Walter Kempowski
Weltschmerz
Kinderszenen
fast zu ernst
Albrecht Knaus
Der Abdruck des Artikels «Weltschmerz» auf der Rückseite des Schutzumschlags erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Alfred Kröner Verlags aus: Schmidt/Schischkoff: Philosophisches Wörterbuch, Kröners Taschenausgabe 13, 22. Auflage. 1991, S. 775. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart
Der Abdruck des Notenzitats aus Fast zu ernst von Robert Schumann erfolgt mit freundlicher Genehmigung des G. Henle Verlags aus: Robert Schumann: Kinderszenen, Opus 15. Leichte Stücke für das Pianoforte; komponiert 1838 – erschienen 1839. © 1977 G. Henle Verlag, München
Er lag auf dem Wickeltisch, und die Mutter beugte sich über ihn, sie lachte, und er griff nach der Uhr, die ihr vom Hals herabhing.
In der Tür, ganz im Dunkeln, stand der Vater mit seiner Zigarre. Er sah sie beide im Licht: die Frau, wie sie sich über den Sohn beugt. Und den Sohn, der seiner Mutter die Arme entgegenstreckt.
Nun wandte sich die Mutter zur Seite, sie sprach mit dem Mann, und dem Jungen fiel das Lampenlicht in die Augen und blendete ihn. Er strampelte und drehte den Kopf nach links, nach rechts: das Licht, das Licht!
Endlich wurde er aufgehoben und hinüber in sein Bett gelegt.
Er sah die Eltern in der Tür stehen, dann wurde es dunkel.
Wer in dieser Stadt spazierengehen wollte, ging vom Kirchplatz aus die schmale Gasse hinunter, am Gasthaus vorüber, am Friseur und am Krämer. Die Häuser waren niedrig – aus den Dachrinnen sprossen Gräser, und die Fenster waren mit Spiegel-Spionen versehen, damit man weiß, wer die Straße heraufkommt und warum er es tut.
Die Haustüren standen offen an diesem Sommertag, über ausgetretene Fliesen warf man einen Blick in Hinterhöfe und kleine Gärten: zwei junge Katzen.
Die schwangere Frau schob ihr Kind über den Gehweg, weil sie nicht wußte, was sie sonst hätte tun sollen an diesem Morgen. Der kleine Junge in der Karre, in seiner blauen Strickjacke, nahm alles wahr, was es hier zu sehen gab, aber die Haustüren, die niedrigen Dächer und die Bänke vor den Häusern hinterließen keine Spuren in seinem Gehirn. Die Hand griff in die Luft, die Augen hatte er aufgerissen, der Sonnenschatten machte die andere Straßenseite dunkel, aber weder das Licht nahm er auf noch den Schatten. Es ging nichts in ihn ein. Er sah nur seine Hände, die sich vor ihm ballten, die in die Luft zeigten und ins Leere griffen.
Der Junge hieß Sigmund, und die Fahrt war ihm nicht bequem, das Pflaster war grob, und die Karre stockerte. Und nun sah er, daß die Mutter auf ein dunkles Tor zufuhr. Er sah nicht den verzierten Giebel des Stadttores, sondern nur den dunklen Torschlund. Sie näherten sich ihm, und da fing er an zu schreien, und er schrie und schrie: Nicht durch das Tor! Aber die Mutter lächelte und schob ihn hindurch.
Er lag im Ehebett zu Füßen seiner Eltern, und er hörte sie leise miteinander reden. Es war Sorge, die er spürte. Gab es denn keine Hoffnung?
Später meinte er, er habe nicht im Ehebett gelegen, sondern auf einer Bettcouch, quer zu den Ehebetten, die an vier Kordeln festgeknotete Alabasterlampe über sich.
Und dann dachte er: Nein, nicht auf der Couch hast du gelegen, sondern nebenan; im Kinderzimmer hat dein Bett gestanden, vor der zugestellten Tür.
Das Kinderzimmer lang und schmal, mit zwei Betten darin.
Das zweite Bett war für immer leer geblieben. Das wurde dann weggegeben an alte Leute, und die zerhackten es zu Feuerholz.
Hoo-Boo-Hopp! Da ist ein Kasten voller Blechspielzeuge. Man greift hinein, zieht sie auf und stellt die pickenden Hühner, hüpfenden Mäuse und eilig Runden drehende Autos auf den glatten Tisch. Wenn es gelingt, all diese Mäuse und Äffchen, die Krabbel-Babys und Trommel-Clowns aufzuziehen, ohne daß eines ausschnurrt, wenn also der ganze Tisch angefüllt ist mit dem surrenden, klingelnden Zeug, und man die Hände in den leeren Kasten legt, dann hat man gewonnen.
später oft erzählt: Der kleine Bengel! Sogenannte SA-Männer marschierten über den Goetheplatz, die dicken Bäuche über dem Koppel und Ordensschnallen auf der Brust, und dem Jungen in seiner Sportkarre fiel es ein, die Faust zu heben und zu rufen: «Heil Moskau!»
Wenn Sigmund später daran dachte, dann sah er sehr wohl die Kolonne vorübermarschieren, unter den Oberleitungsdrähten der Straßenbahn hindurch, auch sah er die Apotheke an der Ecke mit dem vergoldeten Porträt des Dichters über der Tür und das Glawitzer Tor … Und er hörte das Lied, das sie sangen und sah sich selbst in der Karre sitzen, in seinen blauen Strickhosen, zwei oder drei Jahre alt. Wenn er also tatsächlich einmal daran dachte, in späteren Jahren, am Schreibtisch, mit Blick auf das gegenüberliegende Haus, in dem eine Versicherung ihr Büro hatte, dann sah er sich die Faust heben und «Heil Moskau!» rufen, denn so war es ja erzählt worden wieder und wieder. Aber – war es denn wirklich so gewesen?
Die Näherin wohnte im Nachbarhaus, sie hieß Frau Heinze. Sie war eine geschiedene Frau und wohnte in einer Dachkammer, Bett, Tisch, Stuhl und das Waschgestell. Sie hatte die Nähmaschine auf den Wäscheboden gestellt, einen großen dunklen Raum, in dem man ins Gebälk hineinsehen konnte. Hier nähte sie Frackhemden, flickte Handtücher und machte Röcke kürzer, sie flüsterte dabei, und wenn sie damit fertig war, ging sie in ihre Kammer und sprach mit sich selbst.
Sigmund stieg die vier Treppen zu ihr hinauf. Auf dem Dachboden war es finster, unter einer Luke saß Frau Heinze und trat die Nähmaschine. Finster war es auf dem Dachboden, nur auf Frau Heinze fiel Lichtschein von oben.
Da es warm war, hatte sie die Luke geöffnet, Schwalben kamen hereingeflogen und segelten wieder hinaus.
Sigmund setzte sich neben die Frau, um ihr zuzusehen und ihrem Flüstern zu lauschen. Es waren keine Märchen, die Frau Heinze vor sich hinmurmelte, nichts von Hänsel und Gretel, auch sang sie keine Lieder. Sie redete heraus, was ihr gerade einfiel, und das meiste, was sie sagte, war böse. Sie ging die Reihe der Menschen durch, mit denen sie haderte. Schadenfrohes und Boshaftes flüsterte sie, und dabei nähte sie die Aussteuer für eine Braut, die sich schon freute auf die Tage ihrer jungen Ehe. Sechs Kopfkissenbezüge und sechs Bettlaken nähte Frau Heinze, und sie flüsterte Schlimmes hinein in die Wäsche, die für ein Bett bestimmt war, in dem Menschenleben seinen verfluchten Anfang nehmen würde. Wer seinen Kopf in dieses Kissen bettete, würde keine guten Träume haben.
Die einzige Unterbrechung ihres Wisperns gab es, wenn sie den Hebel aufstellte, mit dem die Nadel in Ruhestellung geschaltet wurde, um neu einzufädeln. Danach konnte es weitergehen, das Nähen und das Wispern: und das Verfluchen, und der Junge hörte sich alles an.
Eine Dame stellte sich Sigmund in den Weg, als er mit einem Stöckchen die Zäune entlangratschte. Die Dame trug einen Kneifer, und sie hatte ihre Hände in einem Muff, an dem eine silberne Agraffe steckte. Sie nannte ihn beim Namen und fragte, ob er ihr nicht guten Tag sagen will? Kennt er sie denn gar nicht mehr?
Sie nahm ein umhäkeltes Taschentuch aus dem Muff und führte es zur Nase, und dann trug sie ihm auf, wie er da unten stand, seinen Vater zu grüßen, und dann beugte sie sich zu ihm nieder und küßte ihn.
Noch kurz vor seinem Tod, als er schon seine Sachen zusammenräumte, fragte er sich: wer wohl diese Frau gewesen war? Er zerriß alte Briefe und legte das Schlüsselbund auf den Tisch und dachte an die Frau mit dem Kneifer.
Dann fiel ihm eine Uhr unter einem Glassturz ein, daß jemand die Glasglocke aufhebt, wobei es einen dunklen Ton gibt, und die Uhr aufzieht, über deren Zifferblatt ein bronzenes Liebespaar eine Blumengirlande windet.
Er hätte gern gewußt, wie die Sache zusammenhing, aber dazu war es zu spät.
Wenn er später durch den Wald ging, eine Blume im Knopfloch und vor sich hinpfeifend, dann dachte er an den kleinen Hinterhof, auf den er von seinem Fenster aus hinuntergucken konnte. Es war ein sehr kleiner Hof gewesen mit zertrampeltem Gras.
Eines Tages hatte der Hauswirt den Hof umgegraben, hatte Erde angefahren, schwarz und fett, und hatte Gras angesät. Alles glatt geharkt, gesät, gewalzt. Und dann hatte es geregnet, und ein zarter grüner Schimmer hatte sich ausgebreitet in dem engen Hof.
Und dann war eben der Mann mit dem Ziehwagen gekommen, der hatte das Brennholz bringen wollen und war mit dem schweren Wagen über das zarte Grün gefahren und hatte tiefe Spuren hinterlassen. Der Mann hatte noch versucht, mit dem Fuß die Rillen plattzudrücken, aber vergebens. Und da hatte er sich umgeguckt und war weggefahren.
Daran mußte Sigmund ab und zu denken, wenn er im Wald spazierenging, eine Blume im Knopfloch und leise vor sich hinpfeifend.
Wenn man ihn aufzog, glitt der Blechmüller die Blechleiter hinauf, er hatte einen Blechsack auf dem Kopf, den klinkte er, oben angekommen, ein und fuhr seiner Last ledig wieder hinunter. Danach glitt er die Blechleiter wieder hinauf und nahm den Sack wieder mit hinunter, um ihn, nach kurzer Pause, erneut hinaufzuschieben. So ging das fort und fort, bis das Uhrwerk abgelaufen war.