnen zu haben. Genau zu diesem Zeitpunkt erreichten verstörende Nachrichten das Feldlager. Avidius Cassius, der sich während des Partherfeldzugs als General ausgezeichnet hatte und Marcus nun als Statthalter von Syrien diente, hatte eine Revolte angezettelt und sich selbst zum Kaiser ausgerufen. Einige der östlichen Provinzen (vor allem Kappadokien) blieben Marcus treu ergeben, aber im restlichen Osten wurde Cassius als Kaiser anerkannt. Dies galt vor allem für Ägypten, die Kornkammer des römischen Reiches. Ein Bürgerkrieg schien unvermeidlich und wurde letztlich nur verhindert, weil Cassius von einem seiner Untergebenen ermordet wurde. Trotzdem musste Marcus in den Osten reisen, um dort seine Autorität wiederherzustellen. Er nahm seine Gattin Faustina mit sich (die während der Reise starb). Marcus besuchte die größten Städte im Osten, Antiochia und Alexandria. Schließlich kam er auch nach Athen, wo er in die Eleusinischen Mysterien eingeweiht wurde, eine Reihe mystischer Rituale aus dem Kult der Demeter, der Göttin der Fruchtbarkeit der Erde.

Marcus war mittlerweile über fünfzig und seine Gesundheit ließ nach. Der Aufstand des Cassius hatte deutlich gemacht, dass es an der Zeit war, die Thronfolge zu regeln. Faustina hatte mindestens dreizehn Kinder zur Welt gebracht, doch viele waren jung gestorben. Mitte der 170er-Jahre lebte nur noch einer von Marcus’ Söhnen, der noch jugendliche Commodus. Der Kaiser hatte also keinen Grund, die bisherige Adoptionspolitik fortzusetzen. Es gibt auch keinerlei Hinweis darauf, dass er dies in Erwägung zog. In den Folgejahren stieg Commodus in der Hierarchie auf, bis er fast die Stellung eines Mitregenten einnahm. 177 – er war gerade fünfzehn Jahre alt – wurde er zum Konsul ernannt. Im selben Jahr noch übertrug Marcus ihm nahezu alle wichtigen kaiserlichen Privilegien – bis auf den Titel des Pontifex maximus, des Oberhauptes der römischen Staatsreligion. Diese Stellung nahm einzig und allein der Kaiser ein und hatte sie bis zu seinem Tode inne.

Der Sieg in den Markomannenkriegen erwies sich als nicht dauerhaft. Im Jahr 178 zogen Marcus und Commodus wieder gen Norden. Zwei Jahre später starb Marcus im Alter von achtundfünfzig Jahren. Er war seit Vespasian vor hundert Jahren der erste Kaiser, der seinen Thron an seinen Sohn weitergab. Traurigerweise erfüllte Commodus nicht, was Marcus in ihm gesehen hatte. Er würde der Nachwelt als hemmungsloser Tyrann in Erinnerung bleiben, ein wahrer Nachfolger von Caligula oder Nero. Gerade im Vergleich mit seinem Vater traten seine vielen Fehler umso deutlicher hervor. Seine Ermordung nach zwölfjähriger Herrschaft löste einen Machtkampf aus, der das Kaiserreich in den nächsten hundert Jahren in Atem halten würde.

PHILOSOPHISCHER HINTERGRUND

Die Abfassung der Selbstbetrachtungen wird üblicherweise auf die Zeit nach 169 datiert, also auf das letzte Lebensjahrzehnt des Kaisers. Dass dies für ihn eine Zeit dauernder Belastungen war, lässt sich nicht leugnen. In den zehn Jahren zwischen 169 und 179 musste er ständig mit militärischen Mitteln die Grenzen des Reiches sichern, die Revolte des Cassius niederschlagen und den Tod seines Mitkaisers Verus sowie seiner Frau Faustina und anderer ihm nahestehender Menschen hinnehmen. Obwohl er das Jahrhundert der Unruhen, das auf seinen Tod folgte, nicht vorausahnen konnte, mag er vermutet haben, dass sein Sohn und Nachfolger Commodus nicht der Mann war, den er sich als Thronfolger erhofft hatte. Dass er unter diesen Umständen Trost in der Philosophie suchte, ist nur natürlich. Um zu verstehen, mit welchen Erwartungen Marcus sich der Philosophie zuwandte, braucht es einige Hintergrundinformationen. Wenn wir die Selbstbetrachtungen in ihrem geistesgeschichtlichen Kontext nachvollziehen wollen, müssen wir uns mit der Stoa beschäftigen, der philosophischen Strömung, in die sich das Werk einreiht, sowie mit der Rolle der Philosophie im antiken Leben.

Heute ist die Philosophie eine weitgehend akademische Disziplin. Als Mittelpunkt ihrer Existenz gilt sie wohl nur einigen professionellen Philosophen. Wir glauben zwar, eine »Lebensphilosophie« zu haben, doch diese hat meist wenig mit dem zu tun, was in den Universitäten als Philosophie gelehrt wird. Die analytische Philosophie des 20. Jahrhunderts scheint sehr fern von dem, was der amerikanische Philosoph Thomas Nagel »letzte Fragen« nannte: die Probleme, die sich stellen, wenn man ethische Entscheidungen trifft; wie man eine gerechte Gesellschaft errichtet, auf Leid und Verlust reagiert und mit der Aussicht auf den eigenen Tod zurande kommt. Tatsächlich würden die meisten von uns diese Fragen eher der Religion zuordnen als der Philosophie.

Für Marcus und seine Zeitgenossen stellten sich die Dinge anders dar. Natürlich hatte auch die antike Philosophie eine akademische Seite. Athen und andere große Städte hatten mit öffentlichen Geldern Lehrstühle für Philosophie eingerichtet, an denen Berufsphilosophen lehrten, debattierten und schrieben, genauso wie sie es heute tun. Doch die Philosophie hatte damals auch eine praktische Dimension. Sie war nicht nur ein Gegenstand, über den man schreiben und debattieren konnte. Man erwartete von der Philosophie vielmehr, dass sie einen »Lebensentwurf« bot – eine Reihe von Grundsätzen, an denen man sein Leben ausrichten konnte. Die Religionen der Antike hatten so etwas nicht im Angebot. Sie waren ganz dem Ritual verpflichtet, es gab keine offizielle Lehrmeinung, genauso wenig wie moralische und ethische Gebote. Die Menschen erwarteten das auch gar nicht. Zu dem Zweck hatten sie ja die Philosophie.

Philosophie im modernen Sinn ist die Schöpfung eines Menschen: des athenischen Denkers Sokrates, der dort im 5. Jahrhundert v. Chr. lebte. Doch erst in der Zeit des Hellenismus (ca. 330 bis 30 v. Chr.) entwickelten sich daraus die vielen konkurrierenden Schulen, die ihre Denkweise wie ein »Glaubenssystem« verbreiteten. Diese sollten die Welt in ihrer Gesamtheit erklären und konnten von jedem Einzelnen als Ganzes angenommen werden. Von diesen hellenistischen Systemen war zweifellos das wichtigste der Stoizismus – für die Römer im Allgemeinen und für Marcus Aurelius im Besonderen. Die Bewegung wurde nach der Stoa benannt – dem griechischen Wort für die Säulenhallen auf dem Marktplatz. In einer solchen lehrte der Begründer dieser Schule, der Philosoph Zenon (332/333–262 v. Chr.). Zenons Lehren wurden von seinen Nachfolgern weiterentwickelt: Kleanthes (331–232 v. Chr.) und Chrysippos (280–206 v. Chr.) Vor allem Chrysippos verfasste viele Traktate, mit denen er unter anderem die Grundlagen für den systematischen Stoizismus schuf. Dieser frühe »akademische« Stoizismus ist die Quelle einiger Schlüsselbegriffe, die in den Selbstbetrachtungen regelmäßig auftauchen. Ein korrektes Verständnis von Marcus’ Denkweise setzt daher grundlegende Kenntnisse dieser Denkschule voraus.

DER STOIZISMUS

Unter allen Lehrsätzen, die den Stoizismus ausmachen, ist wohl der wichtigste die unerschütterliche Überzeugung, dass die Welt auf rationale und kohärente Weise organisiert ist. Genauer gesagt wird sie als kontrolliert und gelenkt von einer alles durchdringenden Kraft gedacht, die die Stoiker mit dem Begriff logos bezeichneten. Dieser Begriff (von dem sich in den modernen Sprachen der Begriff »Logik« und das Suffix »-logie« ableitet) hat ein so weites Bedeutungsspektrum, dass er nahezu unübersetzbar ist. Zunächst einmal bezeichnet er das rationale, zusammenhängende Denken – ob nun als Eigenschaft (als Rationalität bzw. die Fähigkeit zum rationalen Denken) oder als Produkt dieser Eigenschaft (als verständliche Äußerung bzw. schlüssige Rede). Der Logos wirkt sowohl im einzelnen Menschen als auch im Universum als Ganzes. Beim Menschen bezeichnet er die Fähigkeit der Vernunft. Auf der kosmischen Ebene ist damit das rationale Prinzip gemeint, das die Organisation des Universums lenkt.2 In diesem Sinne ist der Begriff gleichbedeutend mit »Natur«, »Vorsehung« oder »Gott«. (Wo der Verfasser des Johannes-Evangeliums uns sagt, dass »das Wort« – logos – bei Gott war und Gott das Wort war,3 bedient er sich bei der Begrifflichkeit der Stoa.)

Alle Ereignisse werden vom Logos gelenkt und folgen in einer unveränderlichen Kette von Ursache und Wirkung aufeinander. Von außen betrachtet ist der Stoizismus ein deterministisches System, das auf den ersten Blick keinen Raum für freien Willen oder moralische Verantwortung lässt. In Wirklichkeit aber akzeptierten die Stoiker diese Vorstellung nicht. Sie umgingen das Problem, indem sie den freien Willen als freiwillige Anpassung an das sahen, was ohnehin unvermeidlich ist. Diese These vergleicht den Menschen mit einem Hund, der an einen Wagen gebunden ist. Widersetzt er sich der Bewegung, wird er mitgeschleift. Doch die Wahl liegt trotzdem bei ihm: mitlaufen oder mitgeschleift werden. Auf dieselbe Weise sind die Menschen für ihre Entscheidungen und Taten verantwortlich, auch wenn der Logos sie vorwegnimmt und zum Teil seines Plans macht. Selbst Taten, die unmoralisch oder ungerecht scheinen – und es auch sind –, bringen also den kosmischen Plan voran, der im Ganzen als harmonisch und gut gesehen wird. Denn auch diese Taten werden vom Logos gesteuert.

Doch der Logos ist nicht nur eine unpersönliche Kraft, die die Welt lenkt. Er ist auch eine Substanz, die die Welt durchzieht, und zwar nicht im übertragenen Sinne, sondern ganz konkret, so wie Sauerstoff oder Kohlenstoff. In seiner materiellen Verkörperung ist der Logos das Pneuma, die Substanz, die sich die frühen Stoiker als Feuerfunken vorstellten. Chrysippos sah darin eine Mischung aus Feuer und Luft. Das Pneuma erweckt Mensch und Tier zum Leben. In den Worten des Dichters Dylan Thomas: »die Kraft, die durch die grüne Zündung die Blüte treibt«. Sie ist auch in leblosem Material wie Stein oder Metall vorhanden – als jene Kraft, die es zusammenhält – die innere Spannung, die aus einem Stein einen Stein macht. Alle Gegenstände sind also eine Mischung aus leblosem Stoff und der Lebenskraft. Wenn Marcus sich – wie er das in den Selbstbetrachtungen mehrfach tut – auf »Materie und Ursache« bezieht, meint er diese beiden Bestandteile – träge Masse und lebensspendendes Pneuma. Diese bleiben verbunden, solange das fragliche Objekt existiert. Wenn es vergeht, geht das Pneuma wieder in die Gesamtheit des Logos ein. Dieser Prozess der Zerstörung und Reintegration geschieht in jedem Objekt in jedem Augenblick. Und auf der größeren Ebene passiert es ständig im Universum, das sich in großen Zeitabständen durch das Feuer erneuert (ein Prozess, den man Ekpyrosis nennt).4

Wenn die Welt also tatsächlich geordnet ist, wenn der Logos alles lenkt, dann sollte die hervorgebrachte Ordnung auch in allen Aspekten der Welt erkennbar sein. Diese Annahme brachte die Stoiker nicht nur dazu, Spekulationen über die Natur der materiellen Welt anzustellen, sondern bewog sie auch, die dem Logos eigene Rationalität in anderen Bereichen zu suchen, insbesondere in der formalen Logik sowie der Natur und Struktur der Sprache. (Ihr Interesse an Etymologie zeigt sich in den Selbstbetrachtungen mehrfach.) Diese Neigung zum Systematisieren ist auch in anderen Bereichen zu beobachten. Der Katalog von Chrysippos’ Werken, den uns Diogenes Laertius – ein Biograf des ausgehenden 3. Jahrhunderts – überliefert, fällt tatsächlich sehr lang aus. Es handelt sich dabei nicht nur um philosophische Abhandlungen im engeren Sinne. Er hat auch Anleitungen dazu verfasst: »Wie man Gedichte anhören muss« und »Gegen die Wiederauffrischung von Gemälden«.5 Spätere Stoiker versuchten sich auch an geschichtlichen und anthropologischen Werken, wandten sich aber auch den eher konventionellen Bereichen der Philosophie zu.

Und das stoische Denken erfasste nicht nur intellektuell immer mehr Gebiete, sondern auch geografisch. Entstanden in Athen, gelangte diese Denkschule in den einhundertfünfzig Jahren, die auf Chrysippos’ Tod folgten, in andere Zentren des römischen Reiches, vor allem nach Rom selbst. Im zweiten vorchristlichen Jahrhundert ging Rom in erster Linie auf Eroberungen aus und tatsächlich waren die Römer gegen Ende des Jahrhunderts die Herren des Mittelmeerraumes. Und ihre Siege brachten ihnen auch Kultur. Der Dichter Horaz bemerkte angesichts der raschen Hellenisierung seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert bis in seine Zeit (65–8 v. Chr.), dass das besiegte Griechenland sich als der eigentliche Eroberer erwies. Und nirgendwo war der griechische Einfluss stärker bemerkbar als in der Philosophie. Griechische Philosophen – die Stoiker, Panaitios (ca. 185–109 v. Chr.) und Poseidonios (ca. 135–50 v. Chr.) – besuchten Rom, um dort Vorlesungen zu halten. Viele von ihnen verbrachten geraume Zeit in der Stadt. Im 1. Jahrhundert v. Chr. wurde es für junge Römer der Oberschicht Mode, in Athen zu studieren, eine antike Version der Grand Tour des 18. Jahrhunderts. Römische Aristokraten agierten als Patron einzelner Philosophen und bauten riesige Bibliotheken philosophischer Texte auf (zum Beispiel die berühmte Villa dei Papiri in Herculaneum, in der man nahezu 1800 Papyrusrollen entdeckte). Römer wie Cicero oder Lukrez erläuterten die philosophischen Theorien der Griechen auf Latein.

Von den großen philosophischen Schulen war es zweifellos der Stoizismus, der die Römer am meisten interessierte. Anders als andere Schulen war die Stoa stets für die Teilnahme am öffentlichen Leben eingetreten. Das sprach die römische Aristokratie an, in deren Wertekodex die Teilnahme am politischen und militärischen Leben an vorderster Stelle stand. Daher bezeichnete man den Stoizismus nicht zu Unrecht als die wahre Religion der römischen Oberschicht. Bei dieser Anverwandlung nahm der Stoizismus eine andere Gestalt an, die abwich von dem, was Zenon und Chrysippos ursprünglich gelehrt hatten. Die vermutlich wichtigste Entwicklung war eine Verschiebung der Akzente, eine Verengung des Fokus. Der frühe und mittlere Stoizismus war ein ganzheitliches System, das sämtliche Wissensgebiete umfasste und dabei spekulativ und hochtheoretisch war. Der römische Stoizismus dagegen war eine praktische Disziplin – kein abstraktes Denksystem, sondern eine Lebensweise. Aus Gründen, die zum Teil historischer Natur sind, ist es vor allem der Stoizismus römischer Prägung, der die späteren Generationen beeinflusste. Die Bezeichnung »stoisch« für einen Menschen, den die Unbilden des Lebens nicht erschüttern können, verdankt sich eher dem Wertekanon aristokratischer Römer als den griechischen Philosophen.

Selbstbetrachtungen