Cover

Zum Buch:

»OV Diversant« war der Deckname, unter dem die Stasi Stefan Heym in ihren Akten führte. Zum Zeitpunkt der Biermann-Ausbürgerung spitzte sich die innere Situation der DDR dramatisch zu, Stefan Heym verfasste in diesen Monaten Tagebuchaufzeichnungen, in denen er Politisches und Persönliches gleichermaßen festhielt. Aber auch die Stasi führte genau Protokoll über alle Bewegungen, Kontakte, Zusammenkünfte Stefan Heyms. Beides ist in diesem Buch enthalten. Es zeigt beklemmend die Mechanismen von Bespitzelung, Psychoterror und Einschüchterung, ist aber zugleich auch ein eindrucksvolles Beispiel für den Widerstand von DDR-Intellektuellen – lange vor der Wende.

Ein beklemmendes, sehr persönliches Zeitbild der DDR nach der Biermann-Ausbürgerung jetzt in der digitalen Werkausgabe.


»Wir hatten gelebt wie unter Glas, aufgespießten Käfern gleich, und jedes Zappeln der Beinchen war mit Interesse bemerkt und ausführlich kommentiert worden.« Stefan Heym


»Heyms Lebensleistung: Er ist ein Zeuge des Jahrhunderts, der sich nie auf die Zuschauerrolle beschränkt hat.« Hamburger Abendblatt

Zum Autor:

Stefan Heym, 1913 in Chemnitz geboren, emigrierte, als Hitler an die Macht kam. In seiner Exilheimat New York schrieb er seine ersten Romane. In der McCarthy-Ära kehrte er nach Europa zurück und fand 1952 Zuflucht, aber auch neue Schwierigkeiten in der DDR. Als Romancier und streitbarer Publizist wurde er vielfach ausgezeichnet und international bekannt. Er gilt als Symbolfigur des aufrechten Gangs und ist einer der maßgeblichen Autoren der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er starb 2001 in Israel.

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Stefan Heym

Der Winter unsers Mißvergnügens

Aus den Aufzeichnungen des OV Diversant

Die Originalausgabe erschien 1996 bei btb in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München.


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E-Book-Ausgabe 2021

Copyright © 1996 by Inge Heym

Copyright © 1996 by btb in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

Copyright © dieser Ausgabe 2021 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Sabine Kwauka, München nach einem Entwurf von Hafen Werbeagentur, Hamburg

Umschlagmotiv: © grisdee / Shutterstock.com

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-27831-1
V002

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Ohne die Loyalität und Hilfe meiner Frau Inge zu jener Zeit und ohne ihren Rat, ihre Kritik und ihre Mitarbeit heute wäre dieses Buch wohl kaum zustande gekommen. Ihr gilt mein ganzer Dank.

Stefan Heym

EINLEITUNG

Die Republik in der Mitte Europas, die einst DDR hieß, ist im Begriff, zu einer Art Atlantis zu werden, einem Mythos, um den Gegner wie Freunde des verschwundenen Landes sich mühen, ob sie nun Kenner der Materie sind oder nicht, auf eine objektive Darstellung bedacht oder eher von Vorurteilen besessen.

Die Beschäftigung mit der Geschichte der DDR ist jedoch von mehr als akademischem Interesse; ihre Einflüsse reichen bis in die Gegenwart der nunmehr vereinten, aber immer noch von ihrer jeweiligen Vergangenheit geprägten Ost- und Westdeutschen; die Zeugnisse dieser Vergangenheit mögen den Heutigen helfen, die Zeit damals besser zu verstehen, aber auch die Courage zu erkennen, mit der einzelne DDR-Bürger es unternahmen, öffentlich zu vertreten, was sie für gut und richtig hielten.

Mein Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag hieß auch, daß ich die Gastrolle aufgeben mußte, die man mir in dessen Enquêtekommission zur Untersuchung der Geschichte der DDR angetragen. Vielleicht kann »Der Winter unsers Mißvergnügens«, neben andern Zwecken, auch als nachträglicher Beitrag zur Arbeit dieser Kommission dienen.

*

Nach der Biermann-Affäre im November 1976 setzte ein Exodus von DDR-Künstlern ein. Ich hatte Verständnis für sie, obwohl ich es für richtiger hielt, wenn irgend möglich im Lande zu bleiben und zu versuchen, ein jeder auf seine Weise, die Zustände zu verändern.

Unter denen, die da gingen, war einer der Prominentesten der Schauspieler Manfred Krug, selber Mitunterzeichner der Petition gegen die Ausbürgerung Biermanns. Auf ihn war ich seit seiner Übersiedlung ins westdeutsche Exil schlecht zu sprechen, weil er sein Tagebuch über Interna der Vorgänge dem Genossen Werner Lamberz, Mitglied des Politbüros, hatte zukommen lassen. Für mich bedeutete die Auslieferung an offizielle Stellen, von Informationen, wie sie in solchen Aufzeichnungen enthalten sein mußten, Verrat an Freunden und Gleichgesinnten, mit entsprechenden Folgen für diese.

Ich selber hatte an einem Projekt ganz ähnlicher Natur gearbeitet: einer täglichen Niederschrift meiner Gedanken, Erlebnisse und Begegnungen in den anderthalb Monaten zwischen der Biermann-Ausweisung und Weihnachten 1976 –, nur daß ich mein Manuskript, da ich es für zu riskant hielt, um es alsbald zu veröffentlichen, an vermeintlich sicherer Stelle aufbewahrte.

Narr ich, der ich nicht ahnte, daß IM Frieda, kaum daß ein paar Seiten aus meiner Maschine in den Papierkorb flogen, diese oder entsprechende Schnipsel in die konspirative Wohnung »Kurt« zu Oberleutnant Scholz von der Hauptabteilung XX des Ministeriums für Staatssicherheit trug; wenig später dann beschafften sich die Genossen mit Hilfe eines Nachschlüssels, für dessen Herstellung unsre Frieda den Wachsabdruck geliefert hatte, das ganze Skript und kopierten es; mit dieser Kopie arbeiten meine Frau und ich jetzt.

Krug, das gestehe ich ihm zu, hatte nur bewußt und aus gutem persönlichen Grunde der Behörde abgeliefert, was mir dank meiner Sorglosigkeit wegeskamotiert worden war; und heute, etwa zwanzig Jahre nach dem Geschehen, geben wir nun beide unsre Manuskripte in Druck.

*

Und nun zu IM Frieda.

Sie hieß tatsächlich Frieda; die Stasi bemühte sich gar nicht erst, nach einem phantasievollen IM-Pseudonym für die neue Haushaltshilfe bei Heyms zu suchen. In den Akten findet sich, säuberlich aufgeklebt, als erstes die Kleinanzeige aus der Berliner Zeitung, auf die hin sie sich im Hause Heym vorstellte; nur Tage später begann man im Ministerium, sich für ihre Person zu interessieren; und nachdem sie die annoncierte Stelle tatsächlich antrat, wurde beschlossen, die Frau anzuwerben.

Die Leutnants Tischendorf und Scholz, die sich bei ihr als harmlose Volkspolizisten auf der Suche nach Kleinkriminellen in Köpenick einführten, verstanden einiges von Psychologie: sie spielten auf unsrer Frieda proletarischen Instinkten.

Am 27. April 1971 berichteten sie:


Bei den Aussprachen wurde das Gespräch so gelenkt; daß der Kandidatin klar aufgezeigt werden konnte, wie in unserem Staat alles mit den Arbeitern und alles für die Arbeiter getan wird. Der Kandidatin wurde auch dargelegt, daß es bei uns immer noch Schmarotzer gibt, die sich auf Grund ihrer Persönlichkeit einbilden, etwas Besonderes zu sein und Sonderrechte haben zu müssen. Hierbei wurde indirekt auf Erscheinungen bei einzelnen Kulturschaffenden hingewiesen, die versuchen, auf Kosten besonders der Arbeiterklasse zu leben, ohne selber an der Gestaltung unserer sozialistischen Gesellschaft teilzunehmen. Im Verlaufe der Gespräche kam die Kandidatin von sich aus auf Heym zu sprechen und brachte zum Ausdruck, daß dieser ihrer Meinung nach einer von der beschriebenen Kategorie von Kulturschaffenden sei. Daraufhin wurde die Kandidatin immer mehr zur Bearbeitung des Heym herangezogen …


Sie gab eine Selbstverpflichtung ab, handschriftlich, lernte ein paar geheimdienstliche Tricks und erhielt vom Ministerium ein Monatsgeld in Höhe von 100 Mark, plus Prämien und kleinen persönlichen Geschenken.

Ihr Aufgabenbereich wurde folgendermaßen umrissen:


Durch gute Arbeit und unauffälliges Verhalten das Vertrauen des Heym und seiner Lebensgefährtin Inge Wüste voll gewinnen und das sich anbahnende Vertrauensverhältnis weiter ausbauen.

Feststellung politischer Auffassungen und Meinungen aller im Hause des Heym befindlichen Personen.

Feststellungen des Verbindungskreises des Heym, von Besuchen und Feierlichkeiten sowie Einschätzung der Charaktere derselben.

Feststellung der eingehenden operativ interessanten Postsendungen, Literatur, ausländische Zeitungen, Zeitschriften usw. Ermittlung von literarischen Arbeiten, die Heym vorbereitet. Insbesondere solche Arbeiten, die er in Westberlin, Westdeutschland oder dem kap. Ausland veröffentlichen will.

Beschaffung von Hinweisen über Verbindungen, Kontakte und andere operativ interessante Momente durch konspirative Durchsuchung des Schreibtisches, des Papierkorbs, der Bücherablage u. a. in der Wohnung des Heym.

Schaffung von Voraussetzungen zur Einleitung andrer politisch-operativer Maßnahmen, die der Aufdeckung und Dokumentierung schädlicher und strafrechtlich relevanter Handlungen des Heym dienen.


Frieda bewährte sich offenbar zur vollen Zufriedenheit ihrer Führungsoffiziere, denn am 26. Juni 1974 bestätigte Oberstleutnant Müller einen kühnen Vorschlag von Leutnant Scholz.


Im Kampfprogramm der Abteilung zum 25. Jahrestag der DDR ist die Verpflichtung enthalten, in der Bearbeitung des OV »Diversant« weitere schriftliche Aufzeichnungen und Dokumente des Schriftstellers Stefan Heym konspirativ zu beschaffen und zu dokumentieren. Zur Realisierung dieser Verpflichtung wird vorgeschlagen, durch den IMV »Frieda« während des Urlaubs des Heym, den dieser mit seiner Familie ab 8. Juli 1974 in Frankreich verbringt, die Tagebuchaufzeichnungen des Heym konspirativ beschaffen zu lassen und diese fototechnisch zu dokumentieren.

Bei der Auftragserteilung wird der IMV besonders auf die bei der Realisierung des Auftrags notwendigen Vorsichtsmaßnahmen hingewiesen. Die Organisierung erfolgt so, daß die Unterlagen nur für kurze Zeit aus dem Hause des Heym entfernt werden und der IMV sie noch am gleichen Tag wieder am Aufbewahrungsort ablegt.

Die fototechnische Dokumentierung erfolgt in der Bildstelle des MfS, um jedes technische Risiko auszuschließen. Mit der Bildstelle wird vorher der genaue Termin vereinbart. Der IMV wird beauftragt, nach der Rückkehr des Heym aus dem Urlaub zu kontrollieren, ob Heym etwas von der kurzzeitigen Entfernung der Unterlagen bemerkt hat oder anderweitig Verdacht schöpfte.

Um Bestätigung dieses Vorschlags wird gebeten.

Scholz, Leutnant


Nein, ich habe nichts bemerkt und auch anderweitig keinen Verdacht geschöpft. Die Anerkennung der Arbeit von IM Frieda folgte auf dem Fuße.

Berlin, 7. Oktober 1974

Auszug aus dem

Befehl Nr. K. 3283/74


Für besondere Leistungen, verantwortungsbewußte Tätigkeit, Initiative und hohe persönliche Einsatzbereitschaft bei der Erfüllung übertragener Aufgaben zur Stärkung und Sicherung unserer Arbeiter-und-Bauernmacht

zeichne ich


anläßlich des 25. Jahrestages der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik aus:

Frieda Schmitz


mit der

Verdienstmedaille der NVA in Bronze.


Die Medaille, Urkunde und 250.– M wurden dem IMV »Frieda« am 2.10.1974 durch Ltn. Scholz überreicht.

gez. Mielke

Generaloberst


Friedas wahrhaft große Zeit, mit den großen Geschenken, kam jedoch später erst, 1976, mit der Vertreibung des Wolf Biermann aus der Deutschen Demokratischen Republik.

Mit der Begründung, Durch den IM konnten in der operativen Bearbeitung des Operativ-Vorgangs »Diversant« eine Reihe operativ bedeutsamer Hinweise zur bearbeiteten Person und eine Vielzahl operativ wertvoller Informationen erarbeitet sowie wichtige Unterlagen konspirativ gesichert und dokumentiert werden, schlug ihr nun zum Oberleutnant beförderter Führungsoffizier Scholz am 28.2. 1977 vor,

Vorschlag

Den IMV »Frieda«,

46 fahre, parteilos


anläßlich des Internationalen Frauentags 1977 mit einem Sachgeschenk in Form eines Fernsehgerätes im Wert von

2000,– Mark (zweitausend)


auszuzeichnen.

Gez. Scholz

Oberleutnant


Gegengez. Leiter der Operativ-Gruppe

Müller, Oberstleutnant

*

In der Normannenstraße in Berlin-Lichtenberg, über den weiten, gepflasterten Hof hinweg und die Treppen hinauf, gelangten wir in die schmutzfarbenen Korridore, durch welche die mit uns befaßten Kameraden von der unsichtbaren Front schon gewandelt, und saßen in den schmutzfarbenen Räumen, in denen auch sie gehockt, und ihre Aktenstöße häuften sich vor uns. Ich hieß OV Diversant, erfuhr ich – OV ist Operativer Vorgang –, meine Frau OPK Film – OPK gleich Operative Personenkontrolle. Und da lag tatsächlich auf dem zerkratzten Pult das Manuskript, dem die Stasi den Arbeitstitel 16. November 1976 gegeben und welches ich dann Der Winter unsers Mißvergnügens nannte, nach Shakespeare, Richard III, Act One, Scene One. Daneben fanden sich weitere Akten, eine ganze Kollektion von Feststellungen und Vermutungen über den Schriftsteller Heym und dessen Familie, beginnend in den frühen Fünfzigern und endend mit dem Kollaps der Republik; nur nach 1980 fehlten Teile: In den letzten Monaten des alten Staates hatte mir einer, der es wissen mußte, noch gesagt, »Sie werden sowieso nur lesen, was Sie lesen sollen.«

Aber selbst diese Auswahl genügte, um einen das Gruseln zu lehren. Wir hatten gelebt wie unter Glas, aufgespießten Käfern gleich, und jedes Zappeln der Beinchen war mit Interesse bemerkt und ausführlich kommentiert worden.

Und doch – in jenem Winter unsers Mißvergnügens war etwas Neues entstanden. Ein Bruch hatte sich gezeigt in dem scheinbar so fest gefügten System, ein Bruch, der nicht mehr verdeckt werden konnte, ein innerer Widerstand, kollektiv dazu noch, der nicht mehr zu verschweigen war. Zurückblickend möchte ich sagen, daß hier ein Menetekel erschienen war, ankündigend das Ende des real existierenden Sozialismus – nicht ohne Grund hatte man ihn so präzisiert –, das Ende dieser mißratenen Revolution, dieser Republik ohne eigne Legitimierung.

Von den Akteuren selber erkannte das seinerzeit kaum einer; erst heute wird klar, was da ausgegangen war von dem kleinen Kreis einiger Schriftsteller: ein Funke war übergesprungen zu Menschen im ganzen Land, die plötzlich darauf bestanden, sich zu Wort zu melden – eine Art Wende, die Keim und Vorgängerin war jener späteren, großen. Darum auch, denke ich, soll dieses Buch jetzt an sein Publikum kommen, denn das Publikum von heute gehört großenteils schon einer Generation an, welche jene Zeit nicht mehr bewußt miterlebt hat – deren gutes Recht es jedoch ist, Näheres über eine der folgenreichsten Episoden in der Geschichte der DDR zu erfahren. Gewiß, es gibt auch Dokumentarbände dazu. Aber den Dokumenten, so klug zusammengestellt sie auch sein mögen, fehlt die Atmosphäre, der Atem.

Ich hoffe, der Leser wird, im nachhinein, noch einen Hauch davon verspüren.