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Ábel, der Sohn des Arztes, liegt mit dröhnendem Kopf auf dem Bett, zittrig und schweißnaß, als habe er Fieber.

Durch den oberen Teil des geöffneten Fensters sieht er verschwommen einen Baum, ein Dach, einen Schornstein, aus dem eine dünne Rauchsäule aufsteigt. Im Zimmer, diesem niedrigen Raum mit gewölbter Decke, ist es bereits dämmrig, dunkler als auf der Straße; frühsommerliche Wärme dringt herein, die Gaslaternen flimmern grünlich, wie in Nebel gehüllt. Aus der Küche hört Ábel das leise Singen des Dienstmädchens, das beim Bügeln ist. Ab und zu tritt sie mit dem Plätteisen auf den Gang vor der Küche, wirbelt das Eisen über ihrem Kopf herum, um die Glut anzufachen. Funken stieben wie Schwefelhölzchen, die in der Dunkelheit angerissen werden.

Die Freunde hatten sich schon um drei Uhr verzogen. Ihm ist zumute, als wäre er ohne Übergang aus einem schrecklichen Traum erwacht; der Geruch nach Tabak und Likör, noch vom Kartenspiel am Mittag, verursacht ihm Übelkeit.

Doch nun muß er sich aufraffen, es ist sieben Uhr, man erwartet ihn bereits. Vorsichtig bewegt er den Kopf und schaut geistesabwesend um sich. Jetzt wird gleich alles in Ordnung kommen, er muß nur ganz aufwachen, ins Leben hinaustreten und es mit Fleiß und liebenswürdigem Auftreten zu etwas bringen. Er grinst verlegen, setzt sich mühsam auf, bewegt die Beine, in die kribbelnd das Blut zurückfließt. Im Dunkeln tappt er zum Waschkrug, beugt den Kopf über die Waschschüssel und läßt das abgestandene Wasser über die verklebten Haare laufen. Triefend tastet er sich zur Tür und findet den Lichtschalter. Er hat Probleme mit dem Schlucken und gießt Mundwasser in ein Glas, um zu gurgeln.

Das Mädchen muß das Licht im Zimmer des Jungen bemerkt haben, denn es hört auf zu singen. Ábel setzt sich an den Tisch und beginnt zerstreut, sich mit dem flauschigen Handtuch die Haare zu trocknen.

Die Tante würde nicht vor acht nach Hause kommen. Als er noch ein Kind war, hat sie ihm oft erzählt, daß er einmal ihr Vermögen erben würde. Dieses »Vermögen« befand sich nach ihrer Schilderung gut versteckt an einem Ort, wo es vor dem Zugriff von »Börsianern und Agenten« sicher sei. Die Tante haßte die Börse, doch hat sie diesen Haß nie genauer begründet. In der Vorstellung des Jungen blieb die Börse eine finstere Höhle in einem Felsen, und vor dem Eingang kämpfte Ali Baba mit einigen bis an die Zähne bewaffneten Männern, die ihr Geld gegen die vierzig Räuber verteidigten. Die unheilvolle Bedeutung eines Freitags spielte in der Erzählung ebenfalls eine Rolle. Die Tante spricht oft von ihrem Vermögen, berichtet gelegentlich in bedeutsamem Ton, daß sie gerade heute danach gesehen habe und alles in Ordnung sei, Ábel müsse sich über seine Zukunft keine Sorgen machen, das Vermögen sei ihm sicher. Einmal hat der Junge den sicheren Ort ausgespäht – eine Blechbüchse in der Kommodenschublade der Tante – und fand darin alte, aus dem Verkehr gezogene Lombardbriefe, ein paar Banknoten aus der Kossuth-Zeit und verfallene Lotterielose. Nein, das Vermögen der Tante kann hier nicht mehr helfen.

Er tritt vor den Spiegel und betrachtet geistesabwesend sein verknittertes Gesicht, setzt sich dann wieder zurück an den Tisch. Die Frage ist, denkt er, ob Geld hier überhaupt noch helfen kann. Es mag Situationen geben, in denen Geld und alles, was für Geld zu haben ist – Urlaub, Reisen, Distanz –, keinen Sinn mehr hat. Er zieht die Tischlade auf, Hefte und eng beschriebene Blätter liegen ordentlich übereinandergeschichtet darin. Aufs Geratewohl nimmt er ein Gedicht heraus und liest selbstvergessen, halblaut. Das Gedicht handelt davon, daß ein Hund in der Sonne liegt. Wann hat er das geschrieben? Er weiß es nicht mehr.

Das Mädchen klopft, bleibt in der Tür stehen und fragt, ob er zum Abendessen zu Hause sei. Mit in die Hüften gestemmten Armen, lässig an die Tür gelehnt und mit anbiederndem Lächeln, steht sie da. Der Schüler mustert sie und zuckt die Achseln. Das Mädchen bringt einen beißenden, leicht säuerlichen Geruch ins Zimmer, der aus den Falten ihres Rockes aufsteigt und in der Nase kribbelt.

In letzter Zeit hat er manchmal das Gefühl, als überschaue er in jedem Augenblick sein ganzes Leben. Als ob die Veränderung, die mit ihm geschieht, alles an die Oberfläche spült, was er je erlebt hat; als ob er gleichzeitig sich selbst als kleinen Jungen mit seinem Vater sieht und die verlorengegangene Stimme seiner Mutter hört; und Tante Etelka beugt sich mit seltsamen Gebärden über ihn.

Erstaunt sieht er sich um. Das Mädchen folgt verwirrt seinem Blick. Das Zimmer ist in einem heillosen Zustand. Die Clique hat alles zertrampelt und zertreten, zerrissene Bücher liegen unter dem Bett, in der klebrigen Lache einer umgefallenen Likörflasche schwimmt ein gebundener Jahrgang des Witzblattes »Fidibus« und verbreitet einen ekelhaft süßlichen Geruch. Auf dem Plüschbezug eines Sessels ist der dreckige Abdruck eines Schuhs zu sehen. Kissen liegen auf dem Boden.

Er hatte um elf Uhr vormittags die Maturaprüfung abgelegt und im Hof der Lehranstalt auf die anderen drei aus der Clique gewartet, die in der Reihenfolge des Alphabets nach ihm drankamen, und dann sind sie ohne Umwege gleich zu ihm nach Hause gegangen. Béla, der Sohn des Kolonialwarenhändlers, hat erst von hier aus mit seinem Vater telephoniert und ihm gesagt, daß er bestanden habe und nicht zum Mittagessen kommen werde. Tibor gab zu Hause nicht Bescheid, daß er durchgefallen war: Seine schwerkranke Mutter würde es noch früh genug erfahren, am Abend oder morgen. Es war ohnehin nebensächlich, zählte im Augenblick so wenig, daß sie überhaupt nicht darüber sprachen. In sechs Wochen würden sie eingezogen, ob sie sich nun freiwillig meldeten oder nicht, und Ende August wären sie an der Front, auch wenn sie die Ausbildung noch hinauszögerten.

Er setzt sich aufs Bett. Schaut auf das Mädchen. Wenn ich nicht so feige wäre, denkt er, würde ich sie jetzt an mich ziehen und den Kopf an ihre Brust legen. Schade, daß sie nach Küche riecht und ich Küchengeruch nicht ausstehen kann, schließlich komme ich aus bester Familie, mein Großvater hatte ein Gut, und mein Vater ist praktizierender Arzt. Alles hat seinen Grund. Es ist vielleicht gemein von mir, aber ein Geruch kann manchmal stärker sein als die Vernunft. Möglich, daß auch sie meinen Geruch nicht mag; es gibt eben unüberwindliche Hürden zwischen den Menschen.

Das Mädchen ist seit einem Jahr im Haus und hat mit ihren üppigen Formen seine Phantasie schon manchmal angeregt, war ihm Sehnsuchts- und Lustobjekt bei geheimen Träumen und ver botener Selbstbefriedigung. Das Gesicht des Mädchens ist angenehm, weiß und weich, und der blonde Zopf, dicht am Scheitel geflochten, sieht spaßig aus.

Das Mädchen räumt nun das Zimmer auf, und er bittet sie, was ihm ein wenig peinlich ist, mit leiser Stimme um ein Glas Milch. Er genießt dieses kühle, sanfte Getränk der Kindheit, der verlorenen Welt, in kleinen Schlucken, denn seit Tagen haben sie pausenlos Wein und Schnaps in sich hineingegossen, süße, klebrige Spirituosen, die er großspurig stumm schluckte, mochte sich sein Magen noch so sehr dagegen wehren.

Er geht zum Schrank, und während das Mädchen sein Zimmer aufwischt und das Bett macht, nimmt er sich einen frischen Kragen und bürstet seinen Rock aus. Das Mädchen fegt die unter dem Tisch verstreuten Blätter eines Kartenspiels zusammen; jetzt fällt ihm ein, daß er kein Geld mehr hat. In verschiedenen Rocktaschen findet er insgesamt noch drei Kronen, er versteht das im Augenblick nicht, denn die Tante hat ihm am Morgen, bevor er in die Prüfung ging, einen Zwanzigkronenschein überreicht. Er überlegt, wo das Geld geblieben sein kann. Nach dem Festessen, das die Tante gab, fingen sie sofort mit dem Ramschen an, und er hat verloren. Dunkel erinnert er sich, daß er gar nicht hatte spielen wollen, aber einer der Freunde – Tibor oder Ernő – bestand darauf. Er schiebt das Geld in die Tasche und sagt dem Mädchen, man solle mit dem Abendessen nicht auf ihn warten, möglicherweise komme er erst spät heim.

In der Tür bleibt er stehen: Ein Herz-As liegt auf der Schwelle. Zerstreut hebt er die fettige, abgegriffene Karte auf, um sie zu dem Kartenpacken auf dem Tisch, den das Mädchen zusammengekehrt hat, zu legen. Die oberste Karte, die er erblickt, ist ebenfalls ein Herz-As. Vorsichtig, mit zwei Fingern, greift er danach, sieht sich die Karte genau an, dreht und vergleicht sie mit dem As, das er von der Türschwelle aufgehoben hat. Das ungarische Kartenspiel hat im allgemeinen nur ein Herz-As. Aber hier sind zwei davon, beide gleich abgegriffen, fleckig, vertraueneinflößend, mit blaugemusterter Rückseite. Er setzt sich an den Tisch und legt die Karten nach Farben aus. Findet noch zwei Eichel-Asse, zwei grüne Zehner, zwei Schellen-Zehner. Vier Schlager könnte man mit diesen vier Karten beim Siebzehnundvier spielen. Nach dem Ramschen wechselten sie meist zu Siebzehnundvier. Die Doppel unterscheiden sich in nichts von den übrigen Karten des Spiels. Der Falschspieler war mit Bedacht vorgegangen, möglicherweise hatten sie schon monatelang mit den Karten gespielt. Er selbst hat das Kartenpäckchen irgendwann aus dem Schreibtisch des Vaters hervorgekramt. Es war ein jahrealtes, abgegriffenes ungarisches Blatt.

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Die Karten steckt er in die Tasche und geht ins Zimmer des Vaters hinüber. Von der Schwelle aus wirft er einen Blick in das Zimmer zurück, in dem irgendwann seine Mutter gelebt hat. Der Mensch weiß genau, wann er eine Gegend, einen Raum für immer verläßt. Die Familie bewohnte das Haus seit drei Generationen, und dieser Raum war stets das Zimmer der Frauen und Kinder. Vielleicht weil zwischen den betont weiblichen hellen Kirschholzmöbeln unter der niedrigen gewölbten Decke immer der Geruch harmloser Kinderkrankheiten, der Duft von Kamillentee, Veilchenwurz, Mandelmilch und Kindermet hing. Die Mutter hat nur kurz, vielleicht nicht länger als drei Jahre, in dem Haus gelebt; aber so wie Flakons mit starken orientalischen Parfums, die man versehentlich für einen Tag unverschlossen läßt, mit ihrem Duft das Zimmer durchtränken, so hat auch die Erinnerung an die Mutter das Haus ganz durchdrungen. Bestimmte Gegenstände darf noch heute niemand berühren, das Trinkglas, das Nähtischchen, das Nadelkissen – wie unter einem Glassturz sind die Dinge lediglich zur Betrachtung da, obwohl darüber nie gesprochen wurde. An seine Mutter kann Ábel nur wie an eine sehr zarte jüngere Schwester denken, und er weiß, daß die so früh Verstorbene in der Erinnerung des Vaters genauso fortlebt. Er blickt zurück in das Zimmer, in dem er geboren wurde und in dem seine Mutter starb. Dann knipst er das Licht aus.

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Das Zimmer des Vaters wirkt im düsteren Licht der Straßenlaternen, als hätte man erst vor kurzem jemanden hinausgetragen, an dessen Erinnerungsbild die Hinterbliebenen noch nicht zu rühren wagen. Die Gegenstände strahlen eine gewisse Andacht aus, etwas beinahe Sakrales, wie es persönlichen Dingen von Toten anhaftet.

Aber sein Vater ist nicht gestorben; wahrscheinlich steht er in diesem Augenblick in irgendeinem Feld lazarett am Operationstisch und sägt ein Bein ab. Oder er raucht auf seinem Zimmer, hat die Brille abgenommen, wühlt mit einer Hand in seinem Bart. Den Unter suchungs stuhl hier im Zimmer hat Etelka mit einem gehäkelten Tuch abgedeckt, aus Ehrfurcht und aus Gründen des guten Geschmacks, und nun wirkt er wie ein altmodischer Schaukel stuhl. Ábel hat kein Licht gemacht. Er steht in der Tür, die Hände in den Taschen vergraben, fingert mit der verschwitzten Hand an den Karten. Plötzlich breitet sich Hitze in seinem Körper aus: Die Kartenpartien haben zu Weihnachten angefangen, damals, als diese disziplinlose Unruhe um sich griff, in der sie seither leben. Möglich, daß jemand schon von Anfang an gemogelt hat; er selbst verlor immer. Hat alles verspielt, die Kolleg gelder, die Geschenke der Tante, die Summen, die der Vater ab und zu schickt, alles. Kann es sein, daß der Gewinner falschgespielt hat? … Vielleicht fing gerade der Verlierer an zu mogeln, jetzt, kurz vor dem Ende? Ábel sieht die drei Gesichter vor sich, schließt die Augen.

Seit ein paar Tagen ist ihm der Vater wieder ganz gegenwärtig. Kommt im Traum an sein Bett und beugt sich mit ernsten, traurigen Augen über ihn. Natürlich, einen Vater hat jeder. Und jeder ist irgendwo geboren. Was weiß man schon darüber? Vielleicht wird er es verstehen, wenn alles vorbei und er am Leben geblieben ist, wenn er, Ábel, mit Bauch und Bart in einer fremden Stadt durch die Straßen geht und plötzlich stehenbleibt, weil sein Vater auf ihn zukommt, sein Gesicht wie auf der Kinoleinwand übermenschlich groß wird und ganz nah ist, die riesigen Lippen sich öffnen, er etwas sagt, mit einem einzigen Wort sein ganzes Leben erklärt. So tritt manchmal eine Stadt aus der Dunkelheit hervor, wird heller, immer heller, man erkennt jedes Blatt an den Bäumen, die Tore der Häuser öffnen sich, Menschen kommen auf die Straße und beginnen zu reden. Schließlich beugt sich ein Mund über den anderen, und die Augen schließen sich in Ohnmacht.

Im Zimmer ist es kühl. Die Instrumente glitzern in der Glasvitrine. Seine Studien verwahrt Vater unten in der Schublade, auch die histologischen Schnitte von Gehirnen, über deren pathologische Veränderungen er ein Buch geschrieben hat, das er auf eigene Kosten drucken ließ. In der Bibliothek liegen noch Hunderte Exemplare davon. Damals, kurz vor dem Krieg, hat der Vater keine Patienten mehr behandelt, nur drei Besucher kamen noch zu ihm: der Richter, die Dame mit dem Wackelkopf und der schwachsinnige Zigeunerprimas, der sich stets zu den Mahlzeiten einzufinden pflegte und die am Tisch Sitzenden mit seinem Geigenspiel unterhielt. Vater behandelte die drei Kranken wie Familienmitglieder. Diese Patienten verehrten ihn. Meistens saßen sie nach dem Abendessen im Raum wie enge Verwandte, die sich zu leutseliger gegenseitiger Bewunderung versammelt haben. Die Dame mit dem Wackelkopf und Etelka häkelten, der Richter saß mit ernster, erwartungsvoller Miene unter dem Kristalllüster und hielt den Knaben auf dem Schoß; der Zigeunerprimas stand, den Bogen in der Hand, die Geige unter dem Arm und etwas zur Seite geneigt, in der lässigen, von Ansichtskarten geläufigen Pose des berühmten Künstlers neben dem Klavier. Stundenlang verharrten sie schweigend, als warteten sie auf etwas, während der Vater, über den Tisch gebeugt, mit seinen histologischen Präparaten herumwerkte und sich nicht um sie kümmerte. Gegen elf gab er mit einer Hand das Zeichen, daß sie nun aufbrechen könnten. Dann verneigten sie sich tief und gingen. Nur äußerst selten geschah es bei diesen Zusammenkünften, daß Vater etwas sagte, die Patienten wandten sich ihm in solchen Fällen mit ehrfurchtsvollem, fast schon schmerzhaft ernstem Gesichtsausdruck zu; hörten sich die Offenbarung an, gewöhnlich etwas so Bedeutsames wie »ein kühler Tag heute« – und zogen sich dann kopfnickend in ihre Welt des tiefgründigen Sinnierens zurück. Die Dame mit dem Wackelkopf unterstrich durch pausenloses Zwinkern, daß sie dem Gehörten zustimme, der Richter und der Zigeunerprimas grübelten mit in Falten gelegter Stirn weiter über den tieferen Sinn der soeben vernommenen Worte nach. Ábels Kindheit war randvoll mit solchen Abenden.

Zwei Szenen, die sich in diesem Zimmer zugetragen haben, sind ihm besonders gegenwärtig. Die eine ruht ganz tief unter allen anderen Erinnerungen. Er ist vier oder fünf Jahre alt, sitzt allein auf dem Fußboden in diesem Zimmer und spielt. Der Vater tritt ein, setzt sich zu ihm auf den Boden und fängt ganz unvermittelt an zu singen:

»Au claire de la lune

Mon ami Pierrot …«*

Er kennt das Lied, Etelka hat es ihm beigebracht. Vaters Mund öffnet und schließt sich, das Gesicht ist in einer merkwürdigen Grimasse zum Lachen verzogen, mit spaßigem Lispeln quillt der Gesang durch das riesige Gebiß hervor. Er ahnt, daß der Vater alles wiedergutmachen will, was sich seit dem Augenblick seiner Geburt zwischen ihnen zugetragen hat, das Schweigen, die Einsamkeit, die Distanz, das Blendwerk, in dessen Bann sie bisher nebeneinander lebten; er will den Bann mit Hilfe dieser einzigen Bewegung lösen, mit der er sich jetzt neben ihn kauert und launig ein Kinderlied singt. Ist er verrückt geworden? – denkt Ábel. Die Stimme des Vaters wird zaghafter. Er singt noch:

»Ma chandelle est morte,

Je n’ai plus de feu …«,

aber dann schauen sie sich in die Augen und schweigen. Auf dem Hauptplatz steht ein Denkmal, ein riesiger Soldat, in Bronze gegossen, der dem Despoten seine Waffe an die Brust setzt: Ábel hat das Gefühl, als wäre diese Figur vom Sockel gesprungen und würde in voller Montur auf allen vieren zu rennen beginnen. »Plus de feu …«, wiederholt er mit zitternden Lippen, um den Vater zu trösten, und empfindet unsägliches Mitleid mit ihm. Er beginnt zu weinen. Der Vater rappelt sich langsam hoch, geht zum Tisch, schiebt die Bücher hin und her, als suche er etwas, merkt, daß das Kind seine Bewegungen verfolgt, zuckt die Achseln und verläßt dann das Zimmer. Es dauert lange, bis sie sich danach wieder in die Augen sehen, als wären sie zwei Menschen, die das Geheimnis einer demütigenden Lüge zu Komplizen gemacht hat.

Sehr viel später, vielleicht nach zehn Jahren, sitzt der Vater eines Abends hier am Tisch im Lichtschein der Lampe und studiert einen seiner histologischen Schnitte, als der Knabe eintritt. Es ist früher Nachmittag, im Winter. Der Knabe bleibt im Halbdunkel stehen, doch der Vater streckt die Hand aus, winkt, er solle nähertreten. Zwischen zwei Glasplättchen klebt eine bläuliche trokkene Materie mit Flecken und Linien, wie man sie von topographischen Landkarten kennt. Der knochige Finger des Vaters folgt den Linien dieser sonderbaren Karte mit ihren Verzweigungen, ertastet Erhebungen, zieht vorsichtig jede Kurve nach und klopft aufs Glas, wo die Linie am Rand des Plättchens abbricht.

»Dies ist mein schönstes Präparat«, sagt der Vater.

Der Knabe weiß, daß der Finger des Vaters in den Strukturen eines Gehirns herumkurvt. Das Bild unter Glas ist vielfältig, voller gefährlicher, unruhiger Windungen. Was für eine Landkarte – denkt er. Der Vater beugt sich über das Präparat, das Licht fällt jetzt grell auf sein Gesicht, das einen quälenden Zug von Neugier zeigt, eine schmerzliche, hilflose Neugier – diese Anspannung verzerrt die sonst so beherrschten Züge fast zu einem Grinsen. Unwillkürlich beugt auch Ábel sich näher.

Der Finger des Vaters gelangt tastend und kreisend zu dem Punkt der Struktur, an dem die Kurve aus einer Verknotung in mehrere Richtungen zerfällt. Wie ein Geologe, der sich auf der Karte einer fremden Landschaft nicht zurechtfindet, wie der Arzt, der ungeduldig und hilflos am Geheimnis des ertasteten kranken Körperteils fühlt und klopft. »Das war ein ruthenischer Bauer«, sagt der Vater nachdenklich. »Eines Tages hat er seine ganze Familie ausgelöscht. Die Eltern, die Frau, seine beiden Kinder. Das ist mein schönstes Präparat.«

Ábel beugt sich über die bläuliche eingetrocknete Materie. Im Gesicht des Vaters löst sich die quälende, angespannte Neugier, es wird leer, die knochige Hand schiebt das Präparat weg, und die Augen starren jetzt ausdruckslos vor sich hin.

Am Abend hat der Vater immer Geige gespielt. Jeden Abend spielte er, niemand durfte dann das Zimmer betreten. Nach dem Abendessen zog er sich zurück und kämpfte eine Stunde lang mit dem sich wehrenden, störrischen Instrument. Der Vater hat nie Unterricht gehabt, eine eigenartige Scheu hielt ihn davon ab, sich von jemandem unterweisen zu lassen. Miserabel und, wie der Junge fand, bösartig hat er gespielt. Aber er wußte selbst, daß sein Spiel ein trotziges und hoffnungsloses Unterfangen war. Und er duldete nicht, daß man in seiner Anwesenheit sein Musizieren erwähnte. Doch die quälenden Töne erfüllten die ganze Wohnung. Dieses sich Abend für Abend wiederholende Ringen mit der Geige wirkte auf Ábel so, als gäbe sich der Vater in seinem Zimmer, in gewisser Weise schadenfroh, einer häßlichen und schandbaren Leidenschaft hin. Da schloß auch Ábel sich in sein Zimmer ein, saß im Dunkeln, hielt sich die Ohren zu; starrte mit zusammengepreßten Lippen vor sich hin und wartete. Jetzt ruhte die Geige oben auf dem Schrank mit den medizinischen Geräten.

Den Tod des Vaters stellte Ábel sich wie einen Bergsturz vor. Noch ist nichts Besorgniserregendes mit ihm geschehen, nur war er, wenn er auf Urlaub kam, noch schweigsamer als sonst.

Ábel drückt sich den Hut auf den Kopf, macht unwillkürlich eine Verbeugung zum Schreibtisch hin und verläßt den Raum.

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Im Treppenhaus begegnet er der Tante. Sie ist in vollem Putz, bleibt stöhnend stehen. Die beiden geben sich einen Kuß. Die Tante bittet ihn, sich den Mantel anzuziehen und nicht zu spät nach Hause zu kommen. Für einen Augenblick ist er versucht, sich an ihre Brust zu werfen und ihr alles zu sagen.

Das Treppenhaus mit den im Halbkreis umlaufenden breiten Stufen und den alten Stichen, die steinerne Stadthäuser zeigen, wirkt herrschaftlich. Die Stufen sind mit einem vielfarbigen Bauernteppich belegt. Die verglaste Diele diente einst als Wartezimmer für Vaters Patienten, sie war getränkt vom Geruch fremder Menschen, der sogar noch stärker war als der penetrante Jod- und Äthergestank aus Vaters Medikamentenschrank.

Ernős Vater roch nach Kleister und Rohleder. Der Dunstkreis von Bélas Vater bestand aus einer Mischung von orientalischen Gewürzen, Salzhering und dem welken Geruch von überreifen Früchten. In Tibors Familie herrschte ein diskret von Lavendel überdeckter Armuts- und Krankheitsgeruch vor, dazu kamen die Ausdünstungen von gegerbtem Leder. Das Gewerbe der Väter prägt die Wohnungen auf unerbittliche Weise. Wenn Ábel an das elterliche Heim denkt, hat er die leichte nüchterne Ätherwolke in der Nase, aufdringlich und zugleich betäubend. Jeder Winkel der Wohnung lebt auf diese Weise in ihm; und wenn er sich nach diesem Kompaß der Gerüche orientiert, kann er sich jeden einzelnen Winkel in Erinnerung rufen.

Die Tante verstaute ihre Gesundheitsmittel und Reinigungspräparate im dunklen Korridor zwischen Küche und Speisezimmer, Weingeist, Terpentin, Salmiakgeist, Benzin, Chlor, Petroleum, von allem größere Vorräte, denn in Kriegszeiten waren solche Waren rar, und auch jetzt kommt sie von einem ihrer geheimnisvollen Besorgungsgänge zurück. Schleppt in ihrem gehäkelten Einkaufsnetz, das stets an ihrem Arm hing, wenn sie in der Stadt unterwegs war, zwei Kilo soeben erbeuteter Stärke, dazu Reis und frisch gerösteten Kaffee. Ihr schwarzer Hut, zum Gedenken an einen unbekannten Toten mit einer Trauer schleife geschmückt, thront auf dem Haarkranz. Ihre spitze gelbe Nase berührt kalt das Gesicht des jungen Mannes.

Etelka war als entfernte Verwandte ins Haus gekommen, als Gast für kurze Zeit – und sie blieb nach Mutters Tod hängen, als Magd, als Mutterersatz, ohne Bezahlung, stets zum Aufbruch bereit, unerschütterlich. Ábel hatte sie gern. Sie war die »andere Welt«, wie er sie nannte, er mochte sie, weil sie leise sprach; sie klammerte sich mit der zähen und unerbittlichen Liebe kinderloser Menschen an die beiden Wesen, auf die sie ihr ganzes Leben ausrichtete. Eine altjüngferliche Person, die sich statt Hund und Katze zwei Menschen hielt, Vater und Sohn. Ábel wußte, daß Etelka ohne Zögern auch für sie sterben würde.

Sie konnten seit langem nicht mehr miteinander reden.

Das Haus, dieses einstöckige Gebäude mit den niedrigen Räumen, hatte schon immer etwas von der Atmosphäre eines Treibhauses. Die Fassade unter dem Doppelwalmdach wirkte gedrungen. Die gelben Wände waren von roten Regenrinnen eingefaßt, und am Toreingang hingen zu beiden Seiten eiserne Laternen, die mit grünlichem Öl glänzend poliert wurden. Auch das Gärtchen, ein handbreites Gartenstück, wie es zu alten Stadthäusern gehört, wirkte in seiner wenige Quadratmeter messenden Enge wie ein Gewächshaus. Es war auf drei Seiten von hohen Brandmauern umgeben. Im Sommer wucherte üppiges Unkraut darin. Seit dem Tod der Mutter lebten Etelka, der Vater und Ábel in diesem Haus und in diesem Gärtchen, völlig zurückgezogen; auch das Personal wechselte selten. Später kam Ábel in den Sinn, daß Etelka den Vater mög licher weise geliebt hat, vielleicht gab es eine Zeit, in der ihr schwärmerisches Verhalten Vater gegenüber noch etwas anderes bedeutete. Aber darüber hat nie jemand ein Wort verloren. Auch für Ábel ist es in der Erinnerung wie etwas Ungeschehenes, wie eine Gewitterstimmung, bei der sich das Zimmer für Augenblicke verdunkelt, ohne daß aus den bedrohlichen Gewitterwolken Regen niederprasselt und sich ein Gefühl der Erleichterung einstellt, ein Nachlassen der Anspannung.

»Du hast lange geschlafen«, sagt die Tante. »Ich wollte warten, bis du aufwachst. Ihr habt auch Likör getrunken, nicht wahr? Meide solche Getränke, mein Liebling, sie sind schädlich in deinem Alter. Ich bin eine alte Frau, Ábel. Ich kann nur darum bitten, daß du aufpaßt. Du bist dabei, ins Leben hinauszutreten, mein Kind. Natürlich sollt ihr feiern, nachdem ihr so viel für die Schule gelernt habt. Aber du mußt aufpassen. Wann trefft ihr euch? Egal, wie spät es ist, wenn du heimkommst, schau doch noch zu mir herein. Alles ist schon wieder teurer geworden; Stärke, Eier. Wenn dein Vater demnächst kommt, bringt er hoffentlich Lebensmittel mit. Morgen schreiben wir ihm und berichten, daß du die Matura prüfung bestanden hast. Küß mich.«

Sie beugt sich vor und drückt ihr Gesicht an das des Jungen. Einen Augenblick verharren sie so. Man lebt neben einem Menschen und weiß lange gar nichts von ihm. Eines Tages spürt man dann, daß er einen überhaupt nichts mehr angeht. Dies hier war der eine Teil seiner Welt, die Tante, Mutters Möbel, der Garten, Vater, das Geigenspiel, Jules Verne und am Allerseelentag der Gang mit der Tante zum Friedhof. Diese Welt war so stark, daß nichts, was von außen hereinbrach, sie zerstören konnte, auch nicht der Krieg. Vor einem Jahr drang dann plötzlich durch einen Spalt etwas ein, das man nicht voraussehen konnte. Da erfuhr er, daß es noch eine andere Welt gibt. Und alles hat sich seither verändert. Was bis dahin süß war, wurde bitter, Saures schmeckte jetzt wie Galle. Aus dem Treibhaus wurde ein Urwald. Und die Tante bedeutete ihm soviel wie eine Tote, oder weniger.

Die verglaste Tür fiel ins Schloß, die Klingel ertönte kurz, und der Ton schwebte durch die Luft und drang in alle Räume des stillen Hauses. Am Tor blickte er noch einmal zurück: Die Tante stand mit gefalteten Händen hinter der Glastür und sah ihm nach.

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Die Fenster des Theaters sind festlich erleuchtet. Vor dem Seiteneingang, der zu den Logen führt, wartet ein Wagen. Ábel geht über die Hauptstraße und beschließt, Ernős Vater zu besuchen.

Der Schuster ist vor anderthalb Jahren mit einem komplizierten Lungendurchschuß heimgekommen, spuckt seither ständig Blut. Er bewohnt im engen Fischergäßchen in einem schmalen, hohen Haus das Kellergewölbe, das ihm zugleich Werkstatt und Wohnung ist. Von der Gasse führen fünf niedrige Stufen in die Behausung hinab. Rechts und links vom Eingang hängen Tafeln, vom Schuster in kunstvoller Pinselschrift erstellt: Sprüche in nebelhafter biblischer Sprache, durchsetzt von verschwommenen Bildern und Wortgirlanden, rufen sie die Menschheit dazu auf, genügsam zu leben und sich zu Christus zu bekehren. »Jüngling, halte den Schild deines Glaubens hoch!« mahnt eine Tafel. Eine andere: »Gottes Wohlgefallen findest du nicht ob deiner großen Klugheit, Kraft oder ob deines Ranges, noch deiner Frömmelei, doch wenn du Jesu dein Herz öffnest, so wird er den Schleier der Vergebung über deine Vergangenheit legen und dich zur Herrlichkeit Gottes vorbereiten.« Und: »Wie die eherne Schlange, großer Retter, erhebe dich zu den Herzen, damit die vom Leben Betrogenen durch dich zum Heil gelangen.« Und mit Riesenlettern: »Auch der Tod setzt nicht unbedingt mit dem Sterben ein. Viele weilen schon im Totenhemd unter uns. Dem Tod verschrieben, lege noch heute dein Leben in deines Jesu Hand, so wirst du zur Todesangst keinen Grund mehr haben.«

Die Menschen bleiben stehen, lesen kopfschüttelnd und gehen verblüfft ihres Wegs.

In der Werkstatt herrscht schummriges Licht, das brodelnde Kleistertöpfchen erfüllt den Raum mit beißendem, gärend saurem Geruch. Der Schuster sitzt, dicht zum Licht der Karbidlampe gebeugt, am niedrigen Tisch wie ein großes zotteliges Insekt, das sich, vom magischen Schein des Lichts angezogen, hier niedergelassen hat. Als er den Jungen erblickt, legt er alles, was er in der Hand und im Schoß hält, sorgfältig auf dem Tisch ab: ein großes Stück rohes Sohlenleder, den Kneif, das Schustergarn und einen abgetragenen braunen Halbschuh.

Erst dann erhebt er sich und verbeugt sich tief. »Gesegnet sei der Name des Herrn, der uns im Glauben stärkt und über unsere Feinde triumphiert.«

Ábel ist stets entzückt, wenn der Schuster die feierliche und hehre Begrüßung in so selbstverständlichem und beiläufigem Ton spricht, als sage er »Habe die Ehre«. Der Schuster ist ein kleingewachsenes, verhutzeltes Männlein, von der Krankheit schon fast aufgezehrt. Bleischwer hängt der Lederschurz an ihm, es sieht aus, als müsse er jeden Augenblick nach vorn kippen, zu Boden fallen. Ein Bein ist kürzer, das hatte er sich noch vor dem Lungendurchschuß geholt. Der lange Schnurrbart fließt förmlich aus dem mageren, knochigen Gesicht hinab und verwebt sich mit dem struppigen Vollbart und dem ungeschorenen, widerborstigen Haupthaar, das mit seinen stacheligen Zotteln wie eine Drahtperücke den Schädel umgibt. Seine tiefliegenden, großen schwarzen Augen schimmern trübe, und das Weiße in seinen Augen ist so groß wie der Augapfel eines Negers.

»Der junge Herr sucht meinen Sohn Ernő«, sagt der Schuster und bietet Ábel mit der auffallend kleinen, kränklichen weißen Hand einen Platz an. In seinen Bewegungen ist viel natürliche Anmut. Er selbst bleibt stehen, stützt sich auf einen kurzen, krummen Stock, steht so dem Gast gegenüber. »Mein Sohn Ernő ist nicht zu Hause. Und wenn man es richtig bedenkt, kann man auch kaum von ihm verlangen, daß er hinfort seine Zeit in der Behausung seiner Eltern verbringt. Die jungen Herren haben heute die Maturaprüfung abgelegt und sind somit vor Gott und der Welt auf eine höhere Stufe der Gesellschaftsordnung gelangt.«

Er redet ohne Nuancierung und Leidenschaft, seine Stimme bleibt farblos, als bete er oder sage eine Litanei auf.

»Mit dem heutigen Tag«, so fährt er fort, »hat auch mein unwürdiger Sohn Ernő seinen Platz unter den herrschaftlichen Söhnen eingenommen. Wie untrügliche Zeichen belegen, war es nicht der Wille des Herrn, daß mein Sohn seinen Eltern in ihren alten Tagen eine Stütze sein soll. Seine Bestimmung ist vielmehr, daß er in Herrschaftskreisen lebt und hinkünftig mein Feind ist. Es wäre töricht von mir, mich gegen den Willen des Herrn aufzulehnen. Mein Sohn ist heute in den stolzen Kreis der herrschenden Klasse eingetreten und wird somit zwangsläufig zum Gegner seiner minderwertigeren Eltern, seiner Verwandten und unzähliger Mitmenschen.«

Er macht eine Handbewegung in der Luft, als wolle er seinen Segen erteilen. »Wer im Tun und Handeln der Menschen die Absicht des Schöpfers erkennt, der nimmt selbst Krankheit, Unheil und Zwietracht unter Familienmitgliedern ergeben an. Mein Sohn Ernő ist schweigsam, und er verachtet die Kunst der Rede, mit der ich vom Allmächtigen bedacht worden bin, auf daß ich meine Pflicht erfülle. Die Ströme sind zu Tal geflossen, die Gebirge stürzten ein. Zweifellos hat die Stunde geschlagen, und auch die Herren klasse entrichtet ihren Blutzoll. Millionen Tote liegen in den Erdlöchern, und meiner Wenigkeit war es beschieden weiterzuleben, während die Herrenklasse unfreiwillige Opfer bringt, der Erde und den Gewässern.«

»Zweifellos, Herr Zakarka«, sagt Ábel. »Könnte ich mit Ernő sprechen?«

»Jawohl«, fährt der Schuster unerschütterlich fort. »Geruhen Sie, darüber nachzudenken, welch große Sache das ist. Bisher war zu beobachten, daß die Herrenklasse dank hoher Bildung und allenthalben nachgewiesener Vortrefflichkeit von Schicksalsschlägen verschont geblieben ist, etwa von Erdbeben, Hochwasser, Feuersbrunst und von Krieg, sofern Gott ihr nicht das Kainsmal aufgedrückt hatte. Bis dahin galt, daß es auf der Welt zwei Klassen gibt, die weniger miteinander gemein haben als Heuschrecken und Bären. Belieben Sie zur Kenntnis zu nehmen, daß die letzte Stunde geschlagen hat. Die Söhne der Herrenklasse liegen zusammen mit den Angehörigen der niederen Klasse in der Kalkgrube. Feuer zerstört die Welt. Propheten stehen auf, und ihre Stimmen werden deutlich vernehmbar sein, auch meine Stimme hat der Herr auserkoren, auf daß man sie höre und ihr folge.«

Im flackernden Licht der Karbidlampe wirft die Gestalt des Schusters einen langen Schatten. Von Zeit zu Zeit hustet er, sagt jedesmal »mit Verlaub«, humpelt in eine Ecke der Werkstatt und spuckt lange und ausgiebig.

Ábel sitzt nach vorn gebeugt. Er weiß, daß er abwarten muß, bis der Schuster mit seinen Sprüchen am Ende ist. Auf einer Stellage, zwischen zerbeulten Töpfen, liegt die Bibel, an der Wand hängt ein meterhohes Kruzifix mit kindsgroßer Christusfigur. Der Schuster bewegt sich schwankend, stützt sich schwer auf den Stock.

Nach dem Hustenanfall fährt er mit krächzender Stimme fort: »Was meinen Sohn Ernő betrifft«, und dabei verbirgt er seine Hände unter dem Lederschurz, »ihn haben die jungen Herren gütigerweise in ihren Kreis aufgenommen, wofür er ihnen Dankbarkeit schuldet, auch wenn die jungen Herren längst nicht mehr sein werden. Nach menschlichem Ermessen wird mein Sohn Ernő infolge seiner körperlichen Schwäche und der ererbten Krankheit die jungen Herren überleben, die ihm so viel Güte zuteil werden ließen und die sich jetzt als tauglicher erweisen, dem heldenhaften Beispiel ihrer Herrenväter zu folgen, als mein vom Schicksal benachteiligter Sohn. So zeigt sich, daß auch Krankheit und Schwäche ihren Sinn haben. Die jungen Herren werden hinausgehen, dorthin, wo wir im Angesicht des Todes alle gleich sind; mein Sohn Ernő aber bleibt hier. Er wird ein Herr sein, wenn die Stunde der Heimsuchung vorüber ist, und auf denen, die übrigbleiben, ruhet die besondere Gnade des Herrn. Ich beabsichtige, diese Stunde noch zu erleben.«

Nach dieser Verheißung nickt er leicht und höflich, verbeugt sich gleichsam entschuldigend, wie einer, der nicht anders kann. Ábel betrachtet das Kruzifix.

Der Schuster folgt mit strenger Miene seinem Blick. »Die jungen Herren waren sehr gütig zu meinem Sohn. Ganz besonders der Sohn des gnädigen Herrn Prockauer. Das darf ich nicht vergessen. Der junge Herr Prockauer, auch wenn er persönlich noch nicht die Würde erlangt hat, so steht er doch aufgrund der weltlichen Reputation seines Herrn Vaters auf einer so hohen Rangstufe, daß seine Freundschaft meinen Sohn für alle Zeiten ehrt. Ernő weiß, was er den Herren schuldet. Seine Schweigsamkeit und mein bescheidenes Denkvermögen, welches die Absicht der Herren nicht ganz zu begreifen vermag, könnten der Grund dafür sein, daß er von seiner Dankbarkeit nie mit mir geredet hat. Doch was man im Wachzustand nicht ausspricht, verrät zuweilen der Schlafende. Ernő hat den jungen Herrn Prockauer im Traum mehrmals beim Vornamen gerufen.«

»Tibor?« fragt Ábel. Seine Kehle ist ganz trocken.

Der Schuster tritt in die mit einem Vorhang abgeteilte Kammer des Kellerraums. »Hier schlief ich zu seinen Füßen«, sagt er, zieht mit einer Hand den Vorhang zur Seite und weist auf das Schubladenbett: »Ich zog mich auf das härtere Lager zurück, hierher auf den Boden, und überließ mein Bett dem Sohn, damit er sich angemessener auf das Herrenleben vorbereiten kann. Und von hier hörte ich mehrfach, wie er im Traum den Taufnamen des jungen Herrn Prockauer aussprach. Man ruft im Traum nur dann den Namen eines Menschen, wenn man leidet. Ich vermag nicht zu sagen, worunter mein Sohn im Traum gelitten hat, als er den Namen des jungen Herrn rief.«

Er läßt den Vorhang fallen, als breite er einen Schleier über eine trostlose Entdeckung.

Hier lebt Ernő, denkt Ábel.

Er hat sich nie vorzustellen gewagt, wo Ernő daheim schläft, was sie essen, worüber sie reden. Letzte Woche war er mehrmals in der Werkstatt, aber immer nur, wenn Ernő nicht zu Hause war, und der Schuster hat ihm nie die Kammer gezeigt, in der er mit seinem Sohn haust. Hier also schläft Ernő zusammen mit dem Vater, und die Mutter bereitet sich vermutlich in der Werkstatt ihr Schlaflager.

»Vielleicht«, sagt der Schuster, »hat mein Sohn den Namen des jungen Herrn Prockauer gerufen, weil er ihm gegenüber ein Gefühl der Dankbarkeit empfindet. Der junge Herr hat meinen Sohn schon seit langem mit seiner Gunst erfreut. Bereits in den unteren Klassen durfte Ernő die Schulbücher vom Sohn des Herrn Oberst mit nach Hause nehmen. Und später, als der junge Herr die Schule mit durchaus verzeihlichem Leichtsinn etwas vernachlässigte, hat der Herr Oberst meinen Sohn dadurch ausgezeichnet, daß er Tibor beim Lernen behilflich sein durfte. Die Gunst der Herren ist unermeßlich. Der Güte des Herrn Oberst habe ich zu verdanken, daß ich an der Front der Läuterung teilhaftig werden durfte.«

»Wessen teilhaftig?« fragt Ábel und beugt sich vor.

Der Schuster richtet sich auf. »Der Läuterung. Die Stunde, da wir über alles reden, ist noch nicht gekommen. Läutern kann sich nur, wer gedemütigt worden ist. Der Herr Oberst, dessen Sohn meinem Sohn so viel Güte entgegenbrachte, gab mir Gelegenheit, mich zu läutern, als er während der Abwesenheit des offiziellen Exekutionsorgans gerade mich beauftragt hat. Dreimal hatte ich Gelegenheit, mich zu läutern.«

Er streckt seine beiden Hände vor: »Wer das Leben gibt, dem ist jedes Mittel recht, das Leben auch wieder zu nehmen. Geruhen Sie bitte in Erwägung zu ziehen, was wir alles dem gnädigen Herrn Prockauer zu verdanken haben. Nicht nur durfte mein Sohn seinen Sohn unterrichten und konnte in dessen gebrauchten Kleidern im Kreis der Herrschaft, dem er nun angehören wird, in passender Garderobe angemessen auftreten; auch habe ich, der Vater, ihm zu verdanken, daß ich mich im Rahmen der großen Läuterung, die der Herr der Welt auferlegt hat, gleich dreimal läutern konnte. Mit diesen meinen beiden Händen. Der junge Herr weiß das nicht?«

»Sie, Herr Zakarka?« fragt Ábel und steht auf. Er verspürt keinerlei Erschütterung, ist eher tief verwundert.

»Dreimal. Hat mein Sohn es vor den Herren nicht erwähnt? Vielleicht wollte er sich mit der Läuterung seines Vaters nicht hervortun, und das war auch recht so, denn es schickt sich, daß ein Mensch von niederer Herkunft auch dann bescheiden bleibt, wenn ihn die Herrschaften in ihrer Großherzigkeit in ihrem Kreis aufnehmen. Ja, dreimal ist es mir gelungen, mich zu läutern. Denn Sie sollten wissen, der Krieg, den Gott uns in seiner Güte auferlegt hat, damit wir unsere Sünden bekennen, gibt dem Menschen bei all dem großen Sterben kaum Gelegenheit, zur Läuterung zu gelangen. Sagen wir, mit einer Waffe zu zielen und aus einer gewissen Entfernung jemanden zu töten, das ist nicht das gleiche, wie mit den eigenen Händen ein Leben auszulöschen, ich meine, unmittelbar. Es ist schon etwas anderes, wenn wir mit den Händen jemanden im Genick fassen und ihm die Wirbel brechen, als wenn wir einem Mitmenschen mit scharfem Instrument eine Wunde beibringen, und natürlich wieder etwas anderes, mit Hilfe von Explosionsstoff aus beträchtlicher Entfernung eine Bleikugel in einen menschlichen Körper zu jagen. Diese Abstufungen sind von großer Bedeutung. Läutern kann sich der Mensch nur, wenn er den Tod unmittelbar zufügt. Zudem waren auch noch alle drei Delinquenten Herren.«

»Wer waren sie?« will der Junge wissen.

Sie stehen sich Aug in Auge gegenüber.

Der Schuster beugt sich ganz nah zu ihm hin. »Tschechische Offiziere. Vom Standpunkt des Vaterlandes aus gesehen Verräter. Seitens des Herrn Oberst war es eine besondere Gunst, daß er mir Herren anvertraut hat und nicht gewöhnliches Volk; dafür werde ich ihm ewig dankbar sein. Wie gesagt, meine Familie ist der Familie des Herrn Prockauer zu besonderem Dank verpflichtet. Wie ich höre, hat sich der Zustand der gnädigen Frau verschlechtert.«

»Wann haben Sie das gehört?« fragt Ábel hastig.

Er bereut die Frage sogleich. Die Augen des Schusters kreisen im Raum und bohren sich plötzlich mit scharfem, flammendem Blick in seine Augen. Als ob er in gleißendes Licht schauen würde; Ábel schließt die Augen. Der Zustand von Tibors Mutter ist seit Tagen besorgniserregend. Diese Besorgnis aber löst sonderbare Gefühle aus. Sie sprechen nicht darüber. Die Gattin von Oberst Prockauer ist seit drei Jahren bettlägerig, ihr Zustand wechselt, doch sie verläßt das Bett nicht. Ihr älterer Sohn, der vor einigen Monaten von der Front zurückgekommen ist, als Fähnrich und mit nur einem Arm, beteuert ver bissen, die Frau Oberst könne sehr wohl laufen, wolle aber nicht. Er erzählt, daß sie nachts, wenn die Jungen schlafen, das Krankenbett verlasse und in der Wohnung herumgehe. Falls im Zustand von Tibors Mutter irgendeine Wende eingetreten ist, muß schnellstens gehandelt werden, denn der Oberst könnte dann jeden Augenblick auftauchen.

Ábel wagt nicht, den Schuster anzusehen, der ganz nah vor ihm steht und in der Dunkelheit aussieht, als sei er größer geworden. Ábel weiß, daß sie gleich groß sind, und hat jetzt dennoch das Gefühl, er müsse zu seinem Gegenüber aufschauen. Die Augen des Schusters erlöschen langsam. Beide senken den Blick.

»Das geht mich nichts an«, sagt der Schuster. »Ich bitte den jungen Herrn untertänigst, vor Tibor die Angelegenheit nicht zu erwähnen. Der ältere Sohn des Herrn Oberst Prockauer war hier, weil auch er meinen Sohn Ernő gesucht hat. Im Gespräch kam die Rede darauf.«

»Worauf?«

Die Flamme der Karbidlampe flackert.

Der Schuster humpelt zum Licht und dreht die Flamme vorsichtig herunter. »Auf was man im Lauf eines Gesprächs eben so kommt. Der junge Herr Lajos, wenn ich ihn als alten Frontkämpfer und Kameraden so nennen darf, hat für das Vaterland ein großes Opfer gebracht. Er sucht mich von Zeit zu Zeit auf. Und dann sprechen wir über vieles. Der junge Herr Lajos hat in dem Zusammenhang auch angedeutet, daß der junge Herr Tibor Sorgen habe. Ich darf nicht verschweigen, daß der junge Herr Lajos beim großen Blutopfer über den Verlust seines Arms hinaus auch ein geistiges Opfer gebracht hat. Er erinnert sich an vieles, was er sagt, später nicht mehr. Und wenn er etwas sagt, will er schon bald darauf nichts mehr davon wissen. Er erwähnte, daß eine Verschlechterung des Zustands der gnädigen Frau nicht ganz ausgeschlossen sei. Man müsse auf alles gefaßt sein, sagte er. Daher ist es mir bekannt.«

Ábel weiß nichts Genaues darüber. Vielleicht hat der Einarmige auch nur phantasiert. Der ältere der Prockauer-Brüder führt sich, seit er von der Front zurück ist, gelegent lich etwas sonderbar auf. Was er früher mied und geringschätzte, die Gesellschaft und die Amüsements seines jüngeren Bruders, sucht er nun geradezu mit Beharrlichkeit. Nach und nach haben sie ihn in alles eingeweiht. Er war es, der die Bekanntschaft des Schauspielers gemacht hat. Ábel überlegt: Sie kannten den Schauspieler seit längerem vom Sehen, aber der Einarmige war der erste in der Clique, der persönlich mit ihm Verbindung aufnahm und ihn dann den anderen vorstellte. Sicherlich hatte Lajos mal wieder den Mund nicht halten können.

Er muß mit dem Schuster über Tibors Sorgen gesprochen haben, und das bedeutet, daß ihr gemeinsames Geheimnis verraten worden ist. Es wäre gut zu erfahren, wie weit er den Alten eingeweiht hat. Zakarka ist ein geschwätziger Mensch, wenn auch auf seine sonderbare Weise, und nicht jedem gegenüber in gleichem Maße. Von Ernő weiß Ábel, daß der Schuster kein Wirtshaushocker ist und daß er seine weltanschaulichen Tiraden über die neue Ordnung zwischen Arm und Reich, den Zusammenbruch und die Erneuerung der Welt nur vor Auserwählten hält.