Ich weiß nicht, wie lange ich in dem Boot umhergetrieben bin. Mehrere Tage und Nächte sind es, an die ich mich nur als abwechselnde Unendlichkeiten aus Grau und Dunkelheit erinnere. Danach folgten eine traumhafte Ewigkeit des Deliriums und ein Fall ins ungewisse, pechschwarze Vergessen. Das Meerwasser, das ich schluckte, muss mich ins Leben zurückgerufen haben, denn als ich zu mir kam, lag ich auf den Planken des Bootes und hielt den Kopf ein wenig übers Heck, während ein Schwall Meerwasser gegen meine Lippen platschte. Ich keuchte und würgte von den Schlucken, die ich eingeflößt bekam. Schwer wogte das Boot, wobei mit jedem Stoß weiteres Nass über das Dollbord schlug, und nicht weit entfernt hörte ich das Donnern einer Brandung.
Ich versuchte mich aufzusetzen, was mir nach einer ungeheuerlichen Anstrengung auch gelang. Meine Gedanken und Empfindungen waren eigenartig verworren und ich fand es schwierig, mich in irgendeiner Art und Weise zu orientieren. Ein extremer Durst überlagerte alle anderen Empfindungen – mein Mund brannte von rasendem, pochendem Feuer, mir war schwindelig und der Rest meines Körpers seltsam schlaff und hohl. Es fiel mir schwer, mich darauf zu besinnen, was geschehen war, und für einen Augenblick wunderte ich mich nicht einmal über die Tatsache, dass ich mich allein im Boot befand. Doch selbst meinen gelähmten, unsicheren Sinnen hatte das Tosen jener Brecher eine deutliche Warnung vor Gefahr vermittelt. Noch während ich mich aufsetzte, suchte ich nach den Riemen.
Die Riemen waren verschwunden. In meinem geschwächten Zustand war es ohnehin nicht sehr wahrscheinlich, dass ich sonderlich viel Gebrauch von ihnen hätte machen können. So schaute ich mich jetzt um und sah, dass das Boot rasch mit dem Lauf einer Strömung zum Ufer hin getrieben wurde. Es glitt zwischen zwei tief im Wasser gelegenen dunklen Riffen hindurch, die halb verborgen zwischen wehenden Schleiern aus Gischt lauerten.
Eine steile und kahle Klippe ragte vor mir auf. Doch als das Boot sich ihr näherte, schien sie sich auf wunderbare Weise zu teilen – und offenbarte einen engen Spalt, durch den ich in die spiegelglatten Gewässer einer stillen Lagune getrieben wurde. Der Übergang von der rauen See hinein in ein Reich geschützter Stille und Abgeschiedenheit gestaltete sich nicht weniger abrupt als der Wechsel von Ereignissen oder Szenen in manchen Träumen.
Die Lagune wand sich lang gezogen und schmal zwischen flachen Ufern, die von einer mehr als tropischen Vegetation gesäumt wurden. Zahlreiche Palmfarne gab es hier, von einer Art, die ich nie zuvor gesehen hatte, und viele starre, riesengroße Cykas und breitblättrige Gräser, höher als junge Bäume. Schon in diesem Moment wunderte ich mich sehr darüber, wenngleich ich, während das Boot langsam auf den nächstgelegenen Strand zutrieb, hauptsächlich mit dem Klären und Sortieren meiner Erinnerungen beschäftigt war. Das bereitete mir mehr Mühe, als man meinen sollte.
Nach wie vor muss mir schwindlig gewesen sein. Das Meerwasser, das ich ungewollt getrunken hatte, nahm sicher keinen besonders positiven Einfluss auf meinen Körper, wenngleich es auch dazu beigetragen hatte, mich wiederzubeleben.
Ich erinnerte mich natürlich, dass ich Mark Irwin war, erster Maat des Frachters Auckland, der regelmäßig zwischen Callao und Wellington verkehrte. Und ich entsann mich auch nur zu gut an die Nacht, in der Kapitän Melville mich buchstäblich aus meiner Koje gerissen hatte, vom traumlosen Meeresgrund eines hundemüden Schlummers empor, und rief, das Schiff stünde in Flammen. An die brüllende Hölle aus Feuer und Rauch erinnerte ich mich, durch die wir uns auf Deck hinaufkämpften – nur um festzustellen, dass das Schiff schon nicht mehr zu retten war, weil das Feuer das Öl erreicht hatte, das einen Teil der Fracht darstellte ... danach das eilige Wassern von Booten im sich ausweitenden Schein der Feuersbrunst. Die halbe Mannschaft war auf dem brennenden Vorderdeck eingeschlossen. Jene von uns, die dem Feuer entkamen, waren gezwungen, ihr Heil ohne Wasser und Proviant in der Flucht zu suchen.
Tagelang ruderten wir in Totenstille dahin, ohne ein Schiff zu Gesicht zu bekommen, und erlitten die Qualen der Verdammten, als ein Sturm heraufzog. In diesem Unwetter gingen zwei der Boote verloren und nur das dritte, welches mit Kapitän Melville, dem zweiten Maat, dem Bootsmann sowie mir selbst bemannt war, überstand die Naturgewalten. Aber irgendwann im Verlauf des Sturms oder während der Tage und Nächte des Deliriums, die folgten, müssen meine Begleiter über Bord gegangen sein ...
An so vieles erinnerte ich mich, doch kam mir alles irgendwie unwirklich und fern und nebelhaft verschwommen vor. Es schien zudem eine ganz andere Person zu betreffen und nicht diejenige, die auf den Wassern einer nunmehr stillen Lagune uferwärts trieb. Ich fühlte mich völlig entrückt und selbst mein Durst peinigte mich jetzt nicht mehr halb so schlimm, wie er dies beim Erwachen getan hatte.
Das Boot lief an einem Ufer aus feinem, perlenartigem Sand auf, und ich fragte mich, wo ich gestrandet war. Angesichts des Küstenstreifens, der vor mir lag, verfiel ich in wilde Spekulationen. Mir war bewusst, dass wir in jener Nacht des Brandes Hunderte von Meilen südwestlich der Osterinsel gewesen waren, in einem Teil des Pazifiks, wo es kein anderes Land mehr gab. Gewiss konnte das hier nicht die Osterinsel sein. Doch – was sonst?
Mit einer Art Schock ging mir auf, dass ich ein Eiland entdeckt haben musste, das nicht auf einem bekannten Kurs oder einer geologischen Karte verzeichnet war. Natürlich handelte es sich um irgendeine Insel, doch weder vermochte ich mir eine Vorstellung von ihrer möglichen Ausdehnung zu machen, noch erhielt ich vorerst Gelegenheit festzustellen, ob sie bewohnt oder menschenleer war. Bis auf die üppige Vegetation und einige seltsam aussehende Vögel und Schmetterlinge sowie ein paar ebenso seltsam aussehende Fische in den Wassern der Lagune gab es nirgendwo sichtbares Leben.
Im heißen, weißen Sonnenlicht, das sich gleich einem unaufhörlichen, allgegenwärtigen Wasserfall vom Himmel herab auf alles ergoss, kletterte ich aus dem Boot. Ich fühlte mich dabei sehr schwach und elend und mein erster Gedanke war, nach Süßwasser zu suchen – so lief ich orientierungslos zwischen den mächtigen Farnbäumen hindurch, teilte ihre riesigen Blätter nur mit äußerster Mühe und musste mich gelegentlich an ihre Stämme stützen, um nicht zu fallen. Zwanzig oder dreißig Schritte jedoch – und schon gelangte ich an ein winziges Rinnsal, das wie ein zersplitterter Kristall aus einem niedrig gelegenen Vorsprung plätscherte, um sich in einem ruhigen Teich anzusammeln. Darin spiegelten sich sehr hohe Moospflanzen und breite, anemonenähnliche Blüten. Das Wasser war kühl und süß. Ich trank es gierig und ausgiebig und spürte, wie der Segen seiner Frische meinen gesamten ausgetrockneten Körper durchdrang.
Jetzt begann ich, mich nach irgendeinem essbaren Obst umzusehen. Nahe beim Bach fand ich einen Strauch, der seine Last von lachsgelbem Kernobst auf die riesigen Moose herabhängen ließ. Die Früchte waren mir unbekannt, doch sie sahen köstlich aus, und so beschloss ich, das Risiko einzugehen. Die Schale umschloss pralles, zuckersüßes Fruchtfleisch. Noch während ich davon kostete, kehrte neue Kraft zurück in meine Muskeln.
Meine Gedanken klärten sich und ich gewann alle jene Fähigkeiten wieder, die mir zeitweise abhandengekommen waren. Sodann kehrte ich zum Boot zurück und schöpfte das ganze Salzwasser aus dem Rumpf. Anschließend versuchte ich, das Gefährt für den Fall, dass ich es noch einmal brauchte, so weit wie möglich auf den Strand hinaufzuzerren. Meine Kraft war dieser Aufgabe kaum gewachsen, aber ich schaffte es. Und da ich noch immer fürchtete, die Flut könnte das Boot davontragen, kappte ich einige der hohen Gräser mit meinem Taschenmesser und flocht sie zu einem langen Strick, mit dem ich das Boot an der nächsten Palme sicher vertäute.
Jetzt überblickte ich meine Situation zum ersten Mal mit klarem Verstand. Daher wurde mir vieles klar, was ich bislang nicht beachtet oder gar nicht bemerkt hatte. Ein Gemisch eigenartiger Eindrücke drängte sich mir auf, von denen einige nicht über die bekannten Sinne zu mir gelangt sein konnten. Zunächst einmal nahm ich die ungewöhnliche Fremdartigkeit der Pflanzenarten um mich her jetzt weitaus deutlicher wahr: Das waren keine Palmfarne, Gräser und Sträucher, wie sie auf den Südseeinseln heimisch sind – ihre Blätter, ihre Stämme und ihre Wedel zeigten hauptsächlich wunderliche archaische Auswüchse, wie sie in früheren Äonen an den im Meer versunkenen Küsten vor Mu existiert haben mochten. Sie wichen von allem ab, was ich jemals in Australien oder Neuguinea gesehen hatte, diesen Heimstätten urzeitlicher Pflanzenwelt. Und während ich die Flora anstarrte, überwältigten mich die Hinweise auf eine dunkle und prähistorische Herkunft. Und die Stille rings um mich schien zur Stille längst vergangener Zeitalter zu mutieren und zeugte von Dingen, die unter der Flut der Vergessenheit verborgen lagen. Von diesem Moment an spürte ich, dass etwas mit dieser Insel nicht stimmte. Doch ich vermochte nicht zu sagen, was es denn war, oder mit Bestimmtheit festzustellen, was zu diesem Eindruck beitrug.
Von der bizarr aussehenden Vegetation einmal abgesehen, entging mir nicht, dass selbst die Sonne eigenartig wirkte: Sie stand zu hoch am Himmel, egal auf welchen Breitengrad es mich verschlagen haben mochte, und sie war überhaupt viel zu groß. Zudem war der Himmel unnatürlich überhellt von einer blendenden Weißglut. Ein Bann beständigen Schweigens lastete auf allem. Ich hörte nie auch nur das geringste Rascheln des Laubes oder das Gluckern des Wassers. Die gesamte Landschaft lag wie ein gewaltiges Trugbild unglaublicher Reiche abseits von Zeit und von Raum vor meinen Augen. Alten Karten zufolge konnte diese Insel ohnehin nicht existieren.
Immer deutlicher reifte in mir die Erkenntnis, dass etwas nicht stimmte: Ich spürte eine unheimliche Verwirrung, eine sonderbare Bestürzung, wie jemand, der an den Ufern eines fremden Planeten gestrandet ist. Mir schien es, als wäre ich getrennt von meinem früheren Leben und allem, was ich je kannte – durch eine Distanz, unüberbrückbarer als all die blauen Kilometer von Meer und Himmel. Ich spürte, dass ich, wie die Insel selbst, für eine mögliche Rückorientierung verloren war. Einige Augenblicke lang schwoll dieses Gefühl zu einer nervösen Panik an, zu einem lähmenden Entsetzen.
In meinem Bemühen, meiner Erregung Herr zu werden, lief ich weiter am Ufer der Lagune entlang, wobei ich in fieberhafter Eile einen Schritt vor den nächsten setzte. Mir kam in den Sinn, dass ich die Insel erkunden könnte und dass es mir vielleicht gelänge, einen Hinweis auf das Mysterium zu finden. Vielleicht stolperte ich über etwas, das mir eine Erklärung bot – oder wenigstens Beruhigung.
Nach mehreren schlangengleichen Biegungen des Gewässers erreichte ich das Ende der Lagune. Hier begann das Land zu einem hohen Grat anzusteigen, dicht bewaldet mit derselben Vegetation, der ich bereits begegnet war, und zu der sich jetzt langblättrige Arankarien hinzugesellten. Dieser Grat bildete offensichtlich die Scheitellinie der Insel und nach einer halben Stunde des Umhertastens zwischen den Farnen, inmitten der starren, urzeitlichen Sträucher und Arankarien schaffte ich es, ihn zu erklimmen.
Von hier aus spähte ich durch eine Lücke im Laub hinab auf eine Szenerie, die gleichermaßen unglaublich wie unerwartet war. Die gegenüberliegende Küste der Insel breitete sich unter meinen Augen aus und am gebogenen Strand eines vom Land umgürteten Hafens reckten sich über die gesamte Distanz die Steindächer und Türme einer Stadt empor!
Selbst auf diese Entfernung vermochte ich zu erkennen, dass die Architektur einer mir unbekannten Art entsprach, und ich war zunächst nicht sicher, ob es sich bei den Gebäuden allesamt um Ruinen oder doch die Wohnstätten eines lebenden Volkes handelte. Dann gewahrte ich, dass jenseits der Dächer mehrere fremdartig erscheinende Schiffe an einer Art Mole festgemacht waren und ihre orangefarbenen Segel im Sonnenschein darboten.
Meine Aufregung war unbeschreiblich: Ich hatte – unter der Voraussetzung, dass die Insel überhaupt bewohnt war – allenfalls ein paar Hütten von Wilden vorzufinden erwartet. Doch hier zu meinen Füßen erhoben sich Bauten, die Zeugnis ablegten von einer beachtlich hohen Kultur! Wozu sie dienten oder wer sie errichtet hatte, das waren unbeantwortete Fragen. Aber zumindest gab es Lebewesen auf diesem Eiland. Als mir dies zu Bewusstsein kam, war der Schrecken als Teil meiner Bestürzung einstweilen verflogen.
Sowie ich in die Nähe der Häuser gelangte, gewahrte ich, dass sie in der Tat befremdlich wirkten. Das lag jedoch nicht allein an ihrer Architektur, denn ich war auch nicht imstande, ihren Ursprung zu bestimmen. Die Häuser waren aus einem Gestein erbaut, dessen genauer Farbe ich mich nicht mehr entsinnen kann, da es sich weder um Braun noch Rot noch Grau handelte – vielmehr war es eine Tönung, welche alle diese Farben zu kombinieren und doch von ihnen abzuweichen schien. Und so weiß ich nur noch, dass die Bauwerke allgemein niedrig und rechteckig gehalten waren, mit ebenfalls quadratischen Türmen. Die Fremdartigkeit ließ sich nicht allein an diesen Attributen festmachen – sie verbarg sich in dem Gefühl eines fernen und bestürzenden Alters, das gleich einem Geruch von ihnen ausströmte. Augenblicklich wusste ich, dass die Gebäude genauso alt waren wie die wunderlichen urzeitlichen Baumgebilde und Gräser und, diesen gleich, Teil einer längst vergangenen Welt.
Sodann erblickte ich die Menschen – jene Menschen, an denen nicht nur mein völkerkundliches Wissen, sondern sogar mein Verstand zweifelte. Etliche von ihnen waren zwischen den Gebäuden zu erspähen, jeder schien sehr konzentriert irgendeiner Beschäftigung nachzugehen. Zuerst war es mir nicht möglich festzustellen, was sie taten oder zu tun versuchten, doch es war ihnen offenkundig sehr ernst damit. Manche schauten zum Meer oder hinauf zur Sonne und dann auf lange Schriftrollen aus papierähnlichem Material, welche sie in den Händen hielten.
Viele standen um eine Steinplattform geschart, um ein großes, kompliziertes mechanisches Metallgerät, das einem Sternenhimmel ähnlich sah: ein Gestänge mit Kugeln, die offenbar Planeten darstellten und auf maßstabgetreuen Bahnen um den Mittelpunkt bewegt werden konnten. Diese Leute waren allesamt gekleidet in Tuniken aus ungewöhnlichem Bernsteingelb und Azur sowie tyrischem Purpur mit einem Zuschnitt, der kein historisches Vorbild hatte. Als ich näher schritt, gewahrte ich, dass ihre Gesichter breit und flach waren, eine leichte Andeutung des Mongolischen schlug sich in den schrägen Augen nieder. Auf eine unbestimmte Weise war das Wesen ihrer Züge jedoch nicht das irgendeiner Rasse, die seit einer Million Jahren unter der Sonne lebte. Die leisen, sanft fließenden, vokalreichen Worte, die sie untereinander austauschten, deuteten auf keine bekannte Sprache hin.
Niemand von ihnen schien mich zu bemerken, und so näherte ich mich einer Dreiergruppe, die eine der langen, von mir erwähnten Schriftrollen studierte, und sprach sie an.
Statt mir zu antworten, beugten sie sich noch tiefer über das geheimnisvolle Pergament. Selbst als ich einen der Ihren am Ärmel zupfte, war es offensichtlich, dass er mich nicht wahrnahm.
In höchstem Maße erstaunt blickte ich in ihre Gesichter und erschrak über die Mischung aus äußerster Verblüffung und monomanischem Eifer, den ihre Mienen verrieten. Irgendwie wirkten sie wie Geisteskranke, aber noch eher wie Wissenschaftler, die in ein unlösbares Problem vertieft waren. Ihre Augen blickten starr und in unirdischem Glühen. Ihre Lippen bewegten sich und murmelten wie in einem Fieber beständiger Ruhelosigkeit.
Als ich ihren Blicken folgte, gewahrte ich, dass sie eine Art See- oder Landkarte studierten, deren vergilbtes Pergament und ausgeblichene Tinte eindeutig aus längst vergangenen Zeiten stammten. Die Kontinente und Meere und Inseln darauf waren nicht diejenigen der Welt, welche mir bekannt war, und ihre Namen waren in den ungleichmäßigen Runen eines vergessenen Alphabets notiert.
Insbesondere gab es darauf einen ungeheuerlichen Kontinent zu bestaunen, mit einer winzigen Insel nahe seiner südlichen Küste. Dann und wann pflegte eines der Wesen, welche über der Karte brüteten, diese Insel mit der Fingerspitze zu berühren und sodann auf den leeren Horizont zu starren, als versuche es, eine verschwundene Uferlinie wieder heraufzubeschwören. Mir ist der deutliche Eindruck gegenwärtig, dass diese Leute so unwiederbringlich verloren schienen wie ich selbst. Auch sie wirkten verwirrt und sprachlos aufgrund einer Situation, die nicht zu begreifen oder rückgängig zu machen war.
Ich näherte mich der steinernen Plattform, die auf einem weiten, freien Platz zwischen den vorderen Häusern errichtet war. Sie mochte etwa zwei Meter aufragen und ließ sich über eine Reihe gewundener Stufen betreten. Dieselben erklomm ich nun und versuchte die Leute anzusprechen, die sich um das himmelsglobusähnliche Instrument versammelt hatten. Aber auch sie waren völlig blind mir gegenüber und allein erpicht auf die Beobachtungen, die sie anstellten. Manche von ihnen drehten die große Kugel, wiederum andere konsultierten verschiedene geografische und himmelsgeografische Karten. Aufgrund meiner nautischen Kenntnisse begriff ich, dass manche ihrer Gefährten den Höhenstand der Sonne mit einer Art von Astrolabium maßen. Sie alle trugen die gleiche Mischung aus Verblüfftheit und gelehrter Konzentration zur Schau, die ich auch schon bei den anderen beobachtet hatte.
Als mir aufging, dass meine Bemühungen, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, fruchtlos waren, verließ ich die Plattform wieder und wanderte die Straßen entlang auf den Hafen zu. Die Fremdartigkeit und das Unerklärliche von alldem waren mir zu viel: Immer stärker spürte ich, wie ich den Reichen aller rationalen Erfahrung oder Mutmaßung entfremdet ward, dass ich in eine unirdische Vorhölle des Chaos und der Unvernunft gestürzt war, in den cul-de-sac, die Sackgasse einer nicht irdischen Dimension. Diese Wesen waren deutlich erkennbar völlig verstört und entgeistert. Offensichtlich war, dass sie genauso gut wussten wie ich, dass mit den geografischen Gegebenheiten und vielleicht sogar mit der Chronologie ihrer Insel etwas nicht oder nicht mehr stimmte.
Den Rest des Tages verbrachte ich mit Umherstreifen. Doch nirgendwo traf ich auf jemanden, der in der Lage gewesen wäre, meine Anwesenheit wahrzunehmen. Nirgendwo fand sich etwas, um mich zu beruhigen oder meine ständig wachsende Verwirrung zu mildern. Allüberall sah ich Männer und auch Frauen, die, obschon vergleichsweise wenige von ihnen grau und runzlig waren, doch ausnahmslos den Eindruck unsagbaren Alters vermittelten – an Jahren und Zeitaltern außerhalb jeder Aufzeichnung oder Berechnung.
Sie alle zeigten sich besorgt, waren fieberhaft angespannt, prüften Karten oder studierten alte Pergamente. Oder sie starrten auf das Meer und in den Himmel, konsultierten die bronzenen Tafeln mit ihren astronomischen Hinweisen, als ob sie, indem sie all dies taten, irgendwie den Fehler in ihren Berechnungen aufspüren könnten. Es gab Männer und Frauen in reifen Jahren und manche mit den frischen, glatten Zügen der Jugend. Doch im Ort sah ich nur ein einziges Kind und sein Gesicht wirkte nicht weniger erstaunt oder besorgt als die Gesichter der Älteren. Falls jemand aß oder trank und den normalen Gepflogenheiten des Lebens nachging, spielte sich das zumindest nicht innerhalb meines Wahrnehmungsfeldes ab. Mir drängte sich die Vorstellung auf, dass sie, alle von demselben Problem besessen, auf diese Weise schon über einen Zeitraum lebten, der in einer anderen als ihrer Welt praktisch der Ewigkeit gleichkam.
Ich gelangte an ein großes Gebäude, dessen offene Tür durch die Schatten aus dem Inneren verdunkelt wurde. Als ich hineinblickte, stellte ich fest, dass es sich um einen Tempel handelte, denn jenseits der menschenleeren Düsternis, schwer von den abgestandenen Düften ausgebrannten Räucherwerks, stierten die schrägen Augen eines unheilvollen und grässlichen Götzenbildes zu mir hinüber. Es wirkte, als bestehe das Ding aus Stein oder Holz, vervollständigt durch gorillaähnliche Augen mit den böswilligen Zügen einer untermenschlichen Rasse. Es war kein angenehmer Anblick, und ich floh aus dem Tempel und setzte meinen Erkundungsgang fort.
Jetzt gelangte ich ins Hafengebiet, wo die Schiffe mit den orangenen Segeln an einer Steinmole festgetäut waren. Sechs Schiffe gab es insgesamt: Es waren kleine Galeeren mit einzelnen Ruderbänken und Galionsfiguren aus Metall, die in Gestalt urzeitlicher Idole geformt waren. Die Wellen unzähliger Jahre hatten die Schiffe unbeschreiblich abgenutzt; die Segel waren zerfallende Lumpen und ebenso wie alles andere auf der Insel riefen sie den Eindruck kolossalen Alters hervor. Man konnte sich ohne Weiteres vorstellen, dass ihre mit bizarren Schnitzereien versehenen Buge einst an den seit Äonen versunkenen Kais von Lemuria vorbeigeglitten waren.
Ich kehrte in die Stadt zurück und unternahm noch einmal den Versuch, den Einwohnern meine Anwesenheit mitzuteilen, jedoch abermals völlig vergebens. Nach einer Weile, während ich von einer Straße zur nächsten trottete, sank die Sonne hinter der Insel hinab und die Sterne traten rasch in einem Himmel aus purpurnem Sammet hervor. Ihre leuchtenden Körper waren groß und strahlend und standen unzählbar dicht. Mit den Augen eines erfahrenen Seemanns betrachtete ich sie genau, doch vermochte ich nicht eine einzige vertraute Konstellation zu entdecken, wenn ich auch hier und da meinte, eine Verzerrung oder Verlängerung eines bekannten Sternbilds wiederzufinden. Alles war hoffnungslos verdreht, und als ich mich noch einmal zu orientieren versuchte und gewahrte, dass die Bewohner der Stadt unermüdlich ihren Bestrebungen nachgingen, schlich sich das Chaos direkt in mein Hirn.
Ich besaß keine Möglichkeit, die Länge meines Aufenthalts auf jener Insel zu berechnen. Die Zeit schien keine rechte Bedeutung mehr zu haben. Aber selbst wenn es anders gewesen wäre, befand ich mich in einem geistigen Zustand, der keine genauen Berechnungen zuließ. Alles war so unmöglich und unwirklich, glich einer absurden und unangenehmen Halluzination. Und während der Hälfte der Zeit flüchtete ich mich in den Glauben, alles sei bloß eine Fortsetzung meines Deliriums – und ich treibe noch immer im Boot auf dem offenen Meer herum. Immerhin war dies die vernünftigste Annahme. So wundere ich mich nicht, dass jene, die meine Geschichte vernommen haben, sich anderen Erklärungen verweigern. Und ich selbst würde gerne beipflichten, gäbe es da nicht ein oder zwei gewichtige Details ...
Die Art und Weise, wie ich meine Zeit auf der Insel zubrachte, ist mir ziemlich vage im Gedächtnis geblieben. Mir ist noch erinnerlich, dass ich unter den Sternen geschlafen habe, außerhalb jener Stadt, und ferner, dass ich gegessen und getrunken habe und jene Leute Tag für Tag beobachtete, wie sie ihre hoffnungslosen Studien betrieben. Manches Mal drang ich in die Häuser ein und nahm mir Nahrung. Ein- oder zweimal, wenn ich mich richtig besinne, habe ich gar auf einer Liege in einem Zimmer geschlafen, ohne von den Eigentümern beachtet oder verscheucht zu werden. Es gab nichts, was den Bann ihrer Besessenheit brechen oder sie dazu bringen konnte, mich wahrzunehmen, und alsbald gab ich diese Versuche auf. Im Laufe der Zeit wollte es mir scheinen, dass ich selbst nicht weniger unwirklich geworden war, nicht weniger zweifelhaft und substanzlos – geradeso, wie es ihre Missachtung mir gegenüber anzudeuten schien.
Mitten in meiner Verwirrung ertappte ich mich jedoch bei der Frage, ob es wohl möglich sei, von dieser Insel fortzukommen. Ich entsann mich meines Bootes und daran, dass ich keine Ruder besaß. Doch von nun an widmete ich mich zaghaften Vorbereitungen zur Abreise. Bei hellem Tageslicht und unter den Augen der Stadtbewohner nahm ich zwei Ruder von einer der Galeeren im Hafen an mich und trug sie über die Hügelkette davon – zu jenem Ort, an dem mein Boot versteckt lag.
Die Ruder waren sehr schwer, ihre Blätter breit wie Fächer und ihre Griffe über und über verziert mit Hieroglyphen aus Silber. Auch eignete ich mir aus einem der Häuser zwei Tonkrüge an, bemalt mit barbarischen Gestalten, und trug sie zur Lagune, in der Absicht, sie bei meiner Abfahrt mit frischem Wasser zu füllen. Außerdem verschaffte ich mir einen Vorrat an Lebensmitteln. Doch irgendwie lähmte die hirnvernebelnde Rätselhaftigkeit all dessen meine Initiative. Selbst als ich alles zusammengetragen hatte und bereit für die Abreise war, zögerte ich noch. Ich fühlte, dass auch die Städter unzählige Male versucht haben mussten, in ihren Galeeren zu entkommen – und immerfort war es misslungen. Und so verhielt ich mich abwartend wie ein Mensch im Griff eines lächerlichen Albtraums.
Eines Abends, als wiederum all jene merkwürdig verschobenen Sternkonstellationen am Firmament erschienen waren, merkte ich, dass etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Die Leute standen nicht mehr in Gruppen brütend und debattierend herum, sondern hasteten allesamt zu jenem tempelgleichen Bauwerk. Ich folgte ihnen und spähte zur Tür hinein.
Das Innere des Tempels wurde von zuckendem Fackelschein erhellt, der dämonische Schatten auf die Menge sowie auf das Götzenbild warf, vor dem die Versammelten ihre Köpfe neigten. Räucherdüfte brannten und düstere Gesänge erklangen in der vokalreichen Sprache, an die sich mein Ohr inzwischen gewöhnt hatte. Sie flehten das grässliche Abbild mit den Gorillaarmen und dem halb menschlichen, halb tierischen Konterfei an. Es fiel mir nicht weiter schwer, den Grund dafür zu mutmaßen. Anschließend ebbten die Gebete zu einem kummervollen Wispern ab, das Wallen der Weihrauchschwaden dünnte sich aus und das kleine Kind, das ich einmal gesehen hatte, stieß man auf einen leeren Platz zwischen der Versammlung und dem Götzenbild nach vorne.
Bis zu diesem Moment hatte ich geglaubt, der Gott bestehe aus Holz oder aus Stein – doch jetzt, in einem Aufblitzen aus Schrecknis und Bestürzung, fragte ich mich, ob dies womöglich ein Irrtum war. Denn die schrägen Augen öffneten sich weit und blinzelten hinab auf das Kind. Die langen Arme, die in Fingern mit Messerkrallen endeten, erhoben sich langsam und griffen nach vorn. Reißzähne spitz wie Pfeile manifestierten sich im bestialischen Grinsen der vorgebeugten Fratze! Das Kind war zur Regungslosigkeit erstarrt, gleich einem Vogel unter dem hypnotisierenden Blick der Schlange. Die wartende Menge regte sich nicht mehr, gab nicht einmal mehr ein Flüstern von sich ...
Ich vermag mich nicht zu erinnern, was dann geschah: Sooft ich mein Gedächtnis befrage, breitet sich lediglich eine Wolke aus Entsetzen und Dunkelheit in meinem Bewusstsein aus. Ich muss aus dem Tempel geflohen und im Sternenlicht über die Insel gehastet sein, doch auch hiervon finde ich nichts mehr in meinem Gedächtnis wieder.
Meine erste bewusste Erinnerung zeigt mir, wie ich durch den engen Spalt, der mich in die Lagune geführt hatte, seewärts ruderte und anhand der verdrehten und verzerrten Konstellation der Sterne einen günstigen Kurs einzuschlagen suchte. Danach folgten Tage auf einer glatten, unbewegten See unter einem Himmel von blendender Leuchtkraft und weitere Nächte unter den wahnsinnigen Sternen, bis die Zeit zu einer Ewigkeit gequälter Müdigkeit verfiel ... Bald waren meine Lebensmittel und mein Wasser zur Gänze verbraucht und Hunger und Durst und ein hitziges Tropenfieber voller schüttelnder, brodelnder Halluzinationen dominierten meine Wahrnehmung.
Eines Nachts kam ich für eine kurze Weile zu mir und lag auf dem Rücken, das Gesicht dem Himmel zugewandt. Erneuert strahlten dort die Sterne – die Sterne des richtigen Himmels, jenem, den ich kannte. Ich dankte Gott dem Herrn für den Ausblick auf das Kreuz des Südens, ehe ich wieder zurücksank in Koma und Delirium. Als ich abermals das Bewusstsein zurückerlangte, lag ich in einer Schiffskabine und ein Arzt beugte sich besorgt über mich.
Alle waren sehr freundlich zu mir auf diesem Schiff. Doch sobald ich begann, meine Geschichte zu erzählen, bedachten sie mich mit einem mitleidigem Lächeln, sodass ich nach einigen solcher Anläufe beschloss, lieber zu schweigen. Neugierig waren sie wegen der beiden Ruder mit den silberverzierten Griffen und der bemalten Krüge, die sie bei mir im Boot gefunden hatten, doch meinen Erklärungen schenkten sie keinen Glauben. Eine solche Insel und ein solches Volk könne es unmöglich geben, sagten sie, denn Ersteres stand im Widerspruch zu sämtlichem Kartenmaterial, das jemals angefertigt wurde, und Letzteres strafte sämtliche Ethnologen Lügen.
Oft wunderte ich mich selbst darüber, denn es gibt so viele Dinge, die ich mir nicht erklären kann. Existiert ein Teil des Pazifiks, welcher sich über Zeit und Raum hinaus erstreckt – eine ozeanische Vorhölle, in welche diese Insel durch die unerklärliche Katastrophe eines vergangenen Zeitalters verschlagen wurde, so wie auch Lemuria unter den Wellen versank? Wenn ja, durch welche Aufhebung der Dimensionsgesetze war ich befähigt worden, diese Insel zu erreichen und ihr wieder zu entfliehen?
Diese Angelegenheiten entziehen sich jeder Mutmaßung. Doch oft sehe ich in meinen Träumen die zur Unkenntlichkeit verzerrten Sternkonstellationen wieder und teile die Verwirrung und Verblüffung jenes verlorenen Volkes, wie es über seinen nutzlosen Karten grübelt und den höchsten Stand einer aus der Bahn geworfenen Sonne misst.