Rosa Schwarz
OSTWIND
Spuren im Wald
Unter Mitarbeit von
Lea Schmidbauer
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OSTWIND-Ebooks erscheinen im Vertrieb der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
© und TM 2021 Alias Entertainment GmbH
© Ostwind Filme SamFilm GmbH
Basierend auf Figuren und Fabel von
Lea Schmidbauer und Kristina Magdalena Henn
Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat & Projektmanagement: Simone Hennig
Satz: fuxbux, Berlin
Covergestaltung: Tatendrang
Illustrationen: Comicon S. L.-Barcelona, José Aguilar
E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-28079-6
V001
Wie Schleier lagen die Nebelschwaden über der Weide, und nur verschwommen streckten sich die Äste der alten knorrigen Eiche aus dem milchigen Dunst. Mika stand am Zaun und reckte den Hals. Wo war Ostwind? Er ließ sie doch sonst nicht warten?
Da löste sich aus dem trüben Nichts ein dunkler Schatten, kam langsam näher und formte sich zu der Silhouette des schwarzen Hengstes.
»Puh!« Mika atmete erleichtert auf. Ostwind hob stolz den Kopf, dann stieg er und galoppierte den Hang hinunter. »Hey!«, rief Mika. »Du kannst mir doch nicht so einen Schreck einjagen!«
Mit einem langen Schnaufer kam Ostwind vor ihr zum Stehen. Er senkte den Kopf, und Mika pustete ihm gegen die Nüstern. In kleinen Wölkchen zeichnete sich ihr Atem in der kalten Luft ab. Es war Herbst geworden. Die Blätter in den Wäldern rund um Gut Kaltenbach hatten sich goldgelb verfärbt, und morgens beim Aufstehen war es noch dunkel.
Mika seufzte. Sie vermisste die frühen Ausritte vor der Schule. Doch ihre Oma, Maria Kaltenbach, hatte ihr diese Ausflüge in der Dunkelheit verboten.
Als ob im Hellen weniger passieren könnte, dachte Mika. Sie hatte diese Furcht vor dem nächtlichen Wald nie verstanden. Es war doch immer wie ein kleines Wunder, wenn mit der Dunkelheit ein neues Leben erwachte: Füchse krochen aus ihrem Bau, Rehe trauten sich aus ihren Verstecken – was war daran gefährlich?
Mika drückte sich noch einmal fest an Ostwind. »Ich muss los«, flüsterte sie. »Aber gleich nach der Schule machen wir einen langen Ausritt. Versprochen.«
Ostwind schüttelte sich, als wollte er Mikas Worte bestätigen. Dann drehte er sich um, galoppierte den Hügel hinauf und verschwand wieder im Nebel.
Mika kletterte zwischen den Latten des Zauns hindurch und joggte zurück zum Gutshof. Sie musste noch frühstücken. Ihre Oma konnte es nicht leiden, wenn sie mit leerem Magen zur Schule aufbrach.
Als Mika durch das Tor auf den großen Hof des Guts trat, brannte in der Küche schon Licht. Sie eilte die breite Treppe hinauf und zog die schwere alte Eingangstür auf. Schon aus dem Flur hörte sie die aufgebrachte Stimme von Sam, dem Stallburschen: »Dieser Haflinger schnappt! Man kann gar nicht so schnell gucken, da hat er einen schon wieder erwischt!«
»Guten Morgen!«, begrüßte Mika Sam und ihre Oma.
»Morgen«, sagte Sam und drehte sich gleich wieder zu Maria Kaltenbach, die vollkommen in ihre Zeitung vertieft war. »Hier, das blöde Vieh hat mir den Pulli zerrissen!«
Da Mikas Oma nicht aufschaute, streckte Sam stattdessen Mika den zerrissenen Ärmel entgegen. »Siehst du?«
»Du machst einfach zu hektische Bewegungen. Da fühlt er sich bedroht«, versuchte Mika zu erklären und setzte sich an den Tisch.
»Zu hektische Bewegungen?!« Sam fuhr auf. »Soll ich vielleicht in Zeitlupe ausmisten?«
»Sam!« Mika holte tief Luft. »Wir sind kein normaler Reitstall. Wir sind ein Therapiehof für etwas problematische Pferde. Außerdem ist es mit Askans Beißerei schon viel besser geworden.«
»Davon habe ich nichts gemerkt«, murrte Sam und nahm sich ein Brötchen.
»Er ist geschlagen worden! Ich würde auch um mich beißen, wenn mir ständig jemand wehgetan hätte. Er muss erst wieder lernen, Vertrauen zu fassen. Das braucht Zeit.«
Im selben Moment sah Maria Kaltenbach von ihrer Zeitung auf. »Ein Wolf hat eine Pferdeherde angegriffen!«
»Wann?«, wollte Mika wissen.
»Wo?«, fragte Sam gleichzeitig.
»In der Nähe von Winterberg. Etwa neunzig Kilometer entfernt.«
»Ach sooo«, sagte Sam und lehnte sich wieder entspannt zurück. »Weit weg.«
»Neunzig Kilometer sind für einen Wolf keine Entfernung«, entgegnete Mika. »Die legt er locker in zwei Tagen zurück.«
»Er hat die Herde angegriffen und zwei Tiere verletzt«, fasste Maria Kaltenbach den Artikel zusammen. »Dann sind die Pferde in Panik durch den Zaun gebrochen. Ein drittes Tier ist vor ein Auto gelaufen und musste noch vor Ort eingeschläfert werden.« Sie legte die Zeitung beiseite. »Hoffen wir, dass dieses Raubtier nicht in unsere Nähe kommt.«
Sam winkte ab. »Ich habe genug mit beißenden Haflingern zu tun. Um einen Wolf zerbreche ich mir erst den Kopf, wenn er hier ist.«
Maria Kaltenbach drückte sich von ihrem Stuhl hoch und griff nach ihrem Stock. »Dann kann es vielleicht schon zu spät sein, Sam. Wir sollten die Sache aufmerksam verfolgen.«
Mika nickte und schnappte sich ein Brötchen. »Ich muss auch los. Bis später!«
Nachdenklich ging Mika zur Bushaltestelle. Es war ungewöhnlich, dass ein Wolf eine Pferdeherde angriff. Schafe, ja. Vielleicht ein Fohlen, das allein mit seiner Mutterstute auf einer Weide stand – davon hatte sie gehört. Aber eine ganze Herde? Der Hufschlag eines Pferdes konnte einen Wolf töten … Mika wunderte sich, dass das Raubtier dieses Risiko einging. Aber was wusste sie schon über Wölfe? Vor über einem Jahrhundert waren sie in Deutschland ausgerottet worden, und erst vor ein paar Jahren war plötzlich wieder ein Wolf aufgetaucht. Eingewandert aus dem Osten.
In Gedanken versunken stieg Mika in den Schulbus und drängelte sich nach hinten zu Francesca durch. Wie immer erwartete ihre beste Freundin sie auf der letzten Bank. »Hey, tutto bene?«
»Ja, alles gut.« Mika ließ sich neben Francesca auf den Sitz fallen.
»Hat sich gestern eigentlich so ein komischer Typ bei euch gemeldet?«, fragte Francesca.
Mika sah etwas verwirrt auf. »Entschuldigung, ich war gerade noch bei dem Wolf, was sagt du?«
»Wolf?!« Francesca setzte sich alarmiert auf. »Was für ein Wolf?«
»Ach, neunzig Kilometer von hier entfernt hat ein Wolf eine Herde Pferde angegriffen.«
»Uff«, machte Francesca. »Ich wusste gar nicht, dass die so große Tiere anfallen.«
»Eben«, sagte Mika. »Ich auch nicht. Aber was hast du gerade von einem merkwürdigen Typ gesagt?«
»Gestern tauchte im Eiscafé so ein Kerl auf. Er hat Davide in ein Gespräch verwickelt. Über Gut Kaltenbach. Davide dachte, er will sein Pferd bei euch therapieren lassen, und hat gleich Werbung gemacht.«
»Ehrlich?« Mika errötete etwas. Francescas Bruder Davide war einfach zu lieb. Und außerdem wahnsinnig süß. Es gab kaum ein Mädchen im Dorf, das nicht für ihn schwärmte. Und Mika war es manchmal fast unheimlich, dass er besonders ihr so viel Aufmerksamkeit schenkte. Jedenfalls behauptete Francesca das immer.
»Aber dann«, fuhr ihre Freundin fort, »hat sich dieser Kerl genauso doll nach dem Hof vom alten Schäfer George erkundigt.«
»Und wieso?«, fragte Mika.
Francesca zuckte mit den Schultern. »No lo so. Aber er wollte wirklich alles wissen. Wie lange der da schon ist. Ob er erfolgreich mit seiner Zucht ist. Wie alt er ist. Und dann plötzlich ist er aufgestanden und ins Rathaus verschwunden.«
»Komisch«, sagte Mika.
»Ja, und wir haben diesen Typen noch nie gesehen. Er kann also nicht von hier kommen.«
Das stimmte garantiert. Denn Francesca und ihre Familie kannten praktisch alle Menschen im Umkreis von zwanzig Kilometern. Sie betrieben das kleine Eiscafé am Marktplatz, und es gab niemanden, der nicht schon ein Eis auf ihrer Terrasse gegessen hatte. Dafür war ihre Eiscreme einfach zu gut und zu berühmt.
»Wenn dieser Kerl irgendetwas Wichtiges will, dann wird er sich schon melden«, sagte Mika.
»Habe ich mir auch gedacht«, stimmte Francesca zu. »Sag mal, hast du eigentlich die Physik-Hausaufgabe verstanden?«
»Mist!« Mika raufte sich durch die roten Haare. »Die habe ich total vergessen!«
Francesca kramte ihr Heft aus der Schultasche. »Hier, du kannst abschreiben. Aber ich übernehme keine Garantie für Richtigkeit.«
Mika zog ihren Block aus dem Rucksack und seufzte. »Garantie habe ich auch nicht, wenn ich versuche, den Kram selbst zu lösen.« Hektisch blätterte sie zwischen den vollgekritzelten Seiten ihres Blocks herum, bis sie endlich ein leeres Blatt fand.
Francesca schüttelte lachend den Kopf. »Willst du dir nicht endlich mal vernünftige Mappen zulegen?«
»Gestern wollte ich wirklich zum Schreibwarenladen fahren, ehrlich«, sagte Mika kleinlaut. »Aber dann hatte dieses kleine Pony, Blitzi, plötzlich eine Panik-Attacke.«
»Natürlich!« Francesca rollte mit den Augen. »Und vorgestern hatte der Friese einen Asthma-Anfall, und davor hat das ausrangierte Rennpferd psy-cho-so-ma-tisch gelahmt. Das Wort habe ich mir übrigens aufgeschrieben, damit ich es mir merken kann.«
»Ich werde mich bessern«, versprach Mika und beugte sich schnell über die Hausaufgaben, damit sie bis zur Ankunft an der Schule mit dem Abschreiben fertig war.
Es war nicht so, dass Mika nicht gern zur Schule ging. Allein die Busfahrten mit Francesca waren es wert. Und sie gab sich auch wirklich Mühe – schon für ihre Oma. Aber das lange Stillsitzen war nun mal nicht ihre Sache. Sie war immer froh, wenn es zum Ende der letzten Stunde gongte und sie sich auf den Weg nach Hause, zu Ostwind, machen konnte.
So war es auch an diesem Tag. Mika eilte nach der Schule direkt von der Bushaltestelle zur Weide, und als sie durch das Gatter schlüpfte, hatte sich der Nebel gelichtet, und die Sonne war durchgebrochen. Der Wald leuchtete in seinen schönsten Farben, und Ostwind scharrte schon ungeduldig mit den Hufen. »Ich habe so schnell gemacht, wie ich konnte!«, rief Mika, warf ihren Rucksack ins Gras und schwang sich auf den Rücken des Hengstes.
Für einen Moment stand Ostwind still, dann schien er förmlich zu explodieren und jagte los. Mika beugte sich vor. Der Wind trieb ihr die Tränen in die Augen. Gibt es etwas Besseres, als auf dem Rücken eines Pferdes einfach alles hinter sich zu lassen?, dachte sie.
Da setzte der Hengst mit einem langen Sprung über den Zaun und galoppierte weiter durch den herbstlichen Wald – so lange, bis sie beide eine Verschnaufpause brauchten. Ostwind fiel in einen leichten Trab und dann in ein gemütliches Schlendern. Er senkte den Kopf, schnaufte, und gerade wollte Mika sich gemütlich auf seinem Rücken zurücklehnen – da zerriss ein schriller Schrei die Stille des Waldes.
Ostwind riss den Kopf hoch und spitzte die Ohren.
Für einen Moment glaubte Mika, sie hätte sich den Schrei nur eingebildet. Doch Ostwinds alarmierte Haltung war eindeutig – und da hallte auch schon zum zweiten Mal ein panisches »Hilfe!« durch den Wald.
»Los!« Mika bedeutete Ostwind, dem Schrei zu folgen. Der Hengst drehte nach rechts und bahnte sich seinen Weg zwischen Bäumen und Farnkraut hindurch. In einiger Entfernung erkannte Mika eine Gestalt …
Es war eine Frau mit einem Kinderwagen, doch sie hielt ihren Säugling ängstlich an sich gedrückt. »Hallo! Hierher!«, rief die Frau und winkte hektisch, als sie Mika und Ostwind entdeckte.
Mika schnalzte, und Ostwind zog das Tempo noch einmal an. Da erkannte Mika auch, was die Frau so sehr aus der Fassung gebracht hatte: Am Rand des Wegs lag leblos ein blutüberströmtes Reh. Kaum dass Ostwind zum Stehen kam, sprang Mika von seinem Rücken. »Was ist passiert?«
»Ich bin wie jeden Tag hier spazieren gegangen, und dann … dann lag da plötzlich dieses Reh!« Die Stimme der Frau überschlug sich vor Aufregung. »Oh mein Gott. Ich bin so froh, dass noch jemand in der Nähe ist! Ich habe mein Handy vergessen, und allein hätte ich mich jetzt nicht mehr vor oder zurück getraut.«
Mika hockte sich hin und warf einen Blick auf das Reh. Am Hals waren deutliche Bissspuren zu erkennen. Sie schaute zu Ostwind. Doch der stand völlig ruhig und beobachtete sie aufmerksam. Sein Verhalten zeigte keine Spur von Nervosität. Das bedeutete, dass im Augenblick keine Gefahr bestand.
»Wer oder was das auch war – es kann nicht mehr in der Nähe sein«, beruhigte Mika die Frau. Sie kramte ihr Handy aus der Tasche. »Ich rufe den Förster an.« Sie suchte in ihrer Kontaktliste die Telefonnummer heraus und wählte. »Hat das Tier noch gelebt, als Sie hier ankamen?«, fragte sie die Frau.
»Nein, also, es hat sich jedenfalls nicht bewegt. Auch kein Atmen oder so.«
Da hob der Förster ab, und Mika legte los: »Herr Riedmüller? Mika hier, die Enkeltochter von Maria Kaltenbach. Wir haben ein totes Reh gefunden. Mit Bissspuren am Hals … Am Forstweg, der zum Mühlenteich führt … Wir warten hier, okay.« Mika legte auf. »Der Förster fährt sofort los.«
Die Frau zeigte auf den Hals des toten Rehs. »Das war doch ganz sicher ein Wolf! Es hat doch heute ein Artikel in der Zeitung gestanden, dass so ein Monster eine Pferdeherde angefallen hat.«
Mika hob die Schultern. »Ich kenne mich mit Wolfsbissen nicht aus. Aber der Förster kann das bestimmt sagen.«
»Oh Gott!«, stöhnte die Frau. »Ich gehe hier jeden Tag mit meiner Kleinen spazieren. So ein Wolf, wenn der uns anfällt, da haben wir doch keine Chance!«
»Wir wissen doch noch gar nicht, ob es ein Wolf war«, versuchte Mika sie zu beruhigen, aber die Frau flippte nun richtig aus. »Ich muss sofort meinen Freundinnen aus der Elterngruppe Bescheid sagen. Manche gehen ja auch allein joggen oder mit dem Hund spazieren! Nicht auszudenken, wenn – «
»Könnten Sie damit nicht warten, bis wirklich klar ist, ob es ein Wolf war?«, warf Mika ein, doch die Frau war in ihrer Panik nicht mehr zu bremsen.
»Ich habe eine Cousine, oben in Schleswig-Holstein, bei denen sind die Wölfe eine echte Plage. Ständig reißen sie Schafe – «
Da hörte Mika ein Motorengeräusch. »Das ist der Förster«, rief sie erleichtert, denn viel länger hätte sie diesen Ausbruch nicht mehr ertragen.
DNA