Brigitte Riebe

Mann im Fleisch

Frauenroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlagbild: © yuriyzhuravov - Fotolia.com

Umschlaggestaltung: Matthias Schatz

ISBN 978-3-7349-9208-7

Widmung

Für C.

Die Augen sehen anders als das Herz.

I.

1

An dem Tag, als seine Frau durch meinen Briefschlitz schoss, beschloss ich endgültig, die Sache zu beenden. Vorausgegangen war totaler, ununterbrochener Telefonterror. Erst er. Für lange, sehnsuchtsvolle Monate. Dann sie für kurze, schreckliche Stunden.

Niemals hätte ich mir zu Anfang auch nur einen Bruchteil dessen vorstellen können, was schließlich geschah. Ich war ahnungslos wie ein kleines Schaf. Mein dreiundzwanzigster Geburtstag war gerade vorüber, und ich interessierte mich vor allem für Bob Dylan und Roxy Music, Paul Klee, Dichtung der zwanziger Jahre und meine täglich wechselnden Diäten.

Ich lebte in einer Käseglockenwelt, in der es bei rechtem Licht besehen niemand Vernünftigen über dreißig gab, tausend Euro eine astronomisch hohe Summe waren und tiefgefrorene Bihun-Suppen fast täglich auf dem Programm standen.

Natürlich war ich nicht solo. Natürlich hatte ich eine feste Beziehung.

Schon seit fünf Jahren schlief ich – allerdings zunehmend unwilliger – mit meinem Jugendfreund Willi. An meiner Seite durchpflügte er tapfer und anstellig die lustfeindlichen Jahre von Karin Struck, Verena Stefan und Anja Meulenbelt. Je »frauenbewegter« er sich allerdings verhielt, desto langweiliger und unerträglicher wurde der Sex mit ihm.

Längst vorbei die kurzen, heißen Vormittage, an denen ich ihn zum Schuleschwänzen verführt hatte und wir im düsteren Mief seiner elterlichen Erdgeschosswohnung unter dem grellbunten Jimi-Hendrix-Plakat zitternd vor Lust und Unsicherheit zusammen geschlafen hatten.

Immer öfter ersann ich Ausreden, warum wir gerade wieder einmal nicht miteinander ins Bett gehen sollten.

Nur wenn mir weder Kopf- noch Bauchschmerzen einfielen, wenn ich nicht vergessen hatte, den Herd auszuschalten, oder unbedingt noch den Rest des langen Strukturalismuskapitels lesen musste, kam es zum »Letzten«. Nach wenigen pumpenden Versuchen, gemeinerweise von mir durch gezieltes Schenkeldrücken angeheizt, fiel er zuckend über mir zusammen.

Dabei mochte ich Willi. Sehr sogar.

Als ich ihn mit siebzehn auf einem Schulball getroffen hatte, glaubte ich, niemals zuvor einem besser aussehenden Mann begegnet zu sein. Er war groß und kräftig, mit breiten, muskulösen Schultern, einem schmalen Becken, den langen Schenkeln des ausdauernden Läufers. Und er hatte einen wunderhübschen, festen kleinen Bubenpo.

Braune Locken fielen ihm bis auf die Schultern, und wenn er lachte, kerbten Grübchen unwiderstehlich seine Wangen. Er war intelligent und belesen, und man hätte ihn jederzeit ohne Kompass in der Wildnis aussetzen können. Willi hätte immer nach Hause gefunden.

Was war geschehen? Wo waren die ersten glühenden Nächte im Zelt, in denen wir mit Hingabe und Leidenschaft unsere Körper erkundet hatten, als seien sie unbekannte Landschaften, in denen wir heimisch werden wollten? Die kühlen Morgen, als wir uns am Strand geliebt hatten?

Ich hatte ihn systematisch weichgekocht. Domestiziert. Neutralisiert. Er machte mir weniger Spaß als ein Goldhamster, aber ich war viel zu feige, um die Konsequenzen zu ziehen. In einer komischen Mischung aus scheinbarem Mitleid und unbewusster Angst klebte ich an ihm und verhinderte stets im Ansatz jeden seiner wenigen Versuche, mir zu entkommen.

Ich übte den Ausbruch aus der Beziehung selbstverständlich um einiges öfter. Aber ebenfalls mit kaum sichtbarem Erfolg. Drohte es einmal, ernster zu werden, zog ich rasch die Bremse und machte mir vor, ich würde mir letztlich nur das gleiche in etwas anderer Gestalt wieder einhandeln.

Systematisch redete ich mir ein, Männer würden mich nicht besonders interessieren. Schließlich war ich fest davon überzeugt: Ich war die »Naturfeministin« schlechthin. Mein Leben schien mir recht zu geben.

Frauen waren es, mit denen ich alles besprach. Mit ihnen feierte und weinte ich. Männer waren für mich wie ein fremder Stamm. Merkwürdig, unverständlich. Unpraktisch. Wenn man nicht einmal ordentlich Vergnügen mit ihnen haben konnte – wozu in aller Welt waren sie dann nütze?

Das änderte sich schlagartig an dem Tag, an dem Claus mich zum ersten Mal küsste. Er küsste mich lang, fast romantisch. Ich glaube, spätestens in dem Augenblick passierte es.

Dabei sah er fast aus wie Spiderman mit seinen langen, dünnen Beinen, einer fortgeschrittenen Halbglatze und einer lächerlichen zitronengelben Weste aus den zwanziger Jahren, die er offensichtlich heiß liebte und bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit zu seinen schlecht sitzenden Jeans trug.

Er küsste mich, und unsere Körper wuchsen auf geheimnisvolle Weise zusammen. Wurden eins. Alchemistische Hochzeit könnte man es nennen. Mehr als das Zusammengießen zweier Metalle. Ich fühlte seine weichen, saugenden Lippen auf den meinen, roch seinen Lavendelatem, und mein Fleisch schmolz erwartungsvoll. Meine Möse klopfte vor Begehren, meine Knie wurden schwach.

Allerdings war der Ort des Geschehens alles andere als passend. Wir standen, hinter eine Säule geklemmt, im belebten Lichthof der Uni. Gerade hatten wir laut lästernd Seite an Seite eine Vorlesung verlassen. Claus hielt ein dickes Manuskript unter dem linken Arm, das ich mir dringend ausleihen wollte.

Dazu ist es nie gekommen.

Als er mich wieder losließ, drehte ich mich um, wie von der Tarantel gebissen, und stürzte den langen Gang entlang durch den Hintereingang des Gebäudes ins Freie.

Verwirrt und reichlich aufgelöst, betrat ich das Café an der Ecke und bestellte mir eine heiße Schokolade. Ich hatte gerade die Sahne abgeleckt und für heute meine längst fällige Diät auf den nächsten Tag verschoben, als die Türe aufging und Claus hereinkam.

Ohne mich zu sehen, steuerte er auf einen freien Tisch im vorderen Teil zu und versank in seiner Zeitung.

Mir blieb vor Schreck, vor Entzücken fast die Luft weg. Während ich schlückchenweise die heiße, klebrigsüße Brühe durch meine Kehle rinnen ließ, überlegte ich fieberhaft, was ich nun unternehmen sollte.

Dann ging die quietschende Türe erneut auf und brachte mit dem nächsten kalten Windstoß eine Frau herein, die zielgerichtet auf seinen Tisch zusteuerte. Sie war klein, schmal wie ein Kind und trug ihr Haar sehr glatt, sehr blond. Ein ovales, ein wenig lebloses Gesicht. Die Augen grau unter dunklen, geschwungenen Brauen.

Natürlich ungeschminkt. Natürlich in Faltenrock und kamelhaarfarbenem Twinset. Perlenkette. Siegelring. Nicht einmal ein Pferdetuch, das ich scheußlich finden konnte. Sondern ein kleines, weiches seidenes Etwas, türkis und lässig um ihren schlanken Hals gewunden.

Eine jener zeitlos klassischen Schönheiten eben, bei deren Anblick man notgedrungen im gleichen Augenblick an veredelte Rosensträucher, hauchdünne, chinesische Teekannen und Familiensilber für mindestens achtzehn Personen denken muss.

Sie küsste Claus leicht abwesend auf die Backe und zupfte beim Hinsetzen besitzergreifend ein imaginäres Staubkorn von seiner graubraunen, leicht ausgebeulten Tweedjacke. Dann nahm sie Platz. Anmutig. Selbstverständlich. Studierte lange die Karte.

Durch die Bogenöffnung sandte sie mir einen gelangweilten, abschätzigen Blick. Fast unfreundlich.

Sie konnte keine Ahnung haben, wer ich war. Aber ich wusste sofort, wen ich vor mir hatte.

Seine Frau. Beate.

Zwei Tage später kam sein erster Brief.

Liebe S.,

vor ein paar Monaten wusste ich noch nichts von Dir, und doch hatte das leise Pochen der Sehnsucht, die Deinen Namen trägt, schon angefangen. Jetzt ist das neue Jahr Dein Jahr geworden, und bei allem, was geschieht, bist Du für mich dabei: Manchmal als eine, die an einem warmen Sommertag durchs weitgeöffnete Fenster in mein Leben hereinschaut. Manchmal als Vogelzug, der aus der Ferne heruntergrüßt. Und ganz oft als ein versunkenes Götterbild, das von Atlantis drunten durch das tiefe Wasser zu mir heraufblinkt und golden flimmert. Mich herunterzustürzen habe ich mich – bislang? – nicht getraut. Aber wer weiß, ob Göttinnen das überhaupt wollen?

Immer Dein Freund Claus

Ich kam gerade vom Penny um die Ecke, wo ich Käse, Eier und Caro-Kaffee gekauft hatte, und las die in elegantem Sepia hingeworfenen Zeilen gleich unten im Hausflur. Augenblicklich stieg sein großes Gesicht mit der hellen Haut vor mir auf, bläulich unter den Augen und an den Schläfen.

So hatte noch niemand mit mir gesprochen. Beziehungsweise über mich. In meiner Welt der schnellen, immer unverbindlichen dates redete man nicht viel über Liebe. Man machte erst gar nicht so lange rum, wenn man auf jemanden stand; man kam gleich zur Sache. Und man legte sich vor allem keinesfalls schriftlich fest. Allenfalls ein, zwei Anrufe konnte man noch riskieren. Dann hatte die Sache zu laufen. Oder eben nicht.

Vollkommen unerwartet begannen meine Knie zu zittern. Aufgeregt hielt ich das Blatt an die Nase. Ein feiner, fast unmerklicher Geruch nach Sandelholz. Plötzlich hätte ich losheulen können. Wie ertappt, knüllte ich das Papier zusammen und stopfte es in die große, aufgenähte Tasche meines lavendelfarbenen Regenmantels.

Second hand. Selbstredend. Damals verachtete ich all jene, die neue Klamotten trugen.

An jenem Morgen hatte ich nicht die leiseste Idee, dass diese Zeilen nur der Anfang einer langen Kette weiterer Briefe waren, die ich zunehmend hektischer stets auf der Stelle aufreißen würde. Dass ich schon bald den Hausflur nicht mehr betreten könnte, ohne halb sehnsuchtsvoll, halb ängstlich zum Briefkasten zu luren.

Weiter als zum ersten Treppenabsatz bin ich tatsächlich nie gekommen. Spätestens dann hatte ich den Umschlag zerfetzt, seinen Brief begierig in mich aufgesogen. Auch in unseren schlimmsten Zeiten.

Gesten, Gewohnheiten, die sich einprägen. Noch Jahre danach musste ich jedes mal den Impuls unterdrücken, innezuhalten und doch wieder einmal nachzusehen. Aber der Briefkasten blieb tot. Und als ich dann in ein anderes Viertel zog, war die fixe Idee fast verschwunden.

Nur mit Mühe schaffte ich an jenem ersten Tag unseres einseitigen Postverkehrs die Stufen hinauf in den vierten Stock. In unserer Wohnung schloss ich mich in der blau bemalten Toilette ein, die seit dem letzten Sommerfest mit Monden und Sternen aus Glanzpapier garniert war wie das Spielzimmer eines fortschrittlichen Kindergartens.

Ich las die wenigen Zeilen von neuem mit brennender Neugierde, als enthielten sie hinter dem Geschriebenen eine weitere, geheime Botschaft. Für mich allein bestimmt.

Las sie zweimal. Fünfmal.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätten alle Alarmklingeln in mir rasseln sollen. Aber ich war wohl zu unerfahren, betrunken von der Ahnung eines unbekannten, niemals zuvor erlebten Rauschs, dass ich hartnäckig meine Sinne verschloss. Damals konnte ich noch nicht wissen, was mir bevorstand. Damals war mein Herz noch ganz und erwartungsvoll wie ein neuer, glänzender Morgen.

Vielleicht sollte ich diese seltsame Geschichte lieber ganz anders erzählen. Schön der Reihe nach. Von Anfang an.

Andererseits: Gab es ihn überhaupt, den richtigen Anfang?

Als ich Claus jedenfalls zum ersten Mal sah, fand ich ihn auf eine rührende Weise altmodisch. Er hatte nicht das geringste zu tun mit jener abgekapselten Welt studentischer Jugendlichkeit, in der ich mich nahezu ausschließlich bewegte.

Ich konnte mir kaum vorstellen, dass man sich nicht duzte oder nicht in Wohngemeinschaften zusammenleben wollte. Jene, die das verabscheuten, waren schreckliche, bornierte, unbelehrbare Spießer, Ignoranten, die nicht »dazugehörten«, die nichts von dem verstanden hatten, was wir in unserem gnadenlosen Jugendkult so eifrig praktizierten.

Eltern nahm ich prinzipiell von dieser Kategorisierung aus. Eltern waren eine Last, die man hatte und von der man sich in endlosen gruppendynamischen Prozessen zu befreien hatte. Möglichst schnell – obwohl es in der Regel bei den meisten von uns doch nur zögerlich zu einem rechten Ende kommen wollte.

Eltern konnten nicht dazugehören. Eltern hatte man. Eltern waren eine Art Karma. Obwohl dieser Begriff noch nicht in unserem Sprachinventar von damals vorhanden war.

Nein, Claus gehörte nicht zu meiner Welt. Aber auch nicht zu der der Spießer und Ignoranten.

Claus war ganz anders. Er kam mir vor wie der Abkömmling eines unbekannten, lockenden Kontinents. Ein wundersames, leicht angestaubtes Relikt einer Zeit, die längst vorbei war.

An einem sonnigen Herbstmorgen stürmte ich sein Büro. Völlig unabsichtlich.

Eigentlich hatte ich eine lange Weile sehr brav auf der Bank des Instituts gewartet, um als nächste seine Sprechstunde aufzusuchen. Als Assistent eines Wiener Professors, der jüngst an unsere Uni gewechselt hatte, war er neu bei den Germanisten. Man wusste nichts über ihn. Nicht eine meiner Freundinnen kannte ihn.

Ausgerüstet mit einem Traktat über Georg Büchner, vertrieb ich mir die Zeit, indem ich die hässlichen, verblassten Stiche an der Wand anstarrte und meinen Gedanken nachhing.

Es war einer jener gläsernen Septembertage, die blank und strahlend sind und dennoch schon nach Herbst riechen. Man konnte sich nichts vormachen. Der Sommer war endgültig vorbei. Bald würden die Tage kürzer werden, und in den Hörsälen und Seminarräumen würde man schon nachmittags die fahle Deckenbeleuchtung einschalten müssen.

Als die Türe auch nach einer guten halben Stunde verschlossen blieb, stand ich entschlossen auf, packte mein Buch in die afghanische Hirtentasche, die mir als das Nonplusultra modischer Entwicklung schien, und klopfte höflich.

Nichts geschah.

Ich klopfte heftiger. Immer noch nichts. Vorsichtig probierte ich, die Türe zu öffnen. Sie klemmte.

Von innen hörte ich ein leises Hüsteln. Eine Stimme, der ich so etwas wie »Herein« zu entnehmen glaubte.

Energisch drückte ich auf die Klinke. Die Türe sprang auf, und ich stolperte mit einem gewaltigen Satz ins Zimmer.

Der Mann am Schreibtisch nahm langsam die Brille ab und blickte mir aufmerksam entgegen. Ohne die randlosen Gläser sah er wacher und lebendiger aus. Ich schätzte ihn auf Ende Dreißig und vertat mich dabei nur um fünf Jahre.

»Hallo«, sagte er mit seiner hellen, belegten Stimme, die immer ein wenig atemlos klang. »Wollen Sie vielleicht zu mir?«

In diesem Moment begann mein neues Leben. Oder jedenfalls das, was ich damals dafür hielt.

2

Die nächsten Tage und Wochen verstrichen. Schließlich lag nur noch ein guter Monat vor dem Beginn des Wintersemesters. Ausnahmsweise schuftete ich in keinem der üblichen nervtötenden Ferienjobs, wo man Post austragen, Peperonis im Akkord einpacken oder Durchschläge nach fünfstelligen Nummern sortieren musste.

Diesen Herbst hatte ich mir selbst freigegeben. Ich wollte in aller Ruhe lesen und studieren, vor allem aber meine Magisterarbeit gründlich vorbereiten.

Aber ich tat nichts davon. Ganze Nachmittage verbrachte ich im Bett, las zum x-ten Mal die Krimis von Patricia Highsmith, futterte ganze Packungen von schlankmachendem Knäcke und fühlte mich matt und elegisch. Mein Hirn war wie ausgebrannt, und an manchem der klaren, kühlen Morgen überkam mich die Angst, ich würde langsam verblöden.

Jetzt, kurz bevor es wirklich ernst wurde.

Eine Anzahl ungekannter Leiden befiel mich: nervöses Kopfjucken, Halsstarre, ein trockener, widerlicher Husten, der sich in den Bronchien festgeklemmt hatte.

Mein Äußeres korrespondierte auf fatale Weise mit meinem inneren Durcheinander. Meine Haut war fleckig, und die Haare zipfelten formlos. Aber ich war momentan zu pleite, um mir einen guten Friseur leisten zu können. Ich fühlte mich schrecklich, und eine merkwürdige Unruhe klopfte unüberhörbar in mir.

War sie es, die mich schließlich bewog, nach heftigen Attacken von Selbstzweifeln noch vor Semesterbeginn wieder seine Sprechstunde zu besuchen? Und das nicht einmal, sondern gleich dreimal?

Natürlich hatte ich mein Thema.

Das heißt, so ganz endgültig hatte ich es eben noch nicht. Wie ein Rohr im auffrischenden Herbstwind schwankte ich mindestens zwischen fünf unterschiedlichsten Entwürfen für die Magisterarbeit hin und her, einer ambitionierter und undurchführbarer als der andere. Was lag also näher, als bei ihm Rat zu suchen?

Seine wohlwollende väterliche Hand würde Kraut und Rüben in meinem Schädel trennen, mir neue geistvolle Inspirationen einhauchen und meinen Weg in eine verheißungsvolle akademische Ära ebnen. Schließlich stand meine Zukunft als junge, begabte Wissenschaftlerin auf dem Spiel, an die ich damals noch unbeirrt glaubte.

Die einzige Irritation an dieser Vision allerdings war Claus selbst, der Mann mit dem müden Gesicht und dem unverschämten roten Mund. Was hatte er in meinen naiven Träumen eigentlich verloren?

Als ich ihm endlich wieder gegenüberstand, kam ich mir plötzlich vor wie ein Schulmädchen. Wo war meine bewährte schnoddrige Sicherheit geblieben, die ich mir in acht Semestern so eifrig antrainiert hatte? In seinem kleinen Sprechzimmer im Institut, so eng, dass man aufpassen musste, keinen der vielen aufgetürmten Bücherstöße zum Kippen zu bringen, löste sie sich einfach in nichts auf.

Seltsamerweise schien Claus das kein bisschen zu stören. Je geistloser ich verstummte, desto agiler und wortgewandter lief er zur intellektuellen Höchstform auf.

Beklommen ließ ich schweigend seine schnellen, spritzigen Tiraden auf mich niederprasseln, um mich anschließend umso einfallsloser zu fühlen. Er kann alles mit Worten machen, dachte ich. Welten erschaffen und wieder zerstören. Toten Dingen Leben einhauchen. Er kam mir vor wie ein begnadeter Jongleur der Realität. Und ich war das Kaninchen, das geblendet vor der Schlange hockte.

Selbstverständlich kam ich auf diese Weise keinen Schritt mit meinem eigentlichen Anliegen weiter. Die Arbeit, an der ich eigentlich längst schon schreiben sollte, blieb nach wie vor vage und nebelhaft. Aber das machte mir erstaunlich wenig aus.

Schließlich ging ich in meiner Verwirrung auf einen seiner krausen, reichlich unausgegorenen Vorschläge ein. Nicht, weil ich überzeugt gewesen wäre. Ich wagte bloß nicht, nochmals unverrichteter Dinge abzuziehen. Noch weniger hätte ich mich allerdings getraut, abermals das angerissene Thema abzulehnen, um später unter einem fadenscheinigen Vorwand doch wieder zurückzukehren. Dabei wünschte ich mir schon damals nichts mehr als das.

Traumverloren ließ ich mir also ein Thema aufdrücken, das mich nur ganz am Rande interessierte und zeitlich zudem kaum zu bewältigen schien. Selbst Claus schien irritiert vom Ausmaß meiner hingebungsvollen Lethargie.

»Ist das wirklich Ihr Ernst?«, fragte er mich. Besorgt, wie ich seinem Ton zu entnehmen glaubte.

Zuerst blieb ich eine Weile stumm. Dann blickte ich tapfer in seine schräg geschnittenen, grünlichen Augen und sagte einfach ja.

Ich kam erst auf dem Nachhauseweg wieder zu mir. Langsam begriff ich, was eben geschehen war. Ich hatte mich einfach manipulieren lassen. Noch konnte ich Reste ohnmächtiger Wut spüren, die in mir hochstieg, gepaart mit einem seltsamen Etwas, das verdächtig nach Zufriedenheit roch.

Lust am Leid? Nein, so einfach war es nicht. Es war eher ein ganz neues, kaum greifbares Gefühl. Erregend und verboten zugleich.

Ich konnte deutlich spüren, dass etwas nicht in Ordnung war. Aber alles in mir wehrte sich, es wahrzuhaben. War es in meiner Situation nicht wirklich mehr als sinnvoll, mich einem erfahrenen Mann anzuvertrauen? Der mich führen und leiten konnte? Mir für alle meine Fragen zur Verfügung stand?

Als mir schließlich dämmerte, in welche Falle ich freiwillig gegangen war, war es schon zu spät. Dann spielte auch keine Rolle mehr, was ich inzwischen herausbekommen hatte: Claus hatte keine Ahnung. Weder vom Unibetrieb (es war, wie sich alsbald herausstellte, sein erstes Semester als Assistent) noch vom Leben. Er fühlte sich als Bohemien. Dass er in Wirklichkeit ein romantischer Spießer war, realitätsfern und nie wirklich erwachsen geworden, merkte ich erst viel später.

Da allerdings hatte er mich schon ganz in seinen Bann gezogen. So schleichend, so unmerklich, dass ich lange Zeit nicht wusste, wie mir eigentlich geschah. Hätte mich jemand direkt darauf angesprochen, ich hätte ihn schlichtweg für verrückt erklärt. Schließlich war ich von einem überzeugt: Wie man mit Männern umzugehen hatte, wusste ich. Ich war mir so sicher, was ich wollte und was nicht.

Ganz besonders, was Männer betraf. Klug mussten sie sein, groß, jung natürlich und möglichst attraktiv. Ich schwärmte für gut gebaute Körper, athletische Schultern und schmale, knabenhafte Hüften.

Schließlich hatte ich ja Willi. Und keine Lust, mich zu verschlechtern. Wenn ich mich schon mit anderen einließ, dann, um neue, bislang unbekannte Facetten meiner selbst zu spüren. Niemals hatte ich je ernstlich daran gedacht, Willi zu verlassen. Er kam mir vor wie das Schicksal, dem man nicht entgehen kann – egal, wie sehr man sich auch anstrengen mag.

Willi merkte zunächst nichts von allem. Ihm fielen weder meine zunehmende Appetitlosigkeit auf noch die Gereiztheit, mit der ich ihm oft entgegenfuhr. Mit stoischer Gelassenheit nahm er die Wechselbäder meiner Launen hin. Kam wie ein braves Erdhörnchen aus dem Loch, wenn der große Regen vorbei war. Verzog sich schnell dorthin zurück, sobald die ersten Tropfen fielen.

Für seine schweigsamen Verhältnisse zeigte er sich sogar erstaunlich offen und gesprächig. In diesen ersten bangen Wochen, in denen ich selbst noch nichts Konkretes spüren konnte und wollte, machte Willi beherzt einen neuerlichen Ansatz, sich in dem dritten Zimmer unserer Frauen-WG einzunisten, das gerade frei geworden war.

Ordentlich gebeutelt zwischen schlechtem Gewissen und kaum verhohlener Selbstsucht, verhielt ich mich seinem Wunsch gegenüber äußerst ambivalent und tat die meiste Zeit so, als ginge mich die ganze Sache gar nichts an. Manchmal gelang es mir sogar, dieser Vorstellung von ungewohnter Nähe neue, idyllische Züge abzugewinnen: gemütliche Abende zu dritt in der Wohnküche, meine Freundin Angela, Willi und ich. Einig am großen, abgebeizten Küchentisch um einen dampfenden Spaghettitopf geschart.

Dann wieder überfielen mich nachts beklemmende Alpträume, und ich fühlte mich wie eine, der man langsam die Luft zudreht. Deshalb reagierte ich mehr als befreit, als Angela schließlich ein kategorisches Nein verkündete und den süßen Traum von Willis Zuzug platzen ließ. Ein komisches kleines Lied sang in mir, ich trank mehr als meine gewohnten zwei Gläser Weißwein und wurde richtig übermütig.

Ich glaube, das war die letzte Nacht, in der ich wirklich gern mit Willi geschlafen habe.

Als am anderen Tag der Morgen grau durch das Fenster kroch, stand ich leise auf und kochte in der Küche Tee. Noch im Nachthemd hockte ich auf dem Stuhl und sah der einbeinigen Taube zu, die gerade ihren Kot mitten auf unserem Balkon platzierte. Dann griff ich zum Telefonbuch.

Als hätte ich schon hundertmal danach geblättert, fiel die Seite beim Buchstaben R auf. R wie Ritzerfeld. Dr. Claus von Ritzerfeld. Ich ließ den Namen wie eine Frucht auf der Zunge zergehen und genoss den Klang und die Eleganz, die er für mich ausstrahlte. Wie der Abgesang einer versunkenen Welt.

Einfach wunderbar.

Mit dem roten Filzstift, mit dem wir sonst unsere Telefoneinheiten in ein kleines chinesisches Büchlein eintrugen, umrahmte ich ihn mit einem dicken Herz. Als ich Schritte im Flur hörte, riss ich schnell die Seite heraus und knüllte sie zusammen.

Später habe ich sie sorgsam wieder glattgestrichen und lange aufbewahrt, obwohl sich mir die Nummer bis heute unauslöschlich eingebrannt hat. Vielleicht ahnte ich damals schon, dass nichts bleiben würde, wie es war.

Die restlichen freien Tage schmolzen mir unter der Hand zu einem kleinen, unansehnlichen Rest. Ich hatte sogar mir selbst gegenüber aufgegeben, die Arbeitsame zu mimen. Stattdessen trieb ich mich einfach in den herbstlichen Straßen herum und blätterte in Buchhandlungen in gebundenen Ausgaben von Büchern, die ich mir erst später als Taschenbuch würde leisten können. Ganze Vormittage verbrachte ich lesend in den kleinen, billigen Cafés nahe der Uni, wobei ich sorgsam vermied, meinen Milchkaffee ganz auszutrinken, um nicht einen weiteren nachbestellen zu müssen.

Irgendwie wartete ich. Ich hätte nicht sagen können, worauf oder gar auf wen. Aber ich war gefangen in einer diffusen Spannung, die mich ziellos vorwärts trieb und nirgends ankommen ließ. Ich wartete, und nichts geschah. Jedenfalls nicht bis zum letzten Tag der Semesterferien, einem sonnigen Freitag.

Es war fast Mittag, als ich überraschenderweise Claus erspähte. Ich hatte soeben meinem abgegrasten Postscheckkonto tapfer die Stirn geboten und mir, obwohl uns die Heizölrechnung für den nahenden Winter drohte, im Schwabinger Trödelladen eine wunderschöne alte schwarze Trachtenjacke gekauft. Zu ihr trug ich Jeans, einen goldbestickten indischen Schal und rotschwarzen Indianer-Ohrschmuck.

Er stand auf der anderen Straßenseite an der Bushaltestelle, in die ZEIT vertieft. Obwohl es für Ende Oktober ein relativ warmer Tag war, hatte er sich bis zu den Ohren in einen dunkelblauen Mantel vergraben. Ein karierter Schal um seinen Hals ließ sein Gesicht noch blasser und erschöpfter als sonst wirken.

Für einen langen Augenblick glaubte ich, einer optischen Täuschung erlegen zu sein. Ich schluckte krampfhaft. Dann fasste ich mir ein Herz und marschierte geradewegs auf ihn zu. Ging ein Stück. Blieb stehen. Bewegte mich weiter. Hielt inne. Ich muss gewirkt haben wie eine Traumwandlerin. Aber darum konnte ich mich nicht kümmern.

Wie von einem unsichtbaren Gummifaden angezogen, trieb es mich auf ihn zu. Was hatte ich mit diesem knochigen, gerade mittelgroßen Mann mit schütterem Haar zu tun, der nicht mehr ganz jung war? Mein Herz begann wie wahnsinnig zu schlagen, und ich hätte beinahe zu heulen begonnen. Mitten auf dem belebten Boulevard fühlte ich mich einsam und verlassen wie ein ausgesetztes Kind. Was war nur los mit mir?

Gerade noch im letzten Moment kratzte ich die Kurve. Was hätte ich ihm auch sagen sollen? Wie um Gottes willen mich verhalten? Mit hochrotem Kopf und einem rotierenden Gefühl in der Magengrube drehte ich knapp vor ihm in eine Einfahrt ab. Dann kam sein Bus, und ich beobachtete aus meinem Versteck, wie er pedantisch seine Zeitung faltete und einstieg.

Er hat mich nicht gesehen. Ich bin ganz sicher. Andererseits habe ich nie den Mut gehabt, ihn danach zu fragen. Nicht einmal, als wir schon Liebende waren und lange Nachmittage beieinander lagen, bis die Dämmerung unseren Traum zerstörte. Da hatten wir schon gelernt, wie ein Wesen zu atmen.

Seit diesem Tag wusste ich, dass es mich »erwischt« hatte. Als die Nacht kam, konnte ich nicht schlafen. Ich rollte mich von einer Ecke in die andere, mehr als froh darüber, dass ich mein Bett gerade nicht mit Willi teilen musste. In dieser Beziehung bin ich immer sehr eigen gewesen. Wie schön und aufregend es auch gewesen sein mochte, eigentlich war ich immer froh, wenn meine Liebhaber schließlich abzogen und ich mein Reich wieder für mich alleine hatte.

Ich wälzte mich nach Leibeskräften, schloss das Fenster, öffnete es wieder. Als nichts helfen wollte, griff ich nach dem abgewetzten Taschentuch, das mir meine beste Freundin Daphne während einer bösen Krise einmal zur Aufmunterung geschenkt hatte. Doch selbst Madame Bovary brachte mir nicht die gewünschte Müdigkeit.

Schließlich erhob ich mich leise, um Angelas leichten Schlaf nicht zu stören, und ließ mir ein Bad ein. Träge dümpelte ich in der Wanne. Ich verließ sie erst, als Finger und Zehen schrumpelig wie Waschhäute waren und eine leise Benommenheit mir baldige Ruhe verhieß. Aber ich unterlag einer Täuschung. Ich war noch wach, als die Kirche gegenüber zur Morgenandacht läutete.

Erst als die Sonne aufging, muss ich eingedämmert sein. Angela, die frische Croissants geholt hatte und mich zum Frühstück wecken wollte, hatte keinen Erfolg. Im Schlaf hielt ich die lange Literaturliste fest umklammert, die Claus mir gegeben hatte.

Zum ersten Seminartermin eine Woche später war ich mit weichen Knien geschlichen. Kunstvoll hatte ich mich vor unserem schlecht beleuchteten Badspiegel kosmetisch präpariert und war lange unschlüssig meine schlichte Kollektion selbstgestrickter Pullover durchgegangen. Schließlich hatte ich mich – trotz empfindlicher Nieselkälte – für meine neue bulgarische Bluse entschieden. Hauchdünn, aber entschieden das Aufregendste, was ich besaß.

Im Seminar erwartete mich eine Enttäuschung. Claus war gar nicht anwesend; sein Stuhl neben dem Professor blieb frei. Missmutig und reichlich unkonzentriert lauschte ich dessen salbadernden Ausführungen. Eines freilich hatte ich schnell begriffen. Der Prof, der unverhohlen seine wieselflinken Augen von Studentin zu Studentin wandern ließ und einen lüsternen Zug um die schmalen Lippen hatte, war exakt der Typ, der andere für sich arbeiten ließ. Sein anderer Assistent, links von ihm platziert, trug die Spuren jahrelanger, devoter Hingabe in seinem grauen, griesgrämigen Gesicht.

Wieder wurden ellenlange Literaturlisten ausgegeben, und die anwesenden Studenten stürzten sich wie hungrige Raubvögel auf die Referatthemen. Mir war es im Grunde vollkommen egal, was ich vortragen würde. Ich hatte ohnehin nicht viel Zeit, mich darum zu kümmern. Schließlich stand meine Magisterarbeit ganz obenan. Und ich hatte noch keine einzige Zeile geschrieben.

Ich schwelgte gerade in einem warmen, tröstlichen Gemisch aus Selbstmitleid und Gleichgültigkeit, als die Türe aufging und Claus hereintrat. Er sah aus wie eine Kreuzung aus Bohemien und einer verunglückten Sherlock-Holmes-Parodie.

Ein weiter, dunkler Kutschermantel schlotterte um seine mageren Schultern, und sein Kopf war von dem unmöglichsten Hutmodell bedeckt, das ich je gesehen hatte. Dazu trug er dick gefütterte Fellhandschuhe, zweifarbige Schuhe und einen langen, existentialistisch anmutenden schwarzen Schal. Offensichtlich hatte er beschlossen, sich als Ausgleich für sein bedenklich gelichtetes Haupthaar einen Bart stehen zu lassen. Rötlichbraune Stoppeln ließen sein Gesicht schmaler wirken.

Sein unvermuteter Auftritt löste einen Heiterkeitsanfall unter den Studenten aus. Ohne sich auch nur im geringsten darum zu scheren, wickelte er sich langsam und umständlich aus seinen vielen Schichten, kramte einen Stoß Papiere aus seiner edel abgewetzten Mappe und saß endlich.

Mich würdigte er keines Blickes. Ich hatte mein Mäntelchen, das ich mir vorher fröstelnd um die Schultern gezogen hatte, blitzschnell nach hinten fallen lassen und bemühte mich, so attraktiv und intelligent wie möglich dreinzuschauen. Plötzlich war auch mein Interesse am Seminar erwacht.

Ich hatte Glück. Buchstäblich im letzten Augenblick ergatterte ich ein Thema, für das ich vor einem Jahr schon beträchtliche Vorarbeiten geleistet hatte. Und ich wurde gleichzeitig damit Mitglied einer sehr sympathischen Gruppe, die ein gemeinsames Referat vorlegen sollte.

Doch was war mit ihm? Warum sah er so angelegentlich an mir vorbei?

Erst viel später hat er mir von den Qualen erzählt, die diese ersten Sitzungen für ihn bedeuteten. Er hatte Angst, sich mit jedem Blick, mit jedem Satz zu verraten, den er an mich richtete. Ja, er glaubte kaum noch schlucken zu können, und jeder Atemzug schien schmerzhaft für ihn.

Damals hatte ich freilich keine Ahnung von seinen inneren Kämpfen. Mich interessierte vor allem mein eigenes Seelenheil, das so empfindlich aus dem Gleichgewicht geraten war. Ich starrte auf seine langen, feingliedrigen Hände und stellte mir vor, wie sie langsam meinen Körper berührten. Ich war neugierig auf seine Haut, die mir so fein und brüchig vorkam. Auf seinen Geruch, der hauchzart in seinem winzigen Büro geschwebt hatte.

Während ein Vertreter der Roten Zellen sich mit einem des KSV in den Haaren lag, sann ich verträumt der morbiden Schönheit nach, die er für mich zu besitzen schien. Und ich malte mir genüsslich aus, uns verbinde eine heimliche Verwandtschaft. Eine tiefe Seelenfreundschaft, größer und machtvoller als all das nervöse Gewusel, das Frauen und Männer in unserer Zeit an den Tag legten. Als sei er mir bekannt aus längst vergangenen Zeiten, aus einem früheren, romantischeren, aufregenderen Leben. (Obwohl man damals noch nicht von Reinkarnation oder ähnlichem sprach. Zumindest nicht in den Kreisen, in denen ich mich bewegte.)

Ich verlor mich blindlings in meine Träumereien. Tauchte ein in den feinen, kaum spürbaren Hauch von Resignation, der ihn geheimnisvoll umwehte.

Wann endlich würde er erkennen, dass ich das passende Burgfräulein für ihn war? Das schlummernde Dornröschen, dem erst sein Kuss glühendes Leben einhauchen würde?

Doch er ließ mich warten. Ließ mich zappeln wie den Fisch an der Angel. Claus versank buchstäblich vor meinen Augen in demonstrativem Desinteresse, das mich später noch halb verrückt machen sollte. Damals freilich deutete ich sein Ausweichen als Seelentiefe, seine Feigheit als Behutsamkeit, seine Ängstlichkeit als übergroße Sensibilität. Im Grunde rechnete ich gar nicht damit, dass dieser Mann sich wirklich für mich interessieren könnte. Wenn ich auch alles unternahm, damit er es tat.

Als es schließlich doch geschah, überfiel mich eine nie zuvor gekannte Panik. Plötzlich, so wusste ich, war es kein Spiel mehr. Plötzlich ging es um alles.

Ich wäre am liebsten weggelaufen. Aber ich blieb, wo ich war, und sah fasziniert zu, wie ich dem Abgrund langsam, aber unaufhörlich näher rückte.