ROBERT SILVERBERG
Am Ende des Winters
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
www.diezukunft.de
Prolog
1. Gesang auf den neuen Frühling
2. Und gieren geifernd nach deinem Fleisch
3. Eine Landschaft ohne Grenzen
4. Der Chronist
5. Vengiboneeza
6. Die Kunst des Wartenkönnens
7. Die Stimme des Sturms
8. Ein großes Ding
9. Im Kessel
10. Fluss und Abgrund
11. Der Traum, der nicht enden wollte
12. Wie seltsam, dass sie fort sind
13. Tvinnr
14. Endzeit
Für TERRY CARR
(er hat den Anfang miterlebt, aber nicht
den Schluss der Geschichte)
Beilzeit, Schwertzeit,
Windzeit, Wolfszeit,
zerschmetterte Schilde,
bis einstürzt die Welt.
Die Sonne wird schwarz
Es stürzen vom Himmel
Es rast der Brandrauch
Die lodernde Lohe
Land sinkt ins Meer,
die strahlenden Sterne;
wider das Feuer;
spielt hoch in den Himmel.
Die Weissagung der Seherin der EDDA{1}
Alles auf Erden hatte gewusst – seit einer Million Jahren oder auch mehr –, dass die Todesgestirne kommen würden und dass die Grandiose Welt dem Untergang geweiht sei. Das war unbestritten, und man konnte es weder ignorieren noch sich vor der Tatsache verkriechen. Die Gestirne waren hereingebrochen, in früherer Zeit, und gewiss würden sie erneut wiederkehren, denn ihre Zeit war unabänderlich, und sie erschienen stets nach sechsundzwanzig Millionen Jahren. Und nun war ihre Zeit erneut gekommen. Einer nach dem anderen würden die Sterne schrecklich aus den Höhen des Himmels niederstürzen, erbarmungslos niederregnen über Tausende oder gar Hunderttausende von Jahren hin, und mit sich das Feuer bringen, die Finsternis, Rauchdunst und Kälte, den Tod – einen nicht endenwollenden Winter der Not und Kümmernis … Ein jedes der VÖLKER der Erde begegnete seinem Geschick auf eigene Weise, denn das genetische Erbe ist Schicksal – auf absurde Weise gilt dies sogar für Lebensformen, die über gar kein genetisches Material verfügen. Die Vegetalinischen und die Saphiräugigen VÖLKER wussten, dass es für sie kein Überleben geben würde, und so trafen sie ihre Vorkehrungen dementsprechend. Die Mechanisten-VÖLKER wussten, dass sie überleben konnten, wenn ihnen das die Mühe wert war, doch es lag ihnen nichts am Überleben. Die Beherrscher der Meere erkannten, dass ihre Zeit vorbei sei, und sie nahmen es hin. Die HJJK-Leute, die niemals gewohnt waren, auf irgendeinen Vorteil freiwillig zu verzichten, rechneten damit, dass sie das Kataklysma ungeschoren überdauern und durchstehen würden, und sorgten mit allen Mitteln dafür, das sicherzustellen.
Und die MENSCHEN – – –
– – – die Menschen …
1. Kapitel
Gesang auf den neuen Frühling
Es war ein Tag, wie es ihn noch nie gegeben hatte, solange das Gedächtnis des Volkes auch zurückreichte. Manchmal verstrich ein halbes Jahr, ein ganzes im Kokon, in dem Koshmars kleiner Stamm vor siebenhundert Jahrhunderten seinerzeit Unterschlupf und Schutz vor dem Langen Winter gesucht hatte, und es ereignete sich nicht die kleinste Kleinigkeit, die buchenswert, der Eintragung in die Chronik würdig gewesen wäre. An diesem Morgen jedoch fanden drei außergewöhnliche Dinge statt, und zwar innerhalb des Verlaufs nur einer Stunde; und nach dieser einen Stunde konnte das Leben für Koshmar und ihr Volk nie wieder so sein wie früher.
Als erstes kam die Entdeckung, dass sich von unten her eine gewichtige Phalanx aus den Tiefen, den Eisestiefen der Welt, näherte. Eisfresser im Anmarsch auf den Kokon.
Es war Thaggoran, der Chronist, der sie als erster ausmachte. Es war der Alte Mann des Stammes, und das war sowohl sein Rangtitel wie auch gleichfalls sein tatsächlicher Zustand. Er hatte schon weit länger gelebt als irgend jemand sonst im Volk. Und als Hüter der Chronik genoss er das Privileg, sein Leben bis zu seinem natürlichen Tode zu Ende leben zu dürfen. Taggorans Rücken war gekrümmt, die Brust hohl und eingefallen, seine Augen waren beständig gerötet an den Lidern und wässerten, und sein Pelz war grauweiß von seinen Jahren. Jedoch, es steckte Lebensmut in ihm und Kraft. Thaggoran verbrachte sein Leben in tagtäglicher Verbindung mit den verflossenen Epochen, und dies, so glaubte er, war es, was ihn am Leben erhielt und vor dem Verfall bewahrte: diese Kenntnis der vergangenen Weltzyklen, das Wissen und die Verbindung zu der Größe, wie sie in den früheren Zeiten der Wärme üppig gediehen war.
Seit Wochen schon war Thaggoran durch die uralten Passagen unterhalb ihres Volkskokons gestreift. Schimmersteine hatte er gesucht, kostbare Edelsteine von hoher Leuchtkraft, die sich bei der Weissagung als nützlich erweisen. Die tiefliegenden Gänge, die er durchstreifte, waren von seinen fernen Vorfahren gegraben worden, die blindlings in alle möglichen Richtungen mit unendlicher Geduld durch das lebende Gestein vorgedrungen waren, damals, als sie sich hierher geflüchtet hatten, um vor den explodierenden Sternen und den schwarzen Regen Schutz zu finden, die die Große Welt zerstörten. In den letzten zehntausend Jahren hatte keiner hier einen Schimmerstein gefunden. Aber Thaggoran hatte in diesem Jahr schon dreimal einen Traum gehabt, dass es ihm bestimmt sei, einen neuen Schatzstein zu dem kleinen Vorrat des Stammes hinzuzufügen. Er wusste Bescheid über die Macht der Träume und achtete und schätzte sie. Und darum stöberte er suchend fast täglich in den Tiefen herum.
Gerade als er sich durch den kältesten, tiefsten Tunnel voranschob, den sie die »Mutter des Frosts« nannten, sich vorsichtig auf Knien und Händen kriechend weiterschob durch die Finsternis und mit seinem Zweiten Gesicht die Umgebung nach Schimmersteinen abtastete, die er – hoffnungsvoll – irgendwo in den Wandungen vor ihm zu spüren gedachte, verspürte er ein fremdartiges plötzliches Beben und Schüttern, ein federleichtes Zucken und Pulsen. Die Sinnes Wahrnehmung lief bis ans äußerste Ende seines Sinnesorgans, von dem Rückgratende bis in die Verästelungen außerhalb des Körpers bis zur Spitze. Die Wahrnehmung bedeutete, dass Lebewesen sich in sehr geringer Nähe von ihm befanden.
Schrecküberflutet, blieb er sofort still und rührte sich nicht mehr vom Fleck.
Ja. Er fühlte wirklich deutlich die Ausstrahlung von etwas Lebendigem in der Nähe: von etwas Gewaltigem, das sich unterhalb von ihm kreisend drehte wie ein breiter träger Drillbohrer, der sich durch das Gestein voranarbeitet. Etwas war hier unten in diesen kalten lichtlosen Tiefen lebendig und stocherte ziellos im kalten dunklen Herzen des Berges umher.
»Yissou!«, murmelte Thaggoran und vollzog das rituelle Zeichen des Beschützers. »Immakis!«, flüsterte er und machte das Zeichen des Versorgers. »Dawinno! Friit!«
Ehrfürchtig und ängstlich presste Thaggoran die Wange an den rauen Steinboden des Tunnels. Er drückte die Fingerpolster gegen den eisigen Stein. Er lenkte sein Zweites Gesicht nach außen und nach unten. Er ließ sein Schweifsinnesorgan in weitem Kreisbogen schweifen.
Stärkere Sinneseindrücke, unverkennbar, unmissverständlich, strömten in ihn ein. Es schauderte ihn. Nervös befingerte er das uralte Amulett an der Schnur um seinen Hals.
Etwas Lebendiges. Ja. Mit dumpfem Hirn, fast seelenlos, aber eindeutig lebendig und von heißer Lebensintensität pulsend. Und gar nicht weit entfernt. Thaggoran begriff: Das Wesen war nicht weiter als eine Armeslänge weit durch eine Gesteinsschicht von ihm getrennt. Und allmählich gewann das Bild des Wesens für ihn Gestalt: eine massig-mächtige, gliederlose, dickleibige Kreatur, die auf ihrem Schwanz aufgerichtet in einem senkrechten Tunnel stand, der kaum weiter war als sie selbst. Über den fleischigen Leib verliefen große schwarze Stacheln von vorn bis hinten, die dicker waren als ein Männerarm, und aus tiefen roten Kratern in dem bleichen Fleisch strömte ein pulsierender Schwall von Übelkeit erregendem Gestank herauf. Das Wesen bewegte sich mit unerbittlicher Zielstrebigkeit durch den Berg voran, es bahnte sich mit breiten, stumpfen felsbrockenhaften Zähnen kauend und mahlend einen Weg; es nagte am Fels, verschlang-verdaute ihn und schied ihn am Hinterende des massigen fleischigen Leibes, etwa dreißig Mannslängen vom Maul entfernt, als feuchten Sand wieder aus.
Aber das Geschöpf war nicht das einzige seiner Art, das da heraufzusteigen versuchte. Thaggoran saugte inzwischen von beiden Seiten, rechts und links, weitere heftig-pulsierende Emanationen ein. Es mussten drei von diesen großen Tieren sein, nein, fünf, nein, vielleicht ein Dutzend. Jedes steckte eingeschlossen in seinem schmalen Tunnel, und jedes befand sich ohne Hast auf dem Weg nach oben.
Eisfresser, dachte Thaggoran. Yissou! War so was möglich?
Erschüttert und bestürzt kauerte er bewegungslos da und lauschte dem Pochen der Seelen der riesigen Tiere.
Ja, nun war er gewiss: bestimmt waren das Eisfresser, die sich dort unten bewegten. Er hatte nie einen davon gesehen – niemand hatte je einen Eisfresser erblickt –, doch er trug in seinem Hirn ein klares Bild von ihrem Aussehen. Auf den ältesten Blättern der Stammeschronik wurde von ihnen berichtet: gewaltige Geschöpfe, von den Göttern in den ersten Tagen des Langen Winters ins Leben gerufen, während die weniger abgehärteten Bewohner der Großen Welt unter der Finsternis und Kälte verdarben und starben. Die Eisfresser richteten sich Behausungen in den schwarzen Tiefen der Erde ein, und sie bedurften weder der Luft, noch des Lichtes, noch der Wärme. Ja sie scheuten sogar vor derlei zurück, als wären es Gifte. Und die Seher hatten vorhergesagt, dass beim Winterende die Zeit kommen werde, wo die Eisfresser zur Oberfläche heraufzusteigen beginnen würden, bis sie endlich in helles Tageslicht vordringen und dort zugrundegehen würden.
Und nun, so schien es, hatten die Eisfresser ihren Aufstieg begonnen. Nahte also endlich das Ende des langen Winters?
Vielleicht aber waren diese Eisfresser auch nur verwirrt. Die Chroniken legten Zeugnis ab von zahlreichen falschen früheren Vorzeichen. Thaggoran kannte die Texte wohl: das »Buch der Unseligen Dämmerung«, das »Buch des Kalten Erwachens« und das »Buch vom Trügerischen Glühen« …
Es machte jedoch keinen großen Unterschied, ob es das echte Vorzeichen des Frühlingserwachens war oder wieder nur eine weitere quälende Enttäuschung in der langen Reihe fruchtloser Erwartungen. Gewiss war aber eines: Das Volk würde seinen Kokon verlassen und in die geheimnisvolle Fremde der offenen Welt hinausziehen müssen.
Denn Thaggoran erkannte sogleich das ganze Ausmaß des Unglücks. In den Jahren seiner Spähgänge durch die verlassenen unterirdischen Passagen hatte sich eine Karte ihrer verzwickten Anlage mit scharlachrot leuchtenden Linien in sein Gehirn gezeichnet. Die gewaltigen gleichgültigen Ungeheuer, die sich langsam durch Erde und Gestein nach oben gruben, würden dabei schließlich mitten ins Herz der Wohnkammer vorstoßen, in der das Volk seit so vielen Tausenden von Jahren gehaust hatte. Daran konnte man keinen Zweifel hegen. Das Gewürm würde sogar direkt an der Stelle unter dem Opferstein heraufbrechen. Und der Stamm würde ihrem blinden Heraufdringen ebenso wenig Widerstand entgegensetzen können, wie wenn einer versuchte, einen herabstürzenden Todesstern in einem Netz aus geflochtenem Gras einzufangen.
Weit oberhalb der Höhlung, in der Thaggoran kniete und die Eisfresser belauschte, begab sich zur gleichen Zeit Torlyri, die Opferfrau und Tvinnr-Gefährtin von Koshmar, der Anführerin des Stammes, zum Ausgangsloch des Kokons. Es war die Zeit des Sonnenaufgangs, die Stunde, zu der Torlyri sich anschickte, den Fünf Himmlischen die tägliche Opferspende darzubringen.
Torlyri war hochgewachsen, und sie war sanft und freundlich, und sie war berühmt wegen der großen Schönheit ihres Leibes und der süßen Sanftmut ihrer Seele. Ihr Fell war von einem üppig schimmernden Schwarz, gezeichnet von zwei bestürzenden weißleuchtenden Spiralen, die sich über die ganze Länge ihres Leibes erstreckten. Starke Muskelstränge schwellten sich unter der Haut. Ihre Augen waren weich und dunkel, ihr Lächeln warm und offen. Alle im Stamm liebten Torlyri. Von der Kindheit an war sie ausgezeichnet und bestimmt gewesen, eine wahre Führerin zu sein, eine Leitgestalt, an die andere sich jederzeit um Rat und Hilfe wenden konnten. Wäre da nicht die Sanftmut ihrer Seele gewesen, sie hätte sehr wohl selbst Stammesführerin werden können, an Koshmars Stelle; doch Schönheit und Stärke allein sind nicht genug. Ein Anführer darf nicht sanftmütig sein.
Und darum waren sie an jenem Tag zu Koshmar gekommen und nicht zu Torlyri, neun Jahre war es nun her, als der alte Stammesführer, Thekmur, die Altersgrenze erreicht hatte. »Mein Sterbetag ist gekommen«, hatte die kleine zähe Thekmur feierlich zu Koshmar gesagt. »Und darum ist heute der Tag, an dem deine Führerschaft beginnt«, ergänzte Thaggoran. Und so wurde Koshmar Stammeshäuptling, genau wie man es fünf Jahre zuvor beschlossen hatte. Aber für Torlyri hatte man eine andere Bestimmung beschlossen. Als nicht lange darauf die Zeit für Gonnari gekommen war, die Opferfrau, durch die Tür zu gehen wie Thekmur vor ihr, traten Thaggoran und Koshmar vor Torlyri und legten ihr die Opferschale in die Hände. Und dann umarmten sich Koshmar und Torlyri, und heiße Tränen standen ihnen in den Augen, und sie traten vor den Stamm und nahmen ihre Erwählung an; und etwas später am selben Tag feierten sie ihre zwiefache Ernennung auf intimere Weise, lachend und einander liebend, in einer der Tvinnr-Kammern.
»Jetzt sind wir an der Reihe zu herrschen«, hatte Koshmar an jenem Tag gesagt. »So ist es«, antwortete Torlyri. »Endlich ist unsere Zeit gekommen.« Aber sie wusste die Wahrheit, dass nämlich die Zeit der Herrschaft für Koshmar gekommen sei – und für Torlyri die Zeit des Dienens. Jedoch: Waren sie nicht beide Dienerinnen des Volkes? Die Führerin und die Opferträgerin?
Neun Jahre lang hatte Torlyri an jedem Morgen den gleichen Gang getan, sobald durch das Auge der Luke das lautlose Zeichen zu ihr gelangt war, dass die Sonne in den Himmel heraufgedrungen sei: sie war auf der Himmelsseite aus dem Kokon getreten und durch die engen steilen Gänge im Innern der Felsklippe wie durch ein Labyrinth zum Kamm hinaufgestiegen, bis sie schließlich jene flache Stelle an der Spitze erreichte, den »Ort des Ausgangs«, an dem sie das Ritual vollzog, das ihre wichtigste Dienstpflicht gegenüber dem Volk darstellte.
Dort löste Torlyri an jedem Morgen die Haspeln der Ausstiegstür und trat über die Schwelle und ging mit vorsichtigen Schritten ein weniges in die Äußere Welt hinaus. Die meisten Angehörigen des Volks überschritten diese Schwelle nur dreimal im Lauf ihres Lebens: am Tag ihrer Namensgebung, am Tag ihrer Tvinnr und an ihrem Todestag. Der Anführer sah die äußere Welt ein viertes Mal, nämlich am Tag, an dem sie gekrönt wurde. Torlyri hingegen genoss das Privileg und die lastende Bürde, an jedem Morgen ihres Lebens in die äußere Welt hinauszutreten. Aber auch ihr war nur erlaubt, bis zu dem Opferstein aus rosigem Granit mit den blitzenden Feuerglimmerfunken zu gehen, sechs Schritte vom Gatter entfernt. Auf diesen heiligen Altarstein setzte sie sodann tagtäglich ihre Opferschale mit einigen Kleinigkeiten aus der inneren Welt, einer Handvoll Glühbeeren, ein paar gelben Halmen von Wandmatten, oder mit einem Stückchen verkohlten Fleisches; sodann leerte sie die Opfergaben aus der Schale des Vortags und sammelte etwas aus der Außenwelt auf, um es mit nach drinnen zu tragen: eine Handvoll Erde, ein paar Steinchen, ein Halbdutzend Rotgrashalme. Dieser tägliche Tausch war für die Wohlfahrt des Stammes von entscheidender Bedeutung. Denn was damit Tag für Tag den Göttern gesagt wurde, war dies: Wir haben nicht vergessen, dass wir aus der Welt stammen und in der Welt sind, auch wenn wir jetzt von ihr abgesondert leben müssen. Eines Tages werden wir wieder hervorkommen und auf der Welt leben, die ihr für uns geschaffen habt, so nehmt dies hier zum Treuepfand für unser Versprechen.
Torlyri war nun an der Stelle des Ausgangs angelangt und stellte die Opferschale ab, dann griff sie nach dem Handrad, durch das der Lukendeckel zu öffnen war. Es war nicht ganz leicht, das große blitzende Rad zu drehen, doch unter ihren Händen bewegte es sich geschmeidig. Torlyri war stolz auf ihre Stärke. Weder Koshmar noch gar irgendein Mann im Stamm, nicht einmal der gewaltige Harruel, der größte und stärkste der Krieger, keiner vermochte sich mit ihr im Armstand, Beinringen oder Höhlensegeln zu messen.
Die Schleuse öffnete sich. Torlyri trat hinaus. Die scharfe stechende Morgenluft brannte in ihren Nasenlöchern.
Gerade stieg die Sonne herauf. Ihr eisiges rotes Glühen füllte den ganzen östlichen Himmel aus, und die wirbelnden Staubpartikel, die in der Frostluft tanzten, schienen wie von innen heraus zu brennen und zu glühen. Über den Rand der Felsplatte, auf der sie stand, sah Torlyri tief drunten den breiten schnellen Fluss, der vom gleichen karmesinroten Licht es Morgens glühte.
Einst hatte man diesen gewaltigen Fluss unter dem Namen Hallimalla gekannt, so jedenfalls nannten ihn jene, die an seinen Ufern gelebt hatten; und vor diesen trug er den Namen Sipsimutta; und in einer noch viel weiter zurückliegenden Zeit hatte sein Name Mississippi gelautet. Torlyri wusste von alledem überhaupt nichts. Für sie war der Fluss ganz schlicht nichts weiter als »der Fluss«. Alle die anderen Namen waren inzwischen vergessen und waren seit Tausenden von Hundertjahren vergessen. Harte Zeiten waren über die Erde gekommen, als der Lange Winter einsetzte. Die Große Welt selbst war untergegangen, wozu also hätten ihre Namen fortleben sollen? Gewiss, ein paar Begriffe hatten sich erhalten, aber nur einige wenige. Und so war der Fluss nun namenlos.
Der Kokon, in dem die sechzig Stammesangehörigen von Koshmars Volk ihre Lebenszeit zubrachten – wo ihre Ahnen und Urahnen seit unvordenklicher Zeit sich zusammengedrängt hatten, um auf das Ende der endlosen Dunkelheit und Kälte zu warten, die mit den herabstürzenden Todessternen gekommen waren … dieser Kokon war ein hübsch-gemütlicher Höhlenbau, der in die hohe Steilwand eines Kliffs gegraben war, hoch über diesem gewaltigen Fluss. Am Anfang – so sprachen die Chroniken – hatten sich die Menschen, die Völker, welche die frühen Tage der schwarzen Regenfälle und der entsetzlichen Kälte überlebten, damit begnügt, in rohen Höhlen zu hausen, sich von Wurzeln und Samennüssen zu nähren, und von den fleischbedeckten Lebewesen, sofern es gelang, sie zu fangen. Dann aber war der Winter schärfer geworden, die Pflanzen und die Wildtiere waren aus der Welt verschwunden. War die menschliche Phantasie und Erfindungsgabe jemals vor ein schwierigeres Problem gestellt gewesen? Aber der Kokon war die Lösung: die in der Tiefe vergrabene autarke und autonome Enklave, die man in Bergflanken und Talhängen hoch über der möglichen Schneegrenze anlegte. Zahlenmäßig kleine Gruppen des Volks (und die Anzahl wurde rigoros durch Zuchtwahl- und Fortpflanzungsbeschränkung kontrolliert) zogen in die abgeschotteten Kammern des Kokons. Glühbeerentrauben sorgten für die Beleuchtung; komplizierte Ventilationsschächte führten Frischluft herein; die Wasserversorgung erfolgte durch Anzapfen der tiefen Grundwasserströme. Feldfrüchte und Nutztiere hatte man durch magische Tricks, die inzwischen in Vergessenheit geraten waren, dem Leben unter Kunstlicht angepasst, und man produzierte sie in anliegenden Kammern um den Kokon. Diese Kokons waren kleine isolierte »Lebensinseln«, völlig und komplett in sich geschlossen und abgeschlossen gegen die Außenwelt, als wäre jeder davon auf einem einsamen Flug durch die tiefe Nacht des Weltenraums. In ihnen warteten die Überlebenden des großen Weltenkataklysmas die Zeit ab, jahrhundertelang und zehn und mehr Jahrhunderte lang, die Zeit, bis die Götter müde würden und nicht länger Todessterne vom Firmament herabschleudern wollten.
Torlyri trat an den Opferstein, setzte ihre Schale ab, richtete den Blick in alle Geheiligten Fünf Richtungen und sprach nacheinander die Fünf Namen.
»Jissou«, sagte sie. »Hüter …«
»Emakkis. Ernährer …«
»Friit – Heiler …«
»Dawinno – Zerstörer …«
»Mueri – Trösterin …«
Ihre Stimme klirrklingelte und hallte durch die Stille. Als sie die Opfergaben des Vortags aufnahm, um die Schale zu leeren, blickte sie über den Rand des Felsensimses hinunter zum Fluss. Über den steilen kahlen Hang, auf dem nichts außer einigen kleinen knorrigen holzigen Krüppelsträuchern gedeihen konnte, lagen verstreut splittrige weißgebleichte Knochen wie willkürlich fallen gelassene rindenlose Zweige. Da lagen die Knochen von Gonnari und die von Thekmur und die von Thrask, dem Vorgänger des Chronisten Thaggoran. Auch die Gebeine von Torlyris Mutter lagen unter diesen verstreuten Haufen, auch die ihres Vaters und jene von deren Vätern und Müttern. Jeder vom Volk, der je durch die Türluke getreten war, hatte hier an diesem abstürzenden Hang unter dem zornigen Kuss des Winters sein Ende gefunden.
Torlyri überlegte sich, wie lange sie wohl noch leben mochten, alle jene, die aus dem Kokon traten, wenn der ihnen verfügte Todestag endlich gekommen war. Eine Stunde? Oder noch einen Tag lang? Wie weit gelang es ihnen, fortzuwandern, ehe sie niedergestreckt wurden? Die meisten, stellte Torlyri sich vor, hockten sich einfach nieder und warteten, bis ihr Ende zu ihnen kam. Aber hatte nicht doch die eine, der andere unter ihnen sich in den letzten Lebensstunden von einer verzweifelten Neugier überwältigen lassen und den Versuch unternommen, über den festgesetzten Rand hinaus in die Welt vorzudringen? Etwa hinab zum Fluss? Aber – hatte denn jemand wirklich lange genug überleben können, um die Strecke bis zum Gestade des Flusses zu überwinden?
Sie überlegte träumerisch, wie es sein mochte, wenn man den Klippenhang hinabstieg, um dann dort unten die Fingerspitzen in diesen geheimnisvollen mächtigen Strom zu tauchen.
Das würde brennen wie ein Feuer, dachte Torlyri. Aber es würde ein kühles Feuer sein, ein reinigendes. Sie stellte sich vor, wie sie in das dunkle Flusswasser hinauswatete … bis zu den Knien, bis zu den Schenkeln, bis an den Leib, wie sie das kalte brennende Wasser über ihre Lenden wirbeln fühlen würde, hinauf bis an ihr Sensorzentrum. Dann sah sie sich durch den wilden wirbelnden Strom dem anderen fernen Ufer zustreben, das so weit weg lag, dass sie es kaum klar erkennen konnte – sie ging durch das Wasser – oder vielleicht sogar wandelte sie über das Wasser, wie es in den Legenden von den Wasserläufern berichtet wurde, und sie wanderte weiter und weiter bis ins Land des Sonnenaufganges … und würde den Kokon niemals wiedersehen, niemals wieder betreten müssen …
Torlyri lächelte. Wie dumm, sich solchen Wirrträumen hinzugeben.
Und was für ein abscheulicher Verrat gegenüber dem Stamm es sein würde, wenn sie als die Opferfrau sich ihr Torprivileg zunutze machen und den Kokon im Stich lassen würde! Dennoch spürte sie eine seltsame Lust bei der Vorstellung, dass sie eines Tages einmal so etwas tun könnte. Schließlich, davon träumen, das durfte man doch wohl. Sie vermutete, dass alle, fast alle, hin und wieder mit sehnsüchtigem Verlangen auf die Draußenwelt blickten und sich einem flüchtigen Traum hingaben, dort hinaus zu entrinnen, obwohl natürlich kaum jemand so etwas eingestehen würde. Sie hatte von den Leuten aus den vielen vergangenen Jahrhunderten gehört, die des Daseins im Kokon überdrüssig geworden waren und sich wirklich durch die Schleusentür davongeschlichen hatten und zum Fluss hinunter und in die unzivilisierten Gegenden, die jenseits lagen … nicht weil der Kokon sie ausgeschieden hätte, wie einem das am Tag des Todes zukommt, sondern freiwillig sich unter die Wucht des Tages Wagende, die kühn und aus freien Stücken sich in das frostige Unbekannte-Nichterkennbare aufmachten, um zu erfahren, wie es beschaffen sei. Aber hatte in Wahrheit jemals einer von ihnen sich diesen Weg in die Verzweiflung gewählt? Die Legenden sagten, es war so; doch wenn derlei wirklich jemals geschehen war, so doch nicht in den Tagen eines der jetzt noch Lebenden des Volkes. Allerdings, die Mutigen, die sich auf diese Weise vorgewagt hatten (sofern es sie jemals gegeben hatte), konnten natürlich niemals zurückkehren, um zu berichten; sie mussten ja doch beinahe sofort in der rauen feindlichen Draußenwelt sterben. Dort hinauszugehen, das ist Wahnsinn, dachte Torlyri. Aber auch wahnsinnig verlockend.
Dann kniete sie nieder und sammelte auf, was sie für die Opferzeremonie drinnen benötigte.
Und plötzlich nahm sie aus dem Augenwinkel eine blitzschnelle Bewegung wahr. Sie wirbelte bestürzt herum und blickte hinter sich, zur Luke, gerade noch rechtzeitig, dass sie die kleine federleichte Gestalt eines Jungen hervorschießen und über den Sims an den Rand des Kliffs laufen sehen konnte.
Torlyri handelte, ohne zu denken, der Junge hatte schon begonnen, über die Brüstung zu klettern; aber Torlyri wirbelte herum, glitt nach links, packte ihn kräftig, es gelang ihr, ihn an der Ferse festzuhalten, bevor er in die Tiefe verschwand. Das Kind kreischte und stieß um sich, doch sie hielt es fest, zog es herauf und warf es neben sich auf den Boden.
Die Augen des Jungen waren weit aufgerissen vor Furcht, aber es zeigte sich in ihnen auch Kühnheit und heller Heldenmut. Er blickte an Torlyri vorbei, um einen Blick auf die Uferhänge und den Fluss zu erhaschen. Torlyri stand sprungbereit über ihm, denn sie erwartete fast, dass das Kind noch einmal verzweifelt versuchen würde, an ihr vorbeizugelangen.
»Hresh!«, sagte sie. »Aber natürlich – Hresh! Wer sonst würde schon so was Dummes versuchen?«
Der Junge war acht, Minbains Kind, wild und starrköpfig seit seiner Geburt. Hresh – immer-voller-Fragen, so hatten sie ihn neckend genannt, übersprudelnd von sträflicher, unerlaubter Wissbegier. Klein war er, schlank, fast zerbrechlich, ein ungebärdiges zappelndes Stück Tau von einem Jungen; ein gespenstisches Gesichtchen, dreieckig und in scharfen Winkeln von der breiten Stirn sich nach unten zuspitzend; riesige dunkle Augen, die rätselhafte scharlachrote Einsprengsel in der Iris aufwiesen. Alle sagten ihm nach, dass er gewisslich geboren war, Unruhe zu bringen und in Schwierigkeiten zu geraten. Dies hier, jetzt, das allerdings war kein harmloser Bubenstreich, den er sich da geleistet hatte.
Torlyri schüttelte betrübt den Kopf. »Hast du den Verstand verloren? Was denkst du denn, was du da anstellen wolltest?«
Leise sagte der Junge: »Ich hab nur sehen wollen, was da draußen ist, Torlyri. Den Himmel. Den Fluss. Und alles.«
»Das alles hättest du an deinem Namenstag sehen können.«
Er zuckte die Achseln. »Aber bis dahin ist es noch ein ganzes Jahr! Solang kann ich nicht warten.«
»Das Gesetz ist das Gesetz, Hresh. Und wir alle beugen uns ihm – zum Besten aller. Stehst du über dem Gesetz?«
Bockig wiederholte er: »Ich hab doch nur sehen wollen. Nur mal so einen einzigen Tag lang, Torlyri!«
»Weißt du denn nicht, was mit denen geschieht, die das Gesetz übertreten?«
Hresh zog die Stirn in Falten. »Also, so genau weiß ich das nicht. Aber es ist bestimmt was ziemlich Schlimmes, wie? Was wirst du mit mir machen?«
»Ich? Nichts. Die Geschichte geht Koshmar an.«
»Also, was wird dann sie mit mir machen?«
»Irgendwas. Ich weiß es nicht. Es wurden schon welche getötet, weil sie das versucht haben, was du da versucht hast.«
»Getötet?«
»Ja. Ausgestoßen aus dem Kokon. Und das ist das sichere Todesurteil. Kein Mensch könnte dort draußen allein lange überleben. Schau dort hinunter, Junge!«
Sie wies den Hang hinab und auf das Gebreit gebleichter Knochen.
»Was ist denn das?«
Torlyri fasste den mageren Arm des Kindes und presste den Knochen unter dem Fleisch. »Skelette. Auch in dir drin ist so eins. Und wenn du hinaus gehst, dann bleiben deine Knochen dort unten auf dem Hügelhang. So geht es uns allen.«
»Allen, die jemals hinausgegangen sind?«
»Da liegen sie alle, Hresh. Wie Stücke von altem Holz, wie Zweige, die in den Winterstürmen umhergewirbelt werden.«
Hresh bebte. »Dann sind es aber nicht genug«, sagte er mit plötzlicher Keckheit. »Diese ganzen Jahre und Jahre und Jahre von Todes-Tagen – da müsste ja der ganze Hang hoch mit Skeletten bedeckt sein, so hoch, wie ich groß bin.«
Torlyri konnte das unwillkürliche Lachen nicht unterdrücken und wandte kurz das Gesicht ab. So einen wie diesen kleinen Jungen gab es nicht noch einmal, oder? »Aber die Gebeine dauern nicht ewig, Hresh. Vielleicht bleiben sie fünfzig Jahre, hundert vielleicht, dann verwandeln sie sich in Staub. Was du da unten siehst, das sind die der in allerletzter Zeit Ausgeschiedenen.«
Hresh dachte darüber nach.
Mit gedämpfter Stimme sagte er dann: »Und das würden sie auch mit mir machen?«
»Alles liegt in Koshmars Händen.«
Plötzlich zuckte panische Furcht in den seltsamen Augen des Jungen auf. »Aber du wirst es ihr nicht sagen, ja? Bitte, sag nichts, Torlyri! Bitte!« Der Gesichtsausdruck wurde berechnend und etwas hinterhältig. »Du brauchst doch überhaupt gar kein Wort zu sagen, nicht? Und du hast mich ja auch fast nicht bemerkt. Einen Hauch später, und ich wäre an dir vorbei gewesen – und drüben. Und dann wäre ich eben einfach bis morgen früh dort geblieben, und niemand hätte überhaupt etwas gemerkt. Ich meine, ich hab ja schließlich keinem was Böses getan. Ich wollte doch nur den Fluss sehen.«
Sie seufzte. Der furchtsame, flehende Blick des Jungen war herzerweichend. Und, ehrlich gesagt, was hatte der Kleine denn schon Schlimmes getan? Er war ja nicht einmal weiter als zehn Schritte nach draußen gekommen. Und sie hatte Verständnis für das sehnsüchtige Verlangen, herauszufinden, was jenseits der Wände des Kokons lag; diese brodelnde wissenwollende Neugier, der Schwarm unbeantworteter Fragen, die unablässig in diesem Kind toben mussten. Ein bisschen hatte sie das ja auch selbst erlebt, obwohl ihre Seele, zugegebenermaßen, kaum etwas von dem Feuer besessen hatte, das in diesem verwirrten Jungen brennen musste. Jedoch: Das Gesetz war das Gesetz … und er hatte es übertreten. Das durfte sie nicht übersehen, es sei denn, sie nahm das Wagnis auf sich, ihre eigene Seele ins Verderben zu stürzen.
»Bitte, Torlyri, bitte …«
Sie schüttelte den Kopf. Ohne den Blick von dem Jungen zu wenden, schaufelte sie zusammen, was sie für das Opfer im Kokon benötigte. Und wieder warf sie kurze Blicke in alle die Fünf Heiligen Richtungen. Und sie sprach die Fünf Namen. Dann wandte sie sich dem Jungen zu und bedeutete ihm mit einer scharfen Geste, er solle ihr vorangehen und durch die Luke steigen. Das Kind wirkte schreckensstarr. Sanft und leise sagte Torlyri: »Mir ist keine Wahl gegeben, Hresh. Ich muss dich vor Koshmar bringen.«
Vor langer Zeit hatte jemand an der Hinterwand der Zentralkammer in Augenhöhe ein schmales schimmernd-schwarzes Steinband angebracht. Keiner wusste mehr, aus welchem Anlass es dort ursprünglich befestigt worden war, doch im Verlauf der Jahre hatte es den Charakter einer geheiligten Erinnerung an die dahingegangenen Anführer des Stammes angenommen. Koshmar hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, mit den Fingerspitzen darüber wegzustreifen und hastig die Namen der Sechs zu flüstern, die ihre jüngsten Vorgänger waren, wenn Ängste über die Zukunft des Volkes sie bedrücken wollten. Dies war ihr Stoßgebet, um die Kraft der Geister ihrer Vorgänger zu beschwören, um sie zu bitten, in sie einzugehen und sie zu der richtigen Entscheidung zu geleiten. Diese Anrufung erschien ihr irgendwie als eine direktere, eine brauchbarere Art der Hilfesuche, als wenn sie sich an die Fünf Himmlischen wandte. Koshmar hatte sich ihr kleines Ritual ganz allein erfunden.
In jüngerer Zeit war sie dazu übergegangen, das schwarze Steinband jeden Tag zu berühren, und später gar zwei- oder dreimal am Tag, wobei sie jedes Mal die »Namen« vor sich hinsprach:
Thekmur Nialli Sismoil Yanla Vork Lirridon …
Letzthin war sie von Vorahnungen überkommen worden; worauf sie sich bezogen, das hätte sie nicht zu sagen gewusst, doch sie spürte, dass eine gewaltige Veränderung über die Welt herniederkommen musste und dass sie schon bald starker höherer Lenkung bedürftig sein werde. In solchen Gefühlsaugenblicken spendete der Stein ihr Trost.
Koshmar fragte sich, ob ihre Nachfolgerin ebenfalls das Ritual der Steinberührung vollziehen würde, wenn ihre Seele bekümmert war. Denn sie wusste, es war schon fast die Zeit gekommen, da sie an eine Nachfolgerin denken musste. Sie wurde in diesem Jahr dreißig. Noch fünf Jahre – und sie hatte die Altersgrenze erreicht. Ihr Todestag würde kommen, wie er für Thekmur und Nialli und Sismoil und die Übrigen erschienen war, und das Volk würde sie zu der Ausstiegsluke bringen und sie hinausstoßen, auf dass sie in der Kälte zugrunde ginge. So war es der Brauch, und er war unabänderlich und absolut: Denn der Kokon war begrenzt, die Nahrung war knapp, man musste den Nachfolgenden Platz machen.
Sie schloss die Augen, legte die Finger auf den schwarzen Stein und stand ganz still; eine starke, breitschultrige Frau mit wachen Augen, auf der Höhe ihrer Stärke und Macht, und sie flehte um Hilfe.
Gerade in diesem Augenblick kam Torlyri in die Kammer gestoben und zerrte Minbains unbotmäßigen Balg Hresh mit sich, den Kleinen, der immer überall herumschnüffelte und seine Nase an alle möglichen Orte steckte, wo er nichts verloren hatte. Der Junge heulte und zappelte und wand sich wütend in Torlyris Griff. Seine Augen funkelten wild und glühten von Furcht, ganz als habe er soeben einen Todesstern auf das Dach des Kokons zuschießen sehen.
Koshmar fuhr erschrocken zu den beiden herum. In ihrer ärgerlichen Gereiztheit stellte sich ihr dichter graubrauner Pelz wie ein Mantel um sie herum auf, so dass sie um fast die Hälfte ihrer Gestalt anzuwachsen schien.
»Was soll das? Was hat er jetzt wieder angestellt?«
»Ich ging zum Opfer hinaus«, begann Torlyri, »und einen Atemzug später fing ich aus dem Augenwinkel den Anblick dieses …«
Thaggoran betrat in dem Moment die Kammer. Zu Koshmars Verblüffung rollten seine Augen fast so wild wie die von Hresh. Er schlug mit den Armen und dem Sensororgan auf seltsam verwirrte Art umher und seine Stimme schoss so schnell und so verschliffen aus ihm, dass Koshmar nur bruchstückweise verstand, was er ihr zu sagen sich mühte.
»Eisfresser – der Kokon – direkt drunten, genau auf uns zu – ist die Wahrheit, Koshmar, die Weissagung …«
Und die ganze Zeit über wimmerte und winselte Hresh weiter und Torlyri erzählte weiter mit ihrer sanften Stimme unbeirrbar ihre Geschichte.
»Nicht alle gleichzeitig!«, schrie Koshmar. »Ich kann überhaupt nichts hören, was ihr sagt!« Sie funkelte den schrumpeligen alten Chronisten in seinem weißen Alterspelz und mit der gekrümmten Gestalt an, durch die er aussah, als drückte ihn das kostbare tiefe Wissen zu Boden, die Kenntnis der Vergangenheit, die er allein auf seinen Schultern trug. Noch nie hatte sie den Mann dermaßen außer sich erlebt. »Eisfresser, Thaggoran? Sagtest du – Eisfresser?«
Thaggoran zitterte. Er brabbelte dunkel und leise etwas vor sich hin, das jedoch in dem panikhaften Gebrüll Hreshs unterging. Koshmar schaute ihre Tvinnr-Partnerin verärgert an und schnauzte sie an: »Torlyri, wieso ist das Kind hier?«
»Das versuche ich dir ja die ganze Zeit zu erklären. Ich erwischte ihn dabei, wie er durch die Luke zu schlüpfen versuchte.«
»Was?«
»Ich hab bloß mal den Fluss sehen wollen!«, heulte Hresh. »Bloß mal so ein ganz kleines bisschen!«
»Weißt du, was das Gesetz sagt, Hresh?«
»Aber es war doch bloß ganz, ganz kurz!«
Koshmar seufzte. »Wie alt ist er, Torlyri?«
»Acht, glaube ich.«
»Dann kennt er das Gesetz. Gut, er soll den Fluss sehen. Bring ihn hinauf und stoß ihn hinaus!«
Auf Torlyris sanftem Gesicht zeichnete sich Betroffenheit ab. In ihren Augen glitzerten Tränen. Hresh begann sogar noch lauter zu heulen und zu kreischen. Aber Koshmar reichte es nun. Der Junge war seit langem eine Plage gewesen, und das Gesetz war eindeutig. Also, an die Luke mit ihm, und dann war man ihn glücklich los! Sie machte eine ungeduldige fegende Geste der Entlassung und wandte sich wieder Thaggoran zu.
»So. Und was ist das nun mit den Eisfressern?«
Mit zittriger Stimme ließ der Chronist eine wundersame, bestürzende Mär vom Stapel; er erzählte bruchstückhaft, und man vermochte ihm nur schwer zu folgen. Irgend etwas, dass er nach Schimmersteinen in der Mutter des Frosts gesucht habe und dabei mit dem Sensor Äußerungen von etwas Lebendem in der Nähe aufgefangen hatte, von etwas Großem, das sich in einem Grabtunnel durch den Fels bewegte. »Ich habe Kontakt aufgenommen«, sagte Thaggoran, »und dabei habe ich das Hirn eines Eisfressers berührt – ich will sagen, man kann ja nicht eigentlich unterstellen, dass Eisfresser so etwas wie Vernunft besitzen, aber gewissermaßen haben sie doch so was dergleichen – und was ich dabei gespürt habe, war …«
Koshmar knurrte: »Wie weit von dir weg war das?«
»Gar nicht weit. Und es waren noch mehr da. Vielleicht alles in allem ein Dutzend, ziemlich in der Nähe. Koshmar, bist du dir darüber im Klaren, was das bedeutet? Es muss das Ende des Winters nahe sein! Die Propheten haben es geschrieben: ›Wenn die Eisfresser sich zu erheben beginnen …‹«
»Ich weiß, was die Propheten geschrieben haben«, sagte Koshmar scharf. »Und diese – Wesen dringen direkt unter der Wohnkammer herauf, sagst du? Bist du sicher?«
Thaggoran nickte. »Sie werden direkt durch den Boden heraufdringen. Ich weiß zwar nicht, wie bald schon – es könnte in einer Woche sein, in einem Mond, vielleicht auch erst in sechs Monden … aber ohne jeden Zweifel streben sie genau auf uns zu. Und, Koshmar, sie sind gewaltig, riesenhaft.« Er reckte seine Arme, so weit er nur konnte. »Ihr Umfang ist so groß … vielleicht noch größer …«
»Götter, verschont uns!«, murmelte Torlyri. Und der Knabe Hresh gab ein kurzes Keuchen der Verblüffung von sich.
Koshmar wirbelte erbost herum. »Seid ihr immer noch da? Ich habe dir befohlen, ihn zur Schleuse zu bringen, Torlyri! Das Gesetz ist klar und deutlich. Wagt sich der Vorwitzige ohne redliches Recht närrisch vom Nest, so sei ihm die Rückkehr zum Kokon künftig verwehrt. Ich befehle es dir zum letzten Mal: Bring ihn hinaus!«
»Aber – er hat doch den Kokon gar nicht wirklich verlassen«, sagte Torlyri leise. »Er hat ja nur ein Schrittchen nach draußen gemacht und …«
»Nein! Schluss jetzt mit dem widersetzlichen Ungehorsam! Sprich den Spruch über ihn und verstoße ihn, Torlyri!« Und wieder kehrte sie ihnen den Rücken zu und wandte sich an Thaggoran. »Komm mit mir, Alter Mann! Zeig mir deine Eisfresser! Wir wollen sie mit unseren Äxten erwarten, wenn sie durchbrechen. So groß sie auch sind, wir werden sie in Stücke hauen, wo sie heraufsteigen, Scheibe um Scheibe um Scheibe, und dann …«
Sie brach mitten im Satz ab, als plötzlich von der anderen Ecke der Kammer ein seltsames heiseres, ersticktes, ein gurgelndes Krächzen ertönte.
»Aaoouuuaaaah!«
Es hörte und hörte nicht auf. Aber schließlich erstarb es. Verdutzte Stille folgte.
»Yissou und Mueri! Was war denn das?«, murmelte Koshmar verblüfft.
Solch einen Laut hatte sie noch nie zuvor vernommen. Vielleicht ein Eiswurm, der dicht unter ihnen sich gähnend regte und sich anschickte, durch die Wand der Kammer zu brechen? Verwirrt spähte sie in das Halbdunkel. Doch es blieb alles still. Alles schien rechtens zu sein, wie es sich gehörte. Da war der Tabernakel, da war die Kassette, in der das Buch der Chroniken aufbewahrt wurde, dort war der Wunderstein in seiner Nische und um ihn alle die antiken Schimmersteine, da war die Wiege, in der Ryyig Träumeträumer seinen ewigen Schlaf schlief …
»Aaoouuuaaah!« Wieder.
»Es ist Ryyig!«, rief Torlyri laut. »Er erwacht!«
»Götter!«, rief Koshmar. »Wahrlich, er wacht auf!«
Und so war es auch. Koshmars Herz überkam ehrfürchtige Scheu, und ihre Beine wurden ihr schwach. Von einem plötzlichen Schwindelgefühl erfasst, musste sie an der Wand Halt suchen, lehnte sich gegen die schwarze Steinplatte und wiederholte flüsternd wieder und wieder: Thekmur Nialli Sismoil Thekmur Nialli Sismoil! Der Träumer der Träume saß pfeilgerade aufrecht – wann hatte man so etwas je gesehen? –, seine Augen waren geöffnet – keiner im Stamm hatte jemals seit Menschengedenken in die Augen von Ryyig Träumeträumer geblickt –, und er brüllte laut, er, von dem man niemals einen heftigeren Laut vernommen hatte als ein Schnarchen. Seine Hände kämmten die Luft, seine Lippen bewegten sich. Es sah aus, als versuche er zu sprechen.
»Aaoouuuaaah!«, brüllte Ryyig Träumeträumer ein drittes Mal.
Dann schloss er die Augen wieder und sank in seinen endlosen Traum zurück.
In der hochgewölbten hell erleuchteten Gewächskammer war es warm und feucht; Frauen waren bei der Arbeit und zupften die unerwünschten Blüten von den grünblättrigen Pflanzen und beschnitten die Ranken der Samtbeerenreben. Es war eine stille Arbeit, geruhsam, angenehm.
Minbain reckte sich plötzlich hoch, spähte umher, verzog das Gesicht, neigte den Kopf in scharfem Winkel zur Seite.
»Was nicht in Ordnung?«, fragte Galihine.
»Hast du denn nichts gehört?«
»Ich? Keinen Mucks.«
»Ein seltsamer Laut«, sagte Minbain. Sie blickte von einer der Frauen zur anderen, zu Boldirinthe, zu Sinistine, zu Cheysz und wieder zu Galihine zurück. »Das war – wie ein Stöhnen war das.«
»Harruel schnarcht im Schlaf«, brachte Sinistine vor.
»Oder Koshmar und Torlyri machen sich ein hübsches Tvinnrstündchen«, sagte Boldirinthe.
Sie lachten. Minbain presste die Lippen zusammen. Sie war älter als die Übrigen, und sie fühlte sich sowieso meist unter ihnen nicht recht wohl. Das kam daher, dass sie einst eine Zuchtfrau gewesen war und nach dem Tod ihres Gefährten, Samnibolon, Arbeiterin geworden war. Dies war eine ungewöhnliche Entscheidung gewesen. Minbain argwöhnte, dass die anderen sie für sonderbar hielten. Vielleicht glaubten sie ja auch, die Mutter eines seltsamen Kindes wie Hresh müsse selbst ein wenig verrückt sein. Doch was verstanden diese Weiber schon von derlei Dingen? Keine einzige der Frauen, die da mit ihr in der Kammer arbeiteten, hatte je einen Gefährten gehabt, keine einzige hatte ein Kind ausgetragen und geboren, und ebenso wenig hatten sie eine Vorstellung davon, was es bedeutet, ein Kind heranzuziehen.
»Da«, sagte Minbain. »Da geht es wieder los! Habt ihr das nicht gehört?«
»Harruel, ganz bestimmt«, sagte Sinistine. »Der träumt davon, wie er mit dir kopuliert, Minbain.«
Boldirinthe kicherte. »Also, das wäre mal 'ne Partie! Die Minbain und der Harruel! Ach, wie ich dich beneide, Minbain! Stell dir bloß mal vor, wie der dich packt und wie er dich niederwirft und dich …«
»Hssscht!«, rief Minbaine. Sie packte ihren Korb mit Grünblattpflanzen und schleuderte ihn gegen Boldirinthe, die ihn gerade noch mit dem Ellbogen abwehren konnte. Der Korb prallte nach oben weg, kippte, und eine Masse der klebrigen gelben Blüten rieselte heraus und verstreute sich über Sinistine und Cheysz. Die Frauen gafften. Ein derartiger Temperamentsausbruch war wirklich eine Seltenheit. »Warum hast du das getan?«, fragte Cheysz. Sie war eine kleine sanftmütige Frau, und der Zornesausbruch Minbaines schien sie eher zu erstaunen. »Da, schau nur, sie kleben überall an mir«, sagte Cheysz, und sie sah aus, als werde sie gleich in Tränen ausbrechen. Tatsächlich, die blassen chartreusefarbenen Blüten, die voller glitzerndem Nektar steckten, hafteten an ihrem Fell in kleinen Häufchen, was ihr ein bizarr geflecktes Aussehen verlieh. Auch Sinistine war mit den Blüten bedeckt, und während sie versuchte, eine wegzuzupfen, blieb ihr Pelzhaar daran haften, und sie heulte vor Schmerz auf. Ihre blassblauen Augen glitzerten in eisigem Zorn, sie griff nach einer kräftigen schwarzen Samtbeerenranke, die gerade vor ihren Füßen lag, hob sie wie eine Peitsche und schob sich auf Minbain zu.
»Halt!«, rief Galihine laut. »Habt ihr allesamt den Verstand verloren?«
»Horcht!«, sagte Minbain. »Da ist wieder dieses Geräusch.«
Alle verstummten.
»Diesmal hab ich es auch gehört«, sagte Cheysz.
»Ich auch«, sagte Sinistine und riss glotzend vor Erstaunen die Augen weit auf. Sie schleuderte die Ranke fort. »Wie ein Stöhnen, ja. Genau wie du gesagt hast, Minbain.«
»Was könnte das nur gewesen sein?«, fragte Boldirinthe.
»Vielleicht ein Gott, der dicht vor unserer Tür herumwandert«, sagte Minbain. »Vielleicht Emakkis, der ein verlorenes Schaf sucht. Oder Dawinno, der sich die Nase schnäuzt.« Sie zuckte die Achseln. »Merkwürdig. Sehr merkwürdig. Wir sollten nicht vergessen, Thaggoran davon zu berichten.« Sie kehrte sich Cheysz zu und lächelte sie um Vergebung bittend an. »Komm, lass mich dir helfen, das Zeug aus deinem Pelz rauszuholen.«
Ryyigs Erwachen hatte nur einen kurzen Augenblick gedauert; alles hatte sich dermaßen rasch abgespielt, dass sogar jene, die Zeugen davon waren, nicht so völlig glauben mochten, dass sie wirklich gesehen und gehört hatten, was sie gesehen und gehört hatten. Und jetzt hatte sich der Träumeträumer erneut in seine Mysterien verloren, seine Augen waren geschlossen, die Brust hob und senkte sich langsam, so langsam, dass er fast wie aus Stein geschnitten aussah. Aber sein Aufschrei war bedeutsam genug, insbesondere da er so kurz auf die Entdeckung Thaggorans erfolgt war, dass die Eisfresser heraufzusteigen begannen. Beides waren Omen. Ganz eindeutig, es waren Vorzeichen.
Für Koshmar stellten sie Hinweise dar, dass die neue Frühlingszeit der Welt kurz bevorstehe. Vielleicht war die Zeit ja noch nicht ganz da, aber es war gewiss, sie würde kommen.
Schon vor diesem einen Tag der seltsamen Begebnisse hatte Koshmar die Wandlungen verspürt, die sich im Lebensrhythmus des Stammes zu entwickeln begannen. Alle hatten sie es gespürt. Es hatte sich etwas im Kokon geregt. Etwas hatte sich zu regen begonnen im Kokon, ein Ferment der Lebensgeister, ein Gefühl von neuen Anfängen, die knapp vor der Entfaltung stehen. Die alten Verhaltensmuster, die tausend und abertausend Jahre lang Gültigkeit besessen hatten, begannen zu zerbröseln.
Die Schlafperioden hatten sich als erste verändert. Minbain hatte darauf hingewiesen. »Mir kommt es vor, wie wenn ich überhaupt nie mehr schlafe«, hatte sie gesagt, und ihre Freundin Galihine hatte dazu genickt und gesagt: »Genau wie bei mir. Aber ich bin nicht müde. Also, was ist das?« Bislang war es der Brauch beim Volk des Kokons gewesen, einen längeren Abschnitt ihrer Zeit schlafend als wachend zu verbringen; dabei lagen sie dann zu zweit oder dritt in komplizierten pelzigen Knäueln beisammen und gaben sich ganz ihren nebelhaft-dunstigen Traumgeschichten hin. Jetzt war dies anders. Jetzt wirkten alle seltsam wach, ruhelos, aktiv und bestürzt angesichts der Notwendigkeit, die zusätzlich geschenkten Tagesstunden sinnvoll auszufüllen.
Am schlimmsten waren die Jungen. »Ach, diese Kinder!«, hatte der bärbeißige Krieger Konya gemurrt. »Wenn die sich weiterhin dermaßen wild aufführen, sollten wir für sie wirklich wieder die militärische Dienstpflicht einführen und sie schleifen!« Und die Jugendlichen störten ja wahrhaftig mit ihren lauten Aberwitzigkeiten die friedliche Ruhe im Kokon, dachte Koshmar oft, besonders der sonderbare kleine Hresh und die bezaubernde Taniane mit den traurigen Augen, und dieser Orbin, der kleine Muskelprotz mit dem riesigen Brustkasten, und sogar Haniman, untersetzt und tollpatschig. Gewiss, Kinder sollten lebhaft sein; doch konnte sich keiner im Volk an vergleichbare Energieausbrüche und irre Hektik erinnern, wie diese vier sie zur Schau stellten: Sie tanzten stundenlang ununterbrochen wie irre im Kreis und sangen und grölten lange Liedgesänge ohne Sinn dazu; sie hantelten sich Hand über Hand die rauen Wände des Kokons nach oben und baumelten schaukelnd von der Decke. Gerade vor einer Woche, als Koshmar den Ritus am Lord Fanigole-Tag feierlich zu vollziehen versucht hatte, war man gezwungen gewesen, die kleinen Rabauken zur Stille zu ermahnen, und selbst dann gehorchten sie nicht allzu eifrig. Und dieser Versuch von Hresh heute morgen, nach draußen zu gelangen … das alles war Ausfluss ein und derselben Wildheit.
Danach waren die Brutpaare von dem Fieber erfasst worden, Nittin und Nettin, Jalmud und Valmud, Preyne und Threyne. Es war klar genug, dass alle drei Paare ihren Zuchtpflichten gebührlich nachgekommen waren – das stand außer Zweifel, und man konnte es an den schwellenden Bäuchen ablesen –, und dennoch, da waren sie und waren immer noch dabei und kopulierten den ganzen Tag lang in hektischem Eifer trotzdem weiter, als könnte irgendwer sie beschuldigen, sie wären pflichtvergessen gewesen.
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