Kiki traut ihren Augen nicht, als ihr neuer Mitschüler Joschka die Klasse betritt: Fanschal, Seidenblouson und Bommelmütze – kombiniert mit unglaublich blauen Augen. Ganz schön schräg! Und ausgerechnet dieser seltsame Typ zieht mit seiner Chaos-Familie in die alte Villa direkt neben Kikis Elternhaus. Bald ist nicht nur die Nachbarschaft in Aufruhr, sondern auch Kiki – denn der Neue geht ihr nicht mehr aus dem Kopf ...
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Bianka Minte-König, als Tochter eines Buchhändlers in Berlin geboren, promovierte in Literaturwissenschaft und lehrte als Professorin für Literatur-, Theater- und Medienpädagogik. Mit ihren Jugendbüchern der Reihe „Freche Mädchen – freche Bücher!" hat sie sich in die Bestsellerlisten und die Herzen ihrer Leserinnen geschrieben. Ihre Bücher wurden in über 20 Sprachen übersetzt, in zahlreichen Hörbüchern vertont und für das Kino verfilmt, wo sie zusätzlich ein Millionenpublikum erreichten.
Moin, zusammen!
Also manchmal denke ich, das Leben ist wie eine Wundertüte!
Die sehen alle irgendwie cool aus und wenn du dir nach langem Hin- und Herüberlegen eine ausgesucht hast und sie aufmachst, dann hast du die Bescherung! Meistens ist es doch die falsche.
Aber man kann ja auch Glück haben. So wie ich.
Mein Leben ist zwar auch manchmal voller Nieten, aber eigentlich überwiegen die Glückstreffer. Obwohl die nicht immer gleich als solche zu erkennen sind. Ist doch so! Es ist nicht immer alles das, was es auf den ersten Blick zu sein scheint. Nee, wirklich nicht. Das könnt ihr mir glauben! Vieles entpuppt sich wie ein Schmetterling erst mit der Zeit und dann kann man sich echt nur wundern.
Also, aktuell zum Wundern ist zum Beispiel der Neue in meiner Klasse, der gibt mir echt Rätsel auf. Und nicht nur er, sondern seine ganze Familie, die ist ja so was von krass! Aber dazu gleich mehr.
Gar kein Rätsel ist mir zurzeit mein Freund Benni, denn mit dem ist alles klar, superschön und easy. Wir sind jetzt mit unserem selbst gedrehten Film für den Tierschutz fertig und freuen uns auf die Premiere. Das wird was richtig Großes, so eine Charity-Gala mit Stehempfang und Spendensammlung fürs Tierheim.
Meine Mam arbeitet ja in einer Werbeagentur und hat schon ihre Unterstützung zugesagt und Papa auch. Der ist jetzt Abgeordneter im Landtag und kennt eine Menge Leute, die ordentlich was spenden können.
Dass wir das doch noch gemeinsam hinkriegen, der Benni und ich, haben wir zwischendurch auch nicht geglaubt. Wir waren nämlich ganz schön verkracht. Und nur wegen total blöder Missverständnisse. Aber, oh Wunder, es ist geschafft! Von Popstars lassen wir jetzt allerdings beide die Finger. An denen kann man sich nur verbrennen.
Obwohl David und MiKa unserem Tierschutzfilm echt einen coolen Touch geben – und zwei Stars darin sind ja auch eine tolle Werbung für die Aktion. Na, mal sehen, vielleicht kommen die ja sogar zur Premiere. Das halten wir um der Sache willen aus. Benni und ich sind eben doch ein tolles Team. Unschlagbar!
Und ja, er ist auch total kuschelig und scheinbar wirklich richtig in mich verliebt. Ich in ihn sowieso, denn so ein Junge wie er, der hat mir immer zu meinem Glück gefehlt.
Uns bringt nichts auseinander. Obwohl … die Schleimschnecken, Daphne, Gloria und Gracia, gaffen Benni ja immer noch ziemlich klebrig hinterher und versuchen sich ständig an ihn ranzuschleimen.
Na, mal gut, dass der auf Schleimerei nicht steht. Der ist einfach nur ein richtig feiner und treuer Typ.
Franzi meint ja, der wäre »eigentlich« viel zu schade für mich, tzzz! Und die will meine beste Freundin sein! Aber obwohl sie manchmal tatsächlich ziemlich schräg drauf ist, sind wir schon ewig unzertrennlich und werden es auch bleiben. Punkt! In Beziehungsdingen ist sie als Beraterin ja auch einfach unersetzlich! *G* Allerdings ist sie manchmal richtig schlecht drauf und dann muss man sie echt mit Samthandschuhen anfassen.
Benni ist da ganz anders. Wenn dem das Leben eine Zitrone gibt, dann kreiert er daraus garantiert einen total leckeren Energy-Drink, der wieder richtig positive Energie ins Leben bringt. Das wirkt bei mir dann auch. Volle Power!
Äh, wobei ich ja eigentlich selber schon genug Energie habe, aber leider findet die nicht jeder positiv.
Zum Beispiel mein Deutsch- und Klassenlehrer Herr Sägebrecht, der hält mich einfach nur für vorlaut. Er hingegen ist ja eher zum Gähnen, da muss ich mich doch mit gelegentlichen Zwischenrufen einfach wach halten. Aber das versteht er natürlich nicht. Schlaftablette! Dabei war der früher auch mal dynamischer. Na ja, wen schafft die Schule nicht?!
Meine Freundinnen, die Pepper Dollies, meinen ja, ich müsste mir ein paar Ventile suchen, um regelmäßig Dampf abzulassen. Mona, meine zweite beste Freundin, findet zum Beispiel, ich sollte irgendeiner Organisation beitreten, einer, die für was kämpft: Menschenrechte, Wasser und Brot für alle, Freiheit und Liebe und Weltfrieden, Greenpeace, Robin Wood, Regenbogen-People … ja, am besten bunt und ökologisch ist deren Vorschlag. Damit ich meine überschüssige Energie sinnvoll einsetze.
Das scheint mein »innerer Coach« auch zu glauben. Das ist so eine nervige Stimme in mir, so eine Art altkluges Orakel, das sich immer einschaltet, wenn ich mal was richtig Cooles machen will … äh ja, etwas über die Stränge schlage, also mal krass drauf bin, was richtig Tolles wagen will. Dann hebt dieser Besserwisser meist mahnend den Zeigefinger, gibt voll die Spaßbremse und sagt mir ein schlimmes Ende voraus.
Na gut, manchmal hat er auch ganz gute Ratschläge parat. Aber ich hoffe, mit dem Ende der Pubertät ist der dann auch endlich wieder aus meinem Leben verschwunden. Nervensäge!
Und was das Dampfablassen angeht: Ab und zu würde ich auch einfach nur gerne mal ein Powershopping mit meinen Mädels machen und die halbe Nacht richtig fett mit Benni zu cooler Mucke abdancen. Das hat nämlich auch was und man ist hinterher voll gechilled. Ich halte dann sogar den Sägebrecht ein paar Tage aus, ohne negativ aufzufallen!
Aber es stimmt, so allmählich könnte ruhig mal wieder was richtig Aufregendes in meinem Leben passieren! Gab schon lange keine Katastrophe mehr. Ich glaube, ich muss mal eine neue Wundertüte aufmachen!
Hm, welche nehme ich denn nur? Liebe, Freundschaft, Familie, Popstars, Abenteuer? Ach, die hier am besten. Was steht drauf? ÜBERRASCHUNG! Na denn … schau‘n wir halt mal zusammen rein!
Eure Kiki
Also, der stand da so was von seltsam in der Klassenzimmertür, dass selbst unserem Klassenlehrer der Unterkiefer absackte.
»Ist das hier die Klasse von Herrn Sägebrecht?«, fragte dieses Alien. Äh, ja, wie soll man sonst jemanden bezeichnen, der in
– seidig glänzender Fliegerjacke,
– Totenkopf-Shirt mit dem Aufdruck Rauchen macht‘s auch nicht besser,
– einem Fan-Schal von Schalke 04, zweimal um den Hals gewickelt, und
– einer zinnoberroten Bommelmütze auf dem Kopf
in der Tür stand.
Gestatten, wo geht es hier zum Zirkus, ich habe gehört, die suchen einen Clown?
Nein, Quatsch, das sagte der Typ natürlich nicht, sondern stand nach seiner Frage einfach nur da wie ein übrig gebliebener Weihnachtswichtel.
Die Hände zu Fäusten in den Hosentaschen geballt. Nicht aggressiv, nein, so wirkte er überhaupt nicht, vermutlich nur wegen der Nervosität.
Die schwang ja auch ein bisschen in seiner Stimme mit.
Und ein Alien war der bei genauerem Hinsehen auch nicht, sondern ein Junge in unserem Alter. Vielleicht ein oder zwei Jahre älter als der Klassenschnitt, mit unglaublichen aquamarinblauen Augen und einer blonden Stirnsträhne, die unter dieser bescheuerten Bommelmütze hervorlugte. Genau gesagt fiel sie über das eine Auge, wobei mir gleich der Spruch von dem Einäugigen, der unter den Blinden der Sehende ist, einfiel. Ob der so einer war? Ein Erleuchteter? Jedenfalls war die Montur, die er am Leib trug, nicht von dieser Welt, also ziemlich krass. Voll der Freak! Tat echt in den Augen weh!
Dennoch ließ ich meinen Blick einmal von oben bis unten über ihn hingleiten, ein schnelles effektives Abchecken, musste ja sein.
Er hatte Springerstiefel an, was zum übrigen Outfit irgendwie absurd aussah. Obwohl manche Hooligans bei Fußballspielen unseres Regionalligisten auch ziemlich scheckig auflaufen.
Aber wir waren jetzt schließlich nicht in der Nahkampfarena auf Schalke sondern in der Schule. OMG! Was wollte der bei uns? Das hier war nicht die ultimative Freakshow auf YouTube sondern ein stinknormales, mittelstädtisches Gymnasium.
»Der hat was von gespaltener Persönlichkeit«, wisperte Franzi mir zu. Klar, unsere Hobbypsychologin. »Unterirdisch, irgendwie.«
Oh, Mann! Aber sie hatte recht, mir war der Gedanke ja auch gerade gekommen. Der hatte sich bestimmt verirrt und wollte eigentlich ins Landeskrankenhaus, also dahin, wo man solche Fälle therapiert. Nein, ich habe keine grundsätzlichen Vorurteile gegenüber neuen Mitschülern, aber wie einer daherkommt, das sagt schon ein bisschen was über seinen Seelenzustand aus, und der schien mir bei diesem Neuling, etwas … äh … sagen wir mal … sonderbar zu sein.
»Ja, der bin ich«, sagte Sägebrecht gerade auf die Frage des Nicht-Aliens und schien genauso vom Donner gerührt wie wir. »Der Klassenlehrer dieser Klasse …«
»Das ist Fallschirmseide«, flüsterte Mona, die auf der anderen Seite neben mir saß, »das, woraus der Blouson von dem ist … teuer.«
»Voll retro …«, meinte Franzi, »hat aber was.«
Na ja, sie mit ihrer Vintage-Welle schleppte ja auch neuerdings alles aus dem Secondhandshop an.
»Äh, ich bin Wondraschek«, sagte der Typ in einem komischen Dialekt, aber so was von komisch und so was von Dialekt … wow … Der klang echt frisch importiert von Nimmerland. Also von irgendwo, wo du nicht denkst, dass es da überhaupt noch Menschen gibt, die sich über Sprache verständigen.
Sägebrecht stand auf und ging auf den Typ zu. In seinem Blick lag nackte Verzweiflung, die lautlos etwas schrie wie: Müssen die mir denn jetzt auch noch einen solchen Nerd in diese Klasse schicken? Als ob ich es nicht schon schwer genug hätte?!
Aber laut sagte er natürlich nur: »Du kommst sicher, lass mich raten, aus …?!« Er stockte, weil er diesen Slang wohl auch nicht zuordnen konnte.
Gewieher auf den billigen hinteren Plätzen, wo Fabian und seine Gorillas saßen.
»Ruhrpott«, sagte der Nerd, was ich enttäuschend fand. Ich hätte auf was Exotischeres getippt, Pinguin-City am Südpol ganz unten zum Beispiel, oder Hudson Bay im Norden von Kanada. Halt irgendeinen Ort, wo man so eine Bommelmütze gebrauchen konnte, und Blousons aus Fallschirmseide und Springerstiefel … genau in dieser Kombi. Auf Ruhrgebiet wäre ich so spontan nicht gekommen. Aber natürlich, Schalke 04 hätte mir ja schon die Richtung vorgeben können. Gelsenkirchen liegt ja mittendrin, im Pott. Woll?!
»Hast du auch einen Vornamen?«, fragte Sägebrecht. »Ich nehme an, Wondraschek ist dein Familienname.«
»Joschka.«
Oh, wie kam der zu so einem Namen? Klang interessant, ich ließ ihn innerlich auf der Zunge zergehen. Joschka … Joschi … doch, Joschi könnte passen … der kleine Joschi mit der roten Bommelmütze! Obwohl, klein war er gar nicht, sondern eher relativ groß und auch muskulös. Weswegen ja auch die Bommelmütze besonders komisch auf seinem Kopf aussah. Halt ein bisschen wie so ein Ösi in der Skifreizeit, aber nach Österreich passte die natürlich.
»Schön, Joschka, warum kommst du nicht rein, willst du in der Tür festwachsen?«
Was war Sägebrecht aber mal wieder witzig!
Der Freak zuckte mit den Schultern.
»Äh … ich … kann mir mal jemand helfen, vielleicht?«
Fabian wieherte los.
»Sag nicht, du kannst nicht allein durch die Tür gehen?«
Der Typ wurde blass, also noch blasser, denn er war eigentlich schon ziemlich bleich, hatte jedenfalls so eine wächserne Gesichtsfarbe, als hätte er im Ruhrpott unter Tage gelebt. Also in so einem Stollen unter der Erde, wo man Kohle abbaut. Kohle ist so ein schwarzes Zeug, mit dem man früher Öfen beheizt hat. Ja, ich weiß, ist lange her. Heute verfeuert man das Zeug in Kohlekraftwerken. Kriegt keiner mehr was von mit. Hatten wir gerade in Geografie. Struktureller Wandel und so …
Jedenfalls sah er so aus, als hätte ihn selten ein Sonnenstrahl geküsst. Hm, interessantes Thema … einen schönen Mund hatte der … wirklich … aber ich schweife ab.
»Wobei brauchst du Hilfe?«, wollte nun Sägebrecht ebenfalls wissen.
»Der Rollstuhl, es wäre einfacher, wenn jemand anfassen würde. Das Treppenhaus ist nicht behindertengerecht.«
»Wir haben hier auch keine Behinderten«, meinte Gracia von den Schleimschnecken und es klang nicht eben nett.
»Vermutlich deswegen«, sagte der Junge und das fand ich echt cool. Immerhin ging die Diskussion nun schon ein paar Jahre, dass man unbedingt einen Fahrstuhl einbauen müsste.
Ich stand spontan auf, kriegte dann aber einen Schreck vor meinem Übereifer und hätte mich am liebsten wieder hingesetzt. Mach dich nicht lächerlich, zischte mir jedoch mein innerer Coach zu, Rückzieher geht nicht, und so dachte ich: Okay, Augen zu und durch!
»Ich fasse an, wo steht er?«
»Sehr löblich«, meinte Sägebrecht und ich schob den Nerd bereits aus der Klasse. Als wir zur Treppe gingen, fragte ich: »Wozu brauchst du denn einen Rollstuhl, gehst doch ziemlich normal?« Soweit man mit Springerstiefeln eben normal gehen konnte.
»Ist nicht meiner«, sagte er mal wieder ultraknapp. Quasselwasser hatte der nicht getrunken.
Ah, ja, dachte ich und wunderte mich noch mehr über den Typ. Wieso schleppte der einen Rollstuhl von anderen Leuten mit sich rum?
Aber dann waren wir an der Treppe und als ich runtersah, stand am Aufgang der Rollstuhl und es saß jemand drin. Wie krass, er hatte gar nicht gesagt, dass er in Begleitung war.
Es handelte sich um ein Mädchen mit langen dunklen Haaren. Sie hatte eine Decke über den Knien liegen.
Klar, war ja kalt draußen. Februar, fast schon arktisch kalt. Ich grinste, da war eine Bommelmütze eigentlich gar nicht so verkehrt. Obwohl stylingmäßig natürlich völlig out. Da sahen die pinkfarbenen Puschelohrwärmer von dem Mädchen schon modischer aus.
»Das ist meine Schwester. Rosa heißt sie.«
Wir waren inzwischen am Fuß der Treppe angekommen.
Rosa mochte etwa 13 Jahre alt sein und sah uns mit großen dunklen Augen entgegen. Sie antwortete nicht auf mein »Hi, wie geht‘s?«.
»Sie spricht wenig«, sagte der Freak.
»Aber sie hört noch gut, oder?«
Er starrte mich an.
»Ja, wieso fragst du?«
»Weil ich es blöd finde, dass du in ihrer Gegenwart über sie so sprichst, als wäre sie taub oder nicht da!«
»Ach so.« Der Nerd zuckte die Schultern. »Das ist sie gewöhnt. Nicht wahr, Schwesterherz? Das macht schließlich jeder.«
Er sah mich herausfordernd an.
»Sie ist eben behindert, da ist das so.«
Ich hatte das Gefühl, dass er über sie wie über eine Sache sprach, die man von einer Ecke in die andere schob. Na ja, tat man ja vermutlich auch, blieb ja nicht aus, wenn man im Rollstuhl festsaß.
»Packst du nun an? Oder machen wir hier Party zu dritt?«
Der war frech, fand ich. Vielleicht war der gar nicht so handzahm, wie er aufgrund seiner albernen Verkleidung wirkte. Trottelig kam er jedenfalls nicht rüber. Aber da wir noch nie einen wie ihn in der Klasse hatten, wagte ich nicht, ihn einzuschätzen. Da konnte ich doch nur danebenliegen. Aber ich schweife ab.
Erst mal ging es jetzt darum, diesen scheißschweren Rollstuhl die Treppe raufzuschaffen.
»Habt ihr keinen aus Aluminium und in Leichtbauweise?«, stöhnte ich bereits nach den ersten Stufen. Es konnte nur am Gewicht des Rollstuhls liegen, denn das Mädchen wirkte eher zart, um nicht zu sagen zerbrechlich. Wie eine Porzellanpuppe aus Mamas Vitrine hockte sie da unter ihrer Decke, auf der schmale, verknotete Hände lagen. Die Knöchel traten weiß hervor und ich schloss daraus, dass sie scheinbar total angespannt war.
»Aufpassen!«, schrie der Reservewichtel, aber es war schon zu spät, der Rollstuhl rutschte an meiner Seite mit den Hinterrädern von der Stufe und kippte ab. Ich klammerte mich fest und versuchte, mit meinem Körper als Gegengewicht, den Absturz noch zu verhindern. Das Mädchen schrie auf. Es war der erste Laut, den sie von sich gegeben hatte, und der ging mir durch Mark und Bein. OMG, war die hysterisch! Na ja, wäre ich an ihrer Stelle in einem abrutschenden Rollstuhl wahrscheinlich auch gewesen.
»Tschhh«, machte ihr Bruder, »gut ist es!«
Wir schafften es, das Ding auszubalancieren und dann den Rest der Treppe ohne weitere Probleme raufzutragen. Nächstes Mal sollte das aber ein Junge machen, dachte ich. Da hob man sich als Mädchen ja einen Bruch!
Der Joschka-Typ schob den Rollstuhl mit seiner Schwester in Richtung Klassenraum. Ich wollte gerade die Tür aufreißen, als er stoppte und mich zurückhielt.
»Moment noch«, sagte er und ich sah total verblüfft, wie Rosa ihre bleichen Hände unter die Decke schob, eine kleine Schminkpalette hervorzog, sich im Spiegel betrachtete, Lidschatten nachtupfte und sich ein hellrotes Lipgloss aufschmierte. Das ging alles blitzschnell und dann lagen die Hände auch schon wieder verschränkt auf den bedeckten Knien. Krass!
»Jetzt ist sie bereit«, sagte Joschka. Ich öffnete die Tür und er schob den Rolli mit Rosa in die Klasse.
Da staunten meine Mitschüler aber mal Bauklötze und Sägebrecht auch. Hatte dem denn niemand gesagt, dass er ein Geschwisterpaar in die Klasse bekam?
»Das ist Rosa«, machte ich bekannt, »sie ist die Schwester von Joschka«, und dabei dachte ich: ein echt krasses Pärchen! Und ich fragte mich, wieso die bei dem offensichtlichen Altersunterschied zusammen in eine Klasse gingen.
Natürlich bat Sägebrecht die beiden trotzdem, sich auch selber noch vorzustellen, das ist ja normal, wenn jemand neu in eine Klasse kommt. Allerdings waren die nicht wirklich gesprächig, und so witzig Joschka auch aussah, so wenig Humor schien er zu besitzen.
Jedenfalls fragte ihn Fabian, warum er einen Schalke-Fan-Schal tragen würde, und da antwortete er doch glatt: »Weil der warm ist.«
»Aha, und die äh … Pudelmütze wohl auch?«, gab Fabi verwirrt zurück, denn er hatte dem Neuen eigentlich die Chance bieten wollen, mit ihm über Fußballclubs in einen Streit zu geraten. Aber genau das hatte Joschka wohl geahnt und war der Sache geschickt aus dem Weg gegangen. Genauso machte er es auch mit dem Angriff auf seine Pudelmütze.
»Ja, genau.«
»Dann kannste die ja jetzt vielleicht mal abnehmen oder haste Läuse?«
»Fabian!« Das fand Sägebrecht nun gar nicht mehr witzig. »Entschuldige dich bei Janosch.«
»Joschka.«
»Wie bitte?«
»Nicht Janosch, Joschka ist mein Name.«
Sägebrecht schüttelte den Kopf und meinte: »Ja, ja, schon gut, war ein Versprecher.«
Und Fabi quälte sich ein schlaffes »‘tschuljung« ab. Von da an schwieg er für den Rest der Stunde. Hoffentlich guckte der sich den Neuen nicht gleich als »Opfer« aus. Dass die beiden nicht miteinander harmonieren würden, war allerdings transparent.
Gut, die Vorstellung war denkbar knapp und Joschka erledigte sie für seine Schwester gleich mit.
»Wir kommen aus dem Ruhrgebiet, mein Vater arbeitet jetzt hier und darum ziehen wir um und ich gehe jetzt auf diese Schule. Rosa übrigens nicht, die habe ich heute nur dabei, weil meine Leute alle für die Umzugsvorbereitungen gebraucht werden und niemand auf sie aufpassen kann. Sie geht dann ab nächste Woche auf die Bettina-Möhring-Förderschule.« Er schwieg und es sah aus, als überlegte er, ob es noch was Nennenswertes zu sagen gäbe. Offenbar nicht, denn er meinte nur noch relativ lahm: »Morgen kann ich übrigens nicht kommen, weil da unser Umzug ist.«
»Äh, ja, danke«, sagte Sägebrecht. »Da hast du natürlich frei.«
Er blickte sich nach einem freien Tisch um.
»Dann wollt ihr heute wahrscheinlich zusammensitzen?«
»Das wäre praktisch.«
Franzi beugte sich zu mir und wisperte: »Dann bleibt ja nur der Tisch vorne vor dem Lehrerpult. Da, wo freiwillig keiner sitzen will …«
Genau.
»Dann setzt euch doch gleich hierhin«, sagte Sägebrecht und zog auch schon einen Stuhl weg, damit der Rollstuhl dort stehen konnte.
Joschka nahm Rosa die Decke von den Knien und schob sie, so nah es ging, an den Tisch. Während sie die Ohrwärmer abnahm und ihre Jacke auszog, wickelte er in aller Gemütsruhe den Schalke-Schal ab und zog die Pudelmütze vom Kopf. Na endlich, jetzt sah man, dass er eine ziemliche Matte auf dem Kopf hatte. Volle, kräftige blonde Haare, die allerdings wohl seit Ewigkeiten keinen Frisör mehr gesehen hatten. Ein bisschen wie ein Weihnachtsengel … äh … ich meine … so wie Brad Pitt in seinem neuen Film. Schon nicht ganz uncool …
In der kleinen Pause schob Josch, ich nenne ihn jetzt mal so, weil das kürzer ist, also, in der Pause schob er seine Schwester gleich beim Klingeln in den Flur, wo er mit ihr in einer der Fensternischen abtauchte und erst beim nächsten Läuten wieder rauskam.
Das war etwas unfair, denn alle Pepper Dollies waren von den beiden voll geflashed und hätten sie gerne ein wenig ausgequetscht. Aber genau das wollte Joschka wohl vermeiden.
Fabian rottete sich mit seinen Gorillas zusammen und lästerte mit Mutz und Sebastian vermutlich voll ab. Jedenfalls rauschten ständig Lachsalven wie eine La-Ola-Welle durch den Flur.
Da wir eine Doppelstunde Deutsch hatten, tauchte Sägebrecht wieder bei uns auf und terrorisierte uns mit einem Spontan-Diktat.
»Eure Rechtschreibung war im letzten Aufsatz dermaßen miserabel, dass wir daran dringend etwas tun müssen«, sagte er als Erklärung dazu. Aber vermutlich hatte er nur keine Lust, anständigen Unterricht zu machen.
»Willst du mitschreiben?«, fragte er Joschka. Als ob er die Wahl hätte! Sägebrecht hatte doch den Test bestimmt nur gewählt, um sich einen Überblick über dessen Leistungsstand zu verschaffen.
»Also, Taschen auf den Tisch!«
Wir bauten zu unserem jeweiligen Nachbarn unsere Taschen und Rucksäcke als Sichtbarriere auf und dann ging es los. Sägebrecht diktierte:
»Der Schlüssel zum Ich liegt sehr häufig unter einem Deckmantel tief im Unterbewusstsein verborgen. Außergewöhnliche Ereignisse prägen sich dort ein und verändern das Bewusstsein, auf dem Weg über das Unbewusste. Der Mensch wird geformt durch die Erfahrungen mit seiner Umwelt und seinen Mitmenschen. Die Sozialisation ist für ihn prägend, und fehlen wichtige Lernerfahrungen, ist der Mensch in Gefahr, seinen geraden Weg zu verlassen und dissozialisiert zu werden. Die Integration in die Gesellschaft misslingt.«
Gracia meldete sich.
»Können Sie mal erklären, was dissozi… äh … was das bedeutet?«
Sägebrecht wollte gerade zur Erklärung ansetzen, als Fabian in die Klasse blubberte: »Guck dir den Wondraschek an, dann weißt du es!«
Wieder war eine Entschuldigung fällig, worauf Joschka leise zu ihm rüberzischte: »Noch einmal und wir treffen uns auf dem Flur.«
Oha, der war ja gar nicht so sanft vertrottelt, wie er am Anfang rüberkam. Wohl eher doch kein kleiner Joschi, sondern ein echter Josch! Na, das konnte ja heiter werden mit den beiden.
Wie Blitz und Donner!
Sägebrecht schaltete sich ein.
»Tragt das in eurer Freizeit aus, hier in der Schule haben wir einen Ehrenkodex. Keine Prügelei, keine Aggression, keine blöden Sprüche. Also, halt dich dran, Fabian, und du, Joschka, gibst deinen Schlagring gefälligst am Eingang der Schule beim Hausmeister ab.«
Josch starrte ihn fragend an. »Äh, welchen Schlagring?«
»Hast du keinen?« Sägebrecht lachte. »Gut so, war ja auch nur ein Scherz.«
Joschka murmelte was von »… saukomisch« und das Diktat ging weiter.
In der großen Pause dasselbe wie in der kleinen. Während wir alle auf den Schulhof runtermussten, wo wir uns in der Kälte den Allerwertesten abfroren, blieb unser neuer Nerd mit seiner Schwester oben auf dem Flur und machte es sich neben der Heizung in einer Fensternische gemütlich. Na ja, es hatte ihm ja auch keiner angeboten, mal beim Rollstuhl mit anzufassen. Ich auch nicht, stimmt, aber ich war ja schließlich auch nicht die Caritas.
Na, egal, wenn der heute mit seiner Schwester beschäftigt war, konnten wir ihn ja auch morgen noch ausquetschen. Ach nee, da hatte er ja umzugsfrei! Er gab aber auch so schon genug Anlass zur Diskussion. Jedenfalls waren sich die Pepper Dollies ziemlich uneinig darüber, wie dieser Joschka einzuschätzen war.
»Den Namen find ich süß«, meinte Greetje, unsere holländische Freundin und Tochter unseres Kunstlehrers van Gogh. »Aber he is eine bisje speziell.« So konnte man es dezent ausgedrückt umschreiben.
»Kann man wohl sagen«, pflichtete Lea ihr bei. »Wie der rumläuft! Als wäre er ein Kasper und kein Junge. Was muss der für Eltern haben? So lässt man doch seinen Sohn nicht in eine neue Schule gehen.«
Mona sah das allerdings etwas lockerer.
»Spricht doch für deren Toleranz. Die lassen ihn eben seinen eigenen Stil finden. Solche Experimente sind doch echt cool. Wer weiß, was er morgen anhat. Der probiert sich doch ganz offensichtlich aus.«
Da konnte ich ihr aber nicht zustimmen.
»Mit Bomberjacke und Springerstiefeln? Kein Wunder, dass Sägebrecht gleich zynisch wurde …«
»Zynisch?«
»Na ja, diese Bemerkung mit dem Schlagring, die zielte doch voll auf sein Schlägeroutfit ab.«
Mona kicherte und zeigte mir einen Vogel.
»Schläger mit Bommelmütze! Bei euch piept es ja. Der Typ ist doch total harmlos. Ich kann mir vorstellen, dass der Mangas malt oder Gedichte schreibt.«
Nun ging Franzi aber dazwischen.
»Wie kommst du denn auf so was? Ich find ihn einfach nur etwas gestört. Vielleicht ist er hochbegabt …«
»OMG, Franzi!«, musste ich nun aber wirklich lachen. »Schließ doch nicht immer von dir auf andere. Nur weil du mit deinem Siebzigerjahre-Stil hier ‘ne krasse Nummer schiebst, müssen doch nicht alle hochbegabt sein, die ihr Outfit nicht koordiniert kriegen.«
Ich wandte mich nun an alle Pepper Dollies und bemerkte bei meinen Worten sofort ein Glitzern in ihren Augen.
»Wenn ihr mich fragt, sieht der Typ gar nicht so übel aus, aber er braucht ein komplett neues Styling. Also, wenn der bei uns in der Klasse alt werden will, sollten wir dem unbedingt ein Umstyling spendieren. So als Willkommensgruß von den Pepper Dollies!«
Mona hob den Daumen.
»Super! Ich bin dabei, von mir kriegt er den Frisörbesuch spendiert.«
»Und die Fashion-Redakteurin aus Mams Agentur gibt ihm bestimmt eine kostenlose Beratung.«
Franzi tippte sich an die Stirn.
»Geht‘s noch? Ihr redet über einen Jungen! Das macht der nie! So was geht dem doch gegen die Ehre.«
Ach, da war ich eigentlich nicht so pessimistisch.
»Warte es ab, Franzi«, sagte ich also ziemlich entspannt. »Wenn der hier ständig bei den anderen Kerlen aneckt, dann frisst der uns irgendwann aus der Hand. Das ist der Moment, wo unsere Stunde kommt und die Styling-Police in Aktion tritt.«
Franzi schüttelte den Kopf.
»Kiki, such dir doch mal bitte ein anderes Hobby, wenn du nicht ausgelastet bist. Strick meinetwegen Fan-Schals und mach einen Internethandel damit auf, aber lass einfach deine Mitmenschen in Frieden. Die kriegen ihr Leben auch ohne dein Eingreifen hin.«
Ich zuckte die Schultern und meinte: »Was zu beweisen wäre.«
Mona grinste. »Sehr philosophisch.« Sie hakte sich bei mir unter und weil es klingelte, schlenderten wir Arm in Arm zurück in die Schule. Puh, wurde auch Zeit, mir war ja schon fast die Nase abgefroren!
In der nächsten Stunde stand Englisch auf dem Plan.
Mrs Ingrimm war mal wieder ohne ersichtlichen Grund ziemlich grimmig, machte also ihrem Namen alle Ehre.
»Third Lesson!«, sagte sie knapp, ohne überhaupt die Klasse angeschaut zu haben. Dann merkte sie die Veränderung am Tisch in der ersten Reihe. War ja auch nur direkt vor dem Lehrerpult! Tzzz! Wo hatte die denn vorher ihre Augen gehabt?
»Who are you?«, rutschte es ihr erstaunt heraus und am meisten wunderte sie sich offensichtlich über Rosa, denn sie schaute diese direkt an. Der war das offensichtlich peinlich, denn sie flüsterte stockend: »I … äh … I am not here … yet …«
Uups! Na, wenn das mal Mrs Ingrimm nicht gleich auf die Palme klettern ließ. Tat es.
»Oh, you think you are witty, dear? Then recognise, that this is neither the place nor the time to do jokes like that! Please answer my question, immediately!«
Rosa bekam einen rosa Flash und Josch sprang ihr bei, indem er auf Deutsch sagte: »Meine Schwester nimmt nur heute ausnahmsweise am Unterricht teil, sie geht eigentlich auf eine andere Schule. Ich bin … äh … der Neue, nicht sie.«
Wir alle starrten Mrs Ingrimm an und warteten auf ihren Standardspruch: »Please, repeat it in English«, aber der kam nicht.
»Ach so«, sagte sie stattdessen, räusperte sich in die Hand und meinte dann: »Well, than introduce yourself.«
Das Englisch von Joschka klang genau wie sein Deutsch nach Ruhrpott. Breit und außerirdisch in der Betonung. Mrs Ingrimm schienen sich die Ränder der Ohrmuscheln einzukrempeln, so sehr musste es sie schmerzen. Dennoch rang sie sich ein »Thank you« ab, ehe sie sich erleichtert wieder der Grammatiklektion zuwendete.
»Please, Kristina, put the right form in.«
Ich puttete. Aber es war wie beim Golfschnupperkurs auf Mallorca, ich kriegte einfach nichts eingelocht. Oh, wie ich Grammatik hasste! Konnte dieser Nerd von Joschka nicht ein bisschen länger über sich schwätzen? Jetzt hatte ich voll die Arschkarte. Ich warf ihm einen wütenden Blick zu, scharf wie ein Dolch, der ihm von hinten zwischen die Schulterblätter fuhr! So als hätte er es gespürt, drehte er sich ganz plötzlich zu mir herum. Seine hellen Augen sahen mich fragend an.
»Is was?«, zischte ich. »Oder warum glotzt du so?«
Er zuckte schweigend die Schultern, drehte sich wieder zurück und ich brach mir weiter einen mit der Grammatiklektion ab.
Nach Englisch hatten wir noch Geschichte bei Birkenstock. Da der selber ein Nerd war, der immer nur in ultraausgeleierten Cordhosen und Jesuslatschen durch die Schule schlurfte, fielen ihm an Joschka gleich die Springerstiefel negativ auf.
»Warum trägst du die?«, fragte er nach der Vorstellungsrunde, die uns inzwischen nur noch ein müdes Gähnen entlockte. Nun wachten aber alle wieder auf. Das war ja mal eine interessante Frage, die Josch allerdings wohl nicht beantworten wollte.
Er überhörte sie schlicht.
Aber in solchen Dingen ist Birkenstock beharrlich.