STUART COSGROVE

CASSIUS X

Die Legende Muhammad Ali

Aus dem Englischen von Kristof Hahn

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel CASSIUS X: A LEGEND IN THE MAKING bei Polygon, an imprint of Birlinn Ltd., Edinburgh.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Unter www.heyne-hardcore.de finden Sie das komplette Hardcore-Programm, den monatlichen Newsletter sowie alles rund um das Hardcore-Universum.

Weitere News unter www.heyne.hardcore.de/facebook

@heyne.hardcore

Copyright © 2020 by Stuart Cosgrove

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Markus Naegele

Redaktion: Jürgen Teipel

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, Memmingen

unter Verwendung des Originalumschlags von Chris Hannah

Umschlagabbildung: Alamy Stock Photo / CPA Media Pte Ltd.

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-28038-3
V001

Cassius Clay zählt die letzten Tage des Jahres 1962. Von der Öffentlichkeit unbemerkt, hat er sich in aller Stille der Nation of Islam angeschlossen und trägt bereits einen schlichten schwarzen Anzug und eine dunkle Krawatte als äußeres Zeichen der Zugehörigkeit zu dieser Organisation. Es wird jedoch noch fünfzehn Monate dauern, bis er allgemein unter dem Namen Muhammad Ali bekannt wird.

© James Drake / Sports Illustrated Classic

Vorbemerkung

Das in diesem Buch verwendete Wort »Rasse« ist eine direkte Übersetzung des englischen Wortes Race, das in den USA eine andere Bedeutung hat als in Deutschland, wo es historisch natürlich extrem belastet ist. Wissenschaftlich ist dieser Begriff nicht haltbar. Das ebenfalls verwendete Wort »Neger« ist durch die Verwendung des Begriffs Negro seitens der Originalquellen (Martin Luther King, James Baldwin etc.) bedingt.

»Ich bin Amerika. Ich bin der Teil, den ihr nicht anerkennt. Aber ihr solltet euch besser an mich gewöhnen. Schwarz, voller Selbstvertrauen, mit großer Klappe. Mit einem eigenen Namen, den ich mir selbst gegeben habe, nicht ihr, mit meiner eigenen Religion und nicht eurer, meinen eigenen Zielen. Gewöhnt euch daran.«

Cassius X, 1964

»Das gemeinsame Ziel von zweiundzwanzig Millionen Afroamerikanern ist es, als menschliche Wesen respektiert zu werden, ist das gottgegebene Recht, ein menschliches Wesen zu sein. Unser gemeinsames Ziel ist es, die Menschenrechte zu erlangen, die Amerika uns bislang verweigert hat. Wir können niemals die Bürgerrechte in Amerika bekommen, solange unsere Menschenrechte nicht wiederhergestellt sind. Wir werden niemals als Bürger anerkannt werden, solange wir nicht als menschliche Wesen anerkannt sind.«

Malcolm X, 1964

INHALT

Vorwort

Miami

Wo die Neonröhren zum Sterben hingehen

Detroit

Detroit Red und der Sound des jungen Amerika

Philadelphia

The Guy with the Goods

New York

Wenn im Boxen Winter herrscht

London

Skandal in Soho

Miami

Der Kampf, der Amerika veränderte

Requiem

Boxen und Soul: Eine Playlist

Bibliografie

Index

VORWORT

Cassius X ist die Geschichte eines außergewöhnlichen Menschen, doch es ist darüber hinaus die Geschichte der vielen gesellschaftlichen Kräfte, die schließlich Muhammad Ali formen sollten.

Der Großteil des Buches spielt 1963 in Miami. Und zwar im Vorfeld von Cassius Clays erstem Titelkampf gegen Sonny Liston – mit dem Schwerpunkt auf jener Phase, als er den Namen Cassius X benutzte. Seine Konvertierung zum Islam, durch die er den Namen Muhammad Ali bekommen sollte, war noch nicht abgeschlossen.

In gewisser Weise kann man das Buch als Vorspann meiner Trilogie über Soul lesen: Detroit 67 – The year that changed Soul, Memphis 68 – The Tragedy of Southern Soul und Harlem 69 – The Future of Soul. Und zwar insofern, als es die Entwicklungen beleuchtet, die zum Aufstieg des Soul zu einem der prägendsten musikalischen Genres der populären Musik in den Sechzigerjahren führten. Im Grunde jedoch geht es um den komplexen politischen und religiösen Hintergrund, der Cassius X und später dann Muhammad Ali hervorbrachte, und die bemerkenswerte Magie, die durch ihn in den Boxsport und die Unterhaltungsbranche Einzug hielt.

Über Muhammad Ali wurden etliche ausgezeichnete Biografien verfasst, die sein gesamtes Leben behandeln. Doch darum geht es in diesem Buch nicht. Cassius X ist das Porträt eines Mannes während seiner formativen Phase, in den Tagen, als der junge Boxer seine Identität auslotete, sein Image entwarf und langfristig vorteilhafte Freundschaften mit Malcolm X, Sam Cooke und innerhalb der Medien schloss. Es dreht sich nicht nur um seine Wahrnehmung eines von Rassentrennung geprägten Landes, sondern auch um die neuen, von Selbstbewusstsein geprägten Musik- und Unterhaltungsgenres, die seine Jugend beherrschten.

Mein tiefer Dank geht an meinen Verlag Polygon, insbesondere an meine Lektorin Alison Rae, sowie an meinen amerikanischen Verlag Chicago Review Press.

Mein persönlicher Dank gilt meinen Freunden und Verwandten und – wie immer – der merkwürdigen Lehranstalt des Northern Soul.

Stuart Cosgrove

Glasgow, 2020

Cassius Clay bei einer Trainingspause in Chris Dundees Gym in der 5th Street in Miami. Das Design des T-Shirts stammt von seinem Vater, der in seiner Heimatstadt Louisville, Kentucky als Schildermaler arbeitete. Der Fotograf Flip Schulke machte während der Jahre 1961 bis 1964 Hunderte von Aufnahmen des jungen Boxers, einschließlich der berühmten Fotos im Swimmingpool: Cassius hatte damals lauthals verkündet, dass er unter Wasser trainierte, um seinen Jab zu verbessern, doch es war nur ein Schwindel, den er sich zusammen mit seinem Trainer ausgedacht hatte. In Wirklichkeit konnte er gar nicht schwimmen.

MIAMI

Wo die Neonröhren zum Sterben hingehen

Das Jahr 1963 hatte gerade begonnen, und Miami erwachte mit einem heftigen Kater. Die Stadt war vollgepackt mit Silvesterpartygängern, Ganoven und wandelnden Leichen. Touristen aus Chicago und Detroit – Snowbirds genannt – fielen scharenweise über die Strände Floridas her, um dem ohrenbetäubenden Lärm und der strengen Kälte der Industriestädte des Nordens zu entfliehen. Die Hotels waren hoffnungslos überbelegt, und allenthalben sah man enttäuschte Gäste, die ihr Gepäck die Collins Avenue entlangschleiften in der vergeblichen Hoffnung, doch noch irgendwo ein freies Zimmer zu ergattern. Hinter den polarkalten Empfangshallen, in denen Halbweltfiguren Zuflucht vor der Hitze suchten, wankten Männer in unziemlich kurzen Hosen durch die glitzernden Casinos und ließen zerknüllte Trinkgeldscheine und misstrauische Blicke in ihrem Fahrwasser zurück.

Cassius Clay war nun schon seit über zwei Jahren in Miami, doch noch nie war ihm ein solches Maß an nervöser Gereiztheit begegnet. Die ganze Stadt war von Hektik erfüllt und gleichzeitig am Verrotten. Der Beat-Comedian Lenny Bruce, der seine Verachtung für das urbane Amerika gerne in zweifelhaftes Lob kleidete, hatte einmal erklärt, Miami sei die Stadt, wo »die Neonröhren zum Sterben hingehen«. Ganze Stadtviertel waren in das zuckende Licht verendender Neonreklamen getaucht, die immer mal wieder kurz zum Leben erwachten, bevor sie als Glasscherben auf den Gehwegen landeten. Die glamourösen Leuchtreklamen, die auf Postkarten so malerisch wirkten, hauchten röchelnd ihren letzten Atem aus und waren höchstens noch ein Sinnbild für den unausweichlichen Niedergang der Stadt. Selbst die Palmen blieben nicht verschont – besonders in den schattigen Gegenden der Stadt waren sie von Blütenfäule befallen, einer für die Bäume tödlichen Pilzkrankheit, die dazu führte, dass ihre ehemals majestätischen Palmwedel kraftlos und nikotingelb verfärbt von den Wipfeln herabhingen.

Begünstigt von billigen Flugpreisen und der zunehmenden Verbreitung von Klimaanlagen hatte Miami nach dem Krieg ein ungebremstes Wachstum erlebt; doch dieser Boom ließ sich nicht endlos fortsetzen. Es gab in erster Linie befristete, unsichere Jobs, die Arbeitslosigkeit stieg und fiel parallel zur Touristensaison, und der Andrang von Einwanderern aus Kuba und der Karibik führte zu einer Überlastung der sozialen Dienste. Viele Hotels der mittleren Preiskategorie kämpften immer noch mit den Folgen des letzten Hurrikans und kamen mit Reparaturen und Renovierungen gar nicht nach, sodass weite Teile der Stadt vermüllt, verrottet und vernachlässigt wirkten.

Trotz alledem existierte der Mythos Miami weiter. Geradeso, als ob das sonnige Image der Stadt die harsche Realität einfach ausblendete. Oder wie es die große Schriftstellerin Joan Didion in ihrem aufschlussreichen Buch Miami formuliert: »Miami schien gar nicht wie eine Stadt, sondern vielmehr wie ein Märchen, eine romantische Tropenidylle, eine Art Wachtraum, in dem alles möglich und machbar zu sein schien.« Doch hinter dieser Traumfassade erkannte Didion, in Anspielung auf die kartografische Lage Miamis, eine Stadt am Ende eines Pistolenlaufs, »bevölkert von Leuten, die in dem festen Glauben waren, dass sie von den Vereinigten Staaten im Stich gelassen und verraten wurden«. Und der schlimmste Verräter von allen war – jedenfalls in den Augen der kubanischen Bewohner der Stadt – der Präsident der USA.

John F. Kennedy stattete der Stadt einen Besuch ab, und seine Anwesenheit hatte die ohnehin aufgeheizte Neujahrsstimmung noch weiter verschärft. Das Jahr 1963 würde später als ein Jahr finsterer Verschwörungen in die Geschichte eingehen, als das Jahr, in dem der Präsident ermordet wurde. Doch auch anderswo in der nach Rassen getrennten Stadt rumorte es unter der Oberfläche.

Anfangs nahezu unbemerkt, hatte sich Soul im ganzen Land zu einem musikalischen Trend entwickelt, der kurz davorstand, über Amerika hinwegzufegen wie ein tosendes Gewitter, das die kommenden, ereignisreichen Jahre entscheidend prägen sollte.

Und dann war Miami eben noch der Ort, an dem Cassius Marcellus Clay, ein hoch aufgeschossener junger Bursche aus Louisville in Kentucky, sich in einen geradezu größenwahnsinnigen Traum verstiegen hatte: Boxweltmeister im Schwergewicht zu werden. Cassius und seine Berater in Louisville hatten sich nach reiflicher Überlegung darauf geeinigt, dass der altgediente Trainer Angelo Dundee am besten geeignet war, die Karriere des jungen Boxers voranzutreiben. Dundee war aus seiner Heimatstadt Philadelphia nach Miami gezogen, um im Gym seines Bruders Chris in der 5th Street zu arbeiten. Und so kam es, dass im November 1960 der achtzehnjährige Cassius mit dem Zug aus Kentucky eintraf, um in diesem beengt wirkenden Raum zu trainieren, der, wie der Miami Herald schrieb, in einer »heruntergekommenen, dampfigen Gewerbeetage über einem Schnapsladen« an einer schäbigen Straßenecke in Downtown Miami untergebracht war.

Zurückhaltend und unsicher, was auf ihn zukam, wurde Cassius von seinem neuen Trainer und einer lebhaften Gruppe kubanischer Boxer vom Bahnhof abgeholt. Man brachte ihn zu einem merkwürdigen Haus, dessen Fenster mit schweren Vorhängen verhängt waren. Die Bewohner sprachen nur Spanisch, und Cassius zog sich erst mal in sich selbst zurück, weil er keine Ahnung hatte, wie er sich mit diesen Leuten verständigen sollte. Als es dunkel wurde, brachte man ihn in ein vollgestelltes Zimmer in einem Haus unweit der Calle Ocho in Little Havanna, wo er, kaum dass er seine Sporttasche abgestellt hatte, einem demütigenden Initiationsritual unterzogen wurde. Er musste bei seiner ersten Nacht in Miami das Bett mit Luis Rodriguez teilen – mit dessen Füßen im Gesicht. Der brillante kubanische Boxer war nach eigener Aussage stolzer Träger der längsten Nase Amerikas, die ihn eines Tages in die Lage versetzen würde, Fidel Castro einfach wegzurotzen.

Und so verbrachte Cassius seine erste Nacht in der Stadt umschwirrt von Moskitos und eingehüllt in stechenden Schweißgestank in einem dunklen Zimmer und lauschte den fremden Stimmen, die sich irgendwo draußen auf Spanisch unterhielten, untermalt von dem ohrenbetäubenden Schnarchen von Rodriguez.

Als erklärter Feind des Castro-Regimes war Rodriguez in etliche konspirative Gruppen involviert und ein enger Freund von Ricardo »Monkey« Morales, einem ehemaligen Mitglied des kubanischen Geheimdienstes, der sich 1960 in die USA abgesetzt hatte und dort von der CIA angeworben wurde, um als Offizier paramilitärischer Einheiten Kriege im Verborgenen zu führen und weitere Landsleute im Exil anzuwerben – darunter auch die Boxer, die mit Cassius im 5th Street Gym trainierten. Rodriguez spielte die Rolle des patriotischen Agitators; er war ein unermüdlicher Propagandist, der immer wieder versuchte, den desinteressierten und ohnehin mit anderen Sachen befassten Cassius in die neuesten Gerüchte aus den Kreisen der Exilkubaner zu involvieren. Rodriguez hatte im Gym die Rolle des Leitwolfs übernommen, der Besucher herumführte, die Schlüssel für die Schließfächer verteilte, mit den Scharen junger Boxer, die um den Ring herumhingen, Witze austauschte und der außerdem die klapprigen Spinde heimlich als Munitionsdepot verwendete.

Genau hier, inmitten von Sägespänen und umgeben von dem Geflüster kubanischer Mittelgewichtler, perfektionierte der junge Cassius seinen Shuffle, jenen tänzerischen Stil, der ebenso wie seine überschwänglichen Wortkaskaden zu seinem Markenzeichen werden sollte.

Bei allen Unterschieden verstanden sich Rodriguez und der quirlige Junge aus Louisville jedoch prächtig. Während ihrer ganzen seltsamen Freundschaft herrschte zwischen ihnen Einigkeit darüber, dass Boxen zuallererst Teil der Unterhaltungsindustrie war – zwar gefährlich und manchmal sogar tödlich, aber nichtsdestotrotz Entertainment. Bei seinen fruchtlosen Bemühungen, Cassius in die Rätsel, Widersprüche und Mysterien kubanischer Politik einzuführen, betete Rodriguez ihm die Namen einer bemerkenswerten Generation von exilkubanischen Boxern herunter, die aus dem Inselstaat geflohen waren und nun ein neues Kapitel der Geschichte des Boxens schreiben sollten. Cassius lernte sie in den folgenden Wochen und Monaten nach und nach kennen und teilte sich die Trainingshalle mit ihnen. Schon ihre Namen hatten einen vollmundigen und verführerischen Klang – Kid Chocolate, Kid Gavilan und der elegante Federgewichtler Ultiminio »Sugar« Ramos. Rodriguez überzeugte Cassius, dass, wenn er auch nur einen Tag damit zubrächte, die Kubaner bei ihrem Schwof über die Bretter zu beobachten, auch er lernen würde zu tanzen wie der Wind. Cassius hörte ihm lächelnd zu. Er fand zunehmend Gefallen an dem »Hässlichen«, wie Rodriguez auch genannt wurde, und erkannte auch, dass sich in dessen Scherzen und ständigen Bemühungen, seine Umgebung zu unterhalten, ein Schimmer seiner eigenen Persönlichkeit widerspiegelte.

Abgeschreckt von seiner ersten schlaflosen Nacht in Miami, beschloss Cassius, sich lieber erst mal unter seinesgleichen einzuquartieren; und keine sechsunddreißig Stunden später hatte er Angelo Dundee dazu gebracht, die Finanzen des 5th Street Gym zu strapazieren, und sich damit ein billiges Hotelzimmer in Overtown gesucht, einem belebten Ghetto etwas weiter vom Strand entfernt. Anfangs wohnte er im Mary Elizabeth Hotel auf der North West Second Avenue – das von Ferdie Pacheco, dem Arzt des Boxstudios, als »Absteige für Luden, Nutten und Diebe« beschrieben wurde –, zog nach einer eher unkomfortablen Woche jedoch um ins Sir John Hotel, den coolsten R&B-Treffpunkt in ganz Overtown. Das Sir John war eine Institution, das Zentrum der jungen Soulszene von Miami, und darüber hinaus war es ein relativ komfortables Hotel mit einem eigenen Swimmingpool und einem bis spät in die Nacht geöffneten Soulclub, dem Knight Beat. Für den Großteil der nächsten drei Jahre sollte es Cassius’ Zuhause werden; der Ort, an dem sein Leben eine neue Richtung nahm. Hier, in einem nach üblichen Gesichtspunkten eher einfachen Hotelzimmer, begann er seinen Transformationsprozess, an dessen Ende sein Image, seine religiösen Überzeugungen und schließlich auch sein Name nicht mehr die gleichen sein sollten wie zuvor.

Nach dem Einchecken packte er seine Trainingstasche aus, deren bescheidener Inhalt einige Rückschlüsse auf seine Persönlichkeit zuließ: Neben dem üblichen Boxzubehör (Mundschutz, Bandagen und Vaseline) befand sich darin auch eine Grundausstattung für den Amateurzauberer – ein Zauberstab, ein Satz Würfel, ein Kartenspiel und ein abgewetzter Zylinder. An der Innenseite der Tasche hing eine Spinne aus Gummi. Sie sollte in den stürmischen Tagen und drückend heißen Monaten, die vor ihm lagen, noch für Momente der Heiterkeit sorgen. Er nahm sein Boxtrikot von den Olympischen Spielen 1960 aus der Tasche, strich es glatt und hängte es über einen Stuhl – eine schimmernde Erinnerung an seinen ersten großen Erfolg. Den Gewinn der Goldmedaille im Halbschwergewicht durch einen Sieg über den Polen Zbigniew Pietrzykowski bei der Olympiade in Rom.

Floyd Patterson, der Schwergewichtsweltmeister zu Beginn der Sechzigerjahre, erzählte später dem Magazin Esquire in einem Interview, Cassius Clay sei bei seiner ersten Begegnung mit ihm ein »völlig anderer Kerl« gewesen: »Das war 1960. Ich war damals Weltmeister und als Tourist in Rom. Ich hatte eine Audienz beim Papst, besuchte dann die Olympiamannschaft der USA und traf bei der Gelegenheit auch Cassius Clay. Er war der beste Boxer des amerikanischen Teams, aber er war sehr höflich und voller Enthusiasmus. Als ich im Mannschaftscamp ankam, sprang er auf, nahm mich bei der Hand und sagte: Kommen Sie mit, ich führe Sie herum.‹ Er zeigte mir alles, und das Einzige, das ein bisschen ungewöhnlich an ihm war, war seine überschäumende Begeisterung. Ansonsten war er ein sehr zurückhaltender und sympathischer Bursche.«

Cassius fand bald heraus, dass freundliche Zurückhaltung finanziell nicht hoch im Kurs stand und die Dollars eher in Richtung derer strömten, die Aufmerksamkeit für sich beanspruchten. Er wirkte manchmal wie ein kleiner Junge mit einem geradezu verzweifelten Bestreben, andere zu unterhalten – und bei anderen Gelegenheiten wie ein junger Mann, dessen Verhalten nicht selten in Richtung unangenehmer Großspurigkeit abdriftete. Bei seiner Ankunft in Miami war er auf den Straßen noch weitgehend unbekannt, doch er verließ sich auf seinen Instinkt, arbeitete hart an seinen Entertainerqualitäten und entwickelte sich so zu der schillernden Persönlichkeit, die in den kommenden Jahren ins Rampenlicht rücken sollte.

Im westlich von Downtown gelegenen Orange Bowl Stadium drängten sich fünfundsiebzigtausend Zuschauer, um die spektakuläre Eröffnungszeremonie des bedeutendsten Sportereignisses der Stadt, des Orange Bowl, zu verfolgen und Präsident Kennedy und die First Lady Jacqueline »Jackie« Kennedy mitzuerleben, die als Ehrengäste daran teilnehmen sollten. Der Präsident schwebte per Helikopter vom Himmel herab, landete auf dem Spielfeld und tauchte dann unter in einer Prätorianergarde aus Geheimdienstleuten, die ihren verkabelten Professionalismus im strahlenden Schein der Sonne Floridas hinter dunklen Sonnenbrillen versteckten. Unter ihnen war auch Clint Hill, ein unscheinbarer Mann, den niemand kannte, der aber an den Kennedys klebte wie eine Klette. Hill hatte die späten Fünfzigerjahre als Spezialagent in der Außenstelle Denver zugebracht, bevor er zur Eliteeinheit des Weißen Hauses abgeordnet worden war. Im Herbst desselben Jahres sollte er in der Wagenkolonne des Präsidenten bei der Fahrt durch Dallas sitzen. Und er war es, der von einem der nachfolgenden Wagen zu der Präsidentenlimousine sprintete, um Jackie Kennedy vor den Kugeln zu schützen, die auf sie und ihren Mann einprasselten.

Schon zu Beginn des Jahres hatte sich im Umfeld des Präsidenten eine Paranoia ausgebreitet, die beinahe physisch spürbar war. Bereits eine Woche vor Kennedys Ankunft hatte der Geheimdienst im Americana Hotel in Bal Harbour jeden Winkel abgesucht und schließlich anstelle des Penthouse, das schwieriger zu sichern gewesen wäre, eine Reihe von Zimmern in einem der unteren Stockwerke in Beschlag genommen. Handwerker des Hotels waren angewiesen worden, eine Wand einzureißen und eine neue Tür einzubauen, die breit genug war, damit der Präsident sie zusammen mit seinen Leibwächtern durchschreiten konnte. Deren Nerven wurden auf eine schwere Probe gestellt, als Kennedy draußen auf den vollbesetzten Rängen der Sportarena zwischenzeitlich den Kontakt zu seiner Security verlor. Er hatte eine unglaubliche Anziehungskraft auf die Menschen. Umringt von Kongressabgeordneten, politischen Trittbrettfahrern und entzückten Touristen warf er vor Spielbeginn auf der Tribüne stehend eine Münze. Der Historiker Paul George beschreibt ihn als »cool aussehend mit seiner Ray-Ban-Sonnenbrille und an einer Zigarre paffend«.

Die Kennedys auf dem Höhepunkt ihrer Popularität brachten politischen Glanz und Glamour in eine Stadt, die sich im Schein billiger Glitzerfassaden sonnte. Miss Florida fuhr auf einem Paradewagen voll riesiger Alabaster-Orangen durch die Arena, während Blaskapellen in Kostümen aufspielten, die an die römischen Uniformen aus dem Film Ben Hur erinnerten. Hunderte von Mitgliedern der exilkubanischen Gemeinde Miamis strömten in das Stadion. Teresita Rodriguez Amandi, damals zehn Jahre alt und im Jahr zuvor mit ihren Eltern von der Karibikinsel nach Miami geflohen, erklärte dem Miami Herald: »Ich weiß noch, wie ich ihn von unserem Platz auf den Rängen gesehen habe. Ich saß da mit meiner Familie. Es war ein sehr bedeutender Tag für uns. Es war das erste Mal, dass ich den Präsidenten mit eigenen Augen sah.« Vor ihm auf dem Feld waren die beiden Teams angetreten – Alabama und Oklahoma – sowie die Marschkapellen beider Colleges.

Durch persönliche Intervention des Präsidenten waren die Ehrenplätze im Stadion für eine ungewöhnliche Gruppe von VIPs reserviert worden – die arg dezimierte Brigade 2506, jene paramilitärische Einheit von Exilkubanern, die mit Unterstützung der CIA eine Operation zur Invasion ihrer Heimat und zur Beseitigung von Fidel Castros Revolutionsregierung unternommen hatte. Das Unternehmen hatte in einer blutigen Niederlage mit 114 Gefallenen und 1.189 Gefangenen auf Seiten der Invasoren geendet. Die Überlebenden empfanden tiefe Beschämung angesichts der vernichtenden Niederlage und standen Kennedy überaus skeptisch, wenn nicht sogar feindselig gegenüber. Was immer Kennedy auch unternahm, um ihnen entgegenzukommen, es würde nie genug sein. Die kubanischen Konterrevolutionäre machten ihn für alles verantwortlich, weil er es in einem entscheidenden Moment der Operation unterlassen hatte, ihnen Unterstützung aus der Luft zukommen zu lassen. So standen sie nun da, schüttelten ihm widerwillig die Hand und waren sich unsicher, ob ihre Anwesenheit als ein Zeichen des Mutes oder der Unterwerfung gedeutet werden würde.

Kennedy hingegen war nicht wegen des sonnigen Wetters oder aus Sportbegeisterung nach Miami gereist, sondern in der Hoffnung, der katastrophal verlaufenen Invasion in der sogenannten Schweinebucht nachträglich einen heldenhaften Anstrich zu verpassen und sie als eine heroische Militäroperation in der öffentlichen Meinung zu verankern. Das Protokoll sah vor, dass er den Kämpfern vor laufenden Kameras live im Fernsehen seinen Respekt bezeugte. Vor vollbesetzten Rängen nahm er die kanariengelbe Kriegsflagge entgegen, die ihm von zwei in Miami lebenden Veteranen des Einsatzes überreicht wurde: Erneido Oliva, stellvertretender Kommandant der Brigade, und Manuel Artime, ein ehemaliger Angehöriger von Castros Revolutionsarmee, der vom US-Geheimdienst angeworben worden war, damit er den Angriff auf die Insel anführte.

Flankiert von seiner Frau erklärte Kennedy auf einem mit roten Gerbera gesäumten Podium am Spielfeldrand stehend: »Diese Flagge wird der Brigade eines Tages in einem befreiten Havanna zurückgegeben werden.« Es war eine angestrengte Inszenierung, mit der krampfhaft versucht wurde, eine vernichtende militärische Niederlage in einen Sieg an der Propagandafront umzuwandeln, und deren Worte in Miami wissentlich als Andeutung darauf fehlinterpretiert wurden, dass ein weiterer Versuch einer Invasion in naher Zukunft bevorstand. Dies war jedoch nicht der Fall, und so schwärte die offene Wunde weiter und ließ in der kubanischen Gemeinde der Stadt einen tiefen Hass gegen einen Präsidenten aufkeimen, dessen Charme ansonsten nahezu überall wirkte. Hier verpuffte er. Die Exilkubaner hielten ihn für einen hinterhältigen kleinen Arsch, dem man nicht über den Weg trauen konnte.

Die Invasion in der Schweinebucht sollte über Jahre hinweg eine Wunde der US-amerikanischen Politik bleiben, und in den Verschwörungstheorien im Anschluss an die Ermordung Kennedys spielten Exilkubaner immer wieder eine Rolle. Lyndon B. Johnson, der nach Kennedys Tod das Präsidentenamt antrat, erklärte bei einer Gelegenheit, dass Kennedy in Zusammenarbeit mit der CIA eine »wahre Mord-AG in der Karibik betrieben« hatte. Kaum zu glauben, dass eine Generation später ein Kommando aus Exilkubanern – allesamt Überlebende der Invasion in der Schweinebucht – an der Operation um den Einbruch in das Hauptquartier der Demokraten im Washingtoner Watergate-Gebäudekomplex beteiligt war. Offensichtlich war ihr Hass auf die Partei Kennedys noch immer nicht abgeklungen – falls das überhaupt jemals der Fall war.

In der Folge des Desasters in der Schweinebucht wurden Darstellungen verbreitet, die der Niederlage einen ehrenhaften Anstrich geben sollten. Der Historiker Theodore Draper nannte die Invasion ein »perfektes Scheitern«, und der Schriftsteller Jim Rasenberger bezeichnete sie als »brillantes Desaster« – doch an der Operation Schweinebucht war nichts perfekt oder brillant, und die Konsequenzen in Miami, das sich in eine abgeschottete Blase von Intrigen, Verschwörungen und kriminellen Absprachen verwandelt hatte, waren katastrophal. Bewaffnet mit Schusswaffen, Bomben und verletztem Stolz hingen die kubanischen Ex-Patrioten dem Narrativ an, dass sie von der Geschichte betrogen worden waren.

Als das volle Ausmaß des Schweinebucht-Desasters in Miami bekannt wurde, kam es zu einem Deal zwischen den USA und Kuba. Keine zwei Wochen vor Kennedys Ankunft in Miami hatte die US-Regierung dem verarmten Inselstaat eine Nahrungsmittel- und Medikamentenspende im Wert von zweiundsechzig Millionen Dollar zukommen lassen, als Gegenleistung für die Freilassung von elfhundert Angehörigen der Invasionsbrigade. De facto eine Lösegeldzahlung, die es dem Präsidenten unmöglich machte zu verschleiern, dass Kuba dem mächtigen Nachbarn die Stirn geboten hatte. Gefördert von äußeren Mächten war die umkämpfte Insel von einer humanitären Krise heimgesucht worden, die dazu führte, dass Flüchtlinge in großer Zahl in die USA strömten und die dortige Staatsbürgerschaft beantragten, wodurch der urbane Charakter Miamis eine grundlegende Wandlung erfuhr. Die Migrationsströme in die Stadt schwollen nach 1959 dramatisch an. Die meisten Kubaner gelangten aufgrund von speziellen Hilfsprogrammen dorthin oder beantragten politisches Asyl mit dem Hinweis auf die Unterdrückung durch die Kommunisten in ihrer Heimat. Ein Gefühl, das auf Gegenseitigkeit beruhte. Die kubanische Regierung verabschiedete sich von ganzen Familien, erklärte sie für »unerwünscht« und nutzte die Gelegenheit, in den Gefängnissen des Landes Platz zu schaffen, indem einer Vielzahl von Insassen die Möglichkeit gegeben wurde, das Land ebenfalls zu verlassen. Einige gingen freiwillig. Anderen musste man erst gut zureden, und diejenigen, die in der Diaspora landeten, waren größtenteils wirklich arme Schlucker, die darauf hofften, dass das Leben in den USA ihnen und ihren Kindern größere Chancen bot.

Eine Gruppe Freiwilliger bei der Musterung in einem Rekrutierungsbüro der CIA in Miami. Kubanische Flüchtlinge meldeten sich freiwillig, um gegen Fidel Castro zu kämpfen. Die Operation fand im April 1961 statt und wurde als Invasion in der Schweinebucht bekannt. Das 5th Street Gym, wo Cassius trainierte, war die Heimat einer Generation exilkubanischer Ausnahmeboxer und somit ein Ort, an dem eine strenge Anti-Castro Stimmung herrschte.

© Everett Collection Historical / Alamy Stock Photo