ADVOKATEN DES BÖSEN
Alle in diesem Buch ausführlich geschilderten Fälle stammen aus unserer Kanzlei Benecken & Reinhardt. Sämtliche Geschehnisse sind authentisch, geändert wurden zum Schutz unserer Mandanten im Einzelfall Namen und Orte. Soweit erforderlich, haben uns alle Mandanten von unserer anwaltlichen Verschwiegenheitsverpflichtung für dieses Buchprojekt entbunden. Hierfür möchten wir ihnen danken, ohne diese Mitwirkung unserer Mandanten wäre die Erstellung dieses Werkes nicht möglich gewesen.
Aus Gründen der Lesbarkeit wird in diesem Buch bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern durchweg auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet und vorzugsweise das generische Maskulinum verwendet. Diese verkürzte Sprachform hat allein redaktionelle Gründe und beinhaltet keinerlei Wertung. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.
Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.
1. Auflage
© 2021 Benevento Verlag bei Benevento Publishing München – Salzburg, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
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Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Gesetzt aus der Palatino, Norwester, Kheops
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München,
unter Verwendung von Fotos aus dem Privatbesitz der Autoren
Printed by Finidr, Czech Republic
ISBN 978-3-7109-0136-2
eISBN 978-3-7109-5133-6
Vorwort
1Wie kann man nur Verbrecher retten? – Tatverdacht ist nicht gleich Schuld
2Wie kann man nur Verbrecher retten? – Teil II: Auch der Schuldigste verdient Verteidigung
3Strafverteidigung – Was ist das eigentlich?
4Anwalt, Mandant und Co. – Wer ist am Strafverfahren beteiligt?
5Die Zweiklassengesellschaft – Qual oder Wahl?
6Unsere Verteidigungsstrategien – Kampf und Kunst
7Eine Woche im Leben eines Strafverteidigers
8White Collar Crime – Wirtschaftskriminalität
9Auf internationalem Parkett
10Jugendstrafrecht: Erziehung vs. Strafe
11Prominente und der Einfluss der Medien
12Keine Strafe ohne Schuld
13Leaks der Gegenseite: filtern, scannen und löschen
14Wenn der Verteidiger zum Buhmann wird
15Strafverteidigung skurril
Nachwort
»Darf ich den Herren etwas anbieten, einen Aperitif vielleicht. Oder ein Häppchen?« Wir hatten gerade einen Fuß ins Rathaus von Marl gesetzt, wo die Aftershowparty der Grimme-Preisverleihung lief, da hielt uns ein emsiger Kellner schon zwei Tabletts entgegen. »Holunderblüten-Quarkmousse mit Limetten-Crumble?«, sagte er etwas allzu mechanisch, »oder lieber Kalbsrückenröllchen mit Purple-Curry-Schmelze?« Es sollten die angenehmeren Fragen bleiben, die uns an diesem Abend gestellt wurden.
Wir wählten zwei Drinks, griffen einmal auf dem süßen Tablett zu, einmal auf dem herzhaften und gesellten uns dann zu den Gästen, die in Grüppchen beieinanderstanden. Das Marler Rathaus liegt nur wenige Hundert Meter von unserer Kanzlei Benecken & Reinhardt entfernt, die Party sollte den gemütlichen Abschluss eines anstrengenden Tages bilden. Die Empfangshalle war etwas schummrig erleuchtet, im Hintergrund lief seichte Barmusik. Modische Akzente setzten nur die weiblichen Gäste, bei den Herren überwogen klassische Anzüge und Jacketts in Anthrazit und Schwarz. Man gab sich seriös. Wir, in unseren Tagesanzügen, schlenderten mitten hinein ins Geschehen und landeten schließlich bei einem kleinen Grüppchen, wo eine Dame in rotem Kostüm und Rüschenbluse das große Wort führte.
»Was machen Sie denn so beruflich?«, erkundigte sie sich gerade und sah uns reihum prüfend an. Der Herr neben uns antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Ich bin gelernter Volljurist und arbeite als Senior Manager in der freien Wirtschaft.« Er wirkte stolz, als hätte er darauf gewartet, nach seinem Beruf gefragt zu werden. »Mein Hauptbereich ist Compliance«, fügte er mit bedeutungsvollem Nicken hinzu. Die Dame im Kostüm wirkte beeindruckt. Dann blickte sie fragend auf das mittelalte Paar gegenüber von uns. »Wir leiten eine orthopädisch-ärztliche Gemeinschaftspraxis«, sagte der Mann und strich sich zufrieden durch den akkurat gestutzten Vollbart. »Wir sind direkt an ein Rehazentrum angeschlossen.« Die Fragestellerin nickte wieder. »Ah«, machte sie. Endlich wandte sie sich an uns. »Und Sie, meine Herren?« Wir sahen einander kurz an. »Wir sind beide Strafverteidiger. Advokaten des Bösen, sozusagen.« Wir grinsten über unseren eigenen Scherz. Die anderen starrten uns bloß an.
Als das Schweigen unangenehm wurde, setzte die Dame im roten Kostüm ein gequältes Lächeln auf, murmelte etwas wie »Ähm, ach so …«, drehte sich dann einfach um und verschwand in der Menge. Der Compliance-Jurist sah ihr wehmütig nach, erinnerte sich dann doch seiner Kinderstube und wandte sich an uns: »Tja, meine Herren Kollegen, so sagt man doch unter uns Juristen, nicht wahr? Also für mich wäre das überhaupt nichts. Diese ungepflegte, schäbige Klientel, die Sie da überwiegend haben.« Er rümpfte die Nase, als hielte ihm jemand einen stinkenden Lappen vors Gesicht. »Fürchterlich. Allein beim Gedanken an dieses Verbrecherpack bekomme ich Pickel.« Das Mediziner-Pärchen stand verloren daneben. »Also wir haben auch viele Patienten, wo der persönliche Kontakt nicht gerade angenehm ist«, sagte die Dame. »Die Nase leidet auch bei uns öfter mal.« Sie lachte künstlich. »Sicherlich hören Sie dafür viele spannende Geschichten und Hintergründe, aber …« Sie sah ihren Mann Hilfe suchend an, der für sie weitersprach. »Wir könnten das, was Sie da machen, mit unserem Gewissen nicht vereinbaren«, erklärte er mit strenger Miene. »Sie müssen ja Leute rauspauken, von denen Sie wissen, dass sie Dreck am Stecken haben.« Seine Augen wurden ganz klein, und mit seinem Mittelfinger stach er in unsere Richtung. »Dann finden Sie listig einen kleinen Formfehler, und ruckzuck ist der Schwerverbrecher draußen.« Wir öffneten beide gleichzeitig den Mund, um etwas zu entgegnen, doch der Herr redete weiter: »Fühlen Sie sich da nicht mitschuldig, wenn der Täter wieder zuschlägt?«
Solche Fragen sind nichts Neues. Auch nicht die negative Haltung, die uns bisweilen entgegenschlägt. Wir kennen solche Reaktionen – aus Gesprächen, aus den Medien, von Kollegen aus anderen Bereichen des Rechts. Den Rest des Abends verbrachten wir zu zweit bei einem Glas Wein abseits vom Trubel damit, Erfahrungen auszutauschen – und daraus entstand schließlich die Idee für dieses Buch.
Das Image des Strafverteidigers scheint überall ähnlich: Als listig und trickreich gilt er, als etwas verschmitzt – und stets auf der Seite des Schlechten. Ein abwechslungsreicher Beruf, aber mit einem Makel behaftet, den man als Otto Normal-Bürger am besten meidet. Mit unserem Buch möchten wir die Tätigkeiten des Strafverteidigers von mehreren Seiten beleuchten und Vorurteile gegen unseren Berufsstand aufbrechen. Wir decken Hintergründe auf, teilen Insiderwissen und setzen dabei auf Transparenz. In den Kapiteln flankieren echte, authentisch geschilderte Fälle aus unserer jahrelangen Praxis das eigentliche Thema. Spannend, faszinierend und lehrreich – so erleben wir selbst unseren Beruf, und das wollen wir auch vermitteln.
In unsere Kanzlei kommen jährlich rund fünftausend neue Mandanten, in der Mehrheit sind sie Beschuldigte in einer Strafsache. Diese Menschen sind aber nicht so, wie sie sich etwa der Juristenkollege auf der Grimme-Preis-Party vorstellt. Verbrecher werden gerne als Monster gezeichnet, als besonders minderwertige oder respektlose Sorte Mensch. Aber Verbrecher sind keine eigene Spezies. Sie sehen nicht anders aus oder verhalten sich anders als »normale« und »rechtschaffene« Bürger. Es sind Menschen wie du und ich, die auf den ersten Blick nicht als Straftäter zu erkennen sind. Sie wirken genauso sympathisch oder unsympathisch wie irgendjemand, der uns im Alltag begegnet, auf der Straße, beim Einkaufen, wo auch immer.
Natürlich gibt es gewisse Klischees, die bedient werden, wenn Mitglieder von arabischen Großfamilien, Hooligans, Zuhälter, Rocker oder andere Personen, die man per se einem bestimmten Milieu zuordnet, bei uns in der Kanzlei aufschlagen: Mal ist es die muskelbepackte Erscheinung mit grimmiger Miene, mal eine markante Tätowierung, mal eine mit einschlägigen Patches versehenen Kutte. Aber wer in unsere Kanzlei kommt, entstammt nicht prinzipiell der »Unterschicht«, um einmal diesen oft gebrauchten, entwertenden Begriff zu zitieren, es sind keinesfalls nur Leute mit Migrationshintergrund oder schweren Sozialisierungsbedingungen. Oft genug sind es Menschen, die mitten im Leben stehen, in Lohn und Brot, Menschen mit Partnern, Familie, Freunden. Und wie für jeden anderen auch gilt für unsere Mandanten zunächst die Unschuldsvermutung. Diese Unschuldsvermutung ist kein hohler Spruch, sie gehört zu den Grundsteinen des Rechtsstaats. Und in einem Strafverfahren ist dann zu klären, ob Beschuldigte tatsächlich schuldig sind oder nicht.
Wir möchten mit diesem Buch nicht nur ein authentisches Bild des Strafverteidigers zeichnen. Wir wollen darüber hinaus darlegen, wie wichtig juristische Grundprinzipien wie die Unschuldsvermutung und die Herstellung von »Waffengleichheit« zwischen Anklage- und Verteidigungsseite in einem Strafverfahren sind. Wir sind schließlich der Überzeugung, dass Strafverteidigung kein gewissenloses Rauspauken von Verbrechern um jeden Preis ist, sondern eine der wichtigsten Aufgaben überhaupt in einem rechtsstaatlichen Strafverfahren darstellt. Wir wollen zeigen, welche Bedeutung es für den Rechtsstaat hat, dass jemand für die Rechte eines Beschuldigten in den Ring zieht. Schließlich braucht die Person, um deren mögliche Strafe es geht und die in der Regel juristisch nicht bewandert ist, einen fairen Beistand. Maßnahmen und Tricks der Staatsanwaltschaft mit ihrem dahinterstehenden Polizeiapparat und einer gut gefüllten Staatskasse müssen von der Gegenseite überprüf- und anfechtbar sein. Außerdem gibt es auch immer wieder Richter, die lieber verurteilen als freisprechen und die eher be- als entlastende Aussagen glauben.
Dieses Buch verschafft dem Leser einen Insiderblick in die Welt der Strafverteidigung, es dringt vor bis zum Kern dieser juristischen Arbeit. Wir verraten, wie wir mit unseren Mandanten agieren, wie wir Strategien entwickeln, um das bestmögliche Ergebnis zu erstreiten – und wie wir es mit unserem Gewissen vereinbaren, auch in schrecklichen Fällen die Schuldigen zu verteidigen. Auch wird es darum gehen, ob die Medien einen besonderen Einfluss auf die Strafjustiz oder gar auf das Ergebnis eines Strafverfahrens haben können.
Die in diesem Buch vertretenen Auffassungen spiegeln unsere gemeinsame Linie in der Strafverteidigung wider. Ohne Frage mag es in einzelnen Fällen auch andere Meinungen geben. Das muss auch so sein: In unserem Feld gibt es keine per se richtige oder falsche Haltung. Vielmehr ist diese eine Frage der persönlichen Einstellung, der Empathie, der jeweiligen Abwägung im Einzelfall.
Strafverteidiger zu sein ist möglicherweise der kreativste Beruf der Welt, für uns beide jedenfalls der abwechslungsreichste und aufregendste. Wir beschäftigen uns nicht nur mit Fragen des Rechts, sondern auch mit Fragestellungen aus den Bereichen Medizin, Psychiatrie und der Kriminalistik. Es geht nicht nur um irgendwelche Paragrafen, die man auswendig gelernt haben muss, vielmehr kommt im Strafrecht auch ganz anderen Fähigkeiten eine Schlüsselfunktion zu. Psychologisches Fingerspitzengefühl. Diplomatisches Geschick. Die Fähigkeit zum Konflikt im richtigen Moment. Ein guter Strafverteidiger erspürt eine Situation im Gerichtssaal schon im Voraus und handelt in Sekundenschnelle instinktiv. Er muss aber auch genau wissen, wann Schluss ist, sich regelrecht auf die Lippe beißen und zurücknehmen können. Nicht selten muss er im wahrsten Sinne des Wortes auch ein »dreckiger Hund« sein können. Er muss mit unmissverständlicher Durchsetzungskraft für die Rechte seines Mandanten kämpfen, selbst dem bedauernswertesten Zeugen die entscheidende, unangenehme Frage stellen. Ein Strafverteidiger muss sich bis in die kleinste Ritze einer Anklageschrift hineinfressen, jede legitime Chance auf die Nadel im Heuhaufen suchen, um am Ende die Vorwürfe gegen den Beschuldigten in Luft aufzulösen. Kurzum: Ein Strafverteidiger muss beißen wie Salzsäure. Diesen Einsatz muss er für jeden Mandanten bringen, er darf dabei keinen Unterschied machen, sei der Mandant nun ein streng riechender Kleinganove oder ein Wirtschaftsjurist im Anzug, ein Mediziner mit gestutztem Bart oder eine arrogante Dame in Kostüm und Rüschenbluse.
Wir sind jeden Tag mit der Wirklichkeit in all ihren Facetten konfrontiert. Bei uns kehren Menschen ihr Innerstes nach außen. Das vielleicht Schönste an unserem Job ist das Vertrauen, das viele Mandanten uns entgegenbringen – und die Achtung dafür, dass wir in einer für ihr Leben entscheidenden Situation alles für sie geben.
Seit mehr als siebzehn Jahren bin ich Strafverteidiger. Und ganz gleich, ob Freunde, Bekannte, der Barkeeper an der Hotelbar, die nette Verkäuferin an der Tankstelle, der Juristenkollege auf dem Gerichtsflur oder die verschiedenen Journalisten – sie alle haben es schon getan. Nicht selten mit einer leicht angesäuerten Miene haben sie mir die Frage gestellt: »Wie kann man nur Verbrecher retten?« Wie ich es mit meinem Gewissen vereinbaren kann, mich tagtäglich für die Interessen eines verdächtigen Mörders, Terroristen, Vergewaltigers oder pädophilen Triebtäters einzusetzen, stößt bei vielen Mitmenschen auf Unverständnis. Dabei beinhaltet schon die Frage ein grundlegendes Missverständnis. Denn Verteidigung bedeutet ja eben nicht gleichzeitig Rechtfertigung und Beistehen steht ja auch nicht für Gutheißen. Verteidigt wird ein mutmaßlicher Täter – nicht die Tat. Kein Strafverteidiger verteidigt nur Unschuldige, auch wenn das häufiger passiert, als man vielleicht denken mag. Bei fast allen Fragestellern ist aber von vornherein fest verankert, dass meine Mandanten per se schuldig sind. Leider. Denn Tatverdacht ist nicht gleich Schuld.
»Was für eine blöde Frage: Verbrecher sind böse!« Auch in Marius, 39 Jahre alt, Familienvater aus Süddeutschland, war bis zu seiner ersten Begegnung mit der Polizei vor einigen Jahren dieser Gedanke fest verankert. Nicht nur ein Mal hatte er sich bei Kantinengesprächen mit Kollegen über Rechtsanwälte, die in Strafprozessen verteidigen, regelrecht in Rage geredet. »Mir will das einfach nicht in die Birne«, hatte Marius dann immer seinen puterrot angelaufenen Kopf geschüttelt und sich dabei mit dem Finger auf die Stirn getippt. »Wie kann man sich als Strafverteidiger nur für solche Kreaturen einsetzen? Die sind für mich alle Abschaum. Punkt. Aus. Ende.«
Marius L. war gelernter Chemikant. Mit sechzehn hatte er nach Abschluss der Mittleren Reife erfolgreich die dreijährige Ausbildung im Chemiewerk absolviert. Mit siebzehn ging er tanzen und lernte Lisa kennen, die ein Jahr jünger war als er. Es war Liebe auf den ersten Blick. Teenager-Liebe. Mit neunzehn zog das Paar zusammen. Beide waren sich so sicher, dass die Beziehung auf ewig halten würde. Auch finanziell lief es prima. Immerhin hatte Marius nach Abschluss seiner Ausbildung sofort eine Festanstellung im Chemiewerk bekommen und verdiente schon stolze 3000 Euro netto. Auch Lisa hatte ihre Lehre als Friseurmeisterin mit Bestnoten absolviert, war danach sofort fest angestellt worden und verdiente 1200 Euro netto im Monat. Mit 25 heirateten beide. Als Lisa 26 und Marius 27 Jahre alt waren, kam Wunschkind Laura zur Welt. Und schon drei Jahre später wurde die junge Familie zum Quartett. Töchterchen Chanel wurde geboren und erweiterte das Familienglück.
Marius arbeitete hart, stieg auf und brachte mittlerweile sogar 4000 Euro netto nach Hause. Also beschloss die Familie, eine schmucke Eigentumswohnung in einem kleinen Dorf am Rande einer süddeutschen Großstadt zu kaufen. Schon bei den Bildern in der Online-Anzeige hatten sich Marius und Lisa regelrecht verliebt in die Eigentumswohnung. Eigentlich hatte Marius immer auch das weitverbreitete Männerideal im Kopf gehabt, irgendwann selbst ein Haus zu bauen. Doch bei dieser Wohnung wurde er einfach schwach. Sie lag in einem topmodernen Wohnhaus im zeitlosen Bauhausstil mit Fahrradkeller und Tiefgarage. »Mindestens so gut wie ein Haus und vor allem mindestens so groß«, dachte er sich. Dritte Etage, 120 Quadratmeter, zwei Kinderzimmer, geräumiges Wohnzimmer, riesengroßer Balkon – in den Augen von Marius ging es einfach nicht besser.
In dem Haus nebenan hatte sich die alleinerziehende Mutter Karin eine Wohnung gekauft. Karins vermögender Ehemann, ein Selfmade-Millionär, hatte ihr bei der Scheidung einiges hinterlassen, und so konnte sie sich mit ihrer Tochter Amanda die Wohnung leisten. Marius’ Frau Lisa freundete sich gleich mit Karin an. Auch Marius verstand sich ganz hervorragend mit ihr. Man traf sich zum Kaffeetrinken. Man tauschte sich aus über die Erziehung der Kinder, plauschte über dies und das. Amanda freundete sich mit der gleichaltrigen Laura an, und es dauerte nicht lange und die Mädchen waren beste Freundinnen. Beide gingen dann zunächst in die gleiche Grundschulklasse, später zusammen aufs Gymnasium. Eigentlich lief für Marius und seine Familie alles wie am Schnürchen. Eigentlich.
Als beide Mädchen dreizehn Jahre alt waren und gerade in die siebte Klasse kamen, zogen urplötzlich düstere Wolken auf. Denn die Mädchen entdeckten ihre Leidenschaft für Jungs. Und in der Klasse drüber, der achten Klasse, gab es einen, den fast alle Mädchen aus dem Jahrgang toll fanden: David, dunkelhaarig, Grübchen, sportlich und ein echter Sonnenschein. Sowohl Amanda als auch Laura schwärmten für ihn, schrieben ihm Liebesbriefchen und wie in einem kleinen Wettkampf Chat-Nachrichten via Smartphone. Der umgarnte Teenie entschied sich dann letztlich für Laura, und die beiden kamen fest zusammen. Es war das Ende der Freundschaft zwischen Amanda und Laura. Und was Marius noch nicht ahnen konnte, der Anfang vom Ende der Familienidylle. Die einst unzertrennlichen Freundinnen hatten sich um David sogar eine giftige Streiterei am Rande des Schulhofes geliefert, sich dabei an den Haaren gerissen und im Gesicht gekratzt. Am Ende gab es deswegen sogar eine Klassenkonferenz. Von diesem Tag an sprachen Laura und Amanda kein Wort mehr miteinander. Wenn sie sich sahen, übertrafen sich beide regelrecht in dem Bemühen, die andere eiskalt zu ignorieren.
Nur zwei Monate nach dem Aus der Freundschaft hatte Amanda mal wieder einen turnusmäßigen Termin bei ihrer Psychologin. Sie war dort schon länger in Behandlung, weil sie die Trennung ihrer Eltern einfach unterbewusst nicht gut weggesteckt hatte und ihr die regelmäßigen Gesprächstermine bei der Therapeutin guttaten. Hier konnte sie immer all das rauslassen, was raus musste. Und nun, als es wieder so weit war und Amanda der Psychologin gegenübersaß, fing sie plötzlich an, heftig zu schluchzen. In der Therapiesitzung offenbarte sie eine echte »Bombe«: Sie habe sich die ganze Zeit nicht getraut, es zu sagen, aber es gäbe da noch etwas anderes außer der Trennung ihrer Eltern, was sie belasten würde. Marius, der Vater ihrer ehemals besten Freundin Laura, habe ihr bereits vor zwei Jahren, also mit elf, bei einem gemeinsamen Campingurlaub in Holland schlüpfrige Komplimente gemacht. Sie sei ja eine »echte Granate«, eine »richtige Lady«, und ihre Brüste seien einfach zauberhaft schön; »zehn von zehn Punkten«. Richtig unangenehm, ja sogar ein bisschen ekelhaft sei das gewesen, so Amanda. All diese Lobeshymnen habe Marius natürlich immer nur dann losgelassen, wenn die übrigen Familienmitglieder gerade nicht anwesend waren. Eines Abends, als die anderen Erwachsenen draußen gemütlich am Lagerfeuer bei einem Glas Pinot Grigio saßen, sei Marius zu ihr in den Wohnwagen gekommen, habe sich vorsichtig auf die Bettkante gesetzt, seine Hand erst unter die Decke und dann in ihre Schlafanzughose geschoben. Dann, so berichtete Amanda mit tränenerstickter Stimme, sei sie von Marius sexuell missbraucht worden. Sie habe das Ganze erst gar nicht richtig realisiert und sich schlafend gestellt. Weil es ihr oberpeinlich war, habe sie bis heute auch nie jemandem etwas davon erzählt. Selbst ihrer Mutter nicht. Noch mindestens zehn, wahrscheinlich sogar fünfzehn Mal sei es danach zu ähnlichen Übergriffen gekommen. Einmal sogar bis hin zum Geschlechtsverkehr. Jedes Mal aufs Neue habe es ihr in der Situation selbst und auch danach regelrecht die Sprache verschlagen. Gewehrt habe sie sich nicht, weil sie panische Angst gehabt habe, die ihr regelrecht die Kehle zugeschnürt habe. Außerdem habe Marius sie auch eingeschüchtert und gedroht, wenn sie jemandem etwas von ihrem Geheimnis erzähle, würde etwas Schlimmes passieren. Die Psychologin hatte nach diesem schockierenden Geständnis gar keine andere Wahl: Sie informierte unverzüglich Amandas Mutter. Die wiederum sofort die Polizei.
Zwei Tage später: Marius lag nach einem harten Tag im Chemiewerk entspannt auf seiner Couch, knabberte Erdnussflips und trank, was er immer gerne machte, zwei bis drei Fläschchen Bier dazu. »Feierabend ist doch der schönste Abend.« Diesen Kalauerspruch brachte Marius immer dann, wenn seine Frau bei der dritten Flasche Bier ihre Stirn nach dem Motto »Muss das denn sein?« in Falten legte. Als an diesem Abend im Fernsehen die Nachrichten das Programm unterbrachen, schaltete Serien-Junkie Marius ausnahmsweise nicht um. Als eine Fahndungsmeldung von einem Tatverdächtigen verlesen wurde, der ein Kind sexuell missbraucht haben soll, war es vorbei mit der Ruhe. Marius setzte sich auf, zeigte immer wieder mit dem Zeigefinger in Richtung seines überdimensionalen Flachbildschirms und polterte: »Dieses Schwein, dem muss man sofort den Schwanz abschneiden! Der gehört ein Leben lang eingesperrt. Alles andere bringt doch nichts! Keine Gnade für diese widerlichen Kinderschänder!« Seine Frau Lisa kuschelte sich an ihn und versuchte den wieder mal in Rage geratenen Marius zu beruhigen, als es an der Tür klingelte. Beide guckten sich fragend an. So spät noch Besuch? Wer kann das denn sein? Lisa öffnete und traute ihren Augen nicht: Zwölf Polizeibeamte standen vor der Tür. »Sind Sie Frau L., die Ehefrau von Marius L.?«, fragte eine Polizeibeamtin. Lisa antwortete: »Ja, das bin ich. Aber was zum Himmel wollen Sie hier?« – »Durchsuchungsbeschluss!«, unterbrach sie eine andere Polizeibeamtin. Und im nächsten Moment drängelten sich auch schon ein Dutzend Polizeibeamte an Lisa vorbei. Marius wurde von einem Polizeibeamten im Wohnzimmer erst förmlich belehrt, bekam dann die sogenannte Schließacht angelegt. »Auch noch Handschellen, wie peinlich«, murmelte er vor sich hin. Angesichts des Tatvorwurfs – Kindesmissbrauch – war er so dermaßen überrumpelt, dass er kaum etwas sagen konnte. »Was passiert hier gerade?«, fragte er noch seine Frau, ehe er schließlich zur Wache gebracht wurde.
Alle Nachbarn aus dem Mehrparteienhaus bekamen natürlich mit, wie Marius mit gefesselten Händen auf dem Rücken aus dem Haus zum Streifenwagen geführt wurde. Die Nachricht machte im Dorf sofort die Runde. Schnell wurde auch der Vorwurf zum Gesprächsthema Nummer eins. »Was mit Kindern«, flüsterte man sich in der Nachbarschaft zu. Nach und nach überboten sich die Leute im Dorf auch mit Besserwisser-Kommentaren. »Der war mir schon immer etwas suspekt«, hieß es plötzlich. »Eigentlich ja ein Netter, aber irgendwie auch nicht« oder »Das habe ich vom Gefühl her schon immer vermutet«. Fakt war: Lisa wurde von allen Nachbarn prompt komplett gemieden. Nicht nur Karin, die Mutter von Amanda, sprach kein Wort mehr mit ihr, sondern auch alle anderen im Dorf.
Marius war derweil beim Gericht dem Haftrichter vorgeführt und in die nächste Justizvollzugsanstalt (JVA) gebracht worden. Vorläufige Endstation: Untersuchungshaft. Enge Zelle. Weg von der Familie. Einsamkeit. Der Vorwurf, der ihm gemacht wurde, ließ den zweifachen Vater immer noch konsterniert zurück: sexueller Missbrauch von Kindern in mindestens zehn Fällen. »Ich bin doch kein Kinderschänder«, sagte Marius.
Amanda war nach dem Gespräch bei der Psychologin auf dem Polizeirevier an zwei Tagen hintereinander ausführlich vernommen worden. Protokolliert worden waren Missbrauchsvorwürfe der schlimmsten Sorte. Marius war gerade erst einige Tage im Gefängnis, da sprach schon das Jugendamt bei Lisa vor. Mit Blick auf die massiven Vorwürfe wegen der Nachbarstochter läge es ja nahe, dass Marius auch die beiden eigenen Mädchen angefasst haben könnte. Laura und Chanel wurden angehört und bestritten vehement, dass ihr eigener Vater sich sexuell an ihnen vergriffen habe. Im Gegenteil. »Mein Papa ist der allerallerbeste Papa auf der Welt«, versicherte Laura den Mitarbeiterinnen des Jugendamtes. Auch an Chanel perlten die fast schon gebetsmühlenhaft vorgetragenen Vorstöße der Jugendamtsmitarbeiterinnen ab, sie solle ihren Vater nicht schützen, sondern doch lieber die Wahrheit sagen. »Was ich Ihnen sage, ist die Wahrheit«, wiederholte Chanel jedes Mal aufs Neue.
Ich hatte zwischenzeitlich Marius’ Verteidigung übernommen. Schon beim ersten Gespräch in der Justizvollzugsanstalt traf ich auf einen gebrochenen Mann. Einen, der sichtbar am Rande der Verzweiflung war. Marius schilderte mir glaubhaft, dass alle Vorwürfe jedweder Grundlage entbehrten. Wie in allen Sexualstrafverfahren erklärte ich dem Mandanten, dass wir an einem Punkt arbeiten müssten, der für viele Gerichte der Entscheidende ist: Gibt es ein Motiv für das Kind, zu lügen, und wenn ja, können wir dieses Motiv darlegen? Marius selbst wusste zu diesem Zeitpunkt nichts von dem Streit zwischen seiner Tochter Laura und Amanda. Laura hatte ihm davon keine Silbe erzählt, sie hatte nur gesagt, dass sie mit Amanda nichts mehr groß zu tun habe. Mehr wusste Marius nicht, und er sah deswegen hierin auch kein Problem. Erst als ich mich mit Lisa und Laura später in der Kanzlei ausführlich unterhalten hatte, stellte sich heraus, wo das Motiv für die Falschverdächtigung liegen könnte: Eifersucht des noch so jungen angeblichen Opfers Amanda wegen des umschwärmten David, der sich für Laura entschieden hatte.
Die viereinhalb Monate Untersuchungshaft bis zum Gerichtstermin waren für Marius die absolute Hölle. Im Knast hatte es sich – dies wird teilweise auch durch Gefängniswärter verbreitet – natürlich schnell herumgesprochen, dass Marius sexueller Missbrauch von Kindern vorgeworfen wird. Und damit stand er in der Gefängnishierarchie auf dem untersten Platz. Tiefer geht es nicht. Ob jemand die Taten tatsächlich begangen hat oder nicht, wird nicht gefragt. Es reicht der bloße Vorwurf, und schon gibt es Senge – und zwar ohne Ende. Gern unter der Dusche (das ist kein Klischee). So ist es auch Marius widerfahren. Regelmäßig wurde er brutal zusammengeschlagen. Mehrfach lag er im Sanitätsraum, nie hat er gesagt, wie es zu den Verletzungen gekommen ist. Denn auch Marius wusste, wenn er einen der Mithäftlinge anzeigen würde, würden alle anderen wie Pech und Schwefel zusammenhalten und gegen ihn aussagen. Marius war für alle nur der »Sittich von Zelle 1848« (im Gefängnis werden Kinderschänder »Sittich« genannt). Er konnte es kaum aushalten, hatte Suizidgedanken und stellte sich immer wieder die Fragen: »Warum das Ganze? Und wie lange dauert dieser Albtraum noch?« Auch sein Arbeitgeber war kurz davor, das schon so lange bestehende Arbeitsverhältnis zu kündigen. Wie nichts anderes sehnte Marius den Gerichtstermin herbei.
An einem extrem windigen, ja fast schon stürmischen Tag war es dann endlich so weit. »Wenn sich diese ungeheuerlichen Vorwürfe doch heute auch nur so einfach wegwehen lassen könnten wie die kleinen Äste«, dachte sich Marius beim Blick auf den mit dünnen Birkenästen übersäten Gefängnishof. Wir hatten eine Strategie erarbeitet, wie wir anhand des aus unserer Sicht ersichtlichen Motivs der Lüge Amanda der falschen Verdächtigung überführen wollten. Die Karten waren aber zunächst gegen uns. Gleich nach der Verlesung der Anklageschrift spulte der Vorsitzende Richter an Marius gerichtet eine Art Moralpredigt ab: »Sie haben gehört, was die Staatsanwaltschaft Ihnen vorwirft. Wir können Ihnen nur eins sagen: Wenn auch nur irgendetwas an diesen Vorwürfen dran ist, sollten Sie sich mit Ihrem erfahrenen Verteidiger dazu entschließen, jetzt ein Geständnis zu machen und der Geschädigten die Aussage hier zu ersparen. So etwas ist gerade für ein Kind die Hölle. Sie verringern für den Fall einer Verurteilung ihre Strafe damit um mindestens zweieinhalb Jahre. Wenn Sie sich allerdings streitig verteidigen und am Ende verurteilt werden, kommen Sie auf mindestens siebeneinhalb Jahre. Bei einem Geständnis können wir Ihnen jetzt eine Größenordnung von etwa fünf Jahren Freiheitsstrafe in Aussicht stellen.«
Marius nahm das »Fünf-Jahre-Angebot« des Richters natürlich nicht an. Er ging in die Offensive, erklärte sich selbst umfassend zu den Vorwürfen, wobei es natürlich immer schwierig ist für Angeklagte, zu Taten Stellung zu nehmen, die aus ihrer Sicht gar nicht stattgefunden haben. Marius schilderte, dass die beiden Familien tatsächlich zusammen in Holland im Campingurlaub waren und dass er und Amanda auch tatsächlich mal allein gewesen sind. Dass es ein ausgesprochen harmonisches Verhältnis war. Dann lenkte er seine Einlassung – so nennt man die Erklärung des Angeklagten vor Gericht zur Sache – auf den entscheidenden Punkt: das Motiv für die von uns ausgemachte falsche Verdächtigung. Nämlich der Bruch zwischen Marius’ Tochter Laura und Amanda wegen des Jungen David, der sich für Laura entschieden hatte und mit dem diese immer noch zusammen war. »Und deshalb soll sich das junge Mädchen all das ausgedacht haben?«, fragte der Vorsitzende Richter. In diese Frage schwang schon etwas süffisante Verachtung für meinen Mandanten mit. Dass Marius dem vermeintlich geschädigten Kind eine dermaßen perfide Intrige zutraute, stieß zunächst sichtbar auf Unverständnis. Doch dann begann sich das Blatt langsam zu wenden.
Wir konnten beweisen, dass es wegen David den Bruch der beiden besten Freundinnen Amanda und Laura gegeben hatte. Es gelang uns auch der Beweis, dass Laura wahnsinnig auf ihren Vater Marius fixiert war und dies Amanda natürlich wusste. Laura hat ihren Vater angehimmelt, Papa war für sie der Größte, und bei den Urlauben, bei den ganzen Ausflügen, die man auch mit Amanda unternommen hatte, war der Freundin dies natürlich nicht verborgen geblieben. Durchaus naheliegend, dass Amanda aus einem Mix aus Eifersucht und Rache eine Lügengeschichte über Marius auftischt. Zumal Laura mir in der Vorbereitung der Verteidigung geschildert hatte, dass ihre ehemals beste Freundin Amanda schon mit elf Jahren ihr erstes Mal hatte. Auf der Schultoilette. Das Ganze war sogar auf Video aufgenommen und wie ein Lauffeuer viral verbreitet worden. Das mutmaßliche Opfer Amanda war dadurch also zumindest schon mal mit der Last einer kleinen Draufgängerin im sexuellen Bereich versehen worden.
Nachdem der Vorsitzende Marius sehr ungläubig und kritisch zugehört hatte und auch die Staatsanwältin all ihre Fragen gestellt hatte, wurde Amanda in den Zeugenstand gerufen. Was dann passierte, gibt es in dieser Form relativ selten: Amanda hatte gemeinsam mit ihrer Mutter und einer Opferanwältin kaum im Zeugenstand in der Mitte des Gerichtssaals Platz genommen, da rief sie schon lauthals in den Saal: »Ich habe mir das alles ausgedacht.« Dann fing Amanda heftig an zu weinen, bekam minutenlang keinen richtigen Satz mehr heraus. Erst als sie sich nach einer Unterbrechung wieder gesammelt hatte, gelang es ihr zu schildern, dass sie es einfach nicht ertragen habe, dass David sich für Laura entschieden habe. Ihre Eifersucht sei so groß gewesen, und dann sei sie bei der Psychologin auf die Idee gekommen, all das zu erfinden, weil sie so etwas neulich auch bei Netflix gesehen habe. Der ganze Saal war stumm.
Marius L. wurde daraufhin noch am selben Tag freigesprochen. Freispruch erster Klasse heißt es, wenn sich die Unschuld des Angeklagten im Prozess erwiesen hat. Weitere Zeugen wurden nicht mehr gehört. Der Vorsitzende Richter war in seiner Urteilsbegründung plötzlich handzahm. Marius wurde für die zu Unrecht erlittene Untersuchungshaft mit dem damals geltenden Satz 25 Euro pro Tag entschädigt. Er war allerdings psychisch so angeschlagen, dass er trotz einer achtmonatigen Therapie dauerhaft arbeitsunfähig war und sein Arbeitsverhältnis beenden musste. Da die Nachbarn nicht so richtig an den Freispruch glaubten und die Familie weiterhin mieden, verkauften Marius und Lisa schließlich die Wohnung. Sogar weit unter Wert, denn sie wollten nur noch weg. So harmonisch wie früher wäre es im Dorf nie wieder geworden. Die Familie zog in eine andere Stadt. Marius ist seit dem Strafverfahren wie ausgewechselt. Früher war er selbstbewusst, heute ist er voller Selbstzweifel. Seine Frau Lisa hält dennoch zu ihm. Die Liebe zu seinen beiden Töchtern ist das Einzige, was Marius überhaupt noch aufrecht hält. Ob er jemals wieder wird arbeiten können, ist fraglich. All die Erlebnisse rund um den Vorfall, die Rufschädigung, die Demütigungen, die ihm hinter Gittern widerfahren sind, und die Vorstellung, viereinhalb Monate unschuldig hinter Gittern gesessen zu haben, haben Marius zu einem gebrochenen Mann gemacht. Und all das nur, weil er durch die gemeine Intrige einer Dreizehnjährigen, die als strafunmündiges Kind nach dem Gesetz strafrechtlich übrigens nicht belangt werden konnte, völlig zu Unrecht unter Tatverdacht geraten ist.
Dass jemand unschuldig unter Verdacht gerät, ein Schwerverbrecher zu sein, so wie Marius, ist leider keine Ausnahme. Und so komisch es auch klingen mag, im soeben geschilderten Fall ist das Ganze ja sogar noch verdammt gut gelaufen. Trotz aller bitteren Nachwehen hat hier jemand durch das Einräumen einer Lüge seinen verdienten Freispruch bekommen. Dass ein vermeintliches Opfer aus freien Stücken umkippt, eine eigene Lüge und damit eine eigene Straftat (falsche Verdächtigung) zugibt, passiert aber im realen Leben nur äußerst selten.
Doch machen wir uns nichts vor: Am Ende hat Marius das letztlich auch »nur« vor weiteren Tagen, Monaten oder gar Jahren im Gefängnis bewahrt. Sein unbeschwertes Leben, viele Freundschaften und sein tadelloser Ruf sind ein für alle Mal ruiniert – er selbst ist auf Lebenszeit stigmatisiert. Zumal in der medialen Berichterstattung nicht selten auch mit dem abgekürzten Klarnamen eines Beschuldigten gearbeitet wird. In einem kleinen Dorf mit wenigen Bewohnern wie im Fall von Marius kann das – trotz unmissverständlicher Vorgaben im Pressekodex zu Veröffentlichungen bei der Kriminalberichterstattung* – schnell auch der gesellschaftliche Todesstoß sein. Weil die Abkürzung die Person letztlich doch identifizierbar macht und dadurch an den Pranger stellt. Und weil trotz des eindeutigen Freispruchs im Umfeld des Betroffenen fast immer Intoleranz und Vorurteile bestehen bleiben. Ganz nach dem Motto »Na, wer weiß schon, was da wirklich war. Dass da gar nichts gewesen sein soll, glaube ich einfach nicht. Irgendwas wird da schon gewesen sein.«
Im übertragenen Sinne könnte man sagen, wirkt ein Freispruch immer nur wie ein Tintenkiller mit Überschreibfunktion. Man sieht auch danach noch die Makelstelle, an der mal etwas anderes (vermutlich Falsches) stand, auch wenn unterm Strich jetzt das Richtige geschrieben steht.
Nicht wenige Beschuldigte, die unschuldig auf der Anklagebank sitzen und nicht das Glück eines Rückziehers durch das vermeintliche Opfer auf ihrer Seite haben, werden am Ende verurteilt, kassieren Geld-, Bewährungs- oder verbüßen im Extremfall sogar mehrjährige Gefängnisstrafen. Denn mutmaßliche Opfer genießen nach meinen Erfahrungen bei der Justiz eine Art Bonus. Soll heißen, man geht erst einmal von der Richtigkeit ihrer Aussage aus. Selbst renommierte Aussagepsychologen verweisen im Zweifel eher auf die Annahme, dass das Vorgeworfene wohl auch erlebt worden ist. Eigentlich unfassbar, aber weit verbreitet und bedauerlicher Alltag in unseren Gerichtssälen. Zumal es eigentlich heißt: Im Zweifel für den Angeklagten. In der Rechtswirklichkeit wird daraus häufig: Im Zweifel gegen den Angeklagten.
Der Fall von Marius sollte exemplarisch verdeutlichen, wie wichtig Strafverteidigung vor allem unter dem Blickwinkel der Fairness ist. Einen »Verbrecher« zu retten bedeutete in seinem Fall nämlich nichts anderes, als ein klares Fehlurteil zu vermeiden. Man muss immer davon ausgehen, dass jemand auch unschuldig sein kann. Denn ist ein (Fehl-)Urteil erst einmal in der Welt und rechtskräftig, gibt es nur noch ganz wenige Möglichkeiten der Revidierung. Eine ist das sogenannte Wiederaufnahmeverfahren, wenn beispielsweise nachträglich doch noch eindeutige, entlastende Beweise auftauchen, die vorher nicht bekannt waren. So passiert zuletzt bei einer »geretteten« Mandantin, die trotz Bestreitens als Diebin einer Supermarkt-Geldbombe nach drei Instanzen rechtskräftig verurteilt worden war und erst Jahre später nachträglich freigesprochen wurde, weil die angeblich gestohlene Geldbombe irgendwann per Zufall doch noch in einem Zwischenraum im Tresor wiedergefunden werden konnte.
Längst nicht jedem, der zu Unrecht unter Verdacht geraten ist, gelingt es aber ohne juristisch erfahrenen Beistand, Richter, Staatsanwälte oder polizeiliche Ermittler am Ende von seiner Unschuld zu überzeugen. Dabei ist dies eigentlich nicht Aufgabe des Beschuldigten. Denn nach einer der wohl wichtigsten Prämissen im Strafrecht, der in Art. 6 Abs. 3 Europäische Menschenrechtskommission (EMRK) verankerten Unschuldsvermutung, gilt jeder bis zu seiner rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig. Paradoxerweise geht der Großteil der Bevölkerung genau vom Gegenteil aus: Sobald ein Tatverdacht geäußert wird, gilt man als schuldig. Doch das ist falsch, unfair und gefährlich.
* Der sogenannte Pressekodex definiert Täter- und Opferschutz in einer Richtlinie. Darin sind unter anderem klare Kriterien für die identifizierende Berichterstattung über Straftäter verankert. In Ziff. 8.1. heißt es etwa: »Die Presse veröffentlicht Namen, Fotos und andere Angaben, durch die Verdächtige oder Täter identifizierbar werden könnten, nur dann, wenn das berechtigte Interesse der Öffentlichkeit im Einzelfall die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegt. Bei der Abwägung sind insbesondere zu berücksichtigen: die Intensität des Tatverdachts, die Schwere des Vorwurfs, der Verfahrensstand, der Bekanntheitsgrad des Verdächtigen oder Täters, das frühere Verhalten des Verdächtigen oder Täters und die Intensität, mit der er die Öffentlichkeit sucht.«
Zwanzig Jahre ist es inzwischen her, als ich quasi von null auf hundert mittendrin war in einem der wohl kaltblütigsten und grausamsten Kapitalverbrechen* der deutschen Kriminalgeschichte. Es war im Januar 2001 und ich war gerade unterwegs zu einer Besprechung in der Justizvollzugsanstalt Essen, als mich im Auto ein Anruf aus der Kanzlei erreichte. Ein junger Mann sei in Duisburg vorläufig festgenommen worden, hieß es auf die Schnelle. Er befinde sich auf der Polizeiwache und wünsche meinen anwaltlichen Beistand. In diesem Moment hatte ich noch keinen Schimmer, mit welch schrecklichen Geschehnissen ich kurz danach konfrontiert werden würde. Dass ein neunjähriger Junge sterben musste, weil es der krankhafte Traum seines Mörders war, ein Kind zu zerstückeln, zu sehen, wie es von innen aussieht, und zu fühlen, wie es ist, neben einem Kinderleichnam Sex zu haben, erfuhr ich erst später. Und obwohl auch mir seine erschreckend naiven und kühlen Tatbeschreibungen später fast die Kehle zugeschnürt haben, weil sie so grausam waren, habe ich Oliver S., den unscheinbaren Mann mit kindhaften Gesichtszügen, in den anschließenden Ermittlungen und vor Gericht verteidigt. Und das aus Überzeugung. Denn auch dem vermeintlich Schuldigsten unter den Schuldigen, dem »größten Schwein« unter den Tatverdächtigen, gebührt eine effektive und faire Verteidigung.
»Wie ein Stück Marmorkuchen.« Dieser Satz von Oliver S. (im weiteren Verlauf der Einfachheit halber nur noch Oli genannt), gefallen in einer der ersten Vernehmungen auf dem Polizeirevier, hat sich bei mir vermutlich für immer ins Gedächtnis eingebrannt. Noch heute habe ich deswegen einen Kloß im Hals, wenn irgendwo Marmorkuchen aufgetischt wird. Es war Olis verstörend nüchterner Vergleich, den Augenblick zu beschreiben, als er am 9. Januar 2001 einem neun Jahre alten, von ihm kurz zuvor zu Tode gewürgten Jungen aus der Nachbarschaft im Bad seiner Wohnung mit einem Küchenmesser den Kopf abgeschnitten hat. Angelockt hatte Oli, damals 23 und gelernter Kindererzieher, sein Opfer mit dem Versprechen, ihm Pokémon-Sammelkarten und -münzen zu zeigen. Die Bluttat war alles andere als spontan. Wie sich später herausstellen sollte, war der Pokémon-Mord ein geplantes Verbrechen, entfacht aus abartigen Trieben und der unseligen Verbundenheit eines jungen Liebespaars.
Schon acht Jahre zuvor, mit fünfzehn, hatte Oli erste Tötungsfantasien erkennen lassen. Auf einem Polaroid-Kindergeburtstagsfoto hatte er den Freundinnen seiner Zwillingschwestern mit einem kleinen Messerchen die Hälse durchgeritzt. Später hatte er immer wieder Mitschülerinnen seiner Geschwister drangsaliert, indem er den Besucherinnen ständig irgendwelche Kleidungsstücke wegnahm. Vor allem Schnürsenkel schnitt Oli regelmäßig von den im Wohnungsflur artig abgestellten Schuhen ab. Auch schrieb Oli schon damals Geschichten, die äußerlich kurz und knapp waren und inhaltlich voller Menschenverachtung und Gewalt. Und in denen er als »Klein Oli« in die Hauptrolle des Ich-Erzählers schlüpfte. Ein gruseliges Drehbuch aus dieser Zeit beschrieb beispielsweise bereits bis ins kleinste Detail, wie Oli eine Frau erst brutal vergewaltigte und anschließend eiskalt tötete.
Am 3. März 2000, knapp zehn Monate vor dem Pokémon-Mord, hatte Oli Nadine (Vorname geändert) kennengelernt. Nadine, damals siebzehn, stammte aus schwierigen Verhältnissen. Ihr leiblicher Vater war achtzehn bei ihrer Geburt und saß seinerzeit im Gefängnis. Ihre leibliche Mutter hatte sie mit fünfzehn zur Welt gebracht und lebte als Drogenabhängige weitgehend obdachlos auf der Straße. Mit acht Monaten wurde Nadine zur Adoption freigegeben und lebte fortan in einer Pflegefamilie.
Oli und seine erste Liebe Nadine verbrachten von Anfang an fast die gesamte Freizeit in Olis Wohnung in Duisburg. Das junge Paar kapselte sich völlig ab, unternahm außerhalb der Wohnung keine Aktivitäten. Pornos, Horrorfilme und hemmungsloser Sex bestimmten den Alltag. Oli und Nadine probierten sexuell alles aus, insbesondere auch sadomasochistische Praktiken. Das Geld wurde mit der Zeit immer knapper, Olis Wohnung war in einem verwahrlosten Zustand. Bis auf seinen Fernseher und seinen Videorekorder hatte Oli irgendwann sämtliche Wertsachen verkauft. Auch beruflich ließ Oli sich regelrecht gehen. Von Juli 1999 bis Januar 2001 wechselte er immer wieder seine Jobs, zog von Discounter zu Discounter. Zum Schluss arbeitete er als Aushilfskoch bei einer amerikanischen Fast-Food-Kette. Immer häufiger feierte er kurzfristig krank. Gestört hat es ihn nicht. Vor sich hin leben in seiner kleinen Wohnung war alles, was er wollte.
Auf der Straße hatten Oli und Nadine einen Nachbarsjungen kennengelernt. Obwohl kennengelernt eigentlich ein wenig übertrieben ist. Der neunjährige Sedat und seine Freunde hatten das junge Paar beim hemmungslosen Knutschen am offenen Fenster bemerkt und dabei lautstark angefeuert. Später war Oli nicht entgangen, dass der kleine Sedat auch mal auffällig interessiert die Pokémon-Aufkleber an seinem Pkw bewundert hat.
Es war im August 2000, als in Oli ein unbändiges Begehren wuchs, das in der Vorstellung gipfelte, mit den eigenen Händen ein Kind erwürgen zu wollen. Seiner schockierten Freundin Nadine erzählte er damals sinngemäß: »Ich will in das Gesicht eines Kindes sehen, während es stirbt.« Diesen Tötungsgedanken trug Oli erst monatelang mit sich herum, dann begann er seine perversen Fantasien nach und nach aufzuschreiben. So verfasste Oli ab November des Jahres 2000 seinen ersten Roman. Titel: »Ein hoffnungsloser Fall«. Dieser in der Ich-Form erzählte Roman bestand aus 21 Kapiteln – allesamt voller Tötungsfantasien. Opfer waren meistens kleine Jungen aus der Promi-Szene. So plante Oli in einem Kapitel unter anderem, einen Sänger der damals bekannten Boygroup Backstreet Boys nach einem Konzert zu entführen, niederzumetzeln, zu köpfen und den Leichnam anschließend in einem Koffer fortzutragen. Eine in weiten Teilen erschreckend originalgetreue Vorlage für den späteren Pokémon-Mord.
Im Dezember 2000 verfestigte sich in Oli der Gedanke, ein Kind zu ermorden. Immer häufiger stand er wie paralysiert am Fenster und beobachtete draußen die spielenden Nachbarskinder. Auch träumte er davon, sein Opfer anschließend sexuell zu schänden, sehnte sich regelrecht danach, sich an einem Kinderleichnam vergehen zu können. Einen Kinderleichnam deswegen, weil das Fehlen von Schambehaarung eine für Oli ungemein reizvolle Unschuldigkeit ausstrahlte, wie er später einmal zugab. Um den Jahreswechsel herum traute sich Oli, sein drängendes Tötungsverlangen erneut mit seiner Freundin Nadine zu besprechen. Und war völlig baff, dass die ihn dieses Mal sogar noch regelrecht dazu ermutigte. »Ja, mach mal«, sagte Nadine nur lapidar. Und gestand ihrem Freund diesmal auch, dass auch sie gerne einmal ungestört einen toten Menschen betrachten würde. Sie hatte schon lange gespürt, dass während seiner Grübelphase eine Art geistige Distanz zwischen ihnen entstanden war. Um diese Distanz aufzubrechen, hatte Nadine Oli mehrmals täglich zum Sex verführt. Was sie nicht ahnte: Oli hatte sich bei diesen Liebesspielen mitunter das Gesicht eines Opfers auf das von Nadine projiziert.
Als Opfer der Tat hatte Oli den kleinen Sedat ausgewählt. »Ich nehme den Jungen mit dem Topfhaarschnitt«, sagte er einmal zu Nadine. Lockmittel sollte eine vermeintliche Pokémon-Kartensammlung sein. Weil Oli davon ausging, dass am 9. Januar 2001 alle anderen Hausbewohner für die Beerdigung einer kürzlich verstorbenen Nachbarin ortsabwesend sind, wählte er diesen Tag zu Sedats Todestag aus. Was er nicht wusste: Er hatte sich schlicht vertan, denn tatsächlich war die Beerdigung erst einen Tag später am 10. Januar 2001. Und so kam es dann auch dazu, dass ein Nachbar, der ein Otto-Paket für Oli angenommen hatte, ihn im Treppenhaus im Beisein des kleinen Sedat abfing, um ihm das Paket zu übergeben. Den Neunjährigen hatte Oli kurz zuvor auf der Straße angesprochen, ihm erzählt, dass er in seiner Wohnung jede Menge Pokémon-Karten habe, woraufhin Sedat sofort wortlos seine Hand genommen hatte und mitgekommen war.