1

Ein Auto verlangsamte die Fahrt und hielt Schritt mit Linda. Sie tat, als hätte sie es nicht bemerkt. Stattdessen ging sie schneller und drückte die Bücher fester an ihre Brust.

Nun wünschte sie sich, das Angebot ihres Vaters angenommen zu haben, sie abzuholen. Aber sie war davon ausgegangen, in der Bibliothek Hal Walker über den Weg zu laufen. Hatte an einem Tisch in der Nähe des Eingangs gewartet und versucht, sich auf ihre Lektüre zu konzentrieren. Ihr Herz begann jedes Mal zu rasen, wenn sich die Tür öffnete. Betty war hereingekommen. Janice und Bill waren hereingekommen. Der Schwachkopf Tony war hereingekommen und ihr auf die Nerven gegangen, bis sie ihn angeraunzt hatte, endlich zu verschwinden. Nur Hal ließ sich nicht blicken.

»Hey, Linda, willst du mitfahren?«

Ihr Kopf schoss in Richtung Auto. Ein plumper alter Kombi. Tonys Wagen. Sie hätte es sich fast denken können. Linda sah, dass sich gleich drei undeutliche Gestalten auf den vorderen Sitzen drängten.

»Wie sieht’s aus?«, rief ein Junge durch das offene Fenster.

»Verpisst euch.«

»Ach, komm schon.«

Sie beschleunigte die Schritte, aber das Fahrzeug blieb neben ihr.

»Hältst dich wohl für was Besseres, hä?«

Linda ignorierte die Bemerkung und versuchte, die Stimme einzuordnen. Es war nicht die von Tony. Wahrscheinlich einer seiner vertrottelten Kumpel. Vielleicht Joel Howard, Duncan Brady oder Arnold Watson. Ein Haufen schmieriger Sonderlinge.

»Haut ab!«, rief sie.

»Keine Chance«, gab der Junge am Fenster zurück.

»Hört mal, Leute, ihr bekommt echt mächtig Ärger, wenn ihr nicht damit aufhört.«

»Womit sollen wir aufhören?«

»Vielleicht sollten wir ihr die Zunge rausschneiden«, schlug eine andere Stimme vor.

Linda erreichte die nächste Ecke und trat vom Bürgersteig auf die Straße. Der Kombi schoss herum und versperrte ihr den Weg.

»Ich warne euch ...«

Sie verstummte augenblicklich, als eine Tür aufflog.

Zwei Jungen sprangen heraus. Im Licht der Straßenlaterne erspähte sie ihre verzerrten, platten Gesichter. Sie wirbelte herum und wollte wegrennen, aber noch bevor sie den Bordstein überqueren konnte, schlang sich ein Arm um ihre Taille. Die Bücher polterten zu Boden. Mit einem plötzlichen Ruck wurde sie nach hinten gezogen. Sie versuchte zu schreien. Eine Hand presste sich auf ihren Mund und quetschte ihre Lippen gegen die Zähne. Sie wand sich und trat wild um sich. Ein Junge packte ihre Beine und zerrte sie in die Höhe.

Linda wurde zum Auto geschleift. Der dritte Junge öffnete die Hintertür. Die beiden anderen stießen sie hinein, und die Tür fiel mit einem lauten Knall zu.

Sie fand sich in völliger Dunkelheit wieder. Ein Junge, der sie von hinten unerbittlich festhielt, und ein weiterer, der sich auf ihre Beine setzte, um sie an der Flucht zu hindern. Linda versuchte, sich aus der Umklammerung zu lösen. Die Hand auf ihrem Mund drückte ihre Nasenlöcher zu. Sie bekam kaum Luft. Der Wagen fuhr los. Sie zog an der Hand, die sie fast erstickte. Der andere Arm lockerte sich kurz, dann hämmerte eine Faust in ihren Bauch. Es fühlte sich an, als sei eine Bombe explodiert, die ihre Lungen und ihr Herz zum Platzen brachte.

»Halt still.«

Sie fasste sich an die Brust und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Dabei bemerkte sie, dass die Hände des Jungen zu ihren Hüften hinuntergewandert waren. Er hielt sie zwar nach wie vor fest, zerquetschte sie aber nicht mehr regelrecht.

»Alles in Ordnung?«, fragte der Junge, der auf ihren Beinen hockte.

Linda konnte nicht antworten.

»Du hättest ihr nicht wehtun sollen, du Arschloch.«

»Sie hat sich gewehrt«, antwortete der Kerl in ihrem Rücken. Sie erkannte die weinerliche Stimme – Arnold Watson – und entschied, dass es besser war, ihr Wissen für sich zu behalten. Zumindest so lange, bis sie fliehen konnte.

Arnold stützte sie, als der Wagen mit hoher Geschwindigkeit um eine Kurve brauste.

Sie stellte fest, dass sie wieder atmen konnte, obwohl ihre Lungenflügel nach wie vor schmerzten. »Lasst mich gehen«, flehte sie. »Bitte.«

Arnold lachte hämisch. Sein Bauch schwabbelte dabei gegen ihren Rücken.

»Was wollt ihr eigentlich von mir?«

»Dich«, erwiderte er. »Und wir haben dich, nicht wahr? Die einzigartige Linda Allison.«

»Bitte! Lasst mich einfach gehen! Ich verspreche, ich werde niemandem ein Sterbenswörtchen erzählen. Ehrlich.«

»Du hattest deine Chance.«

»Was?«

»Du hättest nett zu uns sein sollen, als du noch Gelegenheit dazu hattest. Aber du hältst dich ja für was Besseres und behandelst uns immer wie den letzten Dreck.«

»Tu ich nicht. Ich hab nie ...«

»Weißt du, wir haben auch Gefühle. Die Frage ist: Gilt dasselbe für dich?«

»Natürlich. Um Himmels willen ...«

»Jetzt kriegst du die Rechnung präsentiert.«

»Was habt ihr ...« Linda konnte sich nicht überwinden, den Satz zu beenden. Sie wollte die Antwort gar nicht hören.

»Wir haben Pläne mit dir.«

»Nein! Lasst mich einfach laufen. Bitte!«

»Wirklich interessante Pläne.«

»Sag’s ihr«, schlug der Junge auf ihren Beinen vor.

»Verdammt, nein. Sie soll sich ruhig das hübsche Köpfchen zerbrechen. Richtig?«

»Richtig«, pflichtete der Fahrer dem anderen bei. »Darf sich in ihrer Fantasie alle möglichen deftigen Sachen ausmalen.« Obwohl die Stimme tief und heiser klang, vermutlich, um sie zu tarnen, wusste Linda, dass sie zu Tony gehörte. »Was glaubst du wohl, was wir mit dir anstellen werden, du kleines Miststück?«

»Bitte lasst mich gehen. Es tut mir leid, wenn ich eure Gefühle verletzt habe.«

»Dafür ist es jetzt zu spät.«

»Bitte.«

»Wer weiß?«, meinte Tony. »Vielleicht wirst du vergewaltigt oder gefoltert. Vielleicht versauen wir dir deine schicke Visage mit Batteriesäure oder einem Messer. Na, wie würde dir das gefallen?«

Linda begann zu weinen.

»Vielleicht wirst du auch in kleine Scheibchen geschnitten. Zuerst die Zehen und Finger, danach vielleicht diese herrlich großen Titten ...«

»Hör auf damit«, sagte der Junge auf ihren Beinen.

Tony lachte. »Ich wette, du kannst schon spüren, wie das Messer ...«

»Gib nichts auf das, was er da erzählt. Wir wollen dir nicht wehtun.«

»Verlass dich besser nicht drauf.«

»Hey, du hast gesagt, wir ...«

»Ich weiß, ich weiß.«

»Mach schon, verrat’s ihr«, meldete sich Arnold zu Wort.

»Na gut. Also, es wird Folgendes passieren. Du kennst doch das alte Freeman-Haus, oder?«

»Ja«, antwortete sie schluchzend und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Es steht immer noch leer. Niemand will es kaufen. Angeblich spukt’s dort. Die Leute erzählen sich, dass die Geister der Leichen in den Wänden ächzen, wo der verrückte Jasper sie damals eingemauert hat. Und er selbst soll nachts durchs Haus streifen, um nach frischem jungem Mädchenfleisch zum Zerstückeln Ausschau zu halten. Nach Mädchen wie dir.«

»Er ist tot«, murmelte Linda.

»Es ist ja auch sein Geist«, flüsterte Arnold. »Und er will dich.«

»Klingt verlockend, oder?«, fragte Tony. »Ein wunderbarer Ort, um dort die Nacht zu verbringen.«

»Das werdet ihr nicht ...«

»Oh doch, das werden wir.«

In ihre Furcht mischte sich etwas Erleichterung. Tony hatte nur von Vergewaltigung und Folter gesprochen, um ihr Angst einzujagen. Tatsächlich ging es nur darum, sie allein im Freeman-Haus einzusperren.

Nur.

Oh Gott!

Aber Jasper hatte sich im Gefängnis erhängt. Es bestand kein Grund, sich zu fürchten.

So etwas wie Geister gab es nicht.

Aber allein in dem Haus zu bleiben ...

»Ihr seid verrückt«, murmelte Linda.

»Ja«, bestätigte Tony. »Wirklich verrückt. Trotzdem nicht halb so verrückt wie der alte Jasper.« Linda spürte, wie der Wagen langsamer wurde und abbog. »Da sind wir. Dein neues Zuhause.«

Das Auto bremste. Tony stieg aus. Er öffnete die Hintertür, und Linda wurde mit den Füßen voran aus dem Wagen gezogen. Die Jungen halfen ihr auf die Beine und stützten sie. In der Schwärze der Nacht wirkten ihre Gesichter seltsam gestreckt und verzerrt, ihre Haare wie aufgemalt. Da erkannte Linda, dass der Effekt durch selbst gebastelte Masken aus Nylonstrumpfhosen verursacht wurde. Das änderte nichts. Sie hatte trotzdem das unbestimmte Gefühl, dass es sich um Fremde handelte, die lediglich vortäuschten, Tony zu sein, und Arnold und – wer war der Dritte, Joel?

»Gehen wir«, sagte der Kerl mit Tonys Stimme. Er setzte sich in Bewegung und näherte sich der Pforte im niedrigen Lattenzaun. Die anderen beiden hielten Linda jeweils an einem Arm fest und drängten sie vorwärts.

Das Freeman-Haus ähnelte vielen älteren Gebäuden in Claymore. Es handelte sich um ein zweistöckiges Bauwerk mit Veranda und einem Wohnzimmer im Erdgeschoss, dessen riesiges Panoramafenster bis zum Boden reichte. Jemand hatte es gut in Schuss gehalten. Der Rasen war frisch gemäht. Nur die geschlossenen Läden der oberen Fenster und das Schild mit der Aufschrift ZU VERKAUFEN, IMMOBILIENMAKLER LELAND verrieten, dass es leer stand.

Die Scharniere knarzten, als Tony das kleine Holztor aufschob. »Ich frage mich, ob Jasper das wohl gehört hat«, flüsterte er.

Arnold lachte leise, aber seine Finger gruben sich im selben Moment tiefer in Lindas Oberarm hinein. Er hat Angst, dachte sie. Er will genauso wenig da rein wie ich.

Sie schaute nach rechts. Dort war nur der zu dieser Zeit wie ausgestorben daliegende Golfplatz zu sehen, auf dessen verlassenem Grün ein Rasensprenger zischte. Zu ihrer Linken erkannte sie das ebenfalls leer stehende Benson-Haus.

Auch aus anderer Richtung war keine Hilfe zu erwarten. Linda wusste, dass sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite lediglich ein Laden für Anglerbedarf befand – abends natürlich geschlossen.

Ihre Schulkameraden zwangen sie, dem Gehweg zu den Holzstufen zu folgen und die Veranda zu betreten. Linda rechnete damit, dass die Eingangstür abgesperrt sein würde, aber Tony drehte den Knauf, und sie schwang auf.

Offenbar waren sie schon vorher hier gewesen und hatten sich Zugang zum Haus verschafft ... Es war keine spontane Schnapsidee gewesen, sondern ein vorbereiteter Plan.

»Jemand zu Hause?«, rief Tony in die Dunkelheit hinein.

»Nur wir Geister«, antwortete Arnold und kicherte nervös.

Tony trat ein. Er bedeutete den anderen mit einer Handbewegung, ihm zu folgen, und sie führten Linda ins Haus. Die Luft fühlte sich kalt an, als hielte jemand den Frost des Winters in dem alten Gemäuer gefangen, während er der Junihitze den Zutritt verwehrte. Die Kälte kroch Lindas nackte Beine hoch, drang durch den dünnen Stoff ihrer Bluse und verursachte eine Gänsehaut.

Arnold stieß die Tür mit dem Fuß zu. Mit einem Knall, der düster durch die leer stehenden Räume hallte, fiel sie ins Schloss.

»Laut genug, um die Toten aufzuwecken«, flüsterte Tony.

Wieder kicherte Arnold.

»Beeilen wir uns«, meinte der andere Junge.

»Nervös?«, wollte Tony wissen.

»Scheiße, ja.«

Sie führten Linda durch die dunkle Diele. Sie bemühte sich, nur ganz leicht den Boden zu berühren, die Füße von der Ferse zu den Zehen abzurollen und möglichst kein Geräusch zu verursachen. Ihr fiel auf, dass alle drei Jungs es ähnlich machten. Arnold, der ihren rechten Arm umklammerte, zuckte zusammen, als ein Bodenbrett unter seinem Gewicht knarrte.

Am Fuß der Treppe blieb Tony stehen. Er legte den Kopf in den Nacken, als müsste er sich erst einen Reim auf die Finsternis am oberen Ende der Stufen machen. »Jaspers Zimmer war im ersten Stock«, murmelte er. »Eine der Leichen entdeckte man in seinem Bett. Er hatte ... davon genascht. Angeblich wurde der Kopf nie gefunden.«

»Kommt jetzt«, meldete sich der Junge an Lindas linker Seite zu Wort. Joel. Mittlerweile war sie überzeugt davon. »Verschwinden wir von hier.«

»Bevor uns die Eier abfrieren«, fügte Arnold hinzu.

Tony drehte sich um. Er ließ eine mitgenommene Seilrolle von der Schulter gleiten. »Bringt sie her.«

Die beiden anderen zerrten an Lindas Armen. Sie trat Arnold auf den Fuß. Er grunzte, und sein Griff lockerte sich. Linda riss den Arm los, wirbelte zu Joel herum und rammte ihm den Ellenbogen ins Gesicht. Er taumelte rückwärts und ließ sie los. Sie preschte durch die Dunkelheit davon. Ihre Hände tasteten panisch über das Holz, das zwischen ihr und der Freiheit lag, während eilige Schritte auf sie zukamen. Sie fand den Knauf. Drehte ihn. Dann prallte etwas gegen ihren Rücken. Sie wurde nach vorn geschleudert, und in ihrem Kopf explodierten Schmerzen, als sie gegen die Tür krachte.

Ein dumpfer Schmerz pochte hinter ihrer Stirn. Linda versuchte, ihre Gesichtsmuskeln zu lockern. Sie verspürte ein Brennen, als sich die Haut spannte.

Blinzelnd öffnete sie die Augen und sah, dass ihre Hände im Schoß gefesselt waren. Das helle Seil verlief nach oben zum Treppengeländer.

Linda kauerte in einer denkbar unbequemen Position auf der dritten Stufe. Ihr Rücken schabte unangenehm an den Streben des Geländers. Die Beine baumelten nach unten, ihre Füße erreichten gerade so den Boden. Auch die Fußgelenke waren gefesselt.

Also hatten sie es wirklich getan. Sie hatten sie festgebunden und allein im Haus zurückgelassen.

Oder waren sie vielleicht noch hier?

Von hier aus konnte sie nicht allzu viel sehen: den Eingang, geschlossene Türen auf der linken Seite der Diele, die rechte Ecke des Wohnzimmers mit einem Teil des Panoramafensters, außerdem einen schmalen Korridor, der neben der Treppe verlief. Das einzige Licht stammte vom Mondschein, der durchs Fenster fiel. Er zeichnete einen fahlen Fleck auf den Boden des Wohnraums.

Keine Spur von den Jungen. Entweder hatten sie das Haus längst verlassen, oder sie lagen irgendwo auf der Lauer.

»Leute?«, fragte sie mit Flüsterstimme. »Hey, ich weiß genau, dass ihr hier seid. Ihr versteckt euch nur vor mir.«

Sie wartete. Im Haus herrschte Totenstille.

Linda begann zu frösteln. Sie versuchte sich, so gut es die Fesseln eben zuließen, mit den Armen aufzuwärmen.

»Leute?«

Wahrscheinlich sind sie irgendwo ganz in der Nähe, dachte sie. Die kauern nebeneinander im Wohnzimmer, knuffen sich in die Seite und versuchen, nicht loszuprusten. Früher oder später würden sie aus ihrem Versteck herauskommen.

»Na schön«, murmelte sie. »Wie ihr wollt.«

Sie sah sich ihre prekäre Lage genauer an. Das Seil war um das Treppengeländer geschlungen und an ihren Handgelenken verknotet. Sie verdrehte die Arme. Wenn sie den Kopf nach vorn streckte, konnte sie mit den Zähnen den Knoten mit Ach und Krach erreichen. Sie biss hinein und zerrte daran. Das Seil gab keinen Millimeter nach. Ihre Zunge erkundete den Verlauf der Schlaufen und stieß auf mehrere übereinanderliegende Knoten.

Ihre Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an. Ihr Kinn bebte, und sie blinzelte sich Tränen aus den Augen. Frustriert sackten ihre Schultern hinab.

»Kommt schon, Jungs«, bettelte sie. »Ihr habt euren Spaß gehabt. Ich habe meine Lektion gelernt. Bindet mich jetzt bitte los.«

Irgendwo über Linda knarrte eine Holzdiele. Sie sog scharf die Luft ein, riss den Kopf herum und spähte die Treppe hinauf. Sie hielt den Atem an und wartete.

Nichts als undurchdringliche Dunkelheit.

Das sind bloß die Jungs, redete sie sich ein. Sie haben sich nicht im Wohnzimmer versteckt, sondern oben.

Verpisst euch!, wollte sie brüllen.

Stattdessen presste sie den Mund so fest zusammen, dass ihre Zähne schmerzten.

Sie vernahm ein weiteres leises Ächzen von Holz. Von oben, aber etwas weiter links als vorher. Als schleiche jemand sehr langsam durch den Flur in der oberen Etage.

Die Vorstellung ließ ein Wimmern in ihrer Kehle aufsteigen.

Linda hechtete vom Geländer weg. Das Seil spannte sich. Sie ignorierte die Schmerzen in den Handgelenken und zerrte wie wild daran. Das Geländer knarzte und wackelte ein wenig, aber es hielt stand. Das Seil ebenfalls.

Sie winkelte die Beine an, bugsierte die gefesselten Füße auf die nächsttiefere Stufe, kauerte sich hin und drückte, so fest sie konnte, gegen das Geländer. Ihre Schulter krachte gegen den Handlauf. Schmerzen rasten durch ihren Körper. Sie prallte zurück und geriet ins Taumeln, während das Seil an ihren Handgelenken zerrte. Sie schwang zur Seite. Ihre andere Schulter wurde gegen den Treppenpfosten geschleudert.

Wie betäubt vor Qual hing sie da, die Füße nach wie vor auf der zweiten Stufe, der Körper gegen das Geländer gedrängt. Nahezu ihr gesamtes Körpergewicht lastete auf ihren lädierten Handgelenken. Als sie mühsam versuchte, sich aufzurichten, riss das Seil endgültig. Sie fiel. Rücken und Kopf schlugen auf dem Boden auf.

Zunächst blieb sie benommen liegen. Erst als die Schmerzen langsam nachließen, begriff sie, dass sie frei war. Zumindest ihre Hände.

Wenn sie jetzt noch die Fesseln an ihren Füßen lösen konnte ...

Linda öffnete die Augen und hob den Kopf. Ihr Rock war zerknittert und nach oben gerutscht, die Umrisse ihres Slips hoben sich hell von der Dunkelheit ab, ihre nackten Beine hingen seltsam verkrümmt auf der zweiten Stufe.

Sie zog die Knie an, spreizte sie, fasste mit den gefesselten Händen dazwischen und fummelte an den Knoten des Seils herum. Plötzlich zog eine Bewegung am Kopf der Treppe ihre Aufmerksamkeit auf sich.

In der Dunkelheit stand eine düstere Gestalt.

Linda stieß den Atem aus, als hätte ihr jemand in den Bauch geschlagen. Sie pinkelte unkontrolliert und umkrampfte panisch die Knoten des Seils, während die warme Flüssigkeit an ihrem Hintern entlanglief.

Ihr Blick verharrte auf der reglosen Figur, die einfach nur dastand.

Mit einem Ruck gelang es Linda, einen der Knoten zu lösen. Sie trat mit aller Kraft um sich. Die Fesseln hielten. Noch ein Knoten. Sie bekam ihn zu fassen, zupfte daran herum und schrie vor Schmerz auf, als ein Fingernagel tief einriss.

Ein Arm des Unbekannten schwang nach vorne. Ein fahler Gegenstand schien sich daraus zu lösen. Kurz hing er in der Luft, dann fiel er und landete mit einem vernehmlichen Knall auf halber Höhe der Treppe. Linda spähte durch die Lücke zwischen ihren Beinen und beobachtete, wie das Ding im Dunkeln die restlichen Stufen herabkullerte. Wehendes Haar, ein verschwommenes Gesicht.

Unwillkürlich bahnte sich aus ihrer Kehle ein Wimmern den Weg nach draußen. Am liebsten hätte sie sich aus dem Weg gerollt, aber der Knoten schien sich nun endlich zu lösen. Linda riss mit aller Wucht am Seil. Im selben Moment, als der Gegenstand von der untersten Stufe polterte und gegen ihren Hintern rollte, leistete der Knoten endlich keinen Widerstand mehr. Ein weit aufgerissenes Auge starrte sie durch ihre gespreizten Beine hindurch an. Mit einem gellenden Schrei strampelte sich Linda frei und rollte sich zur Seite. Sie drehte sich auf den Bauch und ließ den Blick vom abgetrennten Kopf zur Treppe wandern.

Die Gestalt war bereits die Hälfte der Stufen heruntergelaufen und bewegte sich so langsam, als hätte sie alle Zeit der Welt. Sie erkannte einen nackten, knochigen und leichenblassen Mann. Ein dunkler Bart hing ihm bis auf die Brust. In den Händen hielt er einen länglichen Gegenstand – eine Axt!

Linda rappelte sich hastig auf. Sie taumelte rücklings, wirbelte herum und raste zur Tür, prallte mit der Schulter dagegen. Ihre Hände sausten nach unten und suchten nach dem Knauf.

Sie fanden ihn!

Ihre verschwitzten Finger bekamen ihn zu fassen. Linda wich einen Schritt zurück, riss die Tür nach innen auf und brüllte vor Schmerz, als die Kante gegen ihr Knie hämmerte. Ihr Bein knickte ein. Sie landete hart auf dem Hintern und ließ den Türknauf dabei los.

Im trüben Licht, das von der Veranda hereindrang, beobachtete sie, wie der Mann langsam auf sie zukam. Den Kopf hatte er schief gelegt. Offene Wundstellen bedeckten sein Gesicht, die Zunge baumelte unkontrolliert aus dem Mund.

»Nicht!«, kreischte Linda.

Er hob die Axt in die Höhe.

Mit ihrem unverletzten Bein stieß sich Linda nach hinten ab. Sie rutschte über die Türschwelle und plumpste auf die Veranda. Sofort wälzte sie sich herum, mühte sich auf die Knie und kroch auf die Stufen zu. Sie segelte mit einem Hechtsprung darüber hinweg und knallte mit den Fingerknöcheln voran auf den Gehweg. Die Wucht des Aufpralls ließ ihre Brüste und Oberschenkel hochklatschen und presste ihr die Luft aus den Lungen. Benommen rollte sie sich wieder auf den Rücken.

Sie setzte sich auf und spähte zur Veranda hinauf.

Die Eingangstür des Freeman-Hauses schwang langsam zu.

Drinnen senkte Tony die Axt und lehnte sich gegen den Ausgang. Er wischte sich das Make-up aus dem Gesicht und zerrte an dem falschen Bart.

Trotz der frostigen Luft war ihm nicht kalt.

Das Zittern, das durch seinen nackten Körper lief, hatte nichts mit Kälte zu tun.

Sondern mit Erregung.

Er hatte sich selbst eine Heidenangst eingejagt. Sein Herz hämmerte wie wild, seine Eingeweide fühlten sich verkrampft an. Die Hände fuhren an seinem Körper entlang und ertasteten eine Gänsehaut und verhärtete Brustwarzen. Sein Penis war zusammengeschrumpft, als wollte er sich verstecken, seine Hoden kaum größer als Walnüsse.

Mein Gott, was für ein Adrenalinschub!

Mit der Axt über der Schulter bahnte er sich den Weg durch die dunkle Diele. Unterwegs bückte er sich und hob den Kopf der Schaufensterpuppe an den Haaren auf, bevor er voller Tatendrang die Treppe zurück ins dunkle Obergeschoss in Angriff nahm.

10

»Wie wär’s hier?«, fragte Heather.

»Gehen wir eine Reihe weiter«, schlug Steve vor. Das Kino war alles andere als überfüllt, deshalb hätte er es für unhöflich gehalten, sich ausgerechnet vor das Paar zu setzen, das bereits Platz genommen hatte. »Passt das?«, wollte er wissen.

»Perfekt.«

»Willst du den Sessel am Gang?«

»Ist mir egal.«

Steve liebte die Plätze am Rand, weil er dort seine langen Beine richtig ausstrecken konnte. Wenn er sich jedoch dort hinsetzte, würde vielleicht ein Fremder auf der anderen Seite von Heather landen, und diese Vorstellung fand er nicht besonders prickelnd. Heather wahrscheinlich auch nicht. Auf jeden Fall würden sie perfekt sehen können. Vor ihnen war noch alles frei.

Er trat in die Reihe und überließ Heather den Außenplatz. Sie strich ihren Rock von hinten gegen die Beine und machte es sich bequem. Ihre bloßen Knie lugten hervor. Nylonstrümpfe trug sie nicht.

»Welcher Film kommt zuerst?«, hakte sie nach.

»Ich glaube Die Augen des Wahnsinnigen.«

Sie zog die Schultern hoch und tat so, als würde ihr ein eisiger Schauer über den Rücken laufen.

»Ich hoffe, er ist nicht zu blutig für dich.«

»Je blutiger, desto besser«, gab sie zurück.

Er drückte Heather einen Pepsi-Becher mit Strohhalm in die Hand.

»Hast du den gesehen, in dem das Mädchen skalpiert wurde?«, fragte sie.

»Ja.«

»Der war echt eklig.« Sie riss die Papierverpackung des Strohhalms auf, schob die dünne Hülle ein Stück vor und zwirbelte das andere Ende zusammen. »Ich hab damit früher immer geschossen, du auch?«

»Ja.«

»Kommt mir aber so kindisch vor.« Steve zuckte mit den Schultern.

Lachend blies sie die Verpackung in seine Richtung. Die Papierhülle sauste an seiner Wange vorbei und landete auf dem Kinosessel neben ihm.

Er hielt ihr seinen Strohhalm hin. »Willst du’s noch mal probieren?«

»Warum nicht? Man ist nur einmal 16, wie mein Dad immer sagt.« Sie zielte auf Steve und blies. Er schloss die Augen. Die Verpackung tippte gegen sein Lid und fiel herunter. »Oh nein. Alles in Ordnung?«

»Klar.«

Sie senkte den Kopf und lugte ihn unter dem Vorhang brauner Strähnen hervor an, verlegen, aber mit einem verschmitzten Grinsen. »Tut mir echt leid.«

»Das halte ich schon aus.«

Sie gab ihm seinen Strohhalm zurück. Er stach ihn durch das X auf dem Plastikdeckel seiner Cola. Die Spitze wies einen rosa Fleck von Heathers Lippenstift auf. Er stülpte den Mund darüber.

Dorthin, wo ihr Mund gewesen war.

Der Gedanke löste ein warmes Gefühl in ihm aus. Fast wie ein Kuss. Er hatte Heather noch nie geküsst, aber an diesem Abend, wenn er sie nach Hause brachte, wollte er es wenigstens versuchen.

Steve trank einen Schluck. Als er das Plastikrohr aus dem Mund zog, konnte er ihren Lippenstift schmecken.

Würde sie sich von ihm küssen lassen? Immerhin war es ihre erste Verabredung, und ... Doch, sie würde es zulassen. Sie musste ihn mögen, sonst wäre sie nicht mitgekommen.

Heather sicherte sich eine großzügige Handvoll Popcorn und drückte den Eimer dabei leicht auf seinen Schoß. Bei dem Gefühl hätte er am liebsten mit seinem Becken hineingestoßen.

Er genehmigte sich selbst eine Portion aus dem Eimer, begann zu kauen und beobachtete sie dabei. Heather saß leicht nach vorn gebeugt mit gesenktem Kopf da und futterte aus ihrer hohlen Hand.

Die Öffnungen ihrer Bluse zwischen den Knöpfen klafften wie verzogene Münder. Darunter lugten eine schattige Wölbung der Haut und die Ecke eines weißen, spitzenbesetzten BHs hervor. Mit trockenem Mund und hämmerndem Herzen glotzte Steve unverhohlen auf die verlockende Andeutung. Heiße Erregung ließ sein Glied anschwellen.

Dann wurden die Lichter im Saal gedimmt.

Erleichtert, aber enttäuscht wandte er den Blick von ihr ab. Zweifellos konnte nichts auf der Leinwand dem das Wasser reichen, was er soeben durch das unfreiwillige Guckloch in Heathers Bluse erspäht hatte.

Sie griff erneut in den Popcorneimer. Der leichte Druck, den ihre Hand verursachte, war fast zu viel für ihn. Steve schlug die Beine übereinander, um die Enge in seiner Hose zu bekämpfen. Pepsi vertrieb die Trockenheit aus seinem Mund. Er leckte sich über die Lippen, aber der Geschmack ihres Lippenstifts war inzwischen verschwunden.

Ein Trailer zu Todesgrinsen begann.

»Oooh!«, flüsterte Heather. »Der sieht geil aus.«

»Ja.« Vielleicht würde er sie wieder ins Kino einladen, wenn der Film lief. Ein Mann ließ sich auf den Sitz vor Heather plumpsen. Was für ein Arsch. Bei so vielen freien Plätzen ...

»Kannst du gut sehen?«, erkundigte sich Steve.

»Geht schon.«

»Willst du die Plätze wechseln?«

»Na ja ... Setzen wir uns einen weiter rüber.«

Sie taten es.

Der Trottel vor ihnen rutschte auf seinem Sitz nach unten und stützte die Knie gegen die Lehne des Stuhls vor ihm. Eine dunkle Mütze bedeckte seinen Kopf. Steve konnte darunter keinen Haaransatz erkennen und fragte sich, ob der Mann möglicherweise eine Glatze hatte. Eigentlich schien er zu jung dafür zu sein. Vielleicht rasiert er sich den Schädel. Nur ein echter Trottel würde so etwas machen.

Als der Film begann, konzentrierte Steve sich wieder auf das Geschehen auf der Leinwand.

Eine Frau stand unter der Dusche und summte vor sich hin, während sie sich einseifte. Wasser strömte über ihren Rücken und ihr Hinterteil. Sie drehte sich um. Steve betrachtete ihre kleinen, glänzenden Brüste, ihre Nippel und den Keil dunkler Schambehaarung in ihrem Schritt. Er spürte eine warme Regung zwischen den Beinen, die sich jedoch nicht mit dem jäh aufflammenden Verlangen vergleichen ließ, dass er empfunden hatte, als er verstohlen zu Heather spähte.

Die Frau wandte der Kamera den Rücken zu. Sie drehte die Wasserhähne zu und zog den Duschvorhang auf. Heather zuckte zusammen, als plötzlich schrille Musik durch den Kinosaal hallte und Hände in Lederhandschuhen einen Schürhaken in den Bauch der Frau rammten. Die Spitze durchbohrte die Haut und versank samt Haken tief im Fleisch ihres Körpers. Die Musik wurde lauter, als die Schönheit rückwärts gegen die Wand der Dusche gestoßen wurde. Die behandschuhten Hände drehten den Schürhaken herum. Blut strömte aus dem Mund der Frau. Dann wurde der Schürhaken langsam herausgezogen. Die Spitze des Hakens spannte das Fleisch unterhalb der ursprünglichen Wunde, durchbrach es, riss einen Hautlappen heraus und zog glitschige Gedärme aus dem Bauch.

Heather wandte den Kopf ab und presste die Lider zusammen. Dann öffnete sie vorsichtig ein Auge und schaute zu Steve. »Ist es vorbei?«

»Gleich.«

»Auweia!«

»Okay, jetzt hast du’s überstanden.«

Heather ließ sich auf ihrem Sitz tief nach unten rutschen und seufzte.

Der Mann in der Reihe vor ihnen drehte sich grinsend um. Sein Gesicht wirkte blass und knochig, seine Augen waren in den dunklen Schatten ihrer Höhlungen kaum erkennbar. »Tolle Special Effects, was?«

»Ja«, murmelte Steve bestätigend.

Heather nickte. Sie setzte sich aufrechter hin und beugte sich von dem Fremden weg.

»Wisst ihr, wer die gemacht hat? Danielle Larson.«

»Eine Frau?«, hakte Steve nach.

»Die Königin der Horrorspezialeffekte. Wisst ihr, ich arbeite mit ihr zusammen.«

»Tatsächlich?«

»Eine tolle Frau. Und obendrein noch wunderschön.«

»Das ist ja sehr interessant.«

»Wenn ihr das schon für gut haltet, solltet ihr erst unseren nächsten Film sehen. Bei dem werdet ihr euch vor lauter Angst in die Hosen machen.«

Steve nickte. Er holte tief Luft, als sich der junge Mann abwandte. Die unübersehbare Anspannung fiel von Heather ab. Sie schaute Steve an, verdrehte die Augen und lehnte den Kopf an seine Schulter. So verharrte sie, während sie an ihrer Pepsi nippte, Popcorn aß und sich den Film ansah. Manchmal kitzelte ihr Haar Steves Wange.

Auf der Leinwand versammelten sich fünf junge Frauen zur Beerdigung ihrer Freundin.

»Die erwischt es alle noch«, vermutete Heather.

»Bis auf eine.« Das Reden entspannte seine Nerven.

»Ja. Ich wette, die Blonde mit den Sommersprossen überlebt.«

»Gut möglich«, erwiderte er und wischte sich die ölige Hand an einer Serviette ab. Ein Flattern ging durch seinen Magen. »Ist es in Ordnung, wenn ich ...?«, murmelte er und legte den Arm um ihre Schulter. Ihr Kopf kehrte zurück, als wäre nichts geschehen. Zärtlich streichelte er über ihren Hals. Dann rührte sich seine Hand längere Zeit nicht mehr. Er hatte einen großen Schritt gewagt und musste sich erst an das neue Gefühl gewöhnen.

»Oh oh«, machte Heather.

Eine der fünf Frauen, eine schlanke Brünette, ließ ihren Freund an einem abgeschiedenen, lauschigen Plätzchen anhalten.

»Jetzt sind sie dran«, ahnte sie.

Steve drückte ihre Schulter, als wollte er sie trösten. Das Pärchen umarmte sich auf den Vordersitzen des Autos. Beide stöhnten, als sie sich mit beeindruckendem Zungeneinsatz küssten. Dann knöpfte der Mann die Bluse der Frau auf. Sie trug keinen BH.

Steves Daumen strich durch Heathers Bluse über den Träger ihres Büstenhalters.

Die Brüste zeichneten sich in der Dunkelheit des Autos bläulich-grau ab, die Nippel beinahe schwarz. Rasch bedeckte sie der Mann mit den Händen.

Keuchend rieben sich die beiden aneinander.

»Gleich ist es soweit«, flüsterte Heather.

Sie zuckte zusammen, als etwas gegen die Windschutzscheibe klopfte.

Steve streichelte ihren Oberarm.

Die Frau hob den Blick zum Fenster und kreischte.

Heather zuckte erneut zusammen. Sie vergrub ihre Finger in Steves Bein.

Eine behandschuhte Faust durchschlug die Scheibe, packte die Frau an den Haaren, riss sie aus den Armen ihres verdutzten Geliebten und zog den Kopf durch das gezackte Loch. Das Glas schlitzte blutige Schrammen in ihr Gesicht. Der schwarz gekleidete Wahnsinnige, der eine Skimaske trug, hüpfte auf der Motorhaube des Wagens herum wie ein wütender Gorilla. Dabei hielt er die Haare der Brünetten weiter fest und zerrte ihren Kopf hin und her, bis die Windschutzscheibe schließlich ihren Hals durchtrennte. Der Mörder drückte sich den blutenden Schädel an die Brust und rannte damit in den Wald davon, während der Mann im Auto wie am Spieß brüllte und auf den Halsstumpf seiner Freundin starrte, aus dem das Blut in hohen Fontänen herausschoss.

Steve löste den Griff um Heathers Schulter. Sie lockerte den Griff um sein Bein, ließ ihre Hand aber als warmen Druck auf seinem Oberschenkel liegen.

Der Mann in der Reihe vor ihnen drehte sich wieder zu ihnen um. »Sauber abgetrennt, was?«

»Ja«, gab Steve zurück.

Heather griff nach mehr Popcorn.

»Genau, sauber abgetrennt. Kann ich was davon abhaben?«

»Popcorn?«, fragte Steve nach.

»Gebt mir was ab. Das esst ihr doch nie und nimmer alles auf.« Er griff über die Rückenlehne seines Sitzes. Seine Hand bewegte sich über Heathers Knie. Ihr Körper erstarrte. Steve schob den Popcorneimer unter die Hand, und der Fremde griff sich eine große Faust voll. Er stopfte sich die Körner in den Mund und bediente sich erneut.

»Hey, Mann«, schimpfte Steve. »Wir versuchen eigentlich, uns den Film anzusehen.«

Der junge Mann setzte ein spöttisches Lächeln auf, während er kaute. Er griff noch einmal in den Eimer und nahm sich eine dritte Handvoll, dann drehte er sich wieder zur Leinwand um.

Heather stieß zitternd den Atem aus. Sie beugte sich näher an Steve heran und flüsterte: »Rücken wir noch ein Stück weiter.«

Steve nickte. Er fühlte sich selbst angespannt: vor Zorn, vor Verlegenheit und auch ein wenig vor Angst. Genau wie er sich fühlte, wenn er auf der Straße von Obdachlosen angepöbelt wurde, die ein paar Dollarmünzen abgreifen wollten.

Heather angelte nach dem Eimer. »Willst du noch was davon?«, fragte sie.

»Auf keinen Fall. Nicht, nachdem der es angefasst hat.«

Sie stellte den Behälter auf den hochgeklappten Sitz neben sich.

Die beiden standen auf. Obwohl ihre Sitzkissen knarrten, drehte sich der Fremde nicht zu ihnen um. Heather und Steve traten in den Gang und liefen fünf Reihen weiter nach hinten. »Hier?«, flüsterte Steve.

»Perfekt.«

Sie schoben sich an einem bereits sitzenden Pärchen vorbei, entschuldigten sich leise und nahmen in der Mitte der Reihe Platz. Vor ihnen saßen zwei Mädchen im Teenageralter, weit genug in den Sessel hineingesunken, um ihnen nicht die Sicht zu nehmen.

Heather seufzte.

»Besser?«, fragte Steve.

»Viel besser.«

»Finde ich auch.«

»Was für ein widerlicher Spinner«, meinte sie, trank ihre Cola aus und stellte sie auf dem Teppich ab. Dann griff sie Steves Hand.

»Soll ich uns noch Popcorn holen?«

»Nein, danke. Ich hatte reichlich.«

Im Film rannte gerade eine der Frauen wimmernd durch einen Wald und blickte dabei immer wieder panisch über die Schulter. Einer ihrer Arme fehlte. Sie stolperte und fiel hin, rappelte sich wieder auf und lief weiter. Schließlich huschte sie hinter einen Baum. Sie spähte in die Finsternis, hielt anscheinend Ausschau nach ihrem Verfolger.

Im Wald herrschte totale Stille. Nichts rührte sich. Die Frau wirkte erleichtert. Sie entfernte sich rückwärts von dem Baumstamm. Hinter ihrer Schulter tauchte ein verschwommener Umriss auf – das maskierte Gesicht des Wahnsinnigen.

Heathers Hand drückte fester zu.

Die Frau stolperte weiter rückwärts, während sie nach vorn schaute. Sie geriet näher und näher an den wartenden Mann heran.

Einige Leute aus dem Publikum riefen Warnungen, andere kreischten.

Hinter der Frau wurde eine Axt hoch in die Luft gehoben.

Schreiend sprang Heather von ihrem Sitz auf, riss die Hände an den Nacken und versuchte, die Finger, die sie plötzlich umklammerten, zu lösen. Der Fremde hielt sie weiter fest und lachte wie ein Irrer. Seine Mütze war verschwunden, sein unbehaarter Kopf schimmerte wie ein Totenschädel.

Steve ließ die Faust auf seinen Kiefer zuschnellen. Er traf und schleuderte den Kopf des Mannes zur Seite. Weiße Fangzähne schossen aus dem offenen Mund. Steve schlug erneut nach dem Fremden. Diesmal verfehlte er ihn. Der Mann packte seinen Arm und biss hinein.

Ein Platzanweiser eilte brüllend durch den Saal.

Der Fremde ergriff die Flucht. Er sprang über die Rückenlehnen der Sitze und stahl sich durch die nächste Reihe davon. Durcheinanderrufende Kinobesucher machten ihm Platz. Der Mann erreichte den Gang, drehte sich zum heranstürmenden Platzanweiser um und stieß einen Schrei aus.

Der Platzanweiser hielt inne.

Der Fremde rannte mit einem wilden Lachen die Treppen hinauf und stürmte durch die Tür aus dem Saal.

Heather warf sich schluchzend in Steves Arme. »Bring mich nach Hause. Bitte, ich will nach Hause!«