Elisabeth Herrmann wurde 1959 in Marburg/Lahn geboren. Sie machte Abitur auf dem Frankfurter Abendgymnasium und arbeitete nach ihrem Studium als Fernsehjournalistin beim RBB, bevor sie mit ihrem Roman »Das Kindermädchen« ihren Durchbruch erlebte. Fast alle ihre Bücher wurden oder werden derzeit verfilmt: die Reihe um den Berliner Anwalt Vernau sehr erfolgreich mit Jan Josef Liefers vom ZDF. Elisabeth Herrmann erhielt den Radio-Bremen-Krimipreis und den Deutschen Krimipreis 2012. Sie lebt mit ihrer Tochter in Berlin.
Außerdem von Elisabeth Herrmann bei cbt:
Die Mühle
Lilienblut
Schattengrund
Seefeuer
Seifenblasen küsst man nicht
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ELISABETH HERRMANN
Thriller
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© 2018 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
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Covergestaltung: semper smile, München
Covermotive: © Shutterstock (Neirfy; Husjak; kelvn; Sattra; Tim UR; Bjoern Wylezich)
SK • Herstellung: AnG
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-17298-5
V003
www.cbj-verlag.de
Personen und Handlung dieses Buches sind frei erfunden. Allerdings orientieren sich die geschichtlichen Bezüge an wahren Begebenheiten. Deshalb habe ich mich dazu entschieden, bei historischen Briefen und Textauszügen die vor über hundert Jahren übliche Sprache zu wählen. Nur dort, wo es unumgänglich notwendig war, habe ich Bezeichnungen verwendet, die heute glücklicherweise aus unserem Sprachgebrauch verschwunden sind. Dies erschien mir aus Gründen der Glaubwürdigkeit die beste Lösung. Die betreffenden Passagen sind im Buch in anderer Schrift gesetzt und besonders hervorgehoben. Sie geben in keiner Weise meine Meinung oder Auffassung wieder.
Elisabeth Herrmann, 2018
Die Vergangenheit ist nicht tot,
sie ist nicht einmal vergangen.
Thornton Wilder
Bremerhaven, 21. Januar 1904
Endlich hieß es Leinen los! Mit vollen Kapellen ging es durch die Stadt. Hunderte, Tausende standen am Kai und jubelten und warfen ihre Mützen hoch. Für den Kaiser! Für die Freiheit! Für Südwest! So geht es gen Afrika, in fremdes, unbekanntes Land. Stolz pflügt sich das Schiff durch die Wellen, stolz schwillt unsere Brust. Einjähriger beim Seebataillon! Da sah ich die Augen von manchem deutschen Mädel beim Abschied blitzen, und kaum verschwand die Küste in der Ferne, so stimmte schon der Erste mit trauriger Stimme an: Nach der Heimat möcht ich wieder … Drei Wochen geht die Reise mit dem Kanonenboot Habicht. In Swakopmund werden wir sie alle treffen: Soldaten, Matrosen, Schutztruppler und Reservisten. Gemeinsam stellen wir uns dem Feind entgegen und werden ihn hart in die Schranken weisen. In Treue fest – Südwest!
1.
Ein altes, verblichenes Foto. So groß wie eine Postkarte. Die Gesichter der beiden Männer waren kaum noch zu erkennen, die Zeit hatte fast alle markanten Züge gelöscht. Doch die Haltung war eindeutig: Der eine groß, stolz und selbstbewusst, der andere fast noch ein Junge, schmal, schüchtern, beide in knöchellangen weißen Kitteln. Zwischen ihnen stand, riesig und dunkel glänzend, ein Nashorn. Mia trat näher, streckte die Hand nach dem Rahmen aus und ließ sie wieder sinken. Sollte sie? Sollte sie nicht?
»Du kannst es ruhig nehmen.« Mias Mutter Helene sah kurz von der Kasse hoch. Gerade hatte sie die Ladentür zu der kleinen Chocolaterie abgeschlossen und die Jalousien an den Schaufenstern heruntergelassen, um die Auslage vor der Abendsonne zu schützen. »Der links ist Gottlob Herder und rechts dein Urgroßvater Jakob Arnholt.«
»Ich weiß.« Mia kannte die Namen. Sie wusste sogar, wo das Foto aufgenommen worden war: in Lüneburg, kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Dort hatte Jakob eine Lehre als Zuckerbäcker gemacht, und zwar bei Herder, dem Gründer einer der größten deutschen Schokoladenfabriken. Herder war der Selbstbewusste. Jakob der Schmale, Schüchterne.
»Ein Nashorn aus Schokolade. In Lebensgröße. Wow.« Mia betrachtete das längst vergangene Meisterwerk und seine beiden Erschaffer, festgehalten von einem »Photographen« vor über hundert Jahren. Es hing an der Wand, seit Mia denken konnte. Als Kind hatte sie sich ausgemalt, wie es wäre, auf dem Rücken dieses Tieres zu sitzen und ein winziges Stück von seinem Ohr abzuknabbern. Jetzt war sie erwachsen – auch wenn ihre Eltern nicht mit ziemlich unwitzigen Kommentaren sparten, sobald Mia das erwähnte. Aber mit neunzehn war man doch erwachsen? Und wenn sie Glück hatte und eine richtig gute Familiengeschichte recherchieren konnte, wäre sie demnächst sogar Studentin an der renommierten Hamburger Journalistenschule …
Die Aufnahmeprüfung war ein harter Brocken. Erzählen Sie uns die Geschichte eines Familienfotos und erläutern Sie die einzelnen Rechercheschritte. Mia war davon überzeugt, dass nicht viele Bewerber mit einem lebensgroßen Schokoladennashorn aufwarten konnten. Es musste mindestens zwei Zentner gewogen haben und wirkte ziemlich … na ja, nicht unbedingt gefährlich. Aber trotzdem eindrucksvoll. Schon allein die Maße! Der höchste Punkt am Rücken überragte sogar noch Gottlob Herder. Und Jakob sah geradezu winzig dagegen aus. Wenn so ein Hammer-Teil keine Extrapunkte gab, was dann?
»Für welches Jubiläum haben sie das noch mal gemacht?«
Helene Arnholt zuckte mit den Schultern. Bei der Abrechnung durfte man sie nicht stören. Oft genug prüfte sie noch ein zweites und drittes Mal, immer mit der kleinen Falte zwischen den Augenbrauen, die Mia so gut kannte. Harte Zeiten, sagte sie manchmal, wenn die Kasse beim besten Willen nicht das hergab, was man für Strom, Heizung, Kühlung und die Produktion ausgeben musste.
An diesem Abend waren die Zeiten wohl besonders bitter. Mia bemerkte aus den Augenwinkeln, dass nur ein paar Scheine in die kleine Reißverschlussmappe wanderten. Wie lange würden die Arnholts noch durchhalten? Wie lange würden sie mit ihren kleinen Kunstwerken aus Schokolade, Nougat, Pistanzienganache und Marzipan bestehen können gegen die Discounter und deren Massenware, die für ein paar Cent den Markt überschwemmten?
»Warum nimmst du nicht das andere? Ich könnte dir jede Menge darüber erzählen.«
Mias Mutter wies auf eine weitere Fotografie. Sie war größer und farbig, wenn auch leicht verblichen. Darauf zu sehen: das Haus in der kleinen Straße zwischen Marktplatz und dem steilen Aufstieg zum Meißner Dom, auf der Fassade die fast schon abgeblätterten Buchstaben: Mohrenbäckerei. Davor, gerade wie Zinnsoldaten, ihre Eltern: Alex mit Vokuhila – zum Brüllen! Und Helene mit Pferdeschwanz und Schulterpolstern, die sie wie eine Rugbyspielerin aussehen ließen. Neunzigerjahre!
Helene kam hinter dem Tresen hervor und stellte sich vor das Bild, um es genauer zu betrachten. »Mein Gott, wie jung wir waren. Kaum älter als du heute! Und wie das hier ausgesehen hat nach der Wende und was wir alles reinstecken mussten. Das war nicht einfach, mit unseren Schokocroissants gegen die Schrippen anzukommen. Und jetzt … na ja. Vielleicht sollten wir doch so eine Stehbackstube mit Automatenkaffee und aufgetauten Tiefkühltorten aus dem Laden machen.« Sie wandte sich ab.
»Bloß nicht!« Mia liebte die Chocolaterie. Den herben Duft nach Kakao, der einen empfing, wenn man das kleine Geschäft betrat, die Kuchen und Torten und die dicke, heiße Schokolade, die in dem kleinen Nebenraum serviert wurde. Glitzernde Bonbons in bunten Gläsern, Petits Fours, riesige handgegossene Tafeln mit geheimnisvollen Ingredienzien. Aber am meisten liebte sie es, wenn sie am Samstag oder auch mal unter der Woche im Laden aushalf und neugierigen Kunden eine Praline zum Probieren gab. Erst dieses stirnrunzelnde Nachdenken – könnte mir ein Crème-brûlée-Cappuccinotrüffel oder dieses, wie noch mal?, Macha-Marzipan schmecken? Der erste vorsichtige kleine Biss und dann … Dieses glückliche Leuchten, das ihr entgegenstrahlte und am besten noch von »Packen Sie mir bitte 200 Gramm davon ein!« getoppt wurde.
»Das wäre so was von unter eurer Würde. Außerdem könnt ihr das weder den Touristen noch den Meißenern antun.«
Helene Arnholt seufzte. Und Mia wusste, warum: Sie war hier geboren, sie fühlte sich in der hübschen Stadt an der Elbe zu Hause. Aber ihre Eltern hatte der lange Rechtsstreit zermürbt, den es um die Rückübertragung des alten Hauses gegeben hatte. Sie waren aus dem Ruhrgebiet zurückgekommen, wohin es die Familie in den Kriegswirren verschlagen hatte. Auf der Flucht war das Meiste verloren gegangen, weshalb Mia nicht allzu viel über die Arnholts in Sachsen wusste. Nur, dass es ziemliche Diskussionen gegeben hatte, als Helene bei der Hochzeit ihren Namen behalten hatte. Das war für die Achtzigerjahre fast schon revolutionär gewesen (aber wieder verständlich, wenn man wusste, dass Mias Vater sonst der Familie den seltenen, aber nur bedingt poetischen Namen Rübchen vermacht hätte …).
Und es war nach der Rückkehr nicht einfach für ihre Eltern gewesen, Fuß zu fassen. Mia respektierte und bewunderte die Leistung, mit der erst das Haus und dann das Geschäft wiederbelebt worden war. Aber ob sie mit dieser Geschichte einen der begehrten Studienplätze ergattern konnte? Dann doch lieber ein Nashorn aus Schokolade und der unbekannte, fremde Jakob, der vor langer Zeit bei den berühmten Herders in Lüneburg in die Lehre gegangen war. Sie könnte die Arbeitsbedingungen der damaligen Zeit recherchieren. Und gleichzeitig etwas darüber herausfinden, wie der kleine Jakob nach Deutschland gekommen war und warum die beiden ausgerechnet ein Nashorn nachgebildet hatten. Die Idee gefiel ihr immer besser.
Mia nahm das Foto ab. Es steckte hinter Glas in einem Holzrahmen, auf der Rückseite festgehalten von einem verklebten Pappdeckel. Vorsichtig pustete sie den Staub ab.
»Gottlob Herder und Jakob Arnholt«, sagte sie leise, als ob sie mit den beiden Männern reden würde. »Der Meister und sein Lehrling. – Mutsch, darf ich es rausholen? Vielleicht steht ja das Datum auf der Rückseite oder irgendein Hinweis darauf, für wen dieses Nashorn gedacht war.«
Helene verstaute die kleine Mappe in der Schublade unter der Kasse und schloss die ab. »Klar. Unser Wappentier.« Sie versuchte ein Lächeln. »Ich hab tatsächlich mal dran gedacht, es als so eine Art Wahrzeichen zu nehmen. Aber dann hielt ich es im Zusammenhang mit Schokolade für ebenso kontraproduktiv wie den alten Namen. Mohrenbäckerei. Geht gar nicht. Nimm ein Messer.«
Mia legte den Bilderrahmen mit der Rückseite nach oben auf der Ladentheke ab und huschte hinüber in die Küche. Auf der Marmorplatte kühlte gerade ihre neueste Schokoladenkreation aus: Rainbow Princess. Sie gab allen ihren Erfindungen Namen. Manche schafften es tatsächlich in den Verkaufstresen, aber nicht alle wurden ein Renner. Die Sache mit dem Roquefort an Zartbitter nagte immer noch an ihr. Sie hätte einen anderen Käse nehmen müssen und dazu Schokolade mit 99 % Kakaoanteil. So viele entsetzte Gesichter hatte sie selten gesehen und ihr Werk war noch am selben Abend auf nicht ganz geklärte Weise aus der Kühltheke verschwunden … Aber ohne Experimentierfreude ging nichts in diesem Beruf.
Mit dem Messer in der Hand blieb sie einen Moment stehen und sah sich in der Küche um. Ein paar Jahre hatte sie tatsächlich geglaubt, hier läge ihre Zukunft. Doch dann hatte ihr älterer Bruder das Heft an sich gerissen und immer wieder gesagt, wie er »den Laden ordentlich in Schwung« bringen würde. Und dass Mias Kreationen ja ein »nettes Hobby« wären, sie aber bitte nicht auch noch die letzten Kunden vertreiben sollte. Und Einhorn ginge immer. Die Fabelwesen waren überall, und obwohl Mia wusste, dass der Hype den Sommer wahrscheinlich kaum überleben würde, war sie »konventioneller« geworden.
Allerdings nicht weniger fantasievoll. Die Regenbogenprinzessin (und warum eigentlich kein Prinz?) hatte gute Chancen. Weiße Schokolade, die in sanften Wirbeln von Blassrosa bis Tiefrot verlief … Rote Beete und Johannisbeersirup gaben die Farbe und einen sanften, süß-säuerlichen Geschmack. Dazwischen gepuffter Reis, um alles etwas leichter zu machen. Mia brach ein kleines Stück von der Probetafel ab und kostete. Es schmeckte … himmlisch. Vielleicht sollte sie sich doch dazu entscheiden, eine Konditorlehre zu machen. Aber das Geschäft würde ihr älterer Bruder übernehmen und noch eine Chocolaterie würde Meißen nicht verkraften. Also zurück zu dem Foto und dieser einzigartigen Geschichte, die man aus ihrem Schlaf in den hintersten, schummrigsten Ecken der Familienhistorie aufwecken musste.
Sie kehrte zurück. Helene ließ mittlerweile die Jalousien an der Tür herunter.
»Er war schwarz, nicht wahr?«
»Jakob? Eher mokka, würde ich sagen, wenn das nicht politisch inkorrekt ist. Er war der Sohn von meinem Urgroßvater Karl, der Ende des neunzehnten Jahrhunderts in die Kolonien gegangen ist und eine Einheimische geheiratet hat«, antwortete ihre Mutter. »Ihr Sohn Jakob hat dann Marie, eine waschechte strohblonde Dresdnerin, zur Frau genommen. Es muss irgendwo noch ein Foto von den beiden geben. Ich glaube, auf dem Dachboden. Wir haben es immer noch nicht geschafft, uns mal darum zu kümmern.«
Nichts an ihnen, weder bei der Mutter noch der Tochter, erinnerte an ihr afrikanisches Erbe. Vielleicht Mias krause braune Haare. Aber die konnte sie genauso gut von ihrem Vater haben. Und der kam aus einem kleinen Dorf nahe der Nordsee. Nur drei Generationen hatten Jakobs afrikanische Herkunft fast vergessen lassen. Trotzdem war es immer ein running gag in der Familie gewesen, dass eines Tages bestimmt einmal ein schwarzes Baby in der Wiege liegen würde …
Mia sah das fast verschwundene Gesicht auf dem Foto an, die steife, beinahe ängstliche Haltung des Jungen im weißen Kittel neben seinem strengen Lehrherrn und Meister, und für einen Moment zog sich ihr Herz zusammen. Wie alt Jakob gewesen sein mochte? Fast noch ein Kind. Keine zehn Jahre alt, geboren in den Kolonien, wie ihre Großeltern das noch genannt hatten … Kein running gag. Ein kleiner Mensch in einem fremden, kalten Land, der viel zu früh gestorben war.
Mia ritzte das Papier ein und begann vorsichtig, es von der Unterlage zu lösen. Sie wollte das Foto auf keinen Fall beschädigen.
»Das erste sächsische mixed couple?«, fragte sie. »Ich muss wirklich mal in die Archive. Nicht nur wegen der Bewerbung. Ich meine, ein afrikanischer Junge in Sachsen zur Kaiserzeit und in der Weimarer Republik, das ist schon was Besonderes.«
»Da wird es nicht viel geben.« Helene war fertig und kam näher, um über Mias Schulter zu spähen. »Das wenige liegt alles in der Hausmappe. Ein paar Zeitungsartikel zu den Firmenjubiläen und dann seine Todesanzeige. Meine Mutter hat sie noch gehütet wie einen Schatz, deshalb ist das auch so ziemlich das Einzige, was ich genau über Jakob weiß. Eine Blutvergiftung, die zu spät behandelt wurde. Ich glaube, Ende der Zwanzigerjahre. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich das als Glück ansehen soll …«
Mia zog das Deckblatt ab. Es war mürbe und hatte eine undefinierbare altrosa Farbe. Darunter kam die Rückseite des Fotos zum Vorschein. Ihr Herz klopfte schneller: Sie war beschrieben.
»Ist das Sütterlin?«
»Keine Ahnung.«
Das Foto war aus stabilem Karton und die Schrift auf der Rückseite erschien ebenso ordentlich wie unleserlich. Immerhin: Mia konnte das Datum entziffern.
»Neunzehnter Mai neunzehnhundertdreizehn. Für … Jakob Arnholt. Nicht? Das ist doch sein Name?«
Helene nickte. »Definitiv. Für Jakob Arnholt in me-mo-moribundi?«
»In memoriam. In memoriam – was? Ich kann’s nicht lesen.« Mia versuchte, den nächsten Wörtern irgendeinen Sinn abzuringen. »Hochzeit. Das könnte tatsächlich Hochzeit heißen! Victoria? Sieg?«
Helene schüttelte erst den Kopf und nahm ihr dann mit einem triumphierenden Lächeln die Aufnahme ab. »Victoria Luise! Aber natürlich! Es ist ein Name!«
»Gottlob, Jakob und Victoria Luise? Hieß das Nashorn so?«
»Das Nashorn? Nein! Victoria Luise ist, genauer gesagt war, die Tochter des letzten deutschen Kaisers. Das war kein Jubiläum. Dieses Nashorn aus Schokolade wurde für ihre Hochzeit hergestellt! Natürlich! Hätte mich auch gewundert, wenn die Herders nicht auch noch Hoflieferanten gewesen wären.«
Mias Augen begannen zu funkeln. »Eine kaiserliche Hochzeit? Und mein Urgroßvater hat dazu dieses Monstrum beigesteuert? Da muss es doch noch Unterlagen geben! Listen, Einladungskarten, vielleicht ein paar verruckelte alte Filmaufnahmen. Mai neunzehnhundertdreizehn, ein zentnerschweres Nashorn aus Schokolade, aus Lüneburg nach Berlin verschickt und das vielleicht bei dreißig Grad im Schatten … Ich hab’s! Meine Story. Sie werden niederknien in Hamburg!«
Helene reichte Mia mit einem leichten Zögern das Foto zurück. Sie wusste, dass die Journalistenkarriere ihrer Tochter nur zweite Wahl war. Immerhin: Es gab einen Plan nach dem Abitur. Wenn auch nicht den, den Mia sich, seit sie ein kleines Mädchen war, vorgestellt hatte. Manchmal hatte sie das Gefühl, ihrer Mutter wäre es lieber, wenn nicht der Karrierist in der Familie, sondern die Träumerin den Laden übernehmen würde … »Wo willst du denn anfangen?«
»In Berlin. Im Deutschen Historischen Museum. Und im Filmmuseum. Und überall, wo es noch Archive zur Kaiserzeit gibt. Vielleicht existiert ja ein Dankschreiben von Ihrer Kaiserlichen Hoheit.« Sie kicherte und fühlte sich ganz berauscht von den Abenteuern und Entdeckungen, die auf sie warten würden auf der Suche nach den letzten Zeugen von Jakobs Reise mit dem Nashorn. Vielleicht hatte er den Triumphzug begleiten dürfen? Irgendwo musste es doch noch Zeitzeugnisse von diesem Meisterwerk geben. »Und dann natürlich bei den Herders. Hattest du mal zu denen Kontakt?«
»Zu den Multimillionären mit ihren Tausenden von Filialen?«
»Ich kann ja mal anrufen. Bestimmt haben die ein Archiv. So große Firmen heben eine Menge auf. Vielleicht gibt es noch alte Rechnungen und …«, Mia betrachtete wieder die verblichene Aufnahme, »… noch mehr Fotos. Dieses Nashorn ist der Hammer. Wahrscheinlich hat die Zeitung damals darüber berichtet. Ganz Lüneburg muss ja aus dem Häuschen gewesen sein. Vielleicht gab es eine Ausstellung! Und die Leute durften einmal daran vorbeigehen und sich vorstellen, dass dieses Ungeheuer die kaiserliche Tafel schmücken würde. Vielleicht haben sie ja auch noch Giraffen gemacht? Oder Papageien? Einen Elefanten?«
Sie spürte, wie das Jagdfieber in ihr erwachte. Vielleicht war das ja ihr Beruf! Pralinen machen ging nicht, aber Geschichten erzählen? Versunkene Schätze heben. Menschen aus dem Vergessen holen. Jakob Arnholt, ihr Urgroßvater, im Jahre 1913 Zuckerbäckerlehrling bei den Herders in Lüneburg, dann in Meißen gelandet, wo er geheiratet und eine, ihre Familie gegründet hatte. Und dann war er mit gerade mal Mitte, Ende zwanzig verstorben! Aber bevor er von allen vergessen wurde, konnte sie daran erinnern, dass er etwas Großartiges erschaffen hatte.
»Ich will dich ja nicht enttäuschen«, kam es von Helene.
»Wieso?« Mia sah überrascht hoch. Sie sah sich schon staubbedeckt durch Archive kriechen und kleine Jubiläumsnashörner aus Schokolade gießen. Irgendein Jahrestag ließ sich doch bestimmt aus dem Hut zaubern.
Helene legte den Arm um die Schultern ihrer Tochter und zog sie liebevoll mit sich in Richtung Hintertür, die zu einer engen Treppe in den ersten Stock führte. Dort befand sich die Wohnung über dem Laden. »Ich fürchte«, sagte sie, »es ist bisher noch niemandem gelungen, wirklich Einblick in die Familien- und Firmengeschichte der Herders zu bekommen. Eine verschlossene Auster ist nichts gegen diese Leute. Überlege es dir – ich glaube kaum, dass du bei denen weiterkommst.«
Jandrik kam zum Abendessen. Mias zweiter Bruder, ein schlaksiger strohblonder Surfertyp, bei dem offenbar Uroma Maries Erbe voll zur Geltung kam. Er war zwei Jahre älter und hatte nach seiner Lehre als Zerspanungsmechaniker seine Liebe zu Oldtimern entdeckt und in einer Spezialwerkstatt in Dresden angeheuert. Deshalb war er mit einem 280er SL Pagode aufgetaucht, einem schwarzen, etwas zerbeulten Mercedes, den er seinem Vater mit einem Stolz präsentierte, als hätte er das Teil persönlich gebaut.
Mia und Helene ließen die beiden draußen im Hof fachsimpeln und bereiteten das Abendessen vor. Mias älterer Bruder, Matthias, blieb übers Wochenende immer häufiger in Berlin. Er arbeitete als Pâtissier in einem Fünf-Sterne-Hotel am Pariser Platz direkt gegenüber vom Brandenburger Tor. Wenn er es doch mal nach Meißen schaffte, brachte er manchmal seine eigenen Kreationen mit. Gefällige, hübsche Patisserie. Im Moment war eine Art feste, glänzende Wasserglasur der allerletzte Schrei. Die Schokoladentörtchen und Himbeerwölkchen sahen aus wie frisch lackiert. Ob das den Meißenern und den Touristen gefallen würde? Bestimmt.
»Wann hat Jakob noch mal die Mohrenbäckerei in Meißen aufgemacht?« Mia wusch den Salat und stopfte ihn dann in die Schleuder.
»Neunzehnhundertzweiundzwanzig.« Helene stand am Fenster zum Hof und zupfte Kräuter, die sie in Balkonkästen zog. »Und er war wohl sehr erfolgreich. Sonst hätte er auch nicht ein paar Jahre später, kurz vor seinem Tod, das Haus gekauft.«
»Und …« Mia wusste nicht, wie sie es ausdrücken sollte. »Ich meine, er war schwarz. Wenn auch nur zur Hälfte. Wie war das mit den Nazis?«
»Ich glaube, Jakob war das, was sie damals einen Kolonialmigranten nannten. Meine Oma Marie, seine Frau, wird nach seinem Tod sehr gelitten haben und vorher wahrscheinlich auch schon. Sie hat nie viel darüber erzählt. Mein Vater ebenfalls nicht. Er ist ja als Kind mit ihr nach Holland gegangen und hat dort den Krieg überlebt. Irgendwie muss es Marie gelungen sein, seine Hautfarbe im Stammbuch zu verheimlichen. Wir haben ja noch Fotos von ihm. Man hätte deinen Opa durchaus auch für einen Südeuropäer halten können.«
»Ich kann mich kaum noch an ihn erinnern. Wie schade. Meine Großeltern hätten mir bestimmt eine Menge erzählen können.«
»Dieser blöde Autounfall …« Helene strich sich hastig über die Augen. »Jedenfalls, dein Opa fand ein nettes Mädchen, deine Oma Dietlinde. Und dann kamen meine Geschwister und ich, und irgendwann Alex«, das war Mias Vater, »und dann ihr.« Die Hände voller Basilikum, Petersilie und Koriander, kam Helene zu ihrer Tochter zurück. »Wir hätten das alles aufschreiben sollen, ich weiß. Aber ich glaube, meine Eltern wollten, dass Jakob auch in der Erinnerung als jemand behandelt wird, der nicht die Außenseiterrolle wie einen Stempel mit sich herumträgt. Er ist eines viel zu frühen, aber natürlichen Todes gestorben, und als ich jung war, hat man unerfreuliche Dinge noch gerne unter den Teppich gekehrt. Für mich und meine Geschwister war Jakob, unser Großvater, den wir nie kennengelernt haben, einfach der Opa.«
Mia nahm ihrer Mutter die Kräuter ab und spülte sie unter fließendem Wasser ab. »Ich bin froh, dass es so ist«, sagte sie. »Dass er einfach Jakob geblieben ist und kein Freak oder irgendein totgeschwiegener Fehltritt oder, was das Schlimmste wäre, jemand, der die Nazizeit nicht überlebt hat. Trotzdem ist es schade, dass so wenig von ihm geblieben ist.«
Ihre Mutter nickte und fuhr ihr liebevoll über die Locken. »Immerhin du. Und ich. Und mein Vater. Das zwanzigste Jahrhundert ist das der Verluste. Und das einundzwanzigste … Ich frage mich manchmal, was eure Generation eines Tages über uns denken wird. Wenn ich mich umschaue in der Welt …«
Mia drückte ihrer Mutter einen schnellen Kuss auf die Wange. »Lass gut sein. Ich würde sagen, ihr habt euch bemüht. Immerhin, das Haus ist ja noch da.«
»Ja. Aber nach welchen Kämpfen und wer weiß für wie lange noch.«
Helene wandte sich ab, um den Tisch zu decken. Es war einer dieser Momente, in denen Mia sich gar nicht mehr so erwachsen fühlte. In denen sie die Zeit zurückwünschte, als die Erwachsenen alles gerichtet hatten und sich jede Geschichte zum Guten wandte. Aber in denen sie auch ahnte, dass sich die Uhr nicht zurückdrehen ließ und irgendwann, eines fernen Tages, der Stab in ihrer Hand und der ihrer Brüder läge.
»Ich mach das mit Jakob«, sagte sie. »Mein Entschluss steht fest.«
»Gut. Ich suche dir Herders Nummer raus.«
Jandrik pickte die letzte Bratwurst vom Teller, bevor Mia auch nur die Gabel ausgestreckt hatte.
»He!«
»Es ist noch Salat da. Ist sowieso besser für deine Linie. Hast du zugenommen?«
Mia tauchte die Finger in ihr Wasserglas und schickte Jandrik ein paar Tropfen über den Tisch. »Muss ich mir diese Frechheiten noch lange gefallen lassen oder wann gehen wir runter in den Hof und tragen das wie Männer aus?« Und an ihren Vater gewandt, fragte sie: »Ab wann ist er groß genug für eine Tracht Prügel?«
Wer zwei ältere Brüder hatte, wusste, wie man sich durchsetzte.
»Schon gut.« Jandrik teilte die Wurst und lud eine Hälfte auf ihrem Teller ab. »Gewalt zieht bei mir nicht. Schenk mir dein zahnloses Lächeln.«
Mia zog eine Grimasse. Ihre Zähne waren makellos – sein Witz war ein Überbleibsel aus der Zeit, in der sie auf Bäume geklettert und Skateboard wie eine Wilde gefahren war. Das war nicht ohne Blessuren abgegangen. Sie drehte sich zu ihrer Mutter. »Hast du die Nummer?«
»Ich hol sie.« Helene stand auf.
Mias Vater Alex griff zum Wasserkrug und schenkte sich nach. »Und?«, fragte er. »Ist die Entscheidung gefallen?«
Mia nickte mit vollem Mund. »Jakob«, nuschelte sie. »Und das Nashorn. Mutsch hat gesagt, es gibt noch was auf dem Dachboden.«
»Einen Koffer, ja. Wir haben ihn bei den Renovierungsarbeiten gefunden. Er liegt immer noch oben. Schande über mein Haupt. Aber es ist nichts drin außer Mäusedreck und ziemlich verrottetem Zeug. Kleider wahrscheinlich und stockfleckige Papiere.«
»Aber die könnten doch interessant sein! Wenn sie noch von Jakob selbst stammen? Kann ich nachsehen?«
Der Dachboden sollte einmal ausgebaut werden, aber im Moment waren andere Dinge wichtiger. Deshalb hatte Alex die Arbeiten gestoppt und verboten, ohne Aufsicht dort oben herumzuturnen.
»Ich komme mit.« Jandrik war fertig. Er stand auf und trug sein Geschirr zur Spülmaschine, Mia machte es ihm nach.
»Ich auch«, sagte Alex. »Ich wollte sowieso mal nach den Mausefallen sehen.«
Zusammen gingen sie in den Flur, und Alex holte die Ausziehleiter herunter, mit deren Hilfe man auf den Dachboden klettern konnte. Helene folgte ihnen.
»Passt auf!«, rief sie, aber da war Mia, die als Letzte die steilen Stufen erklommen hatte, auch schon oben.
Schummriges Halbdunkel erwartete sie. Obwohl es draußen noch nicht dunkel war, drang nur wenig Licht durch die kleinen, staubverkrusteten Luken. Der Boden war mit Brettern bedeckt und in der Mitte des Raumes führte ein schmaler Kamin nach oben.
Alex musterte ihn mit einem resignierten Blick. »Es hat sich schon wieder ein Ziegelstein gelöst.« Das Corpus Delicti lag zerbrochen vor seinen Füßen. »Da müssen wir ran, bevor der Winter kommt.«
Mia ging zur Schrägseite, die zur Straße lag. Dort, wo das Dach auf der Hausmauer ruhte, war die Schräge so niedrig, dass man nur gebückt stehen konnte. Mehrere Zementsäcke lehnten aneinander, daneben erspähte Mia einen Stapel Dachziegel und jede Menge Holzlatten. »Wo?«, fragte sie. »Wo ist der Koffer?«
»Moment.« Alex kam zu ihr, gefolgt von Jandrik. Ihr Vater deutete in einen schmalen Spalt hinter dem Holz. »Das muss hier schon ewig liegen. Ein Glück, dass sie ihn nicht eingemauert hat, sonst hätten wir ihn nie gefunden.«
Sie. Marie, Jakobs Witwe und Mias Urgroßmutter. Tatsächlich wäre niemand auf die Idee gekommen, hinter diesen Brettern etwas zu suchen.
Alex zwängte seinen Arm in den Spalt zwischen Holz und Wand, er zog und ächzte und beförderte schließlich einen kleinen, abgeschabten Koffer hervor. Das Leder war brüchig, und als er versuchte, den Koffer abzuwischen, stieg eine Wolke Staub empor. »Ich habe ihn erst mal hiergelassen, weil es wirklich nur verrottetes Zeug ist und er dahinten wenigstens vom Taubendreck verschont geblieben ist. Wegschmeißen wollte ich ihn aber auch nicht. Ich hoffe, er ist keine Enttäuschung für dich!«
Mia wollte ihn sofort öffnen, aber Alex trug ihn zur Leiter.
»Lass uns das unten machen. Hier oben sieht man gleich die Hand nicht mehr vor Augen.«
Helene hatte den Tisch in der Küche abgedeckt und vorsorglich auch die Decke entfernt. Alex legte den Koffer ab. Alle vier standen einen Augenblick um dieses Relikt aus längst vergangener Zeit herum. Fast schon eine Schweigeminute, dachte Mia.
»Wollen wir?«
Helene nickte ihr zu. Die Schnappschlösser waren zwar verrostet, sprangen aber sofort auf. Langsam hob sie den Deckel. Zum Vorschein kam …
»Was ist das denn?«, schrie Mia entsetzt.
Aus dem Koffer stieg ein durchdringender Geruch. Er musste aus einem Haufen Lumpen kommen, zumindest sah es auf den ersten Blick danach aus, auf dem verstreut Dutzende kleine schwarze Kügelchen lagen.
»Mäuse.« Helene beugte sich mit gerümpfter Nase über den Inhalt. »Holt mir mal die gelben Spülhandschuhe.«
Mia eilte zur Spüle und brachte die Teile, damit Helene sie sich überstreifte.
»Und einen Müllsack!«
Den besorgte Jandrik. Nachdem das Plastik neben dem Koffer ausgebreitet lag, griff Helene mit spitzen Fingern nach dem Stoff und hob ihn so vorsichtig wie möglich heraus. Die kleinen Kügelchen rieselten ab, zum Vorschein kam ein angefressenes, durchlöchertes …
»Hemd. Das ist eindeutig ein Leinenhemd.« Helene hielt es hoch. Fleckig, zerknittert und offenbar Heimstatt für Generationen von Mäusen, die dort ungestört gehaust hatten.
»Kann man«, Mia hustete, »kann man das waschen?«
»Du meinst, ob du das waschen kannst, unten im Hof?« Jandrik rümpfte die Nase. »Und dich anschließend dazu.«
»Es ist alt. Und es hat Jakob gehört, oder?«
Mit einem leisen Seufzer legte Helene das Ding auf dem Müllsack ab. Alle beugten sich wieder über den Koffer.
»Was ist das denn?« Jandriks Stimme schraubte sich noch eine halbe Oktave höher.
Mia überwand sich und griff auch ohne Handschuhe nach etwas, das entfernt aussah wie verknotete Lederschnüre. »Eine Art … Schmuck?« In die Schnüre waren Perlen und Glimmersteinchen eingewebt. Metall, Glas, Keramik. Alles blind vor Schmutz und Erosion. Das Leder war brüchig, und Mia hob das seltsame Gewirk so vorsichtig aus dem Koffer, als könne es jederzeit reißen. »Eine doppel-, nein, eine dreireihige Kette. Meine Güte … Das ist aus Afrika, nicht wahr?«
»Vermutlich«, sagte Helene leise. »Das wird das Einzige sein, was er aus seiner Heimat mitgebracht hat.«
»Ob das wertvoll ist?«, fragte Jandrik. »Für ein Museum oder so.«
Helene schüttelte den Kopf. »Wohl kaum. Schon gar nicht in diesem Zustand.«
Vorsichtig legte Mia den Fund auf das Hemd. »Da ist noch was drin. Papier. Nein, ein Brief. Und … ein paar Postkarten.«
Die Mäuse hatten durchaus versucht, sich den Brief einzuverleiben, aber nach ein paar Ecken musste er ihnen doch nicht geschmeckt haben. Vorsichtig holte Mia zwei Seiten aus dem Umschlag.
»Alles Sütterlin«, seufzte sie, als sie die Schrift sah, die so fremd wirkte wie Hieroglyphen.
»Zeig her.« Alex nahm ihr eine Postkarte ab. Auf der Vorderseite war ein Dampfer auf hoher See zu sehen, links davon Pfahlbauten und hölzerne Kräne. Die Karte sah aus wie nachträglich koloriert. Zumindest die Beschriftung war in Druckbuchstaben. »Deutsch-Südwestafrika. Ostafrika-Dampfer auf der Reede, Swakopmund.«
»Namibia.« Mia nahm ihm vorsichtig die Postkarte ab und drehte sie um. »Das Datum kann ich noch lesen, vierter August neunzehnhundertvier. Aber dann … Mutter? Kann das Mutter heißen?«
Helene beugte sich über ihre Schulter und versuchte, die alte Schrift zu entziffern. »Mutter … Tut mir leid. Das müssen wir jemandem zeigen, der das noch lesen kann. Aber die Karten sind von Karl, deinem Ururgroßvater. Und sie sind hierher nach Meißen gegangen. Ich würde sagen, das ist alte Feldpost. Was ist mit dem Brief?«
»Es steht nur Jakob darauf. Keine Marke, kein Stempel, keine Adresse.«
Das Papier war eng beschrieben in einer klaren, aber winzigen Handschrift, als ob ein halber Roman auf dieses eine DIN-A-5-Blatt passen musste. »Aussichtslos«, seufzte Mia enttäuscht. »Ich glaube, das hier könnte Mein lieber kleiner Jakob heißen, aber mehr ist nicht drin. Was machen wir damit? Gibt es Schriftsachverständige oder Übersetzer für so was?«
Alex presste die Lippen aufeinander. »Wenn es eine alte Druckschrift wäre, die könnte ich lesen. Fraktur heißt sie, glaube ich. Das kriegt jeder hin. Aber Sütterlin und dann noch so klein und kaum leserlich … Das müsste jemand sehen, der sich damit auskennt. Wir könnten mal in der Kirche fragen oder im Seniorenheim.«
»Nein«, sagte Helene scharf. »Ich will das nicht.«
Mia war erstaunt über den Ton in der Stimme ihrer Mutter. »Weil es Jakobs Privatsachen sind?«
»Weil es immer noch Leute hier gibt, die es unserer Familie nicht leicht gemacht haben.«
Mia sah zu Jandrik. Der hob kaum merklich die Schultern.
»Ich möchte das nicht.«
»Was?«
»Dass diese Dinge an die Öffentlichkeit kommen. In einer Zeitung erscheinen oder irgendwie publiziert werden.«
»Es ist eine Aufnahmeprüfung, Mutsch. Nichts davon wird irgendwo veröffentlicht.«
»Trotzdem. Das ist Privatsache. Das sind vielleicht die letzten Worte, die Karl im Krieg vor seinem Tod geschrieben hat. Was, wenn sie irgendwann in einer Ausstellung landen und jeder sie liest?«
Mia steckte das Papier vorsichtig zurück in den Umschlag. Es war klar, dass die Postkarten und der Brief von zwei verschiedenen Personen stammten. Die Schriften, so unleserlich sie auch für moderne Augen waren, unterschieden sich voneinander. »Das wird nicht geschehen, ich verspreche es dir. Ich will nur herausfinden, wie Jakob aus Afrika nach Deutschland kam und es ihm gelungen ist, so ein Wunderwerk wie das Nashorn zu erschaffen. Vielleicht steht es da drin.«
»Herder hat ihn nach Deutschland gebracht«, sagte ihre Mutter. »Jakob war Waise und Herder hat sich nach Karls Tod um ihn gekümmert. Er hat ihn ausgebildet und Jakob ist dann weitergezogen und hier gelandet. Der Rest ist bekannt.«
»Ja«, sagte Mia langsam, obwohl das nicht stimmte. Kaum etwas war bekannt. Warum war ihre Mutter auf einmal so seltsam? »Aber wieso war Jakob Waise? Was ist mit seiner Mutter passiert? Woher kam er? Und wie ist es ihm hier ergangen?«
Jandrik schnaubte. »Du glaubst, dass ausgerechnet die Herders dir das erzählen? Erstens lebt keiner mehr, der das wüsste. Und zweitens … Deutsch-Südwestafrika war eine Kolonie. Über dieses Kapitel der Geschichte schweigt des Sängers Höflichkeit. Und da denkst du, ein Fabrikant, der den Grundstein seines Vermögens mit der Versklavung fremder Völker gelegt hat, steht dir Rede und Antwort?«
»Nur wer nicht fragt, kriegt keine Antwort.«
»Träumerin.«
Im Koffer befand sich nur noch Staub. Wieder spürte Mia, wie etwas in ihrem Herzen zu ziehen begann. Ein zerlöchertes Hemd, ein paar mürbe Lederschnüre, ein bisschen angeknabbertes Papier. Das Hemd musste dem Jungen bis an die Knöchel gereicht haben.
»Und das Nashorn wird mir dabei helfen«, sagte sie. »Ich habe vollstes Vertrauen in fünfhundert Kilo Schokolade aus der Kaiserzeit. Niemand wird dem widerstehen. Auf diesem Pferd werde ich einreiten in die Bastion der Herders!«
»Was?«, fragten ihre Eltern gleichzeitig und mussten lachen. Das passierte ihnen immer wieder, auch noch nach fast fünfundzwanzig Jahren Ehe.
Mia grinste. »Mein trojanisches Nashorn. Ich werde die Herders bei ihrer Eitelkeit packen. Sie werden gar nicht merken, was sie mir alles verraten, während ich sie nach ihrem Meisterwerk befrage und in ihre Archive steige.«
Kopfschüttelnd nahm Helene das Hemd und trug es hinüber zur Spüle. »Ich werde sehen, was ich damit machen kann. Aber wahrscheinlich löst es sich selbst im Schonwaschgang auf.«
»Und die Kette?«
Helene streifte die Handschuhe ab und holte einen wiederverschließbaren Plastikbeutel aus dem Schrank unter der Spüle. »Tu sie hier rein. Vielleicht kann dir jemand aus einem Völkerkundemuseum mehr dazu sagen.«
»Und die Briefe?«
Helene reichte ihr eine zweite Tüte. Vorsichtig verstaute Mia die Fundstücke in den Beuteln. Die Postkarte mit dem Dampfer lag obenauf. Mutter … Ein Gruß aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt. Es musste eine Fahrt in den Tod gewesen sein. Neunzehnhundertvier. Irgendwo ganz hinten in einer weit abgelegenen Ecke ihres Gedächtnisses rührte sich etwas.
»Die Telefonnummer?«, fragte sie.
Helene ging in den Flur. Obwohl sie mittlerweile alle fast nur noch mit dem Handy telefonierten, befand sich dort ein Festnetzanschluss. Daneben, wie ein Relikt aus vorsintflutlicher Zeit: ein altes, in abgegriffenes Leder gebundenes Notizbuch. Zu Mias größtem Erstaunen blätterte ihre Mutter darin herum und kam dann mit einer aufgeschlagenen Seite zu ihr zurück.
Mia las: »Willi.« So lautete der Name neben einer mehrfach durchgestrichenen und durch eine neue ersetzten Nummer. »Wer zum Teufel ist Willi?«
»Wilhelm Herder. Ich weiß gar nicht, ob er noch lebt. Er müsste schon über neunzig Jahre alt sein.«
Plötzlich war es still in der Küche. Alle sahen Helene an und warteten auf eine Erklärung.
Schließlich fragte Alex: »Du … kennst Wilhelm Herder?«
»Kennen ist zu viel gesagt. Er hat sich alle Jahre wieder mal gemeldet und wollte sich mit mir treffen, aber ich habe es abgeblockt.«
»Warum?«, fragte Mia entgeistert. Da kannte ihre Mutter einen hochbetagten Millionär, der vielleicht auch noch auf irgendeine Weise etwas mit Jakob zu tun gehabt hatte, und … verschwieg es?
»Ich wollte nichts mit ihm zu tun haben.«
»Warum?«, fragte jetzt auch Jandrik.
Helene klappte das Buch zu und reichte es Mia. Die ließ es fast fallen, so verdutzt war sie immer noch. »Weil ich es meinem Vater versprechen musste. Er wollte keinen Kontakt zu den Herders. Ich weiß auch nicht, was ihn dazu getrieben hat, aber es klang in meinen Ohren ernst. Wir können ihn leider nicht mehr fragen.« Mias Großeltern waren ja gestorben, als sie noch ein kleines Kind gewesen war. »Glaubt mir, ich habe es ein paar Mal versucht und nichts aus ihm herausbekommen. Und schließlich: Warum hätte ich mich denn an Herder wenden sollen?«
»Na ja«, brummte Alex und rieb sich das Kinn. Das machte er immer, wenn er einen unangenehmen Gedanken in sich wälzte. »Vielleicht ein Darlehen?«
»Niemals.« Das Wort schoss aus Helenes Mund. »Wir haben nichts, aber auch gar nichts mit den Herders zu tun.«
»Dafür hast du aber im Lauf der Jahre ziemlich viele Telefonnummern gesammelt.«
»Weil er immer wieder angerufen und mich darum gebeten hat, sie zu notieren! Er war alt, schon seit jeher war er in meinen Augen alt gewesen. Also hab ich die Nummern aufgeschrieben. Na und?«
»Warum?«
Mias und Jandriks Augen flitzten zwischen ihren Eltern hin und her. Es war selten … Ach was! Es kam so gut wie nie vor, dass die beiden Geheimnisse voreinander hatten.
»Weil … Weil ich ein junges Mädchen war und er mir leidgetan hat. Weder mein Vater noch meine Mutter wollten mit ihm reden. Wahrscheinlich haben sie jedes Mal aufgelegt, wenn er angerufen hat. Also hat er es so lange probiert, bis er mich an der Strippe hatte. Er war immer sehr nett zu mir. Aber meine Eltern hatten verboten, mit ihm zu reden. Ich stand zwischen Baum und Borke. Also habe ich ihm wenigstens den Gefallen getan und die Nummern notiert. Das letzte Mal ist zwanzig Jahre her. Und jetzt könnte es ja tatsächlich sein, dass wir sie mal brauchen. Für Mias Recherche. Wo also ist das Problem?«
»Vielleicht, dass du all die Jahre nie etwas davon erzählt hast?«
»Ich fasse es nicht!« Wieder erschien die kleine Falte zwischen Helenes Augenbrauen. Mia wollte den Mund öffnen und etwas Beruhigendes von sich geben, da spürte sie Jandriks Hand auf ihrem Arm.
»Willst du mir etwa vorwerfen, ich hätte dich mit einem Neunzigjährigen hintergangen?«
»Einem neunzigjährigen Multimillionär«, knurrte Alex ärgerlich. Aber tief auf dem Grund seiner Augen glitzerte es. Er nahm Helene auf den Arm – und die merkte es nicht.
»Du glaubst doch nicht etwa … Du kannst doch nicht im Ernst …« Und da fiel endlich auch bei Helene der Groschen. Sie boxte Alex in die Seite, der klappte theatralisch zusammen.
»Eine Furie!«, rief er. »Rettet mich vor dieser materialistischen Furie!«
»Rettet mich eigentlich einer vor diesem Mann?«
Sie nahmen sich in die Arme.
Mia verdrehte die Augen und wandte sich ab. »Ich geh mal telefonieren«, sagte sie.
Sofort waren ihre Eltern wieder ernst.
»Warte«, sagte Helene. »Es ist nur eine Telefonnummer. Die Herders … Vergiss nicht! Wir haben sie über Jahre hinweg vor den Kopf gestoßen.«
»Aus gutem Grund offenbar«, warf Jandrik ein.
»Keine Sorge. Mehr als auflegen kann er ja nicht. Dann bleibt mir immer noch eine offizielle Rechercheanfrage über die Pressestelle.«
Sie ging in den Flur und schloss die Tür hinter sich. Das Telefonbuch wog mit einem Mal zehn Kilo. Es war kurz nach sieben. Offenbar hatte Willi ihrer Mutter eine Privatnummer gegeben. Sie könnte es jetzt versuchen. Oder morgen. Oder am Montag.
Jetzt.
Mia setzte sich auf die Telefonbank, die kein Mensch mehr für diesen Zweck benutzte, sondern nur noch als Ablage für ausgelesene Zeitungen, Alex’ Baskenmütze, den Schuhlöffel und andere nutzlose, nicht vermisste Dinge, die einfach nur im Weg herumlagen und von Mia erst mal abgeräumt wurden. Dann griff sie nach dem Telefon. Ihr Blick ging zur Küchentür, hinter der es verdächtig still war. Sie wählte die Nummer und sogar das Tuten im Hörer klang altmodisch. Die ersten beiden Male klopfte ihr Herz wie rasend. Beim dritten Klingeln beruhigte es sich. Beim vierten sackte es vor Enttäuschung eine Etage tiefer Richtung Magengrube. Beim fünften klickte es und eine heisere Stimme meldete sich.
»Ja, hallo?«
Mia hätte um ein Haar den Hörer fallen lassen. Sie wusste nicht, warum sie auf einmal so nervös war. »Spreche … Spreche ich mit Wilhelm Herder?«
Stille. Dann: »Wer ist da?« Es klang misstrauisch und ablehnend.
»Mia Arnholt. Aus Meißen. Ich bin die Tochter von Helene. Also, ähm, Helene Arnholt.«
Keine Antwort.
»Hallo? Sind Sie noch dran?«
Nichts. Es rauschte zwar noch, aber der Mann am anderen Ende schien nicht mehr zu existieren.
»Hallo?«
»Mia?« Es klang wie ein Flüstern. »Helenes Tochter?«
»Sind Sie Wilhelm Herder?«
Ein tiefes Seufzen. »Ja. Oh ja, das bin ich. Und ich habe so lange auf diesen Anruf gewartet.«