Zum Buch:

Das Großherzogtum Baden im Revolutionsjahr 1849: Andreas Lenz ist ein feuriger Schwärmer und Rebell. Seine Wege kreuzen Josepha, ein lebensfrohes Mädchen aus dem Volk, und die geheimnisvolle und charakterstarke Lenore, die aus Liebe zu Lenz mit ihrem großbürgerlichen Elternhaus bricht und das gefahrvolle Leben des Freundes teilt. In farbigen, unvergesslichen Bildern rollt Stefan Heym die bewegte Geschichte des Aufstands ab, in dem das Volk um die Lösung der nationalen Frage und um die Schaffung demokratischer Verhältnisse kämpfte. Er fängt die Hoffnung und den Schmerz jener Tage ein, zeigt die Triebkräfte der Ereignisse auf, macht ein bedeutungsvolles und folgenschweres Kapitel deutscher Vergangenheit einprägsam lebendig.


Stefan Heyms brillanter historischer Roman über die badische Revolution von 1848/49, auf Deutsch erstmals erschienen 1963 beim Paul List Verlag, Leipzig, nun Teil der digitalen Werkausgabe.


»Ein Liebesbekenntnis zur Demokratie, gerade wegen seiner Wahrhaftigkeit und seines Feuers.«
Mannheimer Allgemeine Zeitung

Zum Autor:

Stefan Heym, 1913 in Chemnitz geboren, emigrierte, als Hitler an die Macht kam. In seiner Exilheimat New York schrieb er seine ersten Romane. In der McCarthy-Ära kehrte er nach Europa zurück und fand 1952 Zuflucht, aber auch neue Schwierigkeiten in der DDR. Als Romancier und streitbarer Publizist wurde er vielfach ausgezeichnet und international bekannt. Er gilt als Symbolfigur des aufrechten Gangs und ist einer der maßgeblichen Autoren der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er starb 2001 in Israel.

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Stefan Heym

Lenz oder die Freiheit

Roman

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Die englische Originalausgabe erschien 1964 unter dem Titel The Lenz Papers bei Cassel, London.

Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Helga Zimnik, erstmals erschienen 1963 unter dem Titel Die Papiere des Andreas Lenz beim Paul List Verlag, Leipzig

Karten und Skizzen: Adolf Böhm, München



E-Book-Ausgabe 2021

Copyright © 1963 by Inge Heym

Copyright © 2005 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

Copyright © dieser Ausgabe 2021 by C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Sabine Kwauka, München nach einem Entwurf von Hafen Werbeagentur, Hamburg

Umschlagmotiv: © Shutterstock

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-27838-0
V001

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Für Gertrude

Prolog

»Verrückte Idee!«

»Ja? – Was ist so verrückt …?«

»Dies alles!« Lenz wies auf die schwarzen Sträucher, dann glitt seine Hand über das Feld, das sich grau und trübe in der aufsteigenden Dämmerung des Februarnachmittags streckte, über die Reste von Schnee auf dem Hügelzug, hinter dem noch mehr Gräber lagen. »Friedhof! Meilenweit Friedhof!«

»Schließlich mußte man sie ja irgendwo begraben«, antwortete ich. »Warum nicht, wo sie starben?«

Lenz runzelte die Stirn. Er schlug den Kragen seines Wintermantels hoch. »… und geloben wir hier feierlich, daß diese Toten nicht umsonst gestorben sein sollen«, sagte er. Das Lachen, das die Düsterkeit des Zitats aufhellen sollte, glückte nicht ganz. Die Schatten über diesem Ort waren zu schwer.

Ich bekämpfte das leichte Frösteln, das mir den Rücken hinunterkroch und an dem das Wetter schuld war. Ich wollte etwas sagen über vergangene Zeiten und daß wir im Jahre 1944 lebten, daß wir unseren eigenen Krieg hätten und unsere eigenen Sorgen.

»Natürlich mußte man sie irgendwo begraben«, fuhr er fort und verzog spöttisch das schmale, empfindsame Gesicht. »Aber müssen wir ausgerechnet dort hausen, wo sie begraben sind?«

Damit hatte er recht. Wir redeten niemals darüber, doch in der einen oder anderen Form hatte der Gedanke daran die meisten Leute in der Kompanie mehr als einmal geplagt. Man gewöhnt sich an vieles in der Armee; die Offiziersgehirne haben besondere Windungen; doch was hier geschah, besaß einen ganz eigenen, faden Geschmack: Männer, die man in kommende Schlachten schicken wollte, unter den Toten einer vergangenen Schlacht unterzubringen!

Oh, Gettysburg! Schmetternde Trompeten! Das dumpfe Dröhnen von Pferdehufen auf den Schollen dieser Erde – Atta – a – acke!

Und das erbarmungslose Krachen der Geschosse und das Knirschen der Bajonette, die in Fleisch und Knochen stießen!

Wir schliefen in ein paar verfallenen Baracken, die seinerzeit die Jungens vom Civilian Conservation Corps gebaut hatten, als sie hierhergeschickt worden waren, um den Friedhof zu säubern und die Arbeitslosenlisten während der großen Depression niedrigzuhalten. Jetzt schluckte die Armee die Arbeitslosen, Gott sei Dank, und Sergeant Andrew Lenz und ich, die Gewehre über die gekrümmten Schultern gehängt, spielten Patrouille auf den Schlachtfeldern vergangener Jahre.

»O Gott!« seufzte er. »Ich setze mich hin.«

Vom Standpunkt der Bequemlichkeit aus hatte das Patrouillieren auf einer gut erhaltenen nationalen Gedenkstätte seine Vorteile. Hier gab es Bänke, die durch sorgsam angepflanzte Hecken vorm Wind geschützt waren; im Sommer war es sicher sehr nett hier, mit schattigen Winkeln rings um ein paar alte, gewissenhaft gepflegte Kanonen und einem guten Blick auf einen schönen großen Grabstein, von dem man Namen, Dienstgrad und Einheit ablesen konnte.

Lenz wischte Schmutz und Feuchtigkeit von einer Ecke der Bank, setzte sich und streckte die Beine aus. Er stellte das Gewehr zwischen die Knie, nahm den Helm ab und hängte ihn über die Mündung. Schweißfeuchtes dunkles Haar klebte ihm auf der Stirn. Er hatte eine hohe, wohlgeformte Stirn und schiefergraue, meistens nachdenkliche Augen. Ich hatte den Verdacht, daß er Gedichte schrieb oder wenigstens geschrieben hatte; aber derartiges war ihm nie in den Sinn gekommen, versicherte er mir, und die Vermutung schien ihn zu befremden. Er war Drucker von Beruf; wahrscheinlich haben Drucker etwas von einem Intellektuellen an sich.

Jetzt hefteten sich diese seine Augen auf den Grabstein. Ich sah, wie er erstarrte. »Schau dir das an!« sagte er. »Ich will verdammt sein!«

Seine Stimme hatte etwas Eindringliches, das im Widerspruch zu seiner lässigen Redeweise stand: etwas Eindringliches, das beinahe an Furcht denken ließ. Ich blickte auf den Stein, auf die Namen. Das Tageslicht wurde langsam schwächer, aber man konnte die Aufschrift auf der Gedenktafel noch erkennen. Gleich der erste Name hieß:

ANDREW LENZ

Capt, Co. B, 3rd Illinois Inf.


Sergeant Lenz lachte; es klang hohl. Er brauchte die Frage nicht zu stellen; das konnte ich selbst tun, da ich wußte – wie wir alle es wußten –, daß die Invasion kurz bevorstand und daß wir dabeisein würden. Wie würde es dir, so lautete die Frage, bei einer solchen Aussicht gefallen, plötzlich deinen Namen unter den Toten zu entdecken?

Man brauchte nicht abergläubisch zu sein; der winzige Überrest uralter Atavismen, den jeder von uns seit unvordenklichen Zeiten im Blute trägt, genügt, um Unheil vorauszuahnen. Natürlich sagte ich Lenz, daß das Unsinn sei. Lenz war kein seltener Name, besonders unter Menschen deutscher Abstammung; und Männer namens Andrew gab es auf der ganzen Welt, Andrew, Andreas, André, Andruschka – warum sich aufregen?

»Red nicht so dumm«, sagte er. »Das ist mein Großvater.«

Er lehnte Gewehr und Helm gegen die Bank und ging hinüber zu dem Grab. Während er es forschend betrachtete, fuhr er, mit dem Rücken zu mir, fort: »Meine Familie hat immer gewußt, daß er Captain im Bürgerkrieg war und hier gestorben ist. Bloß man stellt sich Großpapa nicht immer als Soldaten der Unionsarmee vor. Ich war einfach nicht darauf gefaßt, ihm hier und auf diese Weise zu begegnen …«

Er wandte sich um und sah mich an. Es war schon recht dunkel geworden.

»… so ohne Warnung«, schloß er, jetzt mit fester Stimme. Nur seine Augen zeigten eine Spur dessen, was er empfunden haben mußte. »Andrew Lenz«, sagte er und fügte hinzu: »Der andere – er war wohl noch nicht vierzig, als es ihn erwischte. Wir haben irgendwo zu Hause ein Bild von ihm – ein Mann mit Bart und breitkrempigem Offiziershut. Er sieht etwas verlegen aus – wahrscheinlich haßte er es, sich in Positur zu stellen. Aber das Bild ist schon reichlich verblaßt.«

Er griff nach seinem Gewehr.

»Gehen wir?«

Man mußte es Lenz – dem heutigen Lenz – hoch anrechnen. Er barg dieses Erlebnis tief in sich und ließ es nur einige wenige Male nach außen dringen. Die Ereignisse halfen. Krieg bedeutet Veränderung – Veränderung des Schauplatzes, Veränderung der Menschen, jeden Tag eine neue Art von Dreck, eine neue Art von Stumpfsinn, und dazwischen sehr vereinzelt ein bißchen menschliche Größe, um einem zu zeigen, daß doch nicht alles umsonst ist. Doch dieser Moment in Gettysburg ließ weder ihn noch mich ganz los – er blieb zwischen uns, ein Geheimnis, das wir beide teilten. Es schuf eine Bindung zwischen uns. Es veranlaßte mich, ihn den ganzen Krieg hindurch mit einer gewissen Besorgnis zu betrachten: einmal, an jenem trüben Nachmittag im Februar, hatte ich den Finger des Schicksals deutlich auf ihn weisen sehen. Ich wollte nicht, daß es sich bestätigte, ich wollte nicht daran glauben, und ich glaube noch immer nicht daran – aber jedesmal wenn ich ihn traf, nach unserer Landung in Europa, und irgendwo in Frankreich, und dann in Deutschland, fühlte ich mich erleichtert. Unsere Arbeit brachte uns häufig auseinander; immer wenn neue Gefangene von irgendeiner Einheit gemeldet wurden, mußte der eine oder andere von uns fort, um sie zu vernehmen. Es dauerte Tage und Wochen und manchmal Monate, ehe wir uns wiedersahen. Und wenn wir uns dann begegneten und ich auch nicht eine Schramme an ihm entdeckte, lachte ich gewöhnlich und sagte: »Na, wie steht’s damit?« Und er wußte, und ich wußte, daß die Frage sich auf Andrew Lenz bezog – den anderen Lenz – daheim in Gettysburg, der nichts weiter war als ein Name auf einem Stein. Wirklich und wahrhaftig nichts weiter.

Und dann sprachen wir über ihn. Es war wie ein innerer Zwang. Wir mußten es tun, um den Schatten des Todes, der seit jenem Nachmittag in Gettysburg über Lenz – dem heutigen Lenz – schwebte, auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Nach und nach erinnerte er sich an einiges von dem, was sein Vater ihm über seinen Vater erzählt hatte; von einer unserer Begegnungen zur anderen erfuhr ich immer mehr über den Mann, der auf jenem alten Schlachtfeld neben der alten Kanone die letzte Ruhe gefunden hatte; bis ich ihn schließlich ganz klar vor mit hatte, obwohl aller Wahrscheinlichkeit nach nicht er es war, den ich sah, sondern der Lenz, der mit mir zusammensaß – die Konturen unseres Denkens werden im allgemeinen von den Perspektiven unserer eigenen Zeit bestimmt.

Lenz – der andere – hatte den Taufnamen Andreas und war 1849 in die Vereinigten Staaten gekommen; er brachte eine Frau mit, jung wie er selbst, auch schön auf eine gewisse verfeinerte Art, und von ihnen beiden anscheinend das stetigere Element. Sie hatte die Hosen an; so stellte es Lenz – der heutige Lenz – dar. Das Ehepaar hatte mehrere Kinder, von denen das jüngste, der Vater meines Lenz, nach dem Tode von dessen Vater geboren war. Lenz – der Lenz, der tot in Gettysburg lag – versuchte sich in vielen Dingen und scheiterte in genauso vielen. Eine Zeitlang gab er eine deutschsprachige Zeitung in Chicago heraus. Er hatte auch für ein städtisches Amt kandidiert, 1856 glaube ich, und erlitt eine knappe Niederlage. »Ein Radikaler!« meinte Lenz und zuckte die Achseln, so wie man heutzutage mit den Achseln zuckt über Propheten und Hellseher und ähnliche Lieferanten von Allheilmitteln gegen die Übel dieser Welt. Als man begann, den Nachlaß von Captain Andrew Lenz durchzusehen, der, wie Lincoln es ausgedrückt hatte, dafür gestorben war, daß die Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk auf dieser Erde nicht untergehe, wurde festgestellt, daß er nur eine Menge kleiner Schulden und einen Stapel Papiere hinterlassen hatte – alle möglichen Papiere, von denen einige in die Zeit vor seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten zurückreichten – Tagebücher, Notizbücher, Karten, Flugblätter, Kopien militärischer Befehle, sogar einige Verse: nichts von Wert, nichts, was einer Witwe und ihren Kindern helfen konnte, sich über Wasser zu halten. Was die verwaiste Familie rettete, war eine Geldsumme, die gerade zu dieser Zeit von den Brüdern der Frau aus Deutschland eintraf. Die Witwe benutzte das Geld, um damit eins der ersten Modehäuser in Chicago zu eröffnen, »Lenores Salon für Damen« in der State Street, und sie führte das Geschäft sehr geschickt, bis das große Feuer von Chicago alles zerstörte.

Lenz lächelte ein wenig, als er mir von dem Modesalon erzählte; es erschien so widersinnig im Vergleich zu dem, was Andreas, später Andrew Lenz gewesen war und gewollt hatte. Doch es war sehr viel realer – wenn die Jungens aus ihren Hosen herauswuchsen und die Kaufleute ihre Rechnungen präsentierten. Lenz – mein Freund Lenz – hatte ein sympathisches Lächeln. Es lag darin etwas von dem – was es auch immer sein mag –, worauf die Frauen hereinfallen, von Gettysburg in Pennsylvania durch ganz Frankreich hindurch bis über den Rhein. Der Krieg war beinahe zu Ende, als er diese Seite der Geschichte erwähnte – es bestanden nur noch Widerstandsnester, und es war Frühling, der schönste Frühling unseres Lebens, wie ich dachte, mit Frieden in der Luft wie ein besonderer Hauch. Wir lachten sogar über die merkwürdige Furcht, die bei unseren seltenen Begegnungen als ein Dritter zwischen uns gestanden hatte.

Er starb an einer dummen kleinen Brücke über einen dummen kleinen Fluß, von der Hand einiger dummer kleiner Hitlerjungen, die eine Panzerfaust abfeuerten. Wir erwischten die Jungen. Sie waren so verängstigt, es war jammervoll.

Ungefähr sechs Monate später erhielt ich ein Päckchen von seiner Frau mit einem Begleitbrief, aus dem ich zitieren möchte:


»… Andrew bat mich, dies Ihnen zu schicken. Er meinte, Sie würden sich vielleicht dafür interessieren. Er erwähnte es bei seinem letzten Urlaub, als er aus dem Lager in der Nähe von Gettysburg nach Hause kam, die Papiere hervorsuchte und anfing, darin zu blättern. Er schrieb auch mehrmals aus Übersee darüber und fügte immer hinzu: für den Fall, daß mir etwas passiert …

Es tut mir leid, daß ich die Papiere nicht ordnen oder sortieren konnte, ich habe sie so eingepackt, wie sie waren. Im Hinblick auf ihr Alter dachte ich, jedes unnötige Anfassen könnte ihnen eher schaden als nützen. Nein, ich will ehrlich sein – ich wollte nichts damit zu tun haben, sie sind für mich mit Andrews Todesahnungen verbunden, von denen ich ihn vergeblich freizumachen versuchte, als wir zum letztenmal beisammen waren.

Ich danke Ihnen, daß Sie meinem Andrew ein guter Freund gewesen sind. Natürlich haben Sie recht: Ihr Erlebnis bei jenem Grab war reiner Zufall, ohne jede Bedeutung für spätere Ereignisse. Trotzdem möchte ich die Papiere nicht zurückhaben. Ich möchte mir die Erinnerung an den Andrew Lenz bewahren, der an meiner Seite lebte – die Erinnerung an den anderen gehört Ihnen, wenn Sie wollen.

Hochachtungsvoll

Elizabeth Lenz«

Erstes Buch