Alle Charaktere und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Zitate öffentlicher Personen sind als solche durch Fußnoten kenntlich gemacht.

Das Autorenhonorar für dieses Buch geht je zur Hälfte an queer­amnesty (Amnesty International: www.queeramnesty-berlin.de) und SMUG (Sexual Minorities Uganda: www.sexualminoritiesuganda.com).

© Querverlag, Berlin 2020

Lektorat: Regina Nössler

Erste Auflage, März 2020

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung eines Fotos © getty images (David Levingstone)

ISBN 978-3-89656-663-8

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Akazienstraße 25, 10823 Berlin

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David Kato (1964–2011)

Für David Kato,
den Lehrer und Kämpfer für Menschenrechte aus Uganda,
geboren am 13. Februar 1964 in Nakawala, Uganda.
Ermordet mit 47 Jahren am 26. Januar 2011 in Bukusa, Uganda.
Weil er sich für die Rechte sexueller Minderheiten engagierte.
Weil er selbst offen schwul war.

Hamburg, im Januar

Um diese Jahreszeit ist es nie richtig Tag in Hamburg. Grau, grau, grau. Eigentlich nur Abstufungen von grau, und dann halt früh schon dunkel. Ewig dunkel.

Mein Wecker geht ab im Dunkeln, obwohl es schon sieben Uhr ist … ich quäle mich aus dem warmen Bett und tapere über den dunklen Flur zum Klo. Dann plötzlich das grelle Licht, das in den Augen schmerzt. Aber Michelle will es so.

„Ich muss sehen, was ich mache …“, sagt sie.

„Auch auf Klo?“, brumme ich zurück.

„Auch da!“, ruft sie mit jener Stimme, die keinen Widerspruch duldet.

Sie ruft es aus dem Kinderzimmer, wo es noch still ist. Sie war offensichtlich schon vor mir auf und hat Marco die erste Flasche gegeben. Er bekommt sonst sogar noch die Brust. Aber nicht, wenn Michelle in Eile ist.

Michelle – meine ältere Schwester. Marco – mein kleiner Neffe. Gerade war sein erster Geburtstag.

Ich darf nicht zu viel meckern. Denn ohne Michelle säße ich noch zu Hause. Zuhause? Schönes Wort. Das ist es schon lange nicht mehr. Ich weiß nicht genau, was am Ende schlimmer war. War es der ewige Streit zwischen meinen Eltern?

„Von dir lasse ich mir nichts mehr sagen!“ – Mutter.

„Und wo warst du dann mit deiner sogenannten Freundin Inge den ganzen Abend?“ – Vater.

„Inge versteht mich wenigstens!“ – Mutter.

„Weil die genauso bescheuert ist!“ – Vater.

Oder war schlimmer, als ich ihnen endlich sagte, dass ich schwul bin?

Einfach so. An einem Abend nach dem Sport im städtischen Schwimmbad. Weil es einfach so klar war. Ich hatte wieder nur nach Jungen geschaut, vor allem nach dem einen in der Dusche. Nichts weiter. Absolut unauffällig. Aber es war klar für mich. Keine vorübergehende Phase.

Das bin ich. Schon immer.

Wohlgemerkt: Ich sagte es in der Großstadt Hamburg, also genauer in Barmbek. Nicht in einem Kuhkaff auf dem Lande. Nicht vor hundert Jahren, sondern vor gut sechs Monaten.

Ich habe mein Handtuch im Bad aufgehängt und sage es im Flur. Ruhig, aber unüberhörbar.

„Wie bitte?“ – Vater von seinem Schreibtisch, ohne aufzuschauen.

„Hast du keine Ohren?“ – Mutter zu Vater.

„Sag das noch mal, David!“ – Vater, zornig.

„Ich ahne es schon lange …“ – Mutter, ebenfalls, ohne mich anzuschauen.

„Ach ja?“ – Vater laut, kurz vor einem Wutanfall.

Den erlebe ich jedoch nicht mehr mit.

Mutters Stimme höre ich nur noch aus der Entfernung, als ich schon im Treppenhaus die Stufen aus dem zweiten Stock hinunterstürme. Und auch nur, weil ich die Wohnungstür offen gelassen habe.

„Daaavid?“ Und dann nochmal, aber schon viel leiser: „David …?“

Seitdem wohne ich bei Michelle, die schon einundzwanzig ist, aber bereits vor über einem Jahr abgehauen ist von daheim, obwohl sie noch in der Ausbildung war. Noch immer ist sie bei dieser Farbenfirma. Jedoch inzwischen im letzten Lehrjahr. Einzelhandelskauffrau.

„Sobald ich damit fertig bin, suche ich mir was anderes“, sagt sie.

Sie hasst ihren Chef. Ein Diktator. Die Firma nennt sie IG Farben. „Der hätte auch KZs anstreichen lassen“, sagte ihre Kollegin Leila einmal, als ich dabei war. Dann kicherten beide.

„Der ist schlimmer als Armin!“, fügte Michelle noch hinzu. Aber Armin bezahlt immerhin den Unterhalt für Marco, auch wenn er sich sonst nicht um den Kleinen kümmert. Und so großzügig, dass wir jetzt, zwar bescheiden, aber doch alle drei davon leben können. Michelle, Marco und ich.

So ist meine große Schwester. Hart, aber gerecht. Nie würde sie mich im Stich lassen, ihren kleinen Bruder. Ich sie aber auch nicht. Echt nie!

Als Armin einmal betrunken an der Tür war und Theater machte, packte ich einen alten Hammer aus unserer Werkzeugkiste, erhob ihn mit entschlossener Miene und schrie: „Wenn du Michelle auch nur berührst, bekommst du den auf die Birne!“

Es muss gut ausgesehen haben. Armin verdrückte sich und kam seitdem nicht wieder. Aber überweist trotzdem weiter jeden Ersten im Monat Unterhalt für Marco.

Denn ich gehe ja noch zur Schule. Obwohl ich schon achtzehn bin. Aber doch erst in der elften Klasse. Weil ich in der Grundschule einmal sitzen geblieben war. Aber auf der Gesamtschule ist es gut jetzt. Vor allem unsere Deutschlehrerin ist gut. Sie mag meine Aufsätze. Unglaublich.

Ich schreibe irgendwas. Und Frau Schneider sagt: „Gut, David! Du hast eine eigene Stimme.“ Hat sie ehrlich gesagt. Eine eigene Stimme. Bin nicht sicher, was das ist. Aber ich habe es, sagt sie.

Noch anderthalb Jahre bis zum Abi.

„Das machst du, David!“ Wieder Michelles Stimme. Die keinen Widerspruch duldet. „Oder willst du auch Einzelhandelskauffrau werden?“

„Nee“, antworte ich. Und dann lachen wir. Weil sie Kauffrau gesagt hat und nicht Kaufmann. Und weil wir irgendwie froh sind, dass wir uns haben. Auch ohne Eltern und ohne Marcos Vater.

Wenig später bringt sie Marco zu Frau Gonzales, einer Nachbarin über uns. Die passt die Woche über auf ihn auf. Ist eigentlich schon Oma, aber ihr eigener Sohn ist mit drei Enkelkindern zurück nach Barcelona gegangen. Sie hat alle Zeit für Marco und macht es gern. Ist gut für beide.

Als ich aus der Dusche komme, ist es ganz still. Auf dem Küchentisch liegt Michelles Einkaufszettel. Auch die Bier- und Sprudel-Bestellung von Frau Gonzales. Aber sie schluckt ihr cerveza nur am Abend. Sonst nimmt sie nichts von uns. Und die Getränkeflaschen auch nur, weil sie nichts Schweres tragen darf.

Nach der Schule kommt das gut hin. An drei Nachmittagen staple ich Regale voll in dem Schrott-Supermarkt nicht weit von uns. Ein Hungerlohn, aber immerhin auch ein Beitrag zu unserer kleinen Familie. Und irgendwie ist es auch gut da wegen Abdul. Der ist genauso alt wie ich, aber arbeitet Fulltime dort.

Und sieht einfach gut aus.

Geht regelmäßig ins Sportstudio. Sieht man auch – ein paar Schultern, Mannomann. In dem Studio trifft er seine anderen arabischen Freunde. Abdul ist aber viel weniger Macho als die. So freundlich. Fragt auch immer nach Michelle und Marco.

Und dass er nicht schwul ist – dafür kann er nichts. Von mir weiß er es nicht. Denke ich zumindest. Denn zu Anfang vermutete er, dass Michelle meine Freundin sei. „Sieht gut aus“, grinste er verschwörerisch. Inzwischen weiß er immerhin, dass sie meine Schwester ist. Immerhin.

Zur Schule fahre ich auf meinem alten Rad. Bei jedem Wetter. Heute ist es besonders mies. Eiskalter Nieselregen, selbst der Radweg glitschig. Aber die erste Stunde haben wir bei Frau Schneider.

Letzte Woche hat sie mit Goethes Werther begonnen. Gar nicht blöd, der Typ. Wie der über Liebe und Leidenschaft schon 1771 redete. Leider hetero.

Kampala, Januar

Kampala im Januar ist wie Kampala im Februar oder August. Meist einfach gutes Wetter. Das ganze Jahr. Sonne, 25 Grad – mal etwas wärmer. Nachts meist kühler, gut zum Schlafen.

Dass es nicht knallheiß ist wie in unseren Nachbarländern – im nördlichen Sudan oder westlichen Kongo, wie im östlichen Kenia und südöstlichen Tansania –, hat damit zu tun, dass Uganda höher liegt. Im Durchschnitt um die tausend Meter über dem Meer. Gute Luft, immer ein leichter Wind. Eher wie im südwestlich von uns ebenfalls hoch gelegenen Ruanda, dem Land der tausend Hügel.

Und der Himmel über Kampala? Blau. Fast immer blau, manchmal knallblau, manchmal seidenblau. Selten nur graublau, wenn es mal Wolken und Regen gibt. Oder eines der vielen reinigenden Gewitter. Gut. Regen ist immer gut. Heute ist der Himmel knallblau.

Kampala – oder in unserer Sprache Kasozi K’empala: Hügel der Antilopen. Schon lange her, als hier noch die Impala-Antilopen frei herumliefen. Aber vorstellen kann ich’s mir. Wenn ich aus dem Fenster unserer Parterrewohnung im Stadtteil Kololo schaue und nicht weit von uns die hohen Baumkronen des Unabhängigkeitsparks erkennen kann. Dahinter riesige Hochhäuser am Horizont dieser Millionenstadt.

Mama vermisst die Kühe aus Kabale. Ich auch. Kühe haben eine gute Seele.

Dabei waren wir nie Bauern. Als ich noch ganz klein war, wurde Mama als leitende Krankenschwester von Kampala zum Aufbau des staatlichen Kreiskrankenhauses nach Kabale versetzt, fast sieben Stunden im wackelnden Autobus südwestlich von der Hauptstadt entfernt, nicht weit von der Grenze zu Ruanda. Da hatte sie sich schon getrennt von meinem Vater, der als Stationsarzt auch ihr ehemaliger Chef gewesen war.

„Ich war nur eine seiner vielen Frauen“, erklärte mir Mama, als ich schon zur Schule ging in Kabale. Und ich sie nach meinem Vater gefragt hatte. Ihre Stimme klang traurig, als sie es sagte.

Trotzdem fragte ich weiter. Denn noch eine andere Frage lag mir auf dem Herzen. Und Mama kann ich alles fragen. Immer.

„Warum habe ich keine Geschwister, Mama?“ Alle meine Freunde haben Geschwister. Viele. Im Durchschnitt, das weiß ich heute, sechs Kinder pro Familie in Uganda.

„Weil ich nach deiner Geburt lange sehr krank war, David“, antwortete sie. Und fügte dann noch trauriger hinzu: „Hinterher konnte ich keine Kinder mehr bekommen.“ Sie wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht. Ich ahnte, dass auch darum mein Vater sie verlassen hat. Oder sie sich, wie sie sagt, getrennt hat. Männer in Uganda wollen immer viele Kinder. Das weiß jeder.

Aber meine Mutter ist perfekt für mich. Die beste Mama der Welt. Und ich will nicht, dass sie traurig ist. Niemals. Dann habe ich eben keine Geschwister. Außerdem ist sie eine tüchtige Krankenschwester. Oberschwester Patience Kutala. Alle achten sie in Kabale, auch wenn die meisten Leute hier nicht unsere Sprache Luganda sprechen, sondern Rukiga. Von ihrem Gehalt haben wir ein kleines Haus mit Garten nicht weit vom Krankenhaus mieten können. Wegen des kühleren Klimas hier wachsen sogar zwei Apfelbäume direkt davor.

Unsere kleine Familie: Nur Mama und ich. Mamas Eltern und Geschwister wurden alle ermordet zu Zeiten des furchtbaren Idi Amin1. Sie wuchs als kleines Mädchen bei einer Tante auf, die aber inzwischen auch verstorben ist.

Zu unserer Familie gehört dann aber immerhin noch Robinson – unser Wachhund. Den ich auf einem Müllhaufen als kleines, halb verhungertes schwarzes Bündel gefunden hatte. Inzwischen war Robinson zu einer stattlichen Schäferhund-Mischung herangewachsen, der auf unser Haus aufpasste, wenn Mama im Krankenhaus war und ich in der Schule. Mit Robinson würde sich kein Einbrecher einfach anlegen.

Ich war so klein, gerade erste Klasse, dass ich an jenem Abend noch auf ihrem Schoß sitzen konnte, als sie mir von meinem Vater erzählte und warum sie keine Kinder mehr würde haben können. Noch einmal tropften ein oder zwei ihrer Tränen auf meinen Kopf.

Ich zog ihr Gesicht zu mir herunter und flüsterte ihr ins Ohr: „Nkwagala, Mama!“ Sie zog den Rotz hoch und sagte in mein Ohr: „Ich dich auch, David!“

Da mussten wir beide lachen. Nkwagala heißt in unserer Sprache: Ich liebe dich.

Als ich schon im Bett lag, hörte ich die Kühe unserer alten Nachbarin im Schuppen mit den Hufen stampfen und ihren Atem ausblasen. Ein Gewitter zog auf. Aber mir konnte nichts passieren. Mit Mama und Robinson.

An diesen Abend in Kabale musste ich denken. Jetzt, fast zehn Jahre später und zurück in Kampala. Mutter nun als Oberschwester im Kinderkrankenhaus im guten Stadtteil Kololo. Robinson inzwischen hinkend und mit grauen Haaren ums Maul, weil er schon sehr alt geworden ist, jedenfalls nach Hundejahren. Aber wir würden uns niemals von ihm trennen. Er gehört einfach zu unserer kleinen Familie.

Dass ich schwul bin, ahne ich, seit ich klein bin. Aber ich hatte nie ein Wort dafür. Und ich fiel sonst nicht auf. Ich war in der Grundschul-Fußballmannschaft und tobte mit den anderen Jungen nach der Schule.

In meiner Klasse waren damals auch zwei Batwa Kinder, einen Kopf kleiner als alle anderen. Niemand wollte mit ihnen spielen. Sie wurden „Zwerge“ gerufen oder auch „Pygmäen“. Sie wurden nicht einmal in unsere Fußballmannschaft gewählt. Ich fand es gemein, aber sagte nichts. Doch spürte ich deutlich, wie traurig sie darüber waren.

Heute weiß ich, dass ich ebenso nicht dazugehöre. Jedenfalls nicht zu den meisten anderen Jungen, die ich kenne in meinem Alter. Auch wenn es von denen noch niemand weiß.

Seit meinem vierzehnten Geburtstag weiß ich sicher, dass ich schwul bin. Mama hatte mir erlaubt, drei Freunde zu meiner Feier einzuladen: Isaac, Seguja und Paul. Sie war eher von der Arbeit gekommen und hatte für uns alle KFC-Fastfood mitgebracht. Super.

Zuletzt schauten wir alle zusammen den neuen Black-Panther-Film auf DVD an, der damals gerade herausgekommen war. So stark – alle Helden Afrikaner! Gegen 21 Uhr wurde Seguja von seiner Mutter mit dem Auto abgeholt und Paul von einem Fahrer seines Vaters. Isaacs Mutter hatte angerufen und gefragt, ob der Junge bei uns übernachten könne, da ihr Mann nicht rechtzeitig von einer Sitzung des Stadtrates heimgekommen sei.

„Klar“, sagte Mama. „Kein Problem. Er kann dann morgen früh mit David den Schulbus nehmen.“

Und so blieb Isaac über Nacht. In meinem Zimmer. Erst lag er auf der Gästematratze, die Mama für ihn neben meinem Bett zurechtgemacht hatte. Natürlich hatte er keinen Pyjama dabei. Er zog sich aus bis auf die Unterhose. Beide waren wir noch nicht wirklich müde.

Dann erhob er sich und setzte sich einfach zu mir aufs Bett. Plötzlich fragte er: „Weißt du, was Batwa bedeutet?“

Ich hatte keine Ahnung. Ein Schimpfwort?

„Nein“, erklärte Isaac. „Batwa heißt einfach Mensch. Nicht Engländer, nicht Franzose, nicht Ugander – einfach nur Mensch. Gut, nicht?“

Ich nickte und versuchte, meinen Blick von Isaacs Körper abzuwenden. Er wirkte schon viel männlicher als ich, obwohl er nur ein Jahr älter war. Sonst ebenso dünn zwar, aber seine Muskeln zeichneten sich deutlich ab.

Dann schaltete er einfach meine Nachttischlampe aus. Nur ein schummriges Licht von einer ziemlich weit entfernten Straßenlaterne schien noch ins Zimmer. Er streifte seine Unterhose ab und legte sich neben mich ins Bett. Noch immer hatte ich meinen Pyjama an. Isaac zog mich zu sich. Erst jetzt traute auch ich mich. Fest presste ich meinen Körper gegen seinen.

Das war es. Genau das. Alles glühte in mir. Von nun an war kein Zweifel mehr in mir.

Beim Frühstück brachte ich kein Wort heraus. Isaac lachte mich an und schlug mir auf die Schulter, als wir beim Schulhof ankamen und aus dem Bus kletterten. Ich höre noch seine Stimme, wie er rief: „Siiba bulungi, black panther – mach’s gut, schwarzer Panther!“

Wenig später zog die Familie nach Entebbe ans Ufer des Viktoria-Sees, und wir verloren einander aus den Augen. Ich sah ihn erst gut zwei Jahre später. Das war vor sechs Monaten bei einem gemeinsamen Bekannten aus dem Sportverein am Stadtrand von Kampala. Er war kaum wiederzuerkennen. Vor Kurzem war sein siebzehnter Geburtstag gewesen. Nun hatte er sich schon fast einen Vollbart wachsen lassen und trug die Haare als Afro.

„Isaac?“

Oli otya – wie geht’s, David?“, entgegnete er, und sofort erkannte ich seine Stimme. Ohne meine Antwort abzuwarten, öffnete er sein Hemd und zeigte mir eine schlecht verheilte, ziemlich große Narbe an der Schulter.

„Mein Vater!“, fuhr er fort. „Wenn ich mich noch jemals daheim sehen lasse, will er mich endgültig abstechen. Ein Schwuler wie ich sei eine Schande für die Familie …“

„Mann, Isaac …“, murmelte ich erschrocken.

Isaacs Vater war früher einer der einflussreichsten Stadträte in unserem Distrikt. Bei dem Sportler-Bekannten konnte Isaac nur noch ein paar Tage bleiben. Dann musste er ein neues Versteck finden.

Meine Mutter dagegen hält uneingeschränkt zu mir, obwohl ich es ihr erst ein Jahr nach der ersten Nacht mit Isaac damals gesagt hatte. Manchmal denke ich, sie wusste es schon eher als ich.

An jenem Nachmittag nahm sie einfach meine Hand und schaute ernst, aber liebevoll und sagte nur: „Weißt du noch: Nkwagala …?“

Seit dem letzten Treffen vor einem halben Jahr habe ich Isaac nicht mehr gesehen. Niemand weiß, wo er ist.

„Bestimmt untergetaucht“, meint Betty, eine Transfrau in unserer erst vor Kurzem gegründeten Gruppe für sexuelle Minderheiten, der ersten überhaupt in Kampala. Aber genau weiß sie es auch nicht. Angeblich sucht ihn sein berühmter Vater jetzt sogar mit der Polizei. Den schwarzen Panther.


1 Idi Amin (1928–2003), ursprünglich demokratisch gewählter Regierungschef von Uganda, dann aber sich zum „Präsident auf Lebenszeit“ ernennender Diktator. Während seiner Jahre an der Macht von 1971–1979 verjagte er alle indischstämmigen Bewohner Ugandas und ermordete mindestens 300.000 seiner politischen Gegner.

Hamburg, im Februar

Die Tage werden langsam schon wieder länger. Wenn mein Wecker geht, ist es zwar noch dunkel. Aber wenn ich eine halbe Stunde später auf mein Rad steige, kommt bereits das erste Tageslicht.

Heute früh scheinen sogar ein paar erste zaghafte Sonnenstrahlen über das Dach der Turnhalle, als ich in der Schule ankomme und mein Rad bei den überdachten Ständern anschließe.

Freitagmorgen. Bald ist Wochenende.

Heute Abend gehe ich zu einer Disko im mhc, dem Magnus-Hirschfeld-Centrum, einem Hamburger LGBTIQ-Zentrum2, benannt nach dem Vorfechter für unsere Rechte aus dem letzten Jahrhundert: Magnus Hirschfeld3. Ist auch nicht weit weg von Barmbek. Nachts kann ich von da nach Hause laufen und brauche auf keinen Nachtbus zu warten.

Am Nachmittag noch drei Stunden Packen im Supermarkt. Aber abends und nachts dann voll frei. Erst ab morgen Nachmittag bin ich dran zum Babysitten für Marco. Jeden zweiten Samstag im Monat zieht Michelle los mit ihrer besten Freundin Ayşe.

All das geht mir durch den Kopf, während Frau Schneider ihr Bestes gibt für Goethe und seinen Werther.

„David?“, höre ich ihre Stimmer aus weiter Ferne. Den ersten Teil ihrer Frage habe ich schlicht verpasst.

„Ja?“, antworte ich und versuche zu erraten, was sie wissen will.

Sie hat eine Folie mit Zitaten aus dem Werther an das Whiteboard projiziert. Auf eines zeigt sie mit dem Finger und schaut mich weiter an.

Mühsam entziffere ich die vergrößerten Worte vor mir:

Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bisschen, das ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, dass sie alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden. – Der junge Werther am 17. Mai 1771

„Und, David?“ Frau Schneider lässt nicht locker.

„Ist gut!“, sage ich dann und meine es auch so. Da sie weiter fragend schaut, fahre ich fort: „Das ist auch so mit mir im Supermarkt. Da bin ich nur, um mein Leben zu finanzieren. Und heute Abend gehe ich mit dem bisschen Freiheit, das mir bleibt, aus, um zu tanzen.“

„Ist das alles?“, fragt sie erneut, freundlich und echt interessiert.

„Nein“, sage ich. Dabei scheint es nun, als ob wir nur noch vertraut zu zweit reden würden, obwohl alle anderen in der Klasse zuhören: „Das kann nicht alles gewesen sein … ich meine, das Leben. Da muss noch mehr sein.“

Frau Schneider nickt. Ohne zu urteilen. Vielleicht lächelt sie auch etwas. So bringt sie uns zum Nachdenken über unser Leben.

Von den beiden Mathestunden danach erinnere ich mich leider an nichts mehr. An gar nichts.

Abdul hat heute die Frühschicht und kann schon am Nachmittag aufbrechen vom Supermarkt. Gerade noch genug Zeit, um einander zu begrüßen. Wie meist drückt er meine Hand, dann zieht er mich ran, sodass sich unsere rechten Schultern kurz berühren. Alles cool und macho, aber auch wieder nicht. Ich spüre seine Wärme und Kraft.

Was spürt er?

Er strahlt wie meist: „Mein älterer Bruder Hassan hat heute seinen Führerschein geschafft. Das wird gefeiert.“

„Wo denn?“, frage ich freundlich, wohl wissend, dass ich niemals eingeladen werden würde. So nah sind wir uns auch wieder nicht. Hassan habe ich nur zwei oder drei Mal gesehen, als er seinen jüngeren Bruder mit dem Moped abholte.

„Im Basar!“, antwortet Abdul. Das ist eine Art Lokal in der Nähe der neuen Moschee. „Ich habe alle meine Freunde eingeladen … Hassan hat kaum welche.“

Die letzten Worte fallen mir auf, aber ich frage nicht nach. Wieso hat Hassan kaum Freunde? Abdul hängt immer mit mindestens fünf oder sechs seiner Kumpels zusammen. Er hat seinen Kittel schon ausgezogen und die braune Lederjacke übergestreift.

„Salaam!“, ruft er vom hinteren Personalausgang und winkt.

„Shalom!“, rufe ich und lache. Ich weiß, so was geht zwischen uns. Auch er lacht. Einer seiner Kumpels hat neulich verärgert beim Abschied geschaut und dann so laut gefragt, dass es bis in den Laden zu hören war: „Ist der Jude?“ Wobei er das Wort „Jude“ so abfällig wie möglich aussprach.

Abduls Antwort verstand ich nicht. Aber er zeigte mir seinen erhobenen Daumen, bevor er die schwere Metalltür von außen zuzog.

Als ich heimkomme, badet Michelle ihren Kleinen in seiner Babywanne. Marco ist immer glücklich im warmen Wasser mit Schaum und Quietsche-Ente und allem. Er quietscht selbst vor Vergnügen. Michelle lässt ihm den Spaß, auch wenn sie danach das ganze Bad wischen muss.

Freitagabend essen wir selten zusammen. Ich ziehe mir was aus dem Kühlschrank. Obst, Joghurt und zwei Scheiben Schinken ohne Brot. Da Marco und Michelle das Badezimmer weiter belegt haben, rasiere ich mich in meinem Zimmer. Im Winter kommen immer diese blöden Pickel zurück. Und ja – auch jetzt schneide ich mich zwei Mal so ungeschickt dabei, dass ich an einer Stelle sogar mit Pflasterspray sprühen muss, um das Blut zu stoppen.

Michelle und Ayşe haben ein Parfum, das auch ich benutze. Sie haben davon eine ganze Ladung irgendwo abgestaubt. Bis jetzt scheint noch niemand bei mir bemerkt zu haben, dass ich eine Frauenmarke benutze.

Die Disko beginnt natürlich erst später, aber meist treffen wir uns von der Q-Wir Jugendgruppe schon davor im Café des mhc. Manche sind da erst vierzehn oder fünfzehn und müssen vor Mitternacht zu Hause sein. In einem Kellerraum gibt es die Safe Space4 Leute. Da kommt nicht jeder rein, denn das ist zuerst für Flüchtlinge, damit sie sich dort sicher fühlen können. Safe Space steht da auch auf Russisch, Arabisch, Englisch und noch zwei Sprachen auf der Tür, die ich aber nicht kenne.

Schon von Weitem sehe ich, dass es voll wird heute Abend. Verschiedene Leute stehen in kleinen Gruppen vorm Eingang und begrüßen einander, obwohl es hundekalt ist draußen.

„He, David“, ruft jemand, und sofort erkenne ich Martin.

Martin ist schon zwei Jahre älter als ich, aber sieht so viel jünger aus. Nicht nur, weil er klein und schmächtig ist. Auch weil er sich immer voll Girlie-mäßig kleidet. Nicht gerade einen Rock oder Pumps, aber doch weite Hosen und wehende Blusen. Seine Winterjacke ist lila. Die Augenbrauen hat er mit Mascara nachgezogen, der Lippenstift ist ein ähnliches Lila wie seine Jacke.

„He, Martin!“, rufe ich zurück. Er ist wirklich mein bester Freund, weil man sich einfach immer auf ihn verlassen kann. Als ich im November die schlimmste Grippe meines Lebens hatte und Michelle mich schon im Barmbeker Krankenhaus abliefern wollte, kam Martin jeden Nachmittag und brachte mir Medikamente und kochte warme Suppen. An manche Nachmittage erinnere ich mich kaum noch, weil ich so hohes Fieber hatte. Als es mir endlich wieder besser ging, dankte ich ihm, aber fragte auch besorgt: „Hast du denn nie Angst gehabt, dich bei mir anzustecken, Martin?“

Er schüttelte nur den Kopf. „Entweder man ist Freund oder man ist es nicht …“ Dann grinste er und fügte hinzu: „Das gilt auch für Freundinnen!“

An diesem Abend steht er mit mehreren von unserer Jugendgruppe ebenfalls noch vor dem Eingang zum mhc und hat offensichtlich auf mich gewartet. Nun gehen wir gemeinsam ins Café, wo uns auch andere begrüßen: „Hallo David!“ – „Wie geht’s, Martina?“

Alle Tische sind besetzt, also stellen wir uns einfach mit anderen an die Theke. „Auch ein Bier, Martin?“

„Kann ich lieber einen Sekt?“, fragt er augenzwinkernd.

Während wir auf die Getränke warten, sehe ich, wie mehrfach neue Gesichter hereinkommen, aber nicht im Café bleiben, sondern ohne sich umzuschauen direkt zur Treppe in den Keller zum Safe Space Raum gehen.

Auch Martin hat eine größere Gruppe bemerkt, die auffällt, weil es offensichtlich überwiegend Afrikanerinnen und Afrikaner sind.

„In einigen Ländern gibt es sogar noch die Todesstrafe für uns“, weiß Martin.

Bevor ich etwas antworten kann, geht die Tür wieder auf. Ein kräftiger junger Mann im Parka kommt herein, der erst drinnen die Kapuze herunterzieht.

Ist er das wirklich?

Der junge Mann sieht sich erst suchend um, entdeckt dann aber das große Schild, das zum Safe Space Raum weist, und geht, ohne sich umzuschauen, auf die Kellertreppe zu. Unvermeidlich muss er dabei an Martin und mir vorbei.

Als er nur noch zwei oder drei Meter entfernt ist, schaut er mir wie zufällig direkt ins Gesicht – und stutzt nur kurz, kaum bemerkbar für andere. Ich bin mir nicht sicher, ob er meinen Namen überhaupt kennt. Schließlich bin ich nur einer der vielen Kollegen seines Bruders. Aber ich kenne seinen.

„Glückwunsch zum Führerschein, Hassan!“, sage ich ruhig, aber nicht übertrieben freundlich.

Hassan stutzt erneut. Eine Sekunde scheint er abzuwägen, ob er nicht lieber abhauen sollte. Dann aber nickt er nur kurz und geht ohne ein weiteres Wort die Treppe hinunter.

„Kennst du ihn?“, fragt Martin.

„Nicht wirklich …“, gebe ich zurück. Ich will vorerst mit niemandem über Hassan reden. Nicht mal mit Martin.


2 LGBTIQ – die Buchstaben stehen für verschiedene sexuelle Orientierungen und deren englische Bezeichnungen: Lesbisch, Gay (für schwul), bisexuell, transsexuell, intersex und queer. Nichts ist vollkommen oder komplett, alles in vielfältiger Entwicklung. Für die gegenwärtigen Bedeutungen am besten googeln.

3 Magnus Hirschfeld (1868–1935), ein jüdischer Arzt, der sich sein Leben lang einsetzte für die Rechte sexueller Minderheiten in Deutschland. So stritt er gegen den §175 und gründete weltweit das erste „Institut für Sexualwissenschaft“ in Berlin. Im Mai 1933 wurde das Institut von den Nazis zerstört. Dr. Hirschfeld starb 1935 im Exil in Frankreich.

4 Die Safe Space Gruppe für LGBTIQ Flüchtlinge heißt wirklich so im Hamburger Magnus Hirschfeld Centrum. Für diese Geschichte erhielt ich die Erlaubnis, den Namen der Gruppe zu benutzen. Alle Namen von Personen und auch alle geschilderten Ereignisse sind jedoch so verändert, dass sie keine Wirklichkeit erkennen lassen.