#1 New York Times
BESTSELLERAUTOR
DAS VERMÄCHTNIS MEINES LEBENS
MEINE ERFOLGSPRINZIPIEN AUS 15 JAHREN AN DER SPITZE VON WALT DISNEY
Übersetzt von Almuth Braun
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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2. Auflage 2020
© 2020 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,
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Titel der Originalausgabe: The Ride of a Lifetime:
Lessons Learned from 15 Years as CEO of the Walt Disney Company
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Übersetzung: Almuth Braun
Lektorat: Silke Panten
Korrektorat: Silvia Kinkel
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer
Umschlagfoto: Gavin Bond
Satz: Stephan Volkmer, Röser MEDIA GmbH
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
eBook: ePubMATIC.com
ISBN Print 978-3-95972-356-5
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-655-9
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-656-6
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Vorwort
Teil 1 Lernen
Kapitel 1 Von der Pike auf
Kapitel 2 Die Kompetenz im Mittelpunkt
Kapitel 3 Wissen, was man nicht weiß
Kapitel 4 Disney kommt ins Spiel
Kapitel 5 Die Nummer zwei
Kapitel 6 Ein Aufstieg mit Klippen
Kapitel 7 Es geht um die Zukunft
Teil 2 Führen
Kapitel 8 Die Macht des Respekts
Kapitel 9 Disney-Pixar und ein neuer Weg in die Zukunft
Kapitel 10 Marvel – große, aber sinnvolle Risiken
Kapitel 11 Star Wars
Kapitel 12 Wer nicht innoviert, verliert
Kapitel 13 Integrität ist unbezahlbar
Kapitel 14 Die zentralen Werte
Anhang: Führungslektionen
Danksagung
Über den Autor
Für Willow: Ohne dich wäre diese Reise nicht möglich gewesen.
Kate, Amanda, Max und Will: Danke für eure Liebe und euer Verständnis und für all die Freude, die ihr mir bereitet habt.
Für die vielen tausend Disney-Darsteller und die derzeitigen und ehemaligen Mitarbeiter: Ich bin unendlich stolz auf euch, und meine Wertschätzung ist grenzenlos.
IM JUNI 2016 UNTERNAHM ICH nach China in 18 Jahren und meine elfte in den vergangenen sechs Monaten. Ich wollte die abschließenden Vorbereitungen vor der Eröffnung des Themenparks »Shanghai Disneyland« überwachen. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits seit elf Jahren CEO der Walt Disney Company und hatte vor, nach der Eröffnung dieses Themenparks in den Ruhestand zu gehen. Ich hatte spannende Jahre in dieser Position verbracht, und die Realisierung dieses Parks war die größte Errungenschaft meiner Karriere. Ich hatte das Gefühl, dies sei der richtige Zeitpunkt für eine Veränderung, aber das Leben verläuft nicht immer so, wie man es erwartet. Es passieren Dinge, die man unmöglich vorhersehen kann. Die Tatsache, dass ich das Unternehmen noch immer leite, während ich dieses Buch schreibe, spricht Bände. Und das galt noch wesentlich mehr für die Ereignisse in jener Woche in Shanghai.
Wir eröffneten den Park am Donnerstag, den 16. Juni. Am Montag jener Woche sollte die erste Welle an VIPs eintreffen: Mitglieder unseres Verwaltungsrats, wichtige Führungskräfte und ihre Familien, Kreativpartner, Investoren und Wall-Street-Analysten. Es wartete bereits eine riesige Gruppe an internationalen Medienvertretern und weitere strömten herbei. Ich war mittlerweile seit zwei Wochen in Shanghai und lief nur noch auf purem Adrenalin. Bei meinem ersten China-Trip im Jahr 1998 hatte ich nach einem geeigneten Standort für den Themenpark gesucht. Damit war ich die einzige Person, die vom ersten Tag an in dieses Projekt involviert war, und ich konnte es gar nicht erwarten, es der Welt zu präsentieren.
In den 61 Jahren, seit Walt Disney im kalifornischen Anaheim mit Disneyland den ersten Themenpark errichtet hatte, haben wir Themenparks in Orlando und in Paris, in Tokio und in Hongkong eröffnet. »Disney World« in Orlando ist nach wie vor der größte Park, aber Shanghai spielte insofern in einer ganz anderen Liga als alle anderen, als es eine der größten Investitionen in der Geschichte des Unternehmens war. Die nackten Zahlen werden dem Park nicht gerecht, aber ich will trotzdem einige nennen, um Ihnen einen Eindruck von den Dimensionen zu geben. Der Bau von »Shanghai Disneyland« hat rund 6 Milliarden Dollar gekostet. Mit einer Fläche von fast 390 Hektar ist er etwa elfmal so groß wie Disneyland in Anaheim. In verschiedenen Bauphasen lebten ganze 14 000 Arbeiter auf dem Gelände. Wir hielten in sechs chinesischen Städten Castings ab, um die tausend Sänger, Tänzer und Darsteller zu finden, die bei unseren Bühnen- und Straßenshows auftreten. Im Verlauf der 18 Jahre, die der Bau dauerte, traf ich mich mit drei chinesischen Staatspräsidenten, fünf Bürgermeistern von Shanghai und mehr Parteisekretären, als ich mich erinnern kann (von denen einer mitten in unseren Verhandlungen wegen Korruption verhaftet und nach Nordchina verbannt wurde, was unser Projekt um fast zwei Jahre zurückwarf).
Wir führten endlose Verhandlungen über Grundstückskäufe und die Aufteilung von Partnerschaften und Managementrollen und besprachen so wichtige Dinge wie die Sicherheit und den Komfort der chinesischen Arbeiter, aber auch Bagatellen wie die Frage, ob wir am Eröffnungstag ein Band durchschneiden konnten. Die Errichtung dieses Themenparks war eine Ausbildung in Geopolitik und ein ständiger Balanceakt zwischen den Möglichkeiten der globalen Expansion und den Gefahren des Kulturimperialismus. Die überwältigende Herausforderung, die ich gegenüber meinem Team so oft wiederholte, dass sie für alle der an diesem Projekt Beteiligten zu einem Mantra wurde, lautete, ein Erlebnis zu schaffen, dass »authentisch Disney und dabei ausgesprochen chinesisch war«.
Am Sonntag, dem 12. Juni, erreichte mein Team und mich in Shanghai am frühen Abend die Nachricht, dass in der Diskothek »Pulse« in Orlando, knapp 25 Kilometer von Disney World entfernt, eine Massenschießerei stattgefunden hatte. Wir beschäftigen in Disney World mehr als 70 000 Mitarbeiter und warteten entsetzt und in nervöser Unruhe auf die Nachricht, ob einer von ihnen sich in jener Nacht in besagter Diskothek aufgehalten hatte. Unser Sicherheitsverantwortlicher Ron Iden, der bei uns in Shanghai war, begann augenblicklich, mit seinem Netzwerk an Sicherheitskontakten in den Vereinigten Staaten zu telefonieren. Der Zeitunterschied zu Orlando beträgt zwölf Stunden – es war dort also noch kurz vor dem Morgengrauen, als wir die Nachrichten zum ersten Mal hörten. Ron sagte mir, er würde mehr Informationen haben, wenn ich am nächsten Morgen aufgestanden wäre.
Am folgenden Tag war mein erster Termin ein Arbeitsfrühstück, bei dem ich eine Präsentation vor Investoren halten sollte. Anschließend musste ich ein langes Interview mit Robin Roberts von der TV-Frühstückssendung Good Morning America aufnehmen, zu dem eine Tour durch den Park und Fahrten in verschiedenen Fahrgeschäften und Parkattraktionen mit Robin und ihrem Team gehörten. Danach war ein Treffen mit chinesischen Staatsbeamten anberaumt, bei dem das Protokoll für die Eröffnungszeremonien durchgesprochen werden sollte. Anschließend gab es ein Abendessen mit den Mitgliedern unseres Verwaltungsrats und anderen leitenden Führungskräften und schließlich eine Probe für das Konzert am Abend der Eröffnung, bei dem ich die Gastgeberrolle hatte. Ron versorgte mich regelmäßig mit Informationen und hielt mich auf dem Laufenden, während ich mein straffes Programm absolvierte.
Wir wussten, dass mehr als 50 Menschen getötet und fast genauso viele verletzt worden waren und dass der Amokläufer ein Mann namens Omar Mateen war. Rons Sicherheitsteam ließ Mateens Namen durch unsere Datenbank laufen und fand heraus, dass er den Themennpark »Magic Kingdom« am vergangenen Wochenende sowie bereits vor ein paar Monaten besucht hatte. Bei seinem letzten Besuch war auf den Aufnahmen der Überwachungsvideos des Themenparks zu sehen, wie Mateen außerhalb eines Parkeingangs nahe dem House of Blues in Downtown Disney auf und ab ging.
Was wir als Nächstes erfuhren, erschütterte mich wie kaum eine andere Nachricht im Verlauf meiner Karriere. Es gelangte erst zwei Jahre später an die Öffentlichkeit, und zwar im Rahmen des Prozesses gegen Mateens Frau Noor, die wegen Beihilfe zum Massenmord angeklagt war (sie wurde später freigesprochen), aber die Ermittler des FBI teilten Ron mit, sie glaubten, Mateens Hauptziel sei Disney World gewesen. Sie hatten am Tatort sein Mobiltelefon gefunden und festgestellt, dass es zu einem früheren Zeitpunkt jenes Abends von einem unserer Funkmasten geortet worden war. Sie studierten die Überwachungsvideos und sahen ihn, wie er vor dem Eingang nahe dem House of Blues erneut auf und ab ging. An jenem Abend fand dort ein Heavy-Metal-Konzert statt, daher hatten wir die Sicherheitskräfte um fünf bewaffnete Polizisten verstärkt. Nach einigen Minuten, in denen Mateen das Gelände inspizierte, konnte man sehen, wie er zu seinem Wagen zurückging.
Sicherheitskameras hatten zwei Waffen in seinem Besitz eingefangen, ein halbautomatisches Gewehr und eine halbautomatische Pistole, die zusammen mit einer Babydecke, die noch in ihrer Verpackung war, in einem Kinderwagen versteckt lagen. Die Ermittler vermuteten, dass Mateen vorhatte, die Waffen in die Decke einzuwickeln und mit dem Kinderwagen bis zum Eingang zu gehen, um dort die Waffen herauszunehmen.
Unser Verantwortlicher für die Themenparks, Bob Chapek, befand sich ebenfalls in Shanghai. Bob und ich saßen den ganzen Tag zusammen und besprachen die Lage, während Ron uns immer wieder mit den neuesten Nachrichten versorgte. Wir warteten noch immer in nervöser Anspannung auf die Nachricht, ob irgendeiner von unseren Mitarbeitern in der Tatnacht in der Diskothek gewesen war. Mittlerweile machten wir uns zudem Sorgen, dass sich die Nachricht verbreiten würde, dass wir die eigentliche Zielscheibe dieses Amoklaufs gewesen waren. Das wäre eine Riesenstory und würde alle in Disney World emotional sehr belasten. Die Verbindung, die in so stressigen Momenten wie diesen in dem kleinen Kreis von Menschen entsteht, mit denen man die Informationen bespricht, die man sonst mit niemandem teilen kann, ist sehr eng und intensiv. In jeder Krisensituation, mit der ich als CEO konfrontiert war, bin ich dankbar für die Kompetenz, die kühle, besonnene Nüchternheit und die Menschlichkeit meines engsten Führungsteams gewesen. Bob beorderte als Erstes den Leiter von Walt Disney World, George Kalogridis, von Shanghai zurück nach Orlando, um als Führungskraft seine Leute vor Ort zu unterstützen.
Die Daten auf Mateens Mobiltelefon zeigten, dass er eine Suchanfrage nach Diskotheken in Orlando gestartet hatte, nachdem er zu seinem Auto zurückgekehrt war. Er fuhr zum ersten Klub, der auf der Auswahlliste erschien, aber vor dem Eingang gab es eine Baustelle und dahinter staute sich der Verkehr. Das zweite Ergebnis war die Diskothek »Pulse«, wo er dann das Massaker anrichtete. Als allmählich die Einzelheiten der Ermittlungen eintrafen, packte mich das Entsetzen und ich empfand tiefe Trauer über die Opfer; gleichzeitig verspürte ich aber auch eine mulmige Erleichterung darüber, dass Mateen sich von unseren Sicherheitskräften hatte abschrecken lassen.
Ich betrachte schlechte Nachrichten als ein Problem, das sich angehen und lösen lässt und über das ich Kontrolle habe, und nicht als etwas, das mir widerfährt.
Oft werde ich gefragt, welcher Aspekt meiner Arbeit als CEO mich nachts nicht schlafen lässt. Die ehrliche Antwort lautet, dass ich mir nicht viele Sorgen mache. Ich weiß nicht, ob es eine Laune der Hirnchemie ist oder ein Verteidigungsmechanismus, den ich als Reaktion auf das familiäre Chaos in meiner Jugend entwickelt habe, oder einfach das Ergebnis jahrelanger Selbstdisziplin – wahrscheinlich ist es eine Kombination aus allen diesen Faktoren –, aber ich neige dazu, in Krisensituationen wenig Ängste zu verspüren. Ich betrachte schlechte Nachrichten als ein Problem, das sich angehen und lösen lässt und über das ich Kontrolle habe, und nicht als etwas, das mir widerfährt. Allerdings bin ich mir auch sehr darüber bewusst, welche symbolische Kraft die Marke Disney als Zielscheibe besitzt, und eines der Dinge, die wirklich schwer auf mir lasten, ist das Wissen, dass wir unmöglich für alle Eventualitäten gewappnet sein können, egal wie gut wir uns vorbereiten.
Wenn das Unerwartete eintritt, nimmt man sofort eine Art instinktiver erster Bewertung vor. Dabei muss man sich auf seine innere »Gefahrenskala« verlassen. Es gibt Ereignisse, bei denen man sofort alles andere stehen und liegen lässt, und es gibt Ereignisse, bei denen man sich sagt: Das Problem ist ernst und ich muss mich dringend darum kümmern, aber einstweilen muss ich mich davon lösen und mich auf andere Dinge konzentrieren. Anschließend werde ich zu diesem Problem zurückkehren. Auch wenn man die Gesamtverantwortung trägt und die höchste Entscheidungsinstanz ist, muss man manchmal erkennen, dass man in der Sekunde nichts Sinnvolles beitragen kann, und sich zurückhalten. Man muss darauf vertrauen, dass die eigenen Leute ihren Job machen, und seine Energien stattdessen auf andere dringende Angelegenheiten konzentrieren.
Das sagte ich mir auch in Shanghai – eine halbe Weltreise von Orlando entfernt. Dies war der wichtigste Moment, den das Unternehmen seit der Eröffnung von Disney World im Jahr 1971 erlebte. Noch nie in unserer fast hundertjährigen Unternehmensgeschichte hatten wir so viel in ein Vorhaben investiert, das ein derart großes Potenzial besaß – sowohl für Erfolg als auch für Misserfolg. Ich hatte gar keine andere Wahl, als mich gedanklich abzuschotten, mich kurz vor der Eröffnungszeremonie auf die letzten Details zu konzentrieren und darauf zu vertrauen, dass mein Team in Orlando und unsere etablierten Protokolle den richtigen Umgang mit der Situation finden würden.
Wir haben ein System, mit dem wir unsere Mitarbeiter nach einer Katastrophe suchen können. Bei einem Flugzeugabsturz, einem Hurrikan oder einem Waldbrand erhalte ich Berichte, wer als vermisst gilt, wer evakuiert werden musste, wer einen Freund, einen Verwandten oder ein Haustier verloren hat und wessen Haus und Grundstück beschädigt wurde. Wir beschäftigen weltweit mehr als 200 000 Mitarbeiter; wenn also eine Katastrophe geschieht, ist das Risiko ziemlich groß, dass irgendeiner unserer Mitarbeiter davon betroffen ist. Nach den Terroranschlägen von 2015 in Paris erfuhr ich innerhalb von wenigen Stunden, dass Vertriebspartner einer Werbeagentur, mit der wir arbeiten, unter den Opfern waren. Im Anschluss an das Massaker von Las Vegas im Herbst 2017 wusste ich sofort, dass mehr als 60 unserer Mitarbeiter an jenem Abend auf dem Freiluftkonzert gewesen waren. Drei davon waren verletzt worden, ein Mitarbeiter von Disneyland wurde getötet.
Am Dienstagmorgen in Shanghai erfuhren wir, dass zwei unserer Teilzeitmitarbeiter zu den Opfern des Disco-Massakers gehörten. Mehrere andere Mitarbeiter waren mit ihnen befreundet oder verwandt. Daraufhin machten sich unsere Trauma- und Trauertherapeuten an die Arbeit, kontaktierten die Betroffenen und organisierten therapeutische Gespräche.
MEIN TERMINKALENDER FÜR DIE TAGE vor der Eröffnung von »Shanghai Disneyland« war bis auf die letzte Minute randvoll verplant: Ich führte Touren durch den Park, gab Interviews und nahm an Proben für den letzten Schliff an den Auftritten im Rahmen der Eröffnungszeremonie teil; ich war Gastgeber von Arbeitsmittagessen und Abendveranstaltungen und hielt Zusammenkünfte mit Investoren, Vertriebspartnern und unserem Verwaltungsrat ab; ich traf mich mit ranghohen chinesischen Parteifunktionären, um ihnen den gebührenden Respekt zu zollen; ich weihte den Flügel des Kinderkrankenhauses von Shanghai ein und übte eine kurze Ansprache für die Eröffnungszeremonie, die ich zum Teil in Mandarin halten wollte. Zwischen all diese Termine wurden kurze »Pausen« gezwängt, in denen ich Make-up bekam, meine Kleidung wechseln musste oder einen kurzen Snack verschlang. Am Mittwochmorgen führte ich eine VIP-Tour mit ungefähr hundert Gästen. Der Filme- und Fernsehproduzent Jerry Bruckheimer war da und auch George Lucas. Einige meiner direkten Mitarbeiter waren mit ihren Familien angereist. Meine Frau Willow und unsere Kinder waren auch da. Alle trugen während der Tour Kopfhörer, während ich in ein Mikrofon sprach.
Ich erinnere mich noch genau, wo wir uns gerade befanden – zwischen Adventure Island und Pirate Cove –, als Bob Chapek auf mich zutrat und mich kurz beiseite nahm. Ich dachte, er habe weitere Neuigkeiten zu den Ermittlungen über das Massaker und beugte mich gespannt zu ihm, damit er mir den aktuellen Stand der Dinge ins Ohr flüstern konnte. »Es gab eine Alligator-Attacke in Orlando«, wisperte Bob. »Ein Alligator hat ein kleines Kind angegriffen, einen Jungen.«
Da wir inmitten einer großen Menschengruppe standen, nahm ich mich zusammen und verbarg mein wachsendes Entsetzen, während mir Bob zuflüsterte, was er bisher in Erfahrung gebracht hatte. Die Attacke hatte sich ungefähr um 20:30 Uhr in unserer Hotelanlage »Grand Floridian« ereignet. Jetzt war es in Shanghai ungefähr 10:30 Uhr morgens, also war dieses Unglück zwei Stunden zuvor passiert. »Wir wissen nicht, wie es dem Jungen geht«, flüsterte Bob.
Instinktiv betete ich, der Junge möge nicht getötet worden sein. Und dann begann ich in Gedanken, durch die Geschichte unseres Unternehmens zu blättern. Hatte sich jemals zuvor ein solcher Unfall ereignet? Soweit ich wusste, war in den 45 Jahren seit der Eröffnung von Disney World noch nie ein Gast angegriffen worden. Ich stellte mir im Geiste das Gelände vor. Bob hatte mir gesagt, die Alligator-Attacke habe sich am Strand des Hotelresorts ereignet. Ich war selbst schon oft im »Grand Floridian« gewesen und kannte den Strand gut. Es gibt dort eine Lagune, aber ich hatte noch nie jemanden darin schwimmen sehen. Halt, nein. Vor meinem geistigen Auge tauchte das Bild eines Mannes auf, der in dem See schwamm, um einen Luftballon zurückzuholen, den sein Kind verloren hatte. Das war vor ungefähr fünf Jahren gewesen. Ich erinnerte mich, dass ich ein Foto von ihm gemacht hatte, wie er mit dem Ballon in der Hand zum Ufer zurückschwamm, und dass ich dabei innerlich gelacht hatte, wegen der erstaunlichen Dinge, die Eltern für ihre Kinder tun.
Ich beendete die VIP-Tour und wartete auf weitere Neuigkeiten. Es gibt ein Protokoll, das ganz klar festlegt, welche Dinge direkt an mich berichtet werden, und um welche sich andere Verantwortliche kümmern, und mein Team wartet grundsätzlich ab, um mir etwas mitzuteilen, bis es ganz sicher ist, dass die Nachricht auch stimmt. (Zu ihrem Verdruss schelte ich sie gelegentlich dafür, dass sie mir schlechte Nachrichten nicht schnell genug überbringen.) Dieses Mal wurde mir die Nachricht sofort zugetragen, aber ich wollte unbedingt nähere Einzelheiten erfahren.
George Kalogridis, den wir im Anschluss an das Disco-Massaker von Orlando sofort zurückbeordert hatten, war ungefähr zum Zeitpunkt der Alligator-Attacke gelandet, kümmerte sich sofort nach seiner Ankunft um dieses Unglück und gab uns unverzüglich neue Informationen weiter. Ich erfuhr, dass der kleine Junge vermisst war. Die Rettungsteams hatten ihn nicht gefunden. Sein Name war Lane Graves, er war zwei Jahre alt. Die Familie Graves wohnte im »Grand Floridian« und war zum geplanten Kinoabend an den Strand gegangen. Die Filmvorführung wurde wegen eines Gewitters abgesagt, aber die Familie beschloss, mit anderen Familien am Strand zu bleiben und die Kinder dort spielen zu lassen. Lane nahm einen Eimer, um ihn am Ufer der Lagune mit Wasser zu füllen. Die Dämmerung hatte schon eingesetzt, und ein Alligator war zum Fressen ans Ufer gekommen und verharrte im seichten Wasser. Er schnappte nach dem Jungen und zog ihn unter Wasser. Die Familie Graves war aus Nebraska angereist, berichtete mir George. Sie wurde von einem Krisenteam betreut. Ich kannte einige Mitglieder dieses Teams. Sie leisteten außerordentlich gute Arbeit, und ich war dankbar, dass sie vor Ort waren. Dieses Ereignis würde sie jedoch extrem auf die Probe stellen.
An jenem Abend fand unser Eröffnungskonzert in Shanghai statt, aufgeführt von einem fünfhundertköpfigen Orchester und dem weltberühmten Pianisten Lang Lang, zusammen mit einer Reihe der berühmtesten Komponisten, Sänger und Musiker Chinas. Vor dem Konzert gab ich ein Abendessen für eine Gruppe ranghoher chinesischer Parteifunktionäre und andere geladene Gäste. Obwohl ich mir wirklich Mühe gab, mich auf meine vorliegenden Verantwortlichkeiten zu konzentrieren, kehrten meine Gedanken ständig zur Familie Graves in Orlando zurück. Sie waren nach Disney World gekommen, um sich gemeinsam zu amüsieren, und hatten stattdessen einen unvorstellbaren Verlust erlitten, der alles andere überschattete.
Donnerstag, der 16. Juni, war der Tag der Eröffnung. Ich wachte um 4 Uhr morgens auf und trainierte, um meinen Kopf freizubekommen. Anschließend ging ich in eine Lounge auf unserem Flur und traf mich mit Zenia Mucha, unserem Kommunikationsvorstand. Zenia und ich arbeiten seit mehr als zwölf Jahren zusammen. Sie ist immer an meiner Seite gewesen, hat mich durch dick und dünn begleitet. Sie ist zäh und belastbar und sagt es mir immer direkt ins Gesicht, wenn sie glaubt, dass ich einen Fehler mache. Sie hat stets die besten Interessen des Unternehmens im Sinn.
Inzwischen wurde überall über die Alligator-Attacke berichtet. Ich wollte, dass die öffentliche Reaktion direkt von mir, also von höchster Stelle kam. Ich habe des Öfteren erlebt, wie andere Unternehmen in Krisensituationen einen »Unternehmenssprecher« vorschicken. Dieses Vorgehen erschien mir immer kaltherzig und irgendwie auch feige. Unternehmenssysteme sind oft so strukturiert, dass sie den CEO isolieren und schützen sollen. Nichtsdestotrotz ist das gelegentlich ein Fehler, und ich war fest entschlossen, es anders zu machen. Ich sagte Zenia, ich müsse öffentlich Stellung nehmen. Sie stimmte mir sofort zu, dass es in diesem Fall das einzig Richtige sei.
In einer derartigen Situation kann man eigentlich nichts Tröstliches sagen, dennoch saßen wir in der Lounge, und ich diktierte Zenia meine aufrichtigen Worte. Ich sagte, ich sei selbst Vater und Großvater und dies gewähre mir einen winzigen Einblick in die unvorstellbaren Schmerzen der Eltern. 15 Minuten nach unserem Gespräch wurde die Pressemitteilung verschickt. Anschließend kehrte ich in mein Zimmer zurück und begann, mich für die Eröffnung fertigzumachen. Willow war bereits auf, unsere Kinder schliefen noch. Allerdings schien ich nicht in der Lage zu sein, das zu tun, was ich tun musste, und nach mehreren Minuten rief ich Zenia erneut an und sagte: »Ich muss mit den Eltern sprechen.«
Dieses Mal erwartete ich, dass sie und unser Chefjustiziar Alan Braverman protestieren würden. Das Ganze konnte sich zu einer rechtlich komplizierten Angelegenheit auswachsen, und die Anwälte wollten das Risiko begrenzen, dass ich irgendetwas sagen könnte, das sich ungünstig auf die Haftungsfrage auswirken könnte. In diesem Fall sagten sie jedoch beide, sie wüssten, dass ich es tun müsse, und keiner von beiden widersetzte sich meinem Vorhaben. »Ich besorge Ihnen die Nummer«, sagte Zenia. Innerhalb weniger Minuten hatte ich die Telefonnummer von Jay Ferguson, einem Freund von Matt und Melissa Graves – den Eltern des toten Jungen –, der unverzüglich nach Orlando geflogen war, um ihnen seelischen Beistand zu leisten.
Ich saß auf der Bettkante und wählte. Ich wusste nicht, was ich sagen wollte, aber als Jay sich meldete, erklärte ich ihm, wer ich war und dass ich mich in Shanghai befand. »Ich weiß nicht, ob sie überhaupt mit mir sprechen wollen«, sagte ich, »aber falls ja, möchte ich ihnen mein tief empfundenes Beileid aussprechen. Falls sie nicht mit mir sprechen wollen, möchte ich es gerne Ihnen aussprechen und Sie bitten, es den Eltern zu übermitteln.«
»Geben Sie mir eine Minute«, antwortete Jay. Ich konnte Gespräche im Hintergrund hören und dann war Matt plötzlich am Telefon. Ich fing einfach an zu reden und wiederholte, was ich schon in meiner öffentlichen Verlautbarung gesagt hatte: dass ich selbst Vater und Großvater sei und dass ich mir kaum vorstellen könne, was er und seine Frau durchmachen mussten. Ich sagte, ich wolle, dass er von mir persönlich, dem Unternehmensführer, erführe, dass wir absolut alles in unserer Macht Stehende tun würden, um ihnen durch diese schwierige Phase zu helfen. Ich gab ihm meine direkte Durchwahl und sagte, er solle mich anrufen, wenn er irgendetwas brauche, und dann fragte ich, ob ich hier und jetzt etwas für ihn tun könne.
»Versprechen Sie mir, dass mein Sohn nicht umsonst gestorben ist«, sagte er. Er sprach unter heftigem Schluchzen, und ich konnte Melissa im Hintergrund ebenfalls schluchzen hören. »Versprechen Sie mir, dass Sie alles tun werden, um dafür zu sorgen, dass so etwas niemals einem anderen Kind zustößt.«
Ich versprach es. Ich wusste, dass ich aus der Sicht eines Rechtsanwaltes aufpassen musste, was ich sagte, und dass ich darauf achten sollte, ob irgendeines meiner Worte als Eingeständnis einer Pflichtverletzung gewertet werden konnte. Wenn man so lange in Unternehmensstrukturen arbeitet, ist man darauf trainiert, rechtlich wasserfeste Antworten im Unternehmensinteresse zu geben. Trotzdem war mir das in diesem Moment völlig egal. Ich wiederholte, Jay solle mich anrufen, wenn er irgendetwas benötigte; dann beendeten wir das Gespräch, und ich saß zitternd auf der Bettkante. Ich hatte so heftig geweint, dass ich meine beiden Kontaktlinsen verloren hatte. Ich suchte halbherzig nach ihnen, als Willow zur Tür hereinkam.
»Ich habe gerade mit den Eltern gesprochen«, sagte ich. Ich wusste nicht, wie ich meine Gefühlslage erklären sollte. Sie kam auf mich zu, nahm mich in ihre Arme und fragte, was sie tun könne. »Ich muss einfach weitermachen«, antwortete ich. Aber ich war völlig leer. Das Adrenalin, das mich in den letzten zwei Wochen auf Hochtouren gehalten hatte, all das, was dieses neue Projekt mir bedeutete, und der Kick, den ich dabei empfand, es mit der Öffentlichkeit teilen zu können, waren auf einen Schlag verpufft. In 30 Minuten musste ich den Vizepremierminister von China, den chinesischen Botschafter in den Vereinigten Staaten, den amerikanischen Botschafter in China, den Parteisekretär von Shanghai und den Bürgermeister von Shanghai treffen, um sie durch den Park zu führen. Ich fühlte mich wie gelähmt.
Schließlich rief ich mein Team an und bat sie in die Hotel-Lounge. Ich wusste, dass ich erneut in Tränen ausbrechen würde, wenn ich ihnen die Situation beschrieb, daher machte ich es möglichst kurz und sagte Bob Chapek, was ich Matt Graves versprochen hatte. »Wir sind dabei«, antwortete er und informierte umgehend sein Team in Orlando. (Was sein Team dort unternahm, war wirklich bemerkenswert. Es gibt Hunderte von Lagunen und Kanälen auf dem Gelände der Hotelanlage und Tausende von Alligatoren. Innerhalb von 24 Stunden hatten sie alles mit Seilen und Zäunen versehen und im gesamten Park, der doppelt so groß ist wie Manhattan, Schilder aufgestellt.)
Das war ein eindrückliches Beispiel für die Tatsache, dass das, was man äußerlich präsentiert, oft nichts mit dem zu tun hat, was man innerlich empfindet.
Ich machte mich auf den Weg, um meine hochkarätigen Gäste zu empfangen. Wir posierten für Fotos und fuhren in den Fahrgeschäften. Ich rang mir ein Lächeln ab und zwang mich, Haltung zu bewahren. Das war ein eindrückliches Beispiel für die Tatsache, dass das, was man äußerlich präsentiert, oft nichts mit dem zu tun hat, was man innerlich empfindet. Nach der Tour musste ich vor Tausenden von Menschen, die sich im Park eingefunden hatten, und weiteren Millionen Chinesen, die die Eröffnungszeremonie im Fernsehen verfolgten, eine Rede halten, das Einweihungsband durchschneiden und »Shanghai Disneyland« offiziell für die Welt eröffnen. Disneys Premiere in Kontinentalchina war ein Riesenereignis. Pressevertreter aus aller Welt waren gekommen. Der chinesische Staatspräsident Xi Jinping und US-Präsident Barack Obama hatten Briefe geschrieben, die wir bei der Eröffnung öffentlich verlesen wollten. Ich war mir des großen Gewichts dieser Zeremonie bewusst, aber ich konnte einfach nicht aufhören, die ganze Zeit an Matts leidgequälte Stimme am Telefon zu denken.
Als ich den Vizepremier verließ, kam der Präsident der Shanghai Shendi Group, unserem chinesischen Partnerunternehmen, hinter mir her und nahm mich am Arm. »Sie werden Orlando nicht erwähnen, oder?«, fragte er. »Dies ist ein glücklicher Tag. Heute ist ein glücklicher Tag.« Ich versicherte ihm, dass ich nichts sagen würde, das die Stimmung verderben würde.
Weniger als eine halbe Stunde später fand ich mich allein auf einer kleinen Bank im Disney Castle wieder und wartete darauf, dass ein Bühnenmanager mir das Zeichen gab, dass es Zeit für meine Rede war. Ich hatte die Zeilen auf Mandarin auswendig gelernt, hatte aber plötzlich Mühe, mich daran zu erinnern. Ja, es war ein glücklicher Tag, und ich musste mich darauf und nur darauf konzentrieren. Ich musste würdigen, was es für all die Menschen bedeutete, die so lange so hart darauf hin gearbeitet hatten, diesen Tag Wirklichkeit werden zu lassen. Ich musste meinen Fokus auf die Menschen in China richten, denen dieser Themenpark die Gelegenheit bot, ihre Träume auszuleben – so wie ich und unzählige andere amerikanische Kinder davon geträumt hatten und noch träumen, Disneyland zu besuchen. Es war ein glücklicher Tag. Und zugleich war es der traurigste in meiner gesamten beruflichen Laufbahn.
ICH HABE 45 JAHRE für denselben Konzern gearbeitet: 22 Jahre bei ABC und weitere 23 Jahre bei Disney, nachdem ABC im Jahr 1995 von Disney übernommen worden war. Ich habe die beneidenswerte Aufgabe, der sechste CEO zu sein, der den Konzern leitet, seit dieser 1923 von Walt Disney gegründet wurde.
Es gab selbstredend schwierige und sogar tragische Tage. Für mich ist diese Aufgabe jedoch der schönste Job der Welt. Wir produzieren Filme, Bühnenshows und Broadway-Musicals, Spiele und Kostüme, Spielzeug und Bücher. Wir bauen Themenparks und Fahrgeschäfte, Hotels und Kreuzfahrtschiffe. In unseren 14 Themenparks weltweit organisieren wir jeden Tag Paraden, Straßenshows und Konzerte. Wir sorgen für Spaß und Unterhaltung. Und selbst nach all diesen Jahren frage ich mich manchmal immer noch: Wie ist es dazu gekommen? Wie ist es möglich, dass ich so ein Glück hatte? Wir pflegten unsere größten, aufregendsten Themenparkattraktionen als »E-Tickets« zu bezeichnen. Das fällt mir ein, wenn ich an meine Arbeit denke: eine Fahrt auf einer gigantischen E-Ticket-Attraktion, bekannt unter dem Namen Walt Disney Company, die jetzt schon seit 14 Jahren andauert.
Disney existiert aber auch in der Welt der Quartalsberichte und der Aktionärserwartungen und der zahllosen anderen Verpflichtungen, die mit der Leitung eines Konzerns einhergehen, der in fast jedem Land der Welt zu Hause ist. An einem normalen, ereignislosen Tag erfordert diese Aufgabe die Fähigkeit, sich ständig an neue und andere Herausforderungen anzupassen. Nachdem man Investoren die Wachstumsstrategie aufgezeigt hat, prüft man mit den Walt Disney Imagineers das Design einer riesigen neuen Themenparkattraktion; anschließend gibt man seine Kommentare zum Rohschnitt eines Films ab, dann spricht man über Sicherheitsmaßnahmen und Board Governance, Eintrittspreise und die Gehaltsskala. Die Tage sind dynamisch und fordernd und eine nie enden wollende mentale Übung. In einem Moment beschäftigt man sich mit einem Thema, etwa: Welche Merkmale muss eine Disney-Prinzessin in der heutigen Zeit erfüllen und wie sollten sie sich in unseren Produkten manifestieren? Dann legt man es beiseite und lenkt seine Aufmerksamkeit auf das nächste Thema, zum Beispiel: Wie lauten die Vorschläge für die Marvel-Filme in den nächsten acht Jahren? Das sind die seltenen Tage, an denen die Dinge nach Plan verlaufen. Wie die oben beschriebene Woche in China allzu deutlich macht, ereignen sich aber auch immer unvorhergesehene Krisen und Misserfolge, auf die man sich nie ganz vorbereiten kann. Wenige werden so tragisch sein wie die Ereignisse jener Woche, aber irgendetwas passiert immer.
Das gilt nicht nur für die Walt Disney Company, sondern für jedes Unternehmen und jede Institution. Irgendetwas passiert immer. Im Wesentlichen handelt dieses Buch von einigen grundlegenden Prinzipien, die als Orientierung dienen und dazu beitragen, das Gute zu fördern und das Schlechte zu bewältigen. Lange Zeit schrieb ich nur widerwillig. Bis vor relativ kurzer Zeit vermied ich es sogar, öffentlich über meine »Führungsregeln« oder ähnliche Dinge zu sprechen, weil ich das Gefühl hatte, dass ich sie noch nicht vollständig vorlebte. Nach 45 Jahren, und vor allem nach den vergangenen 14 Jahren, bin ich jedoch zu der Überzeugung gelangt, dass ich Erkenntnisse gewonnen habe, die auch für ein breiteres Publikum von Nutzen sein könnten.
Wenn Sie ein Unternehmen oder ein Team leiten oder mit anderen auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten, könnte dieses Buch wertvolle Hilfestellungen geben. Meine Erfahrungen stammen von Anfang an aus der Medien- und Unterhaltungsindustrie, dennoch gibt es einige Dinge, die ich für allgemein anwendbar halte: Kreativität und Wagemut zu fördern; eine Kultur des Vertrauens zu entwickeln; selbst immer ehrlich wissbegierig zu sein und andere anregen, ebenfalls wissbegierig zu sein; Veränderungen positiv anzunehmen, anstatt sie zu leugnen; und stets mit Integrität und Ehrlichkeit zu handeln, selbst wenn es bedeutet, dass man sich schwierigen Situationen stellen muss. Das sind abstrakte Dinge, aber ich hoffe, dass die Geschichten und Beispiele, die für mich eine Bedeutung besitzen, wenn ich zurückblicke und den langen Bogen meiner beruflichen Karriere betrachte, dazu beitragen, dass sie sich konkreter anfühlen und allen Lesern den Raum bieten, sich damit zu identifizieren, und zwar nicht nur den angehenden CEOs dieser Welt, sondern allen Menschen, die in ihrem Berufs- und Privatleben furchtloser und souveräner agieren möchten.
Der größte Teil dieses Buches ist chronologisch aufgebaut. Seit meinem ersten Tag bei ABC hatte ich 20 verschiedene Positionen und 14 Vorgesetzte. Ich habe als Teammitglied und damit ganz unten in der Firmenhierarchie an einer nachmittäglichen Seifenoper mitgearbeitet und ein Netzwerk geleitet, das einige der innovativsten Fernsehsendungen (und einige der schlimmsten Flops) aller Zeiten produziert hat. Zweimal saß ich auf der Seite des Unternehmens, das aufgekauft wurde, und habe selbst mehrmals andere Unternehmen aufgekauft und integriert, darunter Pixar, Marvel, Lucasfilm und, als meine letzte Akquisition, 21st Century Fox. Ich habe mit Steve Jobs Pläne über die Zukunft der Unterhaltung geschmiedet und wurde zum Hüter von George Lucas’ Mythologie Star Wars. Jeden Tag habe ich darüber nachgedacht, wie die Technologie die Art und Weise verändert, wie wir Medien erschaffen, bereitstellen und erleben, und was es bedeutet, einer fast hundert Jahre alten Marke treu und gleichzeitig für ein modernes Publikum relevant zu bleiben. Ich habe hart und sorgfältig daran gearbeitet, dass Milliarden von Menschen auf der Welt eine emotionale Verbindung zu unserer Marke verspüren.
Wenn ich heute daran zurückdenke, was ich gelernt habe, erkenne ich zehn Prinzipien, die meiner Ansicht nach unabdingbar für echte Führungsqualität sind. Ich hoffe, sie leisten Ihnen ebenso gute Dienste wie mir.
Optimismus: Eine der wichtigsten Eigenschaften einer guten Führungskraft ist Optimismus, das heißt ein pragmatischer Enthusiasmus für das Machbare. Selbst wenn eine optimistische Führungskraft vor schwierigen Entscheidungen steht und mit suboptimalen Ergebnissen konfrontiert ist, verfällt sie nicht in Pessimismus. Einfach ausgedrückt: Pessimisten können weder andere Menschen motivieren noch ihnen Energie verleihen.
Mut: Mut ist die Grundlage des Wagemuts. In Geschäftsfeldern, in denen sich ständig alles verändert und neue Innovationen die Spielregeln verändern, ist Wagemut unabdingbar und Innovation überlebenswichtig. Echte Innovation geschieht nur, wenn Menschen mutig sind. Das gilt für Akquisitionen, Investitionen und Kapitalallokation, und zum Teil gilt es auch für kreative Entscheidungen. Die Angst vor Misserfolg erstickt jede Kreativität im Keim.
Fokus: Es ist überaus wichtig, Zeit, Energie und Ressourcen auf die Strategien, Probleme und Projekte zu verwenden, die von höchster Bedeutung und höchstem Wert sind. Und es ist zwingend notwendig, die eigenen Prioritäten oft und klar zu kommunizieren.
Entschlossenheit: Alle Entscheidungen, egal wie schwierig sie auch sein mögen, können und sollten zeitnah erfolgen. Führungskräfte müssen zu Meinungsvielfalt ermutigen, und gleichzeitig Entscheidungen treffen und konsequent umsetzen. Chronisches Zaudern ist nicht nur ineffizient und kontraproduktiv, sondern untergräbt auch die allgemeine Moral.
Wissbegier: Eine tiefe, dauerhafte Wissbegier ermöglicht die Entdeckung neuer Menschen, Orte und Ideen, fördert aber auch ein besseres Bewusstsein und Verständnis für den Markt und seine Veränderungsdynamiken. Der Weg zu Innovation beginnt mit der Wissbegier.
Fairness: Eine starke Führung beinhaltet die faire, anständige Behandlung anderer Menschen. Dafür ist es wichtig, empathisch und zugänglich zu sein. Menschen, die Fehler ehrlich zugeben, verdienen eine zweite Chance. Eine zu unbarmherzige Beurteilung anderer Menschen erzeugt Angst und Anspannung, die eine offene Kommunikation und Innovation verhindern. Nichts ist schlimmer als eine Organisation mit einer Angstkultur.
Besonnenheit: Besonnenheit ist eines der am meisten unterschätzten Elemente guter Führung. Es geht darum, sich Wissen anzueignen und sorgfältig verschiedene Argumente abzuwägen. Wenn Sie dann eine Meinung äußern oder eine Entscheidung treffen, wird diese glaubwürdiger und mit höherer Wahrscheinlichkeit auch richtig sein.
Authentizität: Seien Sie echt. Seien Sie ehrlich. Geben Sie nichts vor, was Sie nicht sind, nicht machen wollen oder nicht können. Aus Wahrhaftigkeit und Authentizität entstehen Respekt und Vertrauen.
Unermüdlicher Perfektionsdrang: Das heißt nicht Perfektion um jeden Preis, sondern die Weigerung, sich mit Mittelmäßigkeit zufriedenzugeben oder sich Ausreden einfallen zu lassen, weil etwas »genügt«. Wenn Sie glauben, dass sich etwas besser machen lässt, dann strengen Sie sich an, um es besser zu machen. Wenn Sie etwas produzieren, dann produzieren Sie etwas Großartiges.
Integrität: Nichts ist wichtiger als die Qualität und Integrität der Menschen einer Organisation und ihrer Produkte. Der Erfolg eines Unternehmens hängt davon ab, dass es für alle Dinge, die großen und die kleinen, hohe ethische Standards setzt. Oder anders ausgedrückt: So wie Sie eine Sache machen, machen Sie alle Sachen.
BEI DIESEM BUCH handelt es sich nicht um Memoiren. Allerdings ist es nicht möglich, über die Eigenschaften zu sprechen, die mir im Verlauf meines Berufslebens gute Dienste geleistet haben, ohne auf meine Kindheit zurückzublicken. Natürlich gibt es Eigenschaften, die ich schon immer gehabt, und Dinge, die ich schon immer getan habe. Sie sind das Ergebnis einer untrennbaren Mischung aus genetischer Veranlagung und Erziehung. (Zum Beispiel bin ich, soweit ich mich erinnern kann, morgens schon immer sehr früh aufgewacht und habe diese Stunden, die ich für mich selbst hatte, stets sehr genossen.) Daneben gibt es andere Eigenschaften und Gewohnheiten, die das Ergebnis der bewussten Entscheidungen sind, die ich im Verlauf meines Lebens getroffen habe. Wie es auf viele von uns zutrifft, habe ich diese Entscheidungen zum Teil als Reaktion auf meine Eltern getroffen, vor allem meinen Vater, einen brillanten, komplizierten Mann, der mich stärker geprägt hat als irgendjemand sonst.
Ganz gewiss hat er meine Neugier auf die Welt geweckt. Er hatte ein Arbeitszimmer, das bis unter die Decke mit Bücherregalen gefüllt war, und er hat jedes einzelne Buch davon gelesen. Ich begann erst in der Highschool, mich wirklich für Bücher zu interessieren, aber als ich schließlich die Liebe zu Büchern entdeckte, war es seinem Einfluss zu verdanken. Er war Mitglied in einem Buchklub und besaß die Gesamtausgaben aller großen amerikanischen Schriftsteller – Fitzgerald, Hemingway, Faulkner, Steinbeck und so weiter. Ich verschlang Fitzgeralds Zärtlich ist die Nacht oder Hemingways Wem die Stunde schlägt und Dutzende andere, und mein Vater drängte mich immer, noch mehr zu lesen. Außerdem diskutierten wir beim Abendessen die Ereignisse in der Welt; bereits mit zehn Jahren holte ich die New York Times, die der Zeitungsausteiler über den Zaun in unseren Vorgarten geworfen hatte, und las sie am Küchentisch, bevor alle anderen aufwachten.
Wir lebten in einem zweistöckigen Haus in einer kleinen, überwiegend von der Arbeiterschicht geprägten Ortschaft auf Long Island mit dem Namen Oceanside. Ich war das ältere von zwei Kindern; meine Schwester ist drei Jahre jünger. Meine Mutter war warmherzig und liebevoll und widmete sich ausschließlich der Familie, bis ich die Highschool besuchte. Dann nahm sie eine Stelle in der Schulbibliothek der örtlichen Junior Highschool an. Mein Vater war ein Veteran der US Navy, der aus dem Krieg zurückgekehrt war und in einigen unbekannteren Big Bands Trompete spielte. Er glaubte aber nicht, dass er von seinen Einkünften als Musiker leben konnte, daher versuchte er nie, als Vollzeitmusiker zu arbeiten. Er hatte Marketing an der Wharton School der Universität von Pennsylvania studiert. Seine erste Stelle hatte er im Marketing eines Lebensmittelherstellers; das wiederum führte ihn in die Werbung. Er wurde Account Manager bei einer Werbeagentur in der Madison Avenue – unter anderem war er für die Marken Old Milwaukee und Brunswick Bowling verantwortlich –, aber schließlich verlor er diesen Job. Als ich zehn oder elf war, hatte er seine Arbeitsstellen so oft gewechselt, dass ich begann, mich nach den Gründen zu fragen.
Zu diesem Zeitpunkt war mein Vater, der sehr liberal eingestellt war, bereits stark politisch engagiert. Einmal verlor er seine Arbeit, weil er fest entschlossen war, an dem Marsch der Bürgerrechtsbewegung nach Washington teilzunehmen und sich die Rede von Martin Luther King Jr. anzuhören. Sein Chef gab ihm nicht frei, aber er nahm trotzdem teil. Ich weiß nicht, ob er fristlos kündigte und nach Washington fuhr, oder ob er nach seinem Fernbleiben gefeuert wurde, jedenfalls war dies nur einer von mehreren Fällen, in denen eine Beschäftigung für ihn so endete.
Ich war stolz auf seinen festen Charakter und seine politischen Überzeugungen. Er besaß einen stark ausgeprägten Sinn für das, was richtig und fair ist, und er ergriff immer die Partei der Benachteiligten. Allerdings hatte er wenig Kontrolle über sein Temperament und sagte oft Dinge, die ihn anschließend in Schwierigkeiten brachten. Später erfuhr ich, dass man ihm eine manische Depression diagnostiziert hatte und dass er mehrere Therapien ausprobiert hatte, darunter auch eine Elektroschocktherapie. Als ältestes Kind trug ich die ganze Last seiner emotionalen Unberechenbarkeit. Zwar fühlte ich mich nie von ihm bedroht, aber mir war seine dunkle Seite sehr bewusst, und ich empfand Mitleid mit ihm. Wir wussten nie, welcher Dad abends nach Hause kommen würde. Ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, dass ich in meinem Kinderzimmer in der zweiten Etage unseres Hauses saß und an der Art und Weise, wie er die Tür öffnete, hinter sich schloss und die Treppen hinaufging, erkannte, ob ein gut gelaunter oder ein trauriger Dad nach Hause kam.
Gelegentlich steckte er den Kopf durch die Tür zu meinem Zimmer, um sicherzugehen, dass ich »die Zeit produktiv verbrachte«, wie er es ausdrückte. Das bedeutete, zu lesen oder Hausaufgaben zu machen oder irgendeiner anderen Beschäftigung nachzugehen, die mich zu einem »besseren Menschen« machen würde. Er wollte, dass meine Schwester und ich Spaß hatten und uns vergnügten, aber es war ihm auch sehr wichtig, dass wir unsere Zeit klug verbrachten und konzentriert an der Erreichung unserer Ziele arbeiteten. Ich bin sicher, dass mein intensiver Fokus auf ein gutes Zeitmanagement (manche würden sagen, meine Besessenheit) von ihm stammt.
Ich hatte schon früh das Gefühl, dass es meine Aufgabe sei, die tragende Säule und der Ruhepol in unserer Familie zu sein.
Ich hatte schon früh das Gefühl, dass es meine Aufgabe sei, die tragende Säule und der Ruhepol in unserer Familie zu sein, und das erstreckte sich auch auf praktische Dinge, die im Haus zu erledigen waren. Wenn etwas kaputtging, bat mich meine Mutter, es zu reparieren, und so lernte ich bereits als Kind, wie man alles repariert, was in einem Haus kaputtgehen kann. Ich glaube, mein Interesse an Technologie ist darauf zurückzuführen. Ich arbeitete gerne mit Werkzeug und nahm gerne Dinge auseinander, um ihre Funktionsweise zu verstehen.
Meine Eltern machten sich ständig Sorgen. Beide vermittelten stets den Eindruck, als würde irgendein negatives Ereignis kurz bevorstehen. Ich weiß daher nicht, ob es genetische Veranlagung ist oder eine Reaktion auf ihre ständige Anspannung, aber ich bin immer genau das Gegenteil gewesen. Mit wenigen Ausnahmen habe ich mir nie viele Sorgen über die Zukunft gemacht und hatte auch nie große Angst davor, etwas auszuprobieren und zu scheitern.
Kaugummi von Tausenden von Schulpulten zu entfernen, kann eine gute Übung in Charakterbildung oder zumindest in Toleranz für Monotonie oder Ähnliches sein …
Als ich älter wurde, begann ich zu erkennen, wie enttäuscht mein Vater von sich selbst war. Er hatte ein Leben geführt, das er als unbefriedigend empfand, und betrachtete sich als Versager. Aus diesem Grund drängte er uns so sehr, uns anzustrengen und produktiv zu sein, damit wir später den Erfolg haben würden, der ihm versagt blieb. Seine chronischen Arbeitsprobleme bedeuteten, dass ich mein eigenes Geld verdienen musste, wenn ich Geld zur Verfügung haben wollte. In der achten Klasse begann ich Schnee zu schippen und als Regalauffüller in einem Baumarkt und als Babysitter auszuhelfen. Mit fünfzehn arbeitete ich als Hausmeister in meiner Schule. In dieser Funktion musste ich alle Heizungen in allen Klassenzimmern putzen, die Unterseiten der Schultische prüfen, um sicherzugehen, dass kein Kaugummi darunter klebte, und es gegebenenfalls entfernen. Kaugummi von Tausenden von Schulpulten zu entfernen, kann eine gute Übung in Charakterbildung oder zumindest in Toleranz für Monotonie oder Ähnliches sein …
Ich besuchte das Ithaca College und arbeitete in meinem ersten und zweiten Studienjahr fast jedes Wochenende beim örtlichen Pizza Hut. In der Highschool hatte ich zumeist gute Noten, aber Lernen an sich war nie meine Leidenschaft. Als ich das College besuchte, stellte ich jedoch fest, dass es mir Spaß machte. Ich war fest entschlossen, mich intensiv anzustrengen und möglichst viel zu lernen. Ich glaube, auch das hing mit meinem Vater zusammen – in gewisser Weise wollte ich mich auf keinen Fall so wie mein Vater als Versager im Leben fühlen. Ich hatte zwar keine klare Vorstellung von »Erfolg« und auch nicht die Vision, dass ich reich und mächtig werden würde, aber ich war fest entschlossen, unter allen Umständen zu vermeiden, dass mein Leben ein Leben der Enttäuschung sein würde. Wie auch immer meine Zukunft aussehen würde, ich sagte mir, dass ich auf keinen Fall frustriert und unerfüllt leben wollte.