Werner J. Egli,

wurde 1943 in Luzern, Schweiz, geboren und lebt heute als freier Schriftsteller in Tucson (USA), in Freudenstadt (D) und in Egg bei Zürich. Seine erfolgreichen und in viele Sprachen übersetzten Jugendbücher wurden unter anderem mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, mit dem Preis der Leseratten (ZDF) und mit dem Jugendbuchpreis der Ausländerbeauftragten des Senats Berlin ausgezeichnet. 2002 wurde er für den Hans-Christian-Andersen-Preis nominiert, die international höchste Auszeichnung für Jugendliteratur.

Unter www.egli-online.com ist der Autor auch im Internet zu finden.

Von Werner J. Egli bei ARAVAIPA:

Der letzte Kampf des Tigers

Black Shark

Aus den Augen, voll im Sinn

Der erste Schuss

Der Fremde im Sturm

Andere:

Heul doch den Mond an

Martin und Lara

Tage im Leben eines Feiglings

WERNER J. EGLI

BIS ANS
ENDE
DER
FÄHRTE

Roman

ISBN 978-3-03864-209-1

ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch

Inhalt

Der erste Schuss

Der Grizzly

Die Warnung

Im Blizzard unterwegs

Der Wolf

Der Zorn der Erdgeister

Am Ende der Fährte

Der erste Schuss

Luke bewegte sich vorsichtig. Mit einer Hand teilte er die kahlen Äste des Gestrüpps, mit der anderen hielt er sein Gewehr. Der Wind, stand günstig. Er wehte Luke ins Gesicht und brannte auf seiner Haut. Es war ein steifer Nordwest, der Schneewolken brachte.

Seit drei Tagen waren Tom Prestridge und sein Sohn Luke unterwegs. Allen Warnungen zum Trotz. Sie hätten viel weiter unten im Tal einen Elch schießen können, aber weiter unten im Tal hatten andere Jäger gejagt, Leute aus Williams Lake und weiter entfernten Ortschaften. Einige waren sogar mit Wasserflugzeugen gelandet, andere fuhren mit ihren Pickup-Kleinlastwagen, einfach ein Stück weit weg von der Straße und schossen auf alles, was sich bewegte. Seit ein paar Tagen herrschte wieder Ruhe. Die Elchsaison war eigentlich vorbei.

Luke erreichte die Kuppe eines Hügels. Er sah die Elchkuh sofort. Sie stand bis zu den Knien in einem seichten Tümpels, an dessen Rändern Eis glitzerte.

Luke blickte sich nach seinem Vater um und gab ihm ein Zeichen, leise heranzukommen. Sein Vater war ein erfahrener Jäger. So leise glitt er durch das fast kahle Unterholz, dass nicht einmal Luke ein Geräusch hören konnte; einen knackenden Zweig oder ein Rascheln von dürrem Laub. Als er bei Luke anlangte, kauerte er nieder.

»Gut gemacht«, flüsterte Tom Prestridge. Das machte Luke stolz. Es war nicht einfach gewesen, die Niederung mit den kleinen Tümpeln zu umgehen, um in den Wind zu gelangen. Die Elchkuh war wachsam. Vielleicht hatte sie schon einmal Erfahrungen mit Jägern gemacht. Lange Zeit hatte sie am Rande des Tümpels gestanden, in den Wind gewittert, bevor sie schließlich auf ihren langen Beinen in das Wasser hinaus gewatet war.

Jetzt fraß sie. Sie holte Grünzeug vom Grund des Tümpels. Manchmal verschwand der ganze Kopf und blieb eine Weile unten. Und wenn er wieder hochkam, triefte Wasser vom Maul und vom Bart.

Luke sollte den ersten Schuss bekommen. Nie zuvor hatte ihm Vater den ersten Schuss überlassen. Nicht bei einer Elchkuh und wenn es darum ging, Fleisch für ein ganzes Jahr zu machen.

Luke versuchte ruhig zu bleiben. Aber sein Inneres war aufgewühlt. Er spürte, wie seine Hände in den Handschuhen feucht wurden. Solange die Elchkuh im Wasser war, würde er nicht zum Schuss kommen. Das war eine Regel, an die sich jeder anständige Jäger hielt. Niemand schoss einen Elch im Wasser, und zwar nicht nur, weil es später umständlich war, das erlegte Tier ans Trockene zu bringen und auszuweiden, sondern weil Elche nicht auf der Hut sein konnten, wenn sie den Kopf im Wasser hatten. Und weil das Blut einen Frischwassertümpel übel verseucht hätte.

Die Elchkuh war groß und stämmig. Mindestens so groß wie ein Pferd. Lukes Vater schätzte ihr Gewicht auf über achthundert Pfund.

»Sie ist gefräßig«, flüsterte Lukes Vater. »Ein gutes Zeichen dafür, dass sie gesund ist.«

»Es kann lange dauern, bis sie satt ist«, erwiderte Luke ungeduldig. Noch war es früh am Tag. Im ersten Morgengrauen hatten sie ihr Lager jenseits der Hügel abgebrochen und hatten ungefähr zwölf Kilometer zu Fuß zurückgelegt. Der alte Ford Pickup stand dort, wo die Straße aufhörte, weiter unten im Tal des Taseko Creek. Luke rechnete damit, dass sie den ganzen Tag damit beschäftigt sein würden, den Elch auszuweiden, zu zerlegen und die ersten Stücke zurück zur Straße zu transportieren. Den Rest würden sie den nächsten Tag zu Tale bringen.

Fast drei Stunden lang mussten sie warten, bis die Elchkuh satt war. Eine Weile stand sie noch im seichten Wasser und machte keine Anstalten, ans Ufer zu gehen. Luke hatte die Handschuhe ausgezogen. Er hielt das Jagdgewehr so, dass er es leicht an die Schulter heben, zielen und abdrükken konnte. Es war ein gutes Jagdgewehr, das ihm Vater zum Geburtstag geschenkt hatte.

Lukes Vater war auch bereit. Notfalls würde er der Elchkuh den Fangschuss geben. Nur wenn Luke fehlte oder die Kuh nicht auf der Stelle zusammenbrach. Die Entfernung betrug vielleicht hundertfünfzig Meter. Obwohl der Himmel mit schmutziggrauen Wolken verhangen war und das Dämmerlicht an diesem Tag nicht in die Wälder zurückweichen wollte, herrschten gute Sichtverhältnisse.

»Ich hoffe, sie dreht mir nicht den Hintern zu«, sagte Luke fast tonlos, während er die Elchkuh beobachtete. Nur er selbst hörte, wie seine Stimme zitterte, während er das Gewehr entsicherte.

Lukes Vater gab ihm keine Antwort. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Er wusste, wie es in Luke aussah. Luke konnte kaum atmen. Alles in ihm war angespannt. Sein Gaumen war trocken. Er fuhr sich mit der Zunge über die rissigen Lippen. In diesem Moment bewegte sich die Elchkuh. Sie drehte sich und ging auf das Ufer zu, dort, wo die Böschung flach war und die kahlen roten Ruten von Weidenbüschen aus der dünnen Eisdecke ragten.

Sie war noch nicht am Ufer, als sie plötzlich stehenblieb und ihren überlangen Kopf herum schwang. Die großen Ohren bewegten sich in die Richtung, aus der der Wind kam. Luke hörte, wie sein Vater den Atem durch die Nase ausstieß. Irgendetwas stimmte nicht mehr.

»Wir sind nicht allein, Luke«, sagte er leise. »Pass auf, dass du zu Schuss kommst!«

Luke hob das Gewehr an die Schulter. Der Hammer war gespannt. Der Finger lag am Abzug. Luke kriegte das Geäst ins Fadenkreuz des Zielfernrohrs. Dann einen braunen Fleck. Die Seite der Elchkuh. Ein Stück vom Hals. Die Schulter. Plötzlich schrak sie hoch. Mit langen, stelzenden Bewegungen sprang sie aus dem seichten Wasser. Luke folgte ihr mit dem Gewehrlauf, fasste Druckpunkt, als sie festen Boden unter die Hufe kriegte. Der Schuss löste sich fast von selbst. Noch im Zielfernrohr sah Luke, wie er traf. Als er das Gewehr senkte, brach die Elchkuh am Rande des Tümpels zusammen.

Sie fiel zur Seite. Ihre langen, sehnigen Hinterbeine keilten aus. Die spitzen Hufe rissen die gefrorene Erde auf, und dort, wo die Kugel in ihren Körper eingedrungen war, lief ihr Blut ins Fell.

Lukes Vater, der die ganze Zeit sein Gewehr im Anschlag gehalten hatte, senkte es jetzt. Er legte Luke die Hand auf die Schulter.

»Feiner Schuss«, sagte er.

Erst jetzt merkte Luke, dass er die ganze Zeit den Atem angehalten hatte. Er stieß die Luft aus und wollte auf die Beine springen, aber sein Vater hielt ihn zurück und zeigte durch das Geäst auf drei Gestalten, die jenseits des Tümpels aus dem Dickicht auftauchten. Es waren drei Männer, und Luke erkannte sie sofort. Dogrib-Joe und seine Söhne, Bill und Jim. Jim nannte man Cutface, weil er eine Narbe hatte, die von der Nasenwurzel schräg über die Wange führte, fast bis unter das rechte Ohr. Und Bill war ein Tölpel, von dem gesagt wurde, dass er weder lesen noch schreiben konnte.

Sie standen alle drei an der Böschung und starrten herüber. Luke war nicht sicher, ob sie ihn und seinen Vater sehen konnten. Dogrib-Joe hielt ein Gewehr in den Händen. Es war ein fünfschüssiges Winchestergewehr.

»Die haben uns gerade noch gefehlt«, hörte Luke seinen Vater voll Grimm sagen, während dieser langsam aufstand und aus dem Dickicht trat.

»Lade dein Gewehr«, sagte sein Vater halblaut.

Luke holte eine Patrone aus der Tasche seines Parkas. Seine Finger zitterten etwas, als er den Verschluss öffnete und die Patrone sorgfältig in die Kammer legte. Die geladene Waffe schussbereit, erhob er sich.

Die drei Männer waren auf der anderen Seite des Tümpels stehen geblieben. Der Wind zerrte an ihren zerlumpten Kleidungsstücken. Dogrib-Joe hatte ein paar Wolfsfelle umgehängt. Jim trug eine rote Schildmütze mit Ohrenklappen, und Bill hatte sich einen Wollschal um den Hals gehängt, auf dem die olympischen Ringe eingestickt waren. Luke sah alle drei zum ersten Mal aus der Nähe, und er spürte, wie ihm flau im Magen wurde, während er sie anstarrte. Und sein Vater zögerte lange, bevor er sich anschickte, den Hang hinunterzugehen.

Als sie unten in der Senke ankamen, standen die drei immer noch unbeweglich am gleichen Fleck. Und jetzt konnte Luke deutlich erkennen, dass Dogrib-Joe ein breites Grinsen in seinem dunklen, schartigen Gesicht hatte.

»Behalte sie im Auge«, sagte Lukes Vater, während sie nebeneinander durch die Niederung gingen. Der sumpfige Boden war so hart gefroren, dass sie selbst in der Nähe des Ufers nicht einsanken. Als sie bei der toten Elchkuh ankamen, lehnte Lukes Vater sein Gewehr gegen den Rücken des Tieres. Er zog sein Jagdmesser aus der Scheide, kauerte nieder und stieß der Elchkuh die Klinge tief in den Hals, so dass das Blut abfließen konnte.

Auf der anderen Seite des Tümpels setzten sich die drei Gestalten in Bewegung. Sie näherten sich am Uferrand entlang durch das Weidengestrüpp. Luke ließ sie nicht aus den Augen.

»Jetzt kommen sie«, raunte er seinem Vater zu.

»Alle drei?« Tom Prestridge blickte nicht auf.

»Ja.«

»Gut. Geh ein paar Schritte zurück, Luke!«

Luke gehorchte. Tausend Gedanken wirbelten plötzlich durch seinen Kopf. Geschichten fielen ihm ein, die sich die Leute im Dorf erzählten. Üble Geschichten. Man sagte, dass Dogrib-Joe früher einen Mountie — einen Polizisten der R.C.M.P. der Royal Canadian Mounted Police, der berittenen Polizei Kanadas — umgelegt hatte. Zwar wusste niemand etwas Genaues, aber Dogrib-Joe blieb nach dem Zwischenfall ein paar Jahre spurlos verschwunden. Und als er zurückkehrte, wurde er in Williams Lake für einige Monate in Untersuchungshaft gesetzt. Etwas nachweisen konnte man ihm jedoch nie. Einmal hatte Luke seinen Vater gefragt, ob die Geschichten wahr seien. Sein Vater hatte nur den Kopf geschüttelt. Und Luke hatte ihn nie mehr danach gefragt.

Sie kamen aus dem Gestrüpp. Zuerst der Alte. Dann Jim, und hinter ihm der jüngere der beiden Brüder. Dass Bill nicht ganz dicht war, konnte man ihm deutlich ansehen. In seinem Gesicht zuckte es fortwährend, und er hatte immer einen dümmlichen Ausdruck in den Augen, so als ob er nie voll da wäre. Einmal hatte man ihn hinter dem Haus von Jennifers Mutter erwischt, wie er Jennifer anstarrte, die allein draußen war. Die Männer im Dorf wollten ihm anschließend einen Denkzettel verpassen und ihn verprügeln, dass ihm Hören und Sehen vergangen wäre, um ihm ein für alle Mal klarzumachen, dass er in der Nähe der Kleinen nichts zu suchen hatte. Aber Reverend Lyman trat im letzten Moment dazwischen. Man jagte Dogrib-Joe und seine Söhne aus dem Dorf und warnte sie, dass man Bill das nächste Mal einfach aufhängen würde, was natürlich weit übertrieben war.

Lukes Vater kniete bei der Elchkuh am Boden und schlitzte ihr den Bauch auf. Warmes, weißes Gedärm quoll heraus. Der Dampf hüllte Luke und seinen Vater ein wie Nebel.

Etwa zwanzig Schritte entfernt, am Ufer des Tümpels, blieben Dogrib-Joe und seine Söhne erneut stehen. Eine Weile schauten sie Lukes Vater wortlos bei der Arbeit zu.

»He, Prestridge«, sagte Dogrib-Joe schließlich mit krächzender Stimme, »was denkst du dir dabei, eine Elchkuh im Wasser zu schießen?«

Lukes Vater hob den Kopf. Ohne ein Wort zu sagen, begann er, seine Jacke aufzuknöpfen. Die Arbeit machte ihn warm.

Dogrib-Joe beobachtete ihn ohne Unterlass. Seine dunklen Augen funkelten. Plötzlich lachte er auf.

»Du willst nicht mit mir reden, was? Du denkst, dass alles vorbei und vergessen ist und dass dein Junge die Wahrheit nie erfahren wird.«

Lukes Vater hatte die Jacke ausgezogen und über den Ast einer Weide geworfen. Ohne sich um die drei Männer zu kümmern, rollte er die Hemdsärmel hoch und schob die Ärmel seines Unterhemdes bis über die Ellbogen zurück. Dann griff er mit beiden Händen tief in den aufgeschlitzten Bauch der Elchkuh und begann die Eingeweide vorsichtig zu lösen, so dass die Gallenblase nicht platzte. Er war ganz vom Dampf eingehüllt.

Einige Minuten vergingen. Niemand redete. Bill starrte Luke mit seinen Glotzaugen die ganze Zeit an. Er hatte ein fleischiges Breigesicht, das etwas heller war als das seines Bruders.

Lukes Vater zog die Eingeweide heraus und schleifte sie ein Stück weit weg, bevor er sie am Boden liegenließ. Kojoten würden hier aufräumen, sobald sie weg waren.

»Ich meine, dass du uns etwas von diesem guten Fleisch abgeben solltest, Prestridge«, sagte der Alte. »Wir sind zwei Tage unterwegs, ohne zu essen. Bill hat eine halbtote Maus ausgebuddelt, mit bloßen Händen. Die haben wir gegessen. Sonst nichts.«

»Wir jagen nicht für andere«, erwiderte Lukes Vater, während er zur Elchkuh zurückging. »Das Fleisch gehört uns.«

»Und ich sage dir, dass wir dieser Elchkuh zwei Tage lang gefolgt sind. Vom Hackberry Creek bis hierher. Ein Mann, der anständig ist, teilt mit denen, die nichts haben, Prestridge. Erinnerst du dich?« Der Alte lachte. »Ich habe dir alles gegeben, als du nichts hattest. Ich habe dir mein Leben gegeben!«

Lukes Vater bückte sich, und anstatt mit dem Abhäuten anzufangen, griff er nach dem Gewehr. Luke presste die Lippen fest zusammen, während sein Vater das Gewehr auf die drei Männer richtete.

»Ich habe dir mein Leben gegeben, verdammt!«, stieß Dogrib-Joe noch einmal hervor.

Jetzt blickte Tom Prestridge auf. Seine Augen waren schmal, und Luke sah, dass sein Gesicht blass geworden war.

»Nimm deine Söhne und verschwinde!«, sagte er so leise, dass ihn Luke kaum verstehen konnte. »Verschwinde, bevor ich die Geduld verliere!«

Dogrib-Joe legte den Kopf schief und lachte leise. Ein gutes Lachen war es nicht, denn obwohl er es leise tat, klang es messerscharf.

»Du hast auch noch nicht vergessen, Prestridge. Das ist gut so, denn eines Tages werde ich dich vielleicht doch noch töten. Vielleicht ist jetzt die Zeit dafür gekommen, nicht wahr? Zehn Jahre bist du mir ausgewichen. Zehn Jahre lang hast du nicht den Mut gehabt, mir zu begegnen. Vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen, Prestridge!«

Lukes Vater schwieg. Da stieß Dogrib-Joe seinen Sohn Jim an, der mit unbewegtem Gesicht neben ihm stand.

»Schau ihn dir an! Er hat Angst vor uns. Er weiß, dass er noch nicht bezahlt hat. Sein Junge kennt nicht einmal die Wahrheit. Vielleicht hat er ihn die ganze Zeit angelogen. Junge, hast du ihn nie nach deiner Mutter gefragt? Du hörst doch, was die Leute reden, nicht wahr? Prestridge, sag deinem Sohn lieber, er soll aufpassen mit seinem Zeigefinger. Das Gewehr könnte leicht losgehen. Sag ihm, dass ich nicht gern tot sein will. Sag es ihm, Prestridge.«

»Keine Sorge, er kann mit dem Gewehr umgehen«, gab Lukes Vater kalt zurück.

»Hat er den Elch geschossen?«

»Ja.«

»Guter Schuss, Junge!«, sagte der Alte anerkennend. »Ich wollte schießen, aber dann krachte es, und der Elch fiel um. Du erinnerst mich an deine Mutter, Junge.«

Luke wurde es gleichzeitig heiß und kalt. Er hatte den Mund fest geschlossen und sagte kein Wort.

Der Alte lachte auf. »Hast du Angst, Luke? Ah, vor uns brauchst du keine Angst zu haben. Wir sind keine Unmenschen. Weißt du, warum nicht wir den Elch erlegt haben?«

»Ihr seid im Wind gekommen«, sagte Luke.

»Richtig.« Der Alte spuckte aus. »Außerdem ist Bill über eine Wurzel gestolpert. Das war Pech. Bill ist nicht nur leicht schwachsinnig, er ist auch tollpatschig und hat von nichts eine Ahnung.« Der Alte gab sein Gewehr seinem Sohn Bill. »Schau, der freut sich nur, wenn er etwas töten kann. So war er schon als Kind.«

Bill strahlte über sein ganzes Breigesicht, während er das Gewehr in seinen Händen betrachtete. Der Alte sagte etwas in einer indianischen Sprache zu ihm. Das Grinsen in Bills Gesicht löste sich auf. Er starrte Luke wieder unverwandt an.

»Nimmst du die Leber mit, Prestridge?«, fragte der Alte.

Lukes Vater überlegte kurz. Luke wusste, dass sie normalerweise die Leber von einem gesunden Tier nicht zurückließen.

»Wenn du sie willst, hol sie dir«, sagte Lukes Vater schließlich knapp.

Der Alte nickte.

»Du hast ein gutes Herz, Prestridge«, sagte er höhnisch. Er schickte seinen Sohn Jim, um die Leber zu holen. Jim bewegte sich geschmeidig wie eine Raubkatze. Während er auf die Innereien zuging, zog er mit einer blitzschnellen Bewegung sein Messer. Er kauerte bei den Innereien nieder und trennte die blutige Leber weg. Dogrib-Joe und seine Söhne teilten die Leber unter sich auf und verschlangen die Stücke auf der Stelle roh. Nur der Alte ließ ein Stück in seinem zerlumpten Fellmantel verschwinden.

Luke spürte, wie ein ekelerregendes Gefühl in ihm hochkam. Sie unterschieden sich kaum von Tieren, aßen das Fleisch erlegter Tiere roh und hausten irgendwo am Fuße des Slocan Peak. An einem kleinen See, den die Indianer Spirit Lake nannten, hatten sie eine kleine Hütte. Niemand wusste genau, wie viele Mitglieder die Sippe von Dogrib-Joe zählte. Man sagte, dass sie sich auch von Wurzeln Ungeziefer ernährten und für den Eigenbedarf Schnaps brannten. Nur hin und wieder kamen sie aus den Bergen in die Nähe der Ansiedlungen, wie hungrige Wölfe auf der Suche nach leichter Beute.

Der Alte wischte sich das Blut vom Kinn. Er nahm Bill das Gewehr weg, legte es quer über seine Arme und verbeugte sich in die Richtung von Lukes Vater.

»Meinen Dank, Prestridge. Und falls du mal in die Nähe des Spirit Lake bist, lass dich nur nicht von einem Besuch bei uns abhalten. Wir sind gastfreundliche Leute, wie du dich sicher noch erinnern kannst. Jim legt dir nächstes Mal den Fisch vielleicht sogar auf den Teller. Nicht wahr, Jim?«

Jim bleckte die Zähne. Das war die erste Regung, die er zeigte, seit er hier war. »Oder ’ne Ratte«, murmelte er.

Luke fröstelte bei dem Gedanken, diesem Mann irgendwo draußen in der Wildnis allein zu begegnen; erst gar in der Nähe des Spirit Lake.

»Frag deinen Vater mal nach deiner Mutter, Junge!«, forderte der Alte Luke spöttisch auf, drehte sich ohne eine Entgegnung abzuwarten um, und ging davon. Seine beiden Söhne stapften ihm hinterher.

Sie sahen ihnen nach, bis sie im Gestrüpp verschwunden waren. Erst dann ließen Tom Prestridge das Gewehr sinken und blickte sich nach Luke um.

»Mach dir keine Gedanken, Luke«, sagte er und lehnte das Gewehr wieder gegen den Rücken der Elchkuh. »Es gibt nichts, was ich dir erzählen müsste.« Damit nahm er das Jagdmesser zur Hand und prüfte die Schärfe der Messerklinge mit dem Daumennagel. Er bemerkte wohl, wie sehr die Worte von Dogrib-Joe seinen Sohn beschäftigten, und er wusste auch, dass er ihm früher oder später sagen musste, was vor vielen Jahren geschehen war, aber das war nicht der Ort und die Zeit dazu. Er kniete sich hin und schlitzte der Elchkuh an der Innenseite ihrer Schenkel die Haut auf.

»Du kannst mir zusehen, oder du kannst mithelfen, Luke«, sagte er nach einer Weile. »Wenn du mir hilfst, sind wir vielleicht mit der ersten Ladung beim Pickup, bevor es dunkel wird.«

Luke legte das Gewehr nur ungern weg. Er schnallte den Rucksack ab und entnahm ihm eine kleine Säge, wie sie von Schlachtern benutzt wurde, um Knochen durchzusägen. Während sein Vater sorgfältig, aber mit gekonnten Bewegungen das Fell von den Beinen und vom Körper der Elchkuh löste, trennte ihr Luke die sehnigen Unterschenkel ab, an denen sich kaum Fleisch befand. Luke und sein Vater arbeiteten schweigend. Luke half ihm nicht zum ersten Mal, ein Tier fachgerecht abzuhäuten und zu zerlegen. Sein Vater hatte früher weiter unten im Tal Fallen ausgelegt und das wenige Geld, das sie zum Leben brauchten, mit Fuchsfellen verdient. Das war mehrere Jahre her, und schon damals war es zwischen Tom Prestridge und Dogrib-Joe zu bösartigen Zwischenfällen gekommen. Sie kannten sich schon lange; das war sicher. Und niemand in Cedar Creek wusste, was zwischen ihnen war. Die Leute erzählten sich zwar Geschichten, aber an den meisten war nichts Wahres dran. Oder doch? Was war mit dem toten Fisch, der einmal vor der Tür einer alten Hütte am Taseko Lake lag, in der Luke und sein Vater ein Wochenende verbrachten? Und warum erzählte ihm sein Vater nie von seiner Mutter? Dogrib-Joe hasste ihn, das war jedenfalls sicher.

Luke erinnerte sich noch genau an einen Tag, an dem sein Vater halb erfroren nach Hause kam. Er war eine Woche lang einer Fallenstrecke gefolgt und musste feststellen, dass jede einzelne Falle von jemand mit einem Stock ausgelöst worden war. Ein heftiger Schneesturm hatte die Spuren verweht, aber in der Nähe einer Falle, im Schutz schneebeladener Äste, die so tief hingen, dass unter ihnen mehrere Männer während eines Sturmes Obdach und Schutz finden konnten, entdeckte Lukes Vater in einer kalten Feuerstelle zwei Sardinendosen, die jemand mit dem Messer geöffnet hatte. Zwei Wochen zuvor war im kleinen General Store, dem Gemischtwarenladen von Cedar Creek, eingebrochen worden, und unter anderem hatten die Diebe eine ganze Kiste Sardinendosen mitgenommen. Der Verdacht war sofort auf Dogrib-Joe und seine Söhne gefallen, da diese am selben Tag vom Postfahrer an der Straße zwischen Cedar Creek und der kleinen Ortschaft Redstone gesichtet worden waren. Sie hatten sich in die Büsche geschlagen, als der Land Rover plötzlich über einem Hügel auftauchte, und der Postfahrer, Lamont Blanchet, eine ehrliche Haut, der nicht leichtfertig mit Anschuldigungen zur Hand war, hatte genau gesehen, dass die zwei Söhne prallgefüllte Beutesäcke auf den Schultern trugen.

Luke wurde von seinem Vater aus den Gedanken gerissen. »Träumst du diesen drei Schuften hinterher, Luke?«, fragte er, als hätte er Lukes Gedanken gelesen. »Sie sind weg, und sie werden sich hüten, uns noch einmal in die Quere zu kommen. Schau nur, dort drüben warten die ersten Wölfe darauf, dass wir hier fertigmachen und endlich weggehen.«

Lukes Vater hatte Augen wie ein Falke. Selbst wenn er nicht nach irgendetwas Ausschau hielt, entging ihm nichts. Luke sah durch das Geäst hindurch zwei Wölfe am Hang. Trotz ihres dicken Winterfells waren sie beide beinmager. Luke war sicher, dass bald noch andere vom Geruch des Blutes und des warmen Fleisches angelockt werden würden. Es war deshalb notwendig, jene Stükke der Elchkuh im Geäst eines Baumes unterzubringen, die sie nicht beim ersten Mal zum Wagen transportieren konnten. Luke überließ es seinem Vater, die Elchkuh zu zerlegen. Er selbst fällte mit der Handaxt zwei kleine Kiefern und schlug die Äste von den dünnen Stämmen. Mit einem Seil und einem Stück Lastwagenplane stellte Luke eine Trage her, auf der mindestens ein Drittel der Elchkuh Platz hatte. Mehr vermochten sie ohnehin nicht zu tragen, und das bedeutete, dass sie heute nur noch einen Transport machen konnten.

Es war fast Mittag, als Luke auf einen abgestorbenen Ahornbaum kletterte und ein Seil über den ersten Ast zog. Dann half er seinem Vater, die Stücke der Elchkuh einzeln hochzuziehen und im Geäst zu verstauen. Der Baum stand schräg, und sein Holz war von Wind und Wetter blankgenagt. Der Wurzelstock war halb aus der Erde gerissen, und Lukes Vater fürchtete erst, der Baum würde dem Gewicht der Elchstücke nicht standhalten. Es war aber der einzige Baum in der Nähe, der sich dazu eignete, ein Beuteversteck anzulegen und die Wölfe daran zu hindern, an das Fleisch heranzukommen. Ihnen blieben die Innereien, der Kopf und die Glieder, die Luke abgetrennt hatte. Das Fell wollte Tom Prestridge einem Chilcotin-Indianer geben, der in der Sägemühle arbeitete und dessen Frau daraus Mokassins nähen konnte.

Bevor sie sich auf den Marsch zurück zur Straße machten, brachte Luke auf ihrem kleinen Gaskocher Wasser zum Sieden und schüttete Pulverkaffee hinein. Sie aßen einige Streifen geräucherten Lachs, gesalzene Cracker und tranken dazu den Kaffee. Die Wölfe kamen inzwischen so nahe heran, dass Luke sie schon fast gegen den Wind riechen konnte.

Es schneite leicht, als Luke und sein Vater zum Abmarsch bereit waren. Die Elchstücke auf der Trage wogen mehr als hundert Pfund. Am Anfang schien Luke die Ladung gar nicht so schwer zu sein. Aber nachdem sie die erste Steigung hinter sich hatten und von einem flachen Hügelrükken aus in das bewaldete Tal des Taseko Creek blickten, konnte Luke die Stangenenden kaum mehr festhalten.

»Von hier aus können wir sie bis zum Waldrand schleppen«, sagte sein Vater, und mit zusammengebissenen Zähnen bückte sich Luke, bis die Stangen den Boden berührten. Dann erst lösten sich seine verkrampften Finger, in denen er kein Gefühl mehr hatte.

Der Transport von der Abschussstelle zum Pickup gehörte für Luke und seinen Vater zur Jagd wie das Lagern im Freien, die langen Märsche auf den Wildfährten, das geduldige Lauern im Stand, der Schuss und das Ausweiden und Zerlegen des erlegten Tieres. Solange Luke zurückdenken konnte, war es jeden Herbst das gleiche. Früher, als er noch zu klein dazu gewesen war, hatte Vater den alten Chuck Henson mitgenommen. Inzwischen war Henson gestorben, aber Luke dachte noch oft an ihn und seine wilden Geschichten aus den Zeiten, lange bevor es in Cedar Creek eine Sägemühle gab und die Straße durch das Hinterland bis nach Bella Coola hinausführte.

Jetzt war alles anders. Von überall kamen Leute her. In Cedar Creek lebten schon fast dreihundert Menschen. Die meisten arbeiteten in der Sägemühle. Früher hatte es nur eine Schule in Redstone gegeben. Jetzt gab Jennifers Mutter im Bretterverschlag hinter der Kirche Unterricht, in dem früher ein Pole mit seiner Familie gelebt hatte. Trotzdem hatte Cedar Creek noch immer keine Postleitzahl.

Auf dem Weg ins Tal hatte Luke viel Zeit, über alles nachzudenken. Es gab nichts anderes zu tun. Sein Vater schleppte die Trage über die Hänge hinunter. Er selbst trug beide Gewehre und seinen Rucksack, aber der war bis auf ein paar notwendige Dinge leer.

Luke hatte von Jennifers Mutter, Ms. Melissa Johnson, Lesen und Schreiben gelernt, und auch Rechnen. Sie war früher in Williams Lake Lehrerin gewesen. Dann war sie die Frau eines Mannes geworden, der für die Sägemühle Holztransporte fuhr. Der Mann, Buck Armstrong, war im letzten Winter verunglückt, als sein Transporter auf der verschneiten Straße schleuderte und in einen Abgrund stürzte. Eigentlich rechneten alle in Cedar Creek damit, dass Jennifers Mutter, die jetzt Armstrong hieß, nach Williams Lake zurückkehren würde. Aber sie blieb. Und das lag vielleicht auch ein bisschen an Lukes Vater. Die Leute munkelten schon darüber. Einmal, an einem Sonntag, waren sie zusammen nach Williams Lake gefahren. Seither munkelten die Leute allerhand, und sogar Reverend Lyman machte sich seinen Reim.

»Bei euch Prestridges gehört eine Frau ins Haus, bevor ihr noch ganz verwildert«, sagte er einmal mit einem Augenzwinkern, als Luke im General Store einkaufte. Nur gut, dass nicht auch noch Jennifers Mutter im Laden anwesend gewesen war.

»Ich kann Lesen und Schreiben!«

»Zu Recht bist du stolz darauf, Junge, denn es ist etwas vom Wenigen, was uns von denen unterscheidet, die auf allen Vieren gehen.«

An seine Mutter konnte sich Luke nicht erinnern. Sie war gestorben, als er noch keine zwei Jahre alt war. Lungenentzündung hatte ihm sein Vater gesagt. Aber das war nicht die Wahrheit. Die Wahrheit kannte niemand im Dorf. Trotzdem redeten die Leute. Tausendmal hatte Luke seinen Vater schon fragen wollen, was damals passiert war. Tausendmal. Immer wenn er an sie dachte und an seine Vergangenheit, die er nicht kannte, weil er sich nur bis zu dem Tag zurückerinnern konnte, als ihn sein Vater auf den Schultern durch die Wälder trug. Und manchmal glaubte er, er könnte sich an ihr Gesicht erinnern. Manchmal, wenn er nachts wach in seinem Bett lag, sah er ihr Gesicht, und es war immer das gleiche blasse Gesicht, weil er es nur von einem Bild kannte, das lange Zeit im Wohnzimmer auf der Kommode gestanden hatte. In einem schmalen Goldrahmen, von dem ein Stück abgebrochen war. Irgendwann hatte er bemerkt, dass es verschwunden war, und er hatte seinen Vater nie nach dem Bild gefragt. Sie redeten auch nie über seine Mutter. Nur der alte Henson hatte einmal gesagt, dass sie eine wunderschöne Frau gewesen sei. Aber da war noch etwas, was Luke gerne gewusst hätte. Da war noch eine andere Wahrheit.

Am Waldrand hielt Tom Prestridge an. Schweiß rann ihm aus der Fellmütze über das Gesicht. Er rang nach Atem, als er sich aufrichtete.

»Wir sind ein gutes Stück vorangekommen, Luke«, keuchte er während er bis zur Hügelkuppe hinauf blickte, über die schwarze Wolken hinweg zogen. »Durch den Wald müssen wir wieder tragen.«

»Ich bin okay«, versicherte Luke seinem Vater und übergab ihm die Wasserflasche. Von der Seite beobachtete er ihn beim Trinken. Der Schweiß glitzerte an seinen Hautfalten. Die Stoppeln waren drei Tage alt, und so konnte Luke gut sehen, dass sein Bart links und rechts vom Kinn weiß gesprenkelt war. Als er die Flasche absetzte und sich mit dem Handrücken über den Mund fuhr, fragte ihn Luke nach dem Bild. Luke wusste selbst nicht, was ihn ausgerechnet jetzt dazu brachte, den Mund zu öffnen und nach dem Bild zu fragen.

Sein Vater drehte den Kopf und blickte ihn fragend an.

Luke hob die Schultern.