Das Gespenst in der Ingenieurburg
Drei mörderische Geschichten aus dem Zarenreich
Herausgegeben, aus dem Russischen übersetzt und mit einem Vorwort versehen von
Aljonna Möckel
ISBN 978-3-96521-403-3 (E-Book)
ISBN 978-3-96521-439-2 (Buch)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
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Als ich vor mehr als einem halben Jahrhundert, damals Studentin der Slawistik / Romanistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, meine Staatsexamensarbeit über den weltbekannten Schriftsteller Anton Tschechow schrieb, hatte ich noch keine Ahnung, dass ich später einmal Literatur aus dem Russischen ins Deutsche übertragen würde. Ich hatte ein Pädagogikstudium mit den oben genannten Fächern hinter mir und wollte Lehrerin werden. Im letzten Studienjahr wurde mir von meinem Professor dann aber eine Stelle als Wissenschaftliche Assistentin am Slawischen Institut angetragen, die ich – nach einem Jahr Schuldienst – auch antrat. Ich bereitete mich auf eine Hochschultätigkeit vor.
Mein besonderes Interesse galt der Literatur des 19. Jahrhunderts, auch wenn ich mich zunächst mit früher sowjetischer Lyrik zu befassen hatte, die allerdings gleichfalls sehr interessant war. Doch mein anscheinend vorgezeichneter Weg nahm eine jähe Wendung. Einerseits, weil der Mann, in den ich mich verliebte, gerade nach Berlin gezogen war und mich dorthin zurückholte (ich hatte seit meinem siebenten Lebensjahr in der Hauptstadt gelebt). Andererseits, weil wir bald darauf einen Sohn bekamen – ein besonderes Kind: Dan war gehörlos und hatte, wie sich etwas später herausstellte, zusätzlich eine geistige Behinderung. Da es für solche mehrfach behinderten Kinder keine Krippenplätze gab, musste ich meine kurz zuvor angetretene Stelle als Lektorin im Verlag Volk und Welt, bei dem auch mein Mann arbeitete, wieder aufgeben. Fortan gehörte mein ganzes Augenmerk und der größte Teil meiner Zeit unserem ungebärdigen, gegen sein Schicksal aufbegehrenden Sohn Dan.
Damit waren alle wissenschaftlichen Pläne und schon gar eine spätere Lehrtätigkeit in weite Ferne gerückt, sie mussten schließlich ganz fallen gelassen werden. Mein Mann (der spätere Schriftsteller Klaus Möckel) und ich haben die Probleme mit einem solchen Kind, die er zusammen mit mir trug, in mehreren Büchern ausführlich geschildert. Dessen ungeachtet, brauchte ich aber aus zwei Gründen eine Tätigkeit neben der Beschäftigung mit unserem Sohn. Einmal, um etwas Geld zum nicht eben üppigen gemeinsamen Haushalt beizutragen, vor allem jedoch, um einen Ausgleich zu haben. Ich wollte und durfte mich nicht von den Sorgen auffressen lassen. Zudem hing ich an meinem Beruf, an der Beschäftigung mit Sprache und Literatur.
Deshalb fasste ich den Entschluss, mich als Übersetzerin auszuprobieren – eine Tätigkeit, die ich auch zu Hause ausüben konnte. Die Voraussetzung hierfür: gute Kenntnisse sowohl in der Mutter- als auch in der jeweiligen Fremdsprache, glaubte ich zu besitzen. Ich war ja während der Emigration meiner Eltern in Moskau geboren, zweisprachig aufgewachsen und hatte die ersten Lebensjahre in verschiedenen Gegenden der UdSSR verbracht. So war unsere Familie zum Beispiel im Juni 1941 auch nach Leningrad geraten, entkam wenige Monate später der todbringenden Blockade durch die deutsche Wehrmacht mit knapper Not über den vereisten Ladogasee. (Siehe Erwin Johannes Bach: “Das Wunder von Leningrad”. EDITION digital Pekrul & Sohn GbR, Godern 2017)
Mein „Übersetzerdebüt” gab ich bei unserem damaligen „Stammverlag” Volk und Welt, der mir eine kurze SF-Erzählung anvertraute. Man darf nicht denken, dass mir die neue Tätigkeit leichtfiel. Einen literarischen Text von einer Sprache in die andere zu bringen, bedeutet künstlerische Arbeit; man muss sich in die Welt des Autors und seinen Schreibstil hineinversetzen, die speziellen Ausdrücke und Redewendungen wiedergeben können. Doch nach und nach gelang mir das immer besser, und es wurde ein Beruf daraus, der mir viel Freude bereitete. Es waren oft sehr schwierige Texte: ernste, lustige, realistische, fantastische, auch Kinderbücher oder Gedichte. Für mich bedeutete jeder neue Auftrag, den ich in Angriff nahm, ein Abenteuer, und zum Glück konnte ich mich im Laufe der Jahre über einen Mangel an solchen Abenteuern nicht beklagen.
Aus der Literatur des 19. Jahrhunderts, die ich noch immer sehr mochte, gab es nur wenig zu übersetzen, das meiste lag bereits in Deutsch vor. Umso mehr freut es mich, Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, hier drei spannende Erzählungen bekannter Autoren vorstellen zu dürfen. Die Autoren sind noch zur Klassik zu zählen, ihre Geschichten entstanden um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Doch es handelt sich dabei nicht in erster Linie um eine kritisch-realistische Darstellung der damaligen Verhältnisse, wie wir sie aus den großen Werken jener Zeit von Leo Tolstoi, Fjodor Dostojewski, Iwan Turgenjew, Anton Tschechow und vielen anderen kennen. Nikolai Leskow (1831 - 1895), Leonid Andrejew (1871 - 1919) und Alexej Tolstoi (1883 - 1945) – letzterer nicht zu verwechseln mit dem soeben erwähnten Leo Tolstoi – arbeiten in den vorliegenden Erzählungen vielmehr mit den Mitteln des Fantastischen und der Tiefenpsychologie, treiben gewissermaßen mit dem Entsetzen Scherz.
Zwei der Texte sind Gespenstergeschichten. Leskows Gespenst in der Ingenieurburg (1884) geht in den Hallen einer Petersburger Kadettenschule um und ängstigt die dortigen Zöglinge aufs Grausamste. Alexej Tolstois Graf Cagliostro (1921) ist ein berüchtigter Magier und Hochstapler, der real im 18. Jahrhundert die königlichen Höfe Europas unsicher machte. Bei Tolstoi nutzt er als unheimlicher Gast eines jungen russischen Adligen dessen wahnwitzige Liebe zu einem Frauenbildnis skrupellos für seine zerstörerische Geisterbeschwörung. In der dritten Erzählung, Der Gedanke (1902), geht es um einen kaltblütig ausgeführten Mord. Leonid Andrejew beschreibt minutiös den Plan des Icherzählers, eines Arztes, seinen Freund zu töten, die Art, wie er die Tat begehen will, und die Ausführung der Tat selbst. Dabei unternimmt dieser Arzt anfangs alles, einer Bestrafung durch Zwangsarbeit zu entgehen. Es ist das Psychogramm eines eiskalten Mörders, die Studie eines gefühllos ausgeführten Verbrechens aus gekränkter Eitelkeit und maßlosem Narzissmus, der alles um sich her verachtet. Die Erzählung spielt, wie die anderen beiden auch, noch in der Zarenzeit. Ich durfte die drei Erzählungen vor etwa vierzig Jahren, um 1980 herum, ins Deutsche bringen.
Nikolai Leskow, Leonid Andrejew und Alexej Tolstoi, der vielleicht bekannteste der drei Autoren, der auch die erschütternde Trilogie vom Leidensweg des russischen Volkes während der Großen Revolution schrieb, legen in diesen besonderen Geschichten Zeugnis ab von ihrem Einfallsreichtum, ihrer Sprachkunst und ihrem Vermögen, geistreich und fesselnd zu unterhalten. Dass sie in diesem Band bei EDITION digital Pekrul & Sohn noch einmal neu erscheinen, erfüllt mich mit Genugtuung.
Aljonna Möckel, Berlin 2021
Im Smolensker Gebiet, inmitten von Hügeln, die streifenförmig mit Getreide und Birkenwäldchen bestanden waren, befand sich auf einem hoch gelegenen Flussufer das Gut Weiße Quelle – ein alter Besitz der Fürsten Tulupow.
Das Holzhaus der Vorväter, in einer kleinen Schlucht erbaut, war zugenagelt und verfallen. Das neue Haus mit seinen Säulen im griechischen Stil war dem Fluss und den Feldern am anderen Ufer zugewandt, die Rückfront mit ihren beiden Flügeln führte in einen Park, wo es Teiche, kleine Inseln und Fontänen gab.
Außerdem konnte man in den verschiedenen Winkeln des Parks auf eine steinerne Frauenstatue mit einem Pfeil treffen, auf eine Urne mit der Sockelinschrift: „Setz dich nieder und werde dir bewusst, wie schnell die Zeit vergeht“ sowie auf bedrückend wirkende, von Efeu umrankte Ruinen. Die Arbeiten an Haus und Park waren vor etwa fünf Jahren eingestellt worden, als die Eigentümerin des Besitzes Weiße Quelle, die verwitwete Brigadiersgattin und Fürstin Praskowja Pawlowna Tulupowa, unerwartet in der Blüte ihrer Jahre verschieden war. Das Gut hatte ihr Vetter zweiten Grades Alexej Alexejewitsch Fedjaschew geerbt, der zu jener Zeit in Petersburg diente.
Alexej Alexejewitsch hatte seinen Militärdienst aufgegeben und sich mit seiner Tante, gleichfalls einer Fedjaschewa, auf dem Gut Weiße Quelle niedergelassen, wo er still und zurückgezogen lebte. Er war eine ruhige, träumerische Natur und noch sehr jung – ganze neunzehn Jahre alt. Dem Militärdienst hatte er mit Freuden ade gesagt, denn der Trubel während der Empfänge im Schloss, die Saufgelage in der Truppe, das Lachen der schönen Frauen auf den Bällen, der Geruch von Puder und das Rascheln der Kleider verursachten ihm Kopfschmerzen und Herzklopfen.
Alexej Alexejewitsch gab sich der Einsamkeit inmitten der Felder und Wälder mit inniger Freude hin. Zuweilen ritt er aus, um den Fortgang der Feldarbeiten zu verfolgen, dann wieder saß er angelnd am Flussufer unter einer ausgehöhlten Silberweide. Manchmal auch, an Feiertagen, hieß er die Mädchen des Dorfes am Parkteich den Reigen tanzen und betrachtete dieses malerische Bild von seinem Fenster aus. An den Winterabenden widmete er sich voller Hingabe der Lektüre, während Fedossja Iwanowna Patiencen legte; der Wind heulte in den hohen Dachböden des Hauses, und im Korridor war am Dielenknarren der alte Heizer zu hören, der sich an den Öfen zu schaffen machte.
So lebten sie friedlich und ohne Aufregungen dahin. Doch bald bemerkte Fedossja Iwanowna, dass in Alexis – so nannte sie Alexej Alexejewitsch – etwas Seltsames vorzugehen schien. Er wurde grüblerisch und zerstreut, er begann blass auszusehen.
Wenn aber Fedossja Iwanowna auch nur andeutungsweise etwas sagte, zum Beispiel: „Wär’s nicht an der Zeit, mein Freund, dich aufzuraffen und zu heiraten, schließlich kannst du nicht ein Leben lang mit mir alten Pflanze vorliebnehmen, wer weiß, was dir noch zustößt …“, war die Hölle los.
Alexis stampfte dann sogar mit dem Fuß auf: „Nun ist’s aber genug, Tantchen! Ich habe weder jetzt noch später Lust, im langweiligen Ehealltag zu versauern: den ganzen Tag im Schlafrock herumspazieren und Tresette mit den Gästen spielen … Und überhaupt, wen sollte ich denn nach Ihrer Meinung heiraten, wenn die Frage gestattet ist!“
„Fürst Schachmatow zum Beispiel hat fünf Töchter“, sagte die Tante, „alles prachtvolle Mädchen. Und Fürst Patrikejew hat vierzehn Töchter … Oder die Swinjins – da gibt’s Saschenka, Maschenka und Warenka …“
„Ach, Tantchen, Tantchen, all diese Mädchen haben gewiss prächtige Eigenschaften, aber bedenken Sie nur: Meine Seele entflammt also in Leidenschaft, wir tun uns zusammen, doch was weiter? Die Frau, deren Handschuh oder Strumpfband mich in Wallung versetzen sollte, dieselbe Frau läuft mit einem Schlüsselbund in den Speicher, macht sich in Vorratskammern zu schaffen, bestellt in der Küche Nudelsuppe und isst sie dann in meiner Anwesenheit.“
„Warum sollte sie ausgerechnet in deiner Anwesenheit Nudelsuppe essen, Alexis? Und wenn, was ist an Nudelsuppe Schlechtes?“
„Einzig eine Leidenschaft jenseits des Irdischen könnte meine Trübsal bezwingen, Tantchen … Doch eine Frau, die dazu geschaffen ist, gibt es nicht auf der Welt.“
Bei diesen Worten schaute Alexej Alexejewitsch mit einem langen, verschleierten Blick zur Wand hinüber, an der ein lebensgroßes Porträt der bildschönen Praskowja Pawlowna Tulupowa hing. Dann schnürte er mit einem Seufzer den seidenen, mit chinesischer Malerei verzierten Hausrock enger, stopfte seine Pfeife, setzte sich in einen Sessel ans Fenster und begann, dünne Wölkchen ausstoßend, zu rauchen.
Er hatte ganz offensichtlich schon zu viel verraten, denn die Tante schien zu begreifen. Mit einem erstaunten Blick auf den Neffen sagte sie: „Wenn du ein Mensch bist, so musst du auch einen Menschen lieben und darfst nicht einem seelenlosen Traum nachhängen, Gott sei mir gnädig …“
Alexej Alexejewitsch gab keine Antwort. Er schaute gelangweilt zum Fenster hinaus, auf den üppig mit Gras bewachsenen Hof, wo ein rotes Kälbchen am Ohr eines anderen Kälbchens saugte. Das Gelände fiel sanft zum Flüsschen hin ab, an dessen Ufer im Klettengesträuch, weißen Schneetupfern gleich, Gänse saßen; eine aus der Schar richtete sich auf, schlug mit den Flügeln und ließ sich wieder nieder. Es war heiß und still zu dieser Mittagsstunde. Jenseits des Flusses, über den Getreidefeldern, schwang in flirrenden Wellen die glühende Luft. Auf dem Pfad, der aus dem Birkenwäldchen herausführte, kam ein Bauer auf einem Pferd und ritt hinunter zur Furt – das Tier stand nun bis zum Bauch im Wasser und trank. Dann galoppierte er, die Gänse durch heftige Arm- und Beinbewegungen aufscheuchend, hügelan. Er rief lachend einer Magd etwas zu, die einen Ballen Stroh schleppte, entdeckte dann aber seinen Herrn am Fenster, sprang vom Pferd und nahm die Mütze vom Kopf. Es war der Mann, der die Post besorgte und einmal wöchentlich auf große Tour geschickt wurde. Er brachte Fedossja Iwanowna einen Brief, dem Herrn aber einen Packen Bücher.
Fedossja Iwanowna ging ihre Brille holen. Alexej Alexejewitsch begann die Bücher durchzusehen. Ein Artikel über die Ursachen der Hypochondrie, enthalten in der Nummer achtundzwanzig des „ökonomischen Magazins“, erregte sein besonderes Interesse. „Erste unselige Quelle dieser krankhaften Schwermut“, stand da, „sind die heftigen, wollüstigen Leidenschaften, die lange andauern und das Gemüt in ständiger trauriger Verfassung halten; wer von solchen Leidenschaften geplagt ist und nicht auf deren baldige Beendigung hoffen darf, sucht die Einsamkeit und versinkt immer öfter in tiefste Betrübnis, sodass am Ende die Nerven seines Magen- und Darmtraktes völlig zerrüttet werden …“
Als Alexej Alexejewitsch diese Zeilen gelesen hatte, schloss er das Buch. Er wusste nun, dass ihn die Hypochondrie erwartete, denn die Leidenschaft, die ihm die Seele verbrannte, war ausweglos.
Ein halbes Jahr zuvor – Alexej Alexejewitsch war mit der Ausstattung mehrerer Zimmer beschäftigt gewesen – hatte er auf der Suche nach geeigneten Gegenständen das frühere Herrenhaus betreten. Er erinnerte sich noch jetzt mit aller Schärfe an jenen Augenblick. Die Sonne war im frostklaren Abendrot untergegangen; über den erkaltenden Feldern begann bereits der Schnee zu stieben. Eine ausgewachsene Krähe schwang sich unter Gekrächz von einer raureifbedeckten Birke und überschüttete Alexej Alexejewitsch, der in seinem Fuchspelz den gerade freigeschaufelten Uferpfad entlanglief, mit Schnee.
Am Flüsschen kauerte neben einem Eisloch eines der Dorfmädchen und schöpfte Wasser; sie hängte die Eimer ans Tragejoch und machte sich auf den Weg, wobei sie sich, die rundgesichtig war und schwarze Brauen hatte, mehrmals nach dem Herrn umblickte. Im Dorf flammte zwischen den Schneewehen hier und da Licht in den kleinen vereisten Fenstern auf; man hörte das Quietschen von Torangeln und Stimmen, die in dem frostklaren Abend überdeutlich klangen. Ein trostloses, zugleich aber friedliches Bild.
Auf der Vortreppe des alten Hauses angelangt, ließ Alexej Alexejewitsch die Bretter von der Tür entfernen und machte sich an die Besichtigung der Zimmer. Hier war alles mit Staub bedeckt, fadenscheinig und halb verfallen. Der kleine Kosak, der ihm voranging, lenkte das Licht der Laterne auf den Goldfirniss an den Wänden und auf die in den Ecken gestapelten Überreste von Möbeln. Eine große Ratte lief quer durchs Zimmer. Offenbar war alles, was einen gewissen Wert darstellte, bereits fortgeschafft worden. Alexej Alexejewitsch wollte schon kehrtmachen, warf dann aber noch einen Blick in einen kleinen, niedrigen, leer stehenden Saal. Dort entdeckte er das schief an der Wand hängende lebensgroße Bildnis einer jungen Frau. Der Kosak hob die Laterne. Das Gemälde war mit Staub überzogen, doch die Farben waren noch frisch, und Alexej Alexejewitsch erblickte ein Gesicht von berückender Schönheit: das glatt gekämmte, gepuderte Haar, die hohen Bögen der Augenbrauen, einen kleinen, sinnlichen Mund, dessen Winkel leicht nach oben gezogen waren. Das helle Kleid ließ die jungfräuliche Brust zur Hälfte sehen. Die eine Hand, die unterhalb des Busens lag, hielt zwischen Daumen und Zeigefinger eine Rose.
Alexej Alexejewitsch erriet, dass es das Bild der toten Fürstin Praskowja Pawlowna Tulupowa war, seiner Cousine zweiten Grades, die er lediglich als Kind ein paarmal gesehen hatte. Er ließ das Gemälde sofort ins neue Haus hinüberbringen und in der Bibliothek aufhängen.
Viele Tage hindurch betrachtete Alexej Alexejewitsch dieses Bildnis. Ob er ein Buch las – vor allem Reisebeschreibungen exotischer Länder gefielen ihm –, pfeiferauchend Eintragungen in seinem Heft machte oder in den zierlichen Pantoffeln einfach auf dem gutgewachsten Parkettfußboden hin und her spazierte, stets verweilte sein Blick längere Zeit auf dem wundervollen Porträt. Nach und nach deutete er die schönsten Tugenden hinein wie Güte, Klugheit und Leidenschaftlichkeit. Fortan war Praskowja Pawlowna für ihn die Freundin einsamer Stunden und die Muse seiner Träume.
Eines Nachts sah er sie im Traum genau wie auf dem Bild, reglos und hochmütig – lediglich die Rose in ihrer Hand lebte. Er reckte sich, um die Rose aus ihren Fingern zu nehmen, doch es gelang ihm nicht. Er erwachte mit heftigem Herzklopfen und heißem Kopf. Seit jener Nacht konnte er das Porträt nicht mehr ohne innere Erregung betrachten. Die Gestalt Praskowja Pawlownas hatte von seiner Fantasie ganz und gar Besitz ergriffen.
Fedossja Iwanowna kam, den Brief in der Hand, die Brille auf der Nase, wieder ins Zimmer, setzte sich Alexej Alexejewitsch gegenüber und sagte: „Pawel Petrowitsch hat mir geschrieben …“
„Was für ein Pawel Petrowitsch, Tantchen?“
„Aber Alexis, ich bitte dich – unser Pawel Petrowitsch Fedjaschew, der Hauptmann … Er schreibt über die verschiedensten Dinge, und hier ist vielleicht etwas für dich: ,Viel Aufsehen hat bei uns in Petersburg der bekannte Graf Phönix erregt, den man auch Cagliostro nennt. Er hat der Fürstin Wolkonskaja eine kranke Perle geheilt; den Rubin im Ring des Generals Bibikow auf elf Karat vergrößert und obendrein ein Luftbläschen im Innern beseitigt, er hat Kostitsch, einem Spieler, in einem Punschglas eine außergewöhnliche Kartenfolge erscheinen lassen, worauf der schon am nächsten Tag mehr als hunderttausend Rubel gewann, dann hat er aus dem Medaillon der Kammerfrau Golowina den Geist ihres verstorbenen Ehemannes erweckt, der sie bei der Hand nahm und mit ihr sprach – seither hat die arme alte Dame endgültig den Verstand verloren. Kurz, man kann gar nicht alle Wunder aufzählen … Die Zarin war schon geneigt, ihn an den Hof zu laden, doch da geschah etwas höchst Amüsantes: Fürst Potjomkin entflammte in wilder Leidenschaft für die Frau des Grafen Phönix, eine gebürtige Tschechin. Ich selbst habe sie nicht zu Gesicht bekommen, aber man erzählt sich, sie wäre eine Schönheit. Potjomkin überhäufte den Grafen mit Geld, Teppichen und anderen wertvollen Dingen; als er jedoch erkennen musste, dass damit nichts zu erreichen war, beschloss er, die Schöne auf einem Ball zu entführen, den er geben wollte. Aber gerade an diesem Tag verschwanden Graf Phönix und seine Frau mit unbekanntem Ziel aus Petersburg, und die Polizei sucht sie noch heute ohne jeden Erfolg …“
Alexej Alexejewitsch hörte sich den Brief mit großem Interesse an und las ihn dann selbst durch. Leichte Röte hatte seine Wangen überzogen.
„All diese Wunder“, sagte er, „sind auf eine unerklärliche magnetische Kraft zurückzuführen. Ach, wenn ich doch mit diesem Mann zusammentreffen, ihm begegnen könnte!“ Unter lauten Ausrufen begann er im Zimmer hin und her zu laufen. „Ich würde die nötigen Worte finden, ihn anflehen, dass er seine Kunst auch an mir versucht … Er soll meinem Traum Gestalt verleihen, meine nächtlichen Visionen zum Leben erwecken, auch wenn sich mein Dasein danach wie Nebel verflüchtigt. Ich werde ihm nicht nachtrauern.“
Fedossja Iwanowna sah den Neffen mit ihren runden, blässlichen Augen angsterfüllt an. Und man konnte in der Tat erschrecken. Alexej Alexejewitsch hatte sich in den Sessel fallen lassen – er schaute mit einem abwesenden Lächeln durchs Fenster nach draußen, wo zwei Mädchen mit einem Korb voller Pilze näher kamen, aber er nahm weder Pilze noch Mädchen noch etwa die Felder wahr, über denen sich jetzt eine hohe Staubwolke erhob. Sie wälzte sich auf dem Rain zwischen den Getreidepflanzungen voran und scheuchte dabei die Vögel auf einer am Wegrand stehenden Birke auf.
Am nächsten Morgen erwachte Alexej Alexejewitsch mit heftigen Kopfschmerzen. Der Himmel war, ungeachtet der frühen Stunde, hitzeschwer. Die Blätter an den Bäumen hingen reglos herab: Alles war erstarrt, und das Grün der Natur hatte wie auf einem Totenkranz einen metallischen Schimmer angenommen. Die Hühner schwiegen still; am Flussabhang lag unbeweglich und ohne zu kauen – wie aufgeblasen – eine rotscheckige Kuh. Selbst die Spatzen waren friedlich geworden. Der Horizont im Nordosten hatte eine drohend dunkle und dumpfe Färbung angenommen.
Im Speisezimmer erschien der Postbote, um Bericht zu erstatten. Alexej Alexejewitsch überließ ihn Fedossja Iwanowna und begab sich, das Gesicht vor pochendem Schmerz in den Schläfen verzogen, in die Bibliothek. Er schlug ein Buch auf, klappte es bald darauf gelangweilt wieder zu, nahm den Federhalter zur Hand, brachte aber nichts zu Papier. Nur seinen Namen schrieb er in die Neuerwerbungen.
Dann betrachtete er das Bild Praskowja Pawlownas, doch auch ihr Antlitz erschien ihm heute so finster und unheilverkündend wie alles ringsum. Auf ihrem Gesicht saßen drei Fliegen, und Alexej Alexejewitsch spürte, dass er in Tränen ausbrechen würde, dauerte dieser Zustand ungewöhnlicher und grober Überdeutlichkeit, der in den Dingen lag, noch lange an. Seine Seele verzehrte sich vor Betrübnis.
Plötzlich schlug im Haus ein Fenster zu, man hörte Glassplitter zu Boden fallen und erschrockene Stimmen. Alexej Alexejewitsch trat ans Fenster. Eine riesige Wolke, dunkel wie der Nachthimmel, kroch unmittelbar über den Felsen auf das Gutshaus zu. Das Wasser des Flüsschens nahm ein düsteres Blau an; das Schilf geriet in Bewegung, es wurde vom Wind gezaust und fast zu Boden gedrückt. Eine Sturmbö wirbelte am Ufer verstreuten Gänseflaum hoch, riss das Krähennest von der ausgehöhlten Silberweide, brach Zweige, jagte die Hühner mit gespreizten Schwanzfedern über den Hof, rüttelte am Holzzaun, wehte einem Frauenzimmer den Rock bis über den Kopf, stürzte sich voller Wucht auf das Haus, fuhr ins Fenster und heulte in den Schornsteinen. Plötzlich wurde die Wolke von einem Licht erhellt, das in grellen Wellen, wurzelförmig verzweigt, vom Himmel zur Erde herabjagte. Der Himmel spaltete sich, erzitterte, schien von den gewaltigen Donnerschlägen in Brüche zu gehen. Das Haus erbebte; klagend begann die Feder in der Kaminuhr zu tönen.
Alexej Alexejewitsch stand am Fenster, der Wind zerrte an seinem langen Haar und bauschte die Schöße seines Hausrocks auf. Die Tante kam ins Zimmer gelaufen, ergriff seine Hand und schleppte ihn vom Fenster weg. Sie schrie etwas, doch ein neuerlicher, noch fürchterlicherer Donnerschlag übertönte ihre Worte. Eine Minute später fielen erste schwere Tropfen, und dann ergoss sich der Regen als grauer Vorhang zur Erde. Er prasselte an die Scheiben des geschlossenen Fensters und setzte sich daran fest. Es wurde vollends finster.
„Alexis“, die Tante atmete von dem durchstandenen Schrecken noch immer schwer, „ich hab’s eben gesagt: Gäste sind gekommen.“
„Gäste? Wer ist es denn?“
„Das weiß ich selber nicht. Ihre Kutsche ist entzweigegangen. Sie haben Angst vor dem Gewitter und bitten darum, bei uns übernachten zu dürfen.“
„Wir lassen selbstverständlich bitten.“
„Ich habe schon Anweisung gegeben. Sie legen gerade die nassen Sachen ab. Du selbst solltest dich auch umziehen.“
Alexej Alexejewitsch besann sich und wollte die Bibliothek verlassen, doch in diesem Augenblick kam Fimka, das Zimmermädchen, zur Tür hereingestürmt, barhäuptig und mit klatschnassem, am Körper klebendem Sarafan: „Heilige Muttergottes, ich fall tot um! Die Gäste … Einer von ihnen ist schwarz wie der Teufel.“
Es regnete den ganzen Tag in Strömen, und so mussten beizeiten die Kerzen angezündet werden. Stille war eingekehrt. Fenster und Türen, die in den Garten hinausführten, wurden weit geöffnet, während draußen, in der Dunkelheit, ein warmer, nicht allzu starker Regen senkrecht zur Erde niederging und in den Blättern rauschte.
Alexej Alexejewitsch – in seidenem Kaftan und einem gewebten Wams, das auf strohgelbem Grund Vergissmeinnichtblüten zeigte, den Degen umgegürtet, frisiert und gepudert – stand in der Tür. Das nasse Gras auf der Wiese schien an jenen Stellen, die vom Licht erhellt wurden, grau zu sein. Es roch nach Blumen und Feuchtigkeit.