Herzklopfen in Ostfriesland

 

Drei Liebesromane von
Moa Graven

 

 

 

Moa Graven ist Ostfriesin und schreibt seit 2013 Krimis. Erst mit fünfzig hat sie die Leidenschaft für das subtile Verbrechen auch für sich entdeckt, als sie einen Fortsetzungskrimi für ein Monatsmagazin schrieb. Seit 2017 lebt die Autorin vom Schreiben und eröffnete ein Krimihaus in Rhauderfehn, wo man sie auch besuchen kann. Seit 2020 schreibt Moa Graven auch Liebesromane, die natürlich auch in ihrer Heimat Ostfriesland spielen.

Impressum

Liebesromane aus Ostfriesland – Sammelband mit den Romanen „Endstation Liebe Ostfriesland“ – „Ostfriesen küssen anders“ – „Süße Küsse in Ostfriesland“

Liebesromanre von Moa Graven

Alle Rechte am Werk liegen bei der Autorin

Erschienen im Criminal-kick-Verlag Ostfriesland

Krimihaus 3. Südwieke 128a in 26817 Rhauderfehn

April 2021

Covergestaltung: Moa Graven

Endstation liebe Ostfriesland

 

Ostfriesland Liebesroman von Moa Graven

Zum Inhalt

„Endstation Liebe Ostfriesland“ ist der dritte Band aus der neuen Reihe Liebesromane von Moa Graven.

Sebastian und Marina sind mit ihren Kindern Lotte und Erik wirklich eine Bilderbuchfamilie aus Leer. Er mit einem sicheren Job bei einer Bank in Oldenburg und sie mit der Hausarbeit rund um ihre kleine Welt völlig ausgelastet. Bis eines Tages der Wagen von Sebastian streikt und er in den Zug am Bahnhof in Leer steigt, um so nach Oldenburg zu kommen. Ein schicksalhafter Tag, denn er begegnet einer geheimnisvollen Frau, die ihn sofort in seinen Bann zieht.

 

Es ist dieser eine

entscheidende Moment

zwischen zwei Menschen,

wo alles möglich ist

und den wir dann später Liebe nennen.

Moa Graven

Hindernisse

Morgens gegen halb acht herrschte bei Familie Fischer in Leer immer Chaos. Butterbrote wurden eingepackt, Schuhe gesucht und dazu laut gerufen.

„Mama“, quengelte Lotte, während sie in ihr leeres Glas sah, „wieso bekommt Erik immer mehr O-Saft als ich.“

Marina Fischer verdrehte die Augen. Sie war noch im Schlafanzug und hatte sich einen flauschigen roten Morgenmantel überzogen. Ihre langen blonden Haare hatte sie hinten am Kopf zusammengedreht und mit einer großen Klemme festgesteckt. Jetzt fiel ihr eine Strähne ins Gesicht, als sie sich zum Kühlschrank drehte, um Lotte noch einmal Saft nachzuschenken.

Sebastian sah ihr dabei zu. Er liebte seine Frau, wenn sie so war, wie sie war. Wie sie mit den Kindern umging, war einmalig. Nie geriet sie aus der Ruhe, egal, was passierte. Genauso eine Familie hatte er sich immer gewünscht. Und er liebte das Chaos am Morgen. Er wusste, dass Marina sich gleich, wenn alle endlich aus dem Haus waren, ein heißes Bad gönnte. Sie liebte dieses Ritual, wenn sie ganz alleine war. Und während er es sich ausmalte, stellte er sich vor, dass er heimlich wieder ins Haus zurückkäme und sie im Bad beobachtete. Ja, er hätte sie stundenlang dabei ansehen können, wenn sie sich zurechtmachte. Sie hatte dieses gewisse Etwas, um das viele Frauen sie beneideten. Und ausgerechnet in ihn hatte sie sich verliebt. Er war ein Glückspilz.

„Sebastian?“ Sie stand vor ihm. Er hatte es gar nicht bemerkt. „Hast du mal auf die Uhr gesehen? Ihr müsst jetzt los.“

„Oh.“

„Ja, oh. Wo warst du eigentlich mit deinen Gedanken?“ Sie wischte ihm mit dem Zeigefinger über die Nasenspitze.

Er griff um ihre Hüften und zog sie an sich.

„Dafür haben wir jetzt wirklich keine Zeit“, tadelte sie und gab ihm einen Kuss auf die Nase. „Du hast ja noch nicht einmal eine Krawatte umgelegt. Soll ich dir schnell eine passende holen?“

„Ja, das wäre lieb.“ Er ließ sie los und im nächsten Moment war sie verschwunden.

Auf dem Flur kämpften Lotte und ihr Bruder Erik mit den Jacken. Sebastian kam dazu und half Lotte. Keine Frage, er hatte seine Tochter verwöhnt. Andere Achtjährige machten sich morgens alleine zurecht und auf den Schulweg. Doch so ein Vater wollte er nicht sein. Erik, fünf Jahre älter und am Beginn der Pubertät, nabelte sich langsam ab. Sebastian fragte sich manchmal, ob er nicht auch eifersüchtig auf Lotte war. Väter und ihre Töchter eben. Doch er hatte immer versucht, beiden gerecht zu werden.

„Geht schon mal ins Auto“, sagte Sebastian, „ich komm gleich nach.“

Die Tür flog auf und er drückte auf seinen Autoschlüssel, damit die beiden einsteigen konnten.

Marina kam mit einer dunkelblauen Krawatte und legte sie um seinen Hals.

„Was hast du heute eigentlich vor?“, fragte er, während er über ihre Haare strich, als sie einen Knoten band.

„Schon vergessen?“, fragte sie zurück. „Ich muss doch heute zu einem wichtigen Vorstellungsgespräch.“

„Ach ja, die neue Arztpraxis.“

„Wünsch mir Glück“, sagte sie und küsste ihn auf den Mund. Sie wusste, dass er es ganz und gar nicht vergessen hatte. Denn im Grunde war er dagegen, dass sie jetzt schon wieder arbeiten ging. Doch er konnte natürlich auch verstehen, dass sie mal was anderes als schmutziges Geschirr oder Wäsche sehen wollte.

„Es wird schon klappen“, erwiderte er. „Eine Mutter von zwei so gut geratenen Kindern ist doch so etwas wie ein Lottogewinn für einen Kinderpsychiater.“

Sie erwiderte darauf nichts. „Dann bis heute Abend“, sagte sie nur.

Sebastian nahm seine Aktentasche und ging zum Wagen. Marina stand in der Tür, um den Kindern nachzuwinken. Er stieg ein und nichts passierte. Nanu, dachte Marina, worauf wartet er denn? Dann stieg er wieder aus.

„Der Wagen springt nicht an.“

„Oh nein. Ausgerechnet. Du kannst meinen Wagen heute nicht mitnehmen, das weißt du.“

„Schon gut. Dann fahr du die Kinder zur Schule und ich nehme mir ein Taxi zum Bahnhof. Kein Problem.“

Marina sah an sich herab. „So?“

„Du musst doch nicht aussteigen“, stellte er fest. „Sie werden sowieso schon zu spät kommen. Bitte.“

„Hm, na gut“, murmelte Marina. Sie rannte doch noch schnell ins Schlafzimmer, um sich ihren Jogginganzug und passende Schuhe anzuziehen. Dann nahm sie ihren Wagenschlüssel vom Haken und ging zu ihrem Wagen, wo die anderen schon ungeduldig warteten. „Ich kann dich auch zum Bahnhof fahren, Sebastian. Das ist wirklich kein Problem.“

Also stiegen sie alle ein und es ging endlich los.

Regina

Fünfeinhalb Minuten. Keine Sekunde mehr oder weniger. Regina nahm das Ei mit einem Löffel aus dem brodelnden Wasser und schreckte es kurz unter dem laufenden Wasserhahn ab. Dann stellte sie es in den weißen Eierbecher und trug diesen ins Esszimmer, wo Georg bereits darauf wartete.

„Danke“, sagte er und begann sofort, das Ei oben mit dem Eierlöffel abzuklopfen.

Regina setzte sich an ihren Platz. Meistens trank sie morgens nur schwarzen Kaffee. Sie griff nach der Zeitung. Oder besser gesagt, nach dem Teil, den Georg ihr immer hinlegte, wenn er ihn gelesen hatte. Für ihn war es ein Graus, eine Zeitung zu lesen, wenn ein anderer sie bereits in der Hand gehalten hatte. Ihr war es egal. Im Grunde interessierte es sie auch nicht, was in Leer passierte. Und trotzdem las sie jetzt von politischen Ränkespielchen im Rathaus. Das fand sie ermüdend. Eigentlich war es egal, wen man wählte. Das Ergebnis war sowieso immer dasselbe. Sie legte die Zeitung beiseite und sah aus dem Fenster. Es schien ein schöner Tag zu werden. Um diese Zeit schien die Sonne immer ins Zimmer. Als sie das Haus gebaut hatten, hatte sie darauf bestanden, hier das Esszimmer anzusiedeln. Gerade die Morgensonne brauchte der Mensch doch, um mit guten Gedanken in den Tag zu starten, hatte sie gemeint. Georg hatte nicht verstanden, was sie sagte. Doch er hatte zugestimmt. Für ihn begann jeder Tag mit Pflichten, die erfüllt werden mussten. Sonne hin oder her.

Das Ei war gegessen und er schob den Becher zur Seite. Regina wusste, was jetzt kam. Er würde sich ein Weißbrot mit Käse schmieren. Dann zwei Tassen Kaffee dazu trinken. Jeweils mit zwei Würfeln Zucker und einem Hauch Milch dazu. Und sie wusste nicht, wie er es machte, aber wenn er mit der Zeitung fertig war, dann war auch das Brot und der Kaffee verzehrt.

„So, dann mache ich mich mal auf den Weg“, sagte er und schob sein benutztes Geschirr zusammen, damit sie es gleich leichter beim Abräumen hatte. Er stand auf, stellte den Stuhl unter den Tisch, wischte sich übers Gesicht und sah zu seiner Armbanduhr, so, als wüsste er nicht längst, wie spät es war. „Ich wünsche dir einen schönen Tag, Regina.“ Er beugte sich zu ihr herunter und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Sie nahm es hin, wie immer. Sie wusste, dass er nicht von ihr erwartete, dass sie auch etwas sagte oder tat.

Dann hörte sie die Haustür und kurz darauf seinen Wagen aus der Garage fahren. Es war ein schöner Moment und doch schämte sie sich dafür, dass sie sich freute, dass er weg war. Aber in dem Augenblick, wo der Wagen von der Auffahrt fuhr, da atmete sie immer auf. Sie reckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. Es war nicht so, dass Georg ihr irgendetwas tat oder sie gar unterdrückte. Nein, das war es nicht. Doch in seiner korrekten vorhersehbaren Art, da nahm er ihr manchmal die Luft zum Atmen. Nun stand sie auf und öffnete das Fenster. Ein milder Hauch schlug ihr entgegen. Georg mochte es nicht, wenn das Fenster beim Frühstück offenstand, weil er dann Zugluft in den Nacken bekam.

Regina sah die Katze vom Nachbarn auf ihrem Gartentisch liegen. Ein so schönes Bild, dass sich ihr Herz zusammenzog. Sie selber hätte auch gerne eine Katze gehabt, doch leider reagierte Georg auf alles allergisch, was Fell hatte oder staubte.

Die Katze hatte sie bemerkt und sah nun zu ihr herüber. Wahrscheinlich ahnte sie, was Regina dachte, denn es schien, als höbe sie jetzt eine Pfote, um ihr zuzuwinken.

Ich werde langsam verrückt, dachte Regina und musste schmunzeln. Sie begann damit, den Tisch abzuräumen und alles in die Geschirrspülmaschine zu stellen. Sie hatte es nicht eilig. Heute war Donnerstag. Und da hatte sie immer frei. Es war ein Angebot ihres Arbeitgebers gewesen, der angehalten war, Kapazitäten einzusparen. Also im Klartext Menschen, die nur unnötig Geld kosteten. Regina kam das indes sehr entgegen, da sie und Georg finanziell gut dastanden. Also hatte sie seit einem halben Jahr am Donnerstag frei. Das war zunächst komisch gewesen. Doch mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt, einen Tag in der Woche langsam und genüsslich anzugehen. Und an diesem Donnerstag war sie mit ihrer langjährigen Freundin in Oldenburg verabredet. Das machten sie schon seit geraumer Zeit so, dass sie dann vormittags in einem Café frühstückten und anschließend durch die Geschäfte bummelten. Regina fuhr dann immer mit der Bahn, weil es praktisch war, denn der Bahnhof lag nur wenige Minuten mit dem Fahrrad von ihrem Haus entfernt. So konnte sie sich den stressigen Verkehr auf der Autobahn ersparen.

Der Zufall

„Es ist alles meine Schuld“, sagte Marina bestimmt zum hundertsten Mal, dachte Sebastian und sah durch das Fenster des Bahnhofscafés auf den Bahnsteig. „Hätte ich mich nicht doch noch umgezogen, dann hättest du den ersten Zug nicht verpasst.“

„Ist schon gut“, murmelte er. „Ich habe ja in der Bank angerufen. Es ist kein Problem, weil ich meinen ersten direkten Kunden erst am Nachmittag habe.“

Sebastian fragte sich, wohin die Menschen, die dort draußen auf den Zug warteten, wohl hinfuhren. Er selber fuhr eigentlich immer mit dem eigenen Wagen. Das war zum einen bequemer seiner Meinung nach und er konnte die Musik hören, die er mochte. Er bemerkte einen älteren Herrn in grauem Mantel mit einem ziemlich abgewetzten Lederkoffer. Bestimmt hatte er übers Wochenende seine Kinder besucht und fuhr jetzt zurück in die Einsamkeit. Ja, Sebastian war sich ziemlich sicher, dass er alleinstehend war. Vermutlich war seine Frau, die ihn sonst immer begleitet hatte, schon verstorben. Was würde er eines Tages machen, wenn Marina nicht mehr da war?

„Sebastian?“ Sie hatte ihn wohl nicht zum ersten Mal angesprochen, denn ihre Stimme klang leicht verwundert.

„Wie?“ Er sah verwirrt wieder zu ihr hin.

„Wenn ich pünktlich zu meinem Vorstellungsgespräch kommen möchte, dann sollte ich jetzt fahren.“

„Ja, ist gut. Ich bleibe noch ein wenig sitzen, es ist noch eine halbe Stunde Zeit, bis mein Zug fährt.“

„Okay. Ich zahl dann schon mal das Frühstück, dann kannst du direkt zum Bahnsteig gehen.“

„Das ist lieb.“

Sie standen jetzt beide auf und umarmten sich nochmal.

„Ich werde an dich denken und die Daumen drücken“, sagte er.

„Soll ich dich wieder hier abholen?“

„Hm. Ich weiß noch nicht genau, welchen Zug ich nehmen werde.“

„Dann ruf mich an, wenn du wieder in Leer bist“, schlug sie vor.

„Ja, mach ich.“

Noch ein Küsschen auf die Wange von ihr für ihn, dann ging sie los.

Sebastian setzte sich wieder hin und sah erneut auf den Bahnsteig. Er wusste selber nicht warum, aber plötzlich faszinierte ihn das Getümmel da draußen. Eine Schulklasse, wie es schien, balgte herum und einige der anderen Wartenden fühlten sich sichtlich gestört. Warum sagten Lehrer eigentlich nichts mehr dazu heutzutage? Er selber legte immer wert darauf, dass Lotte und Erik sich in der Öffentlichkeit zivilisiert benahmen und andere nicht belästigten.

Eine Frau kam ins Bild. Schmal und unscheinbar. Sie trug einen khakifarbenen Trenchcoat und hatte den Kragen hochgeschlagen. Es war deutlich zu sehen, dass es ihr zu kalt war. Als einer der Schüler sie von hinten anrempelte, drehte sie sich um und sah ihn verärgert an. Sie hatte ein schönes Gesicht, selbst in diesem Moment. Der Junge entschuldigte sich und sie lächelte. Es war ein hinreißendes Lächeln. Irgendwie musste Sebastian an Audrey Hepburn denken. Ja, sie hatte Ähnlichkeit in ihrer Erscheinung mit dieser Schauspielerin. Sebastian hatte die alten Filme immer bei seiner Großmutter gesehen. Jetzt drehte sie sich wieder um und lehnte sich an einen Pfeiler.

Sebastian sah auf die Uhr. Noch zehn Minuten, dann lief sein Zug ein. Also machte er sich auf den Weg zum Bahnsteig.

 

Ja, dachte Regina, das ist der Grund, warum es sicher besser ist, niemals Kinder zu haben. Der Lärm und dann dieser unverschämte Bengel, der ihr von hinten seinen Ellbogen in den Rücken rammte. Und zum Glück hatte auch Georg keinerlei Ambitionen, was mögliche Nachkommen betraf. Sie hatten das Thema ziemlich schnell geklärt, als sie sich vor fast zehn Jahren kennenlernten. Er ließ sich sterilisieren, obwohl sie dagegen war. Ich tue es doch für dich, hatte er argumentiert. Sie hatte erwidert, dass jede dritte Ehe mittlerweile geschieden würde und er sich ja nicht sicher sein könnte, dass er vielleicht in zehn oder fünfzehn Jahren nicht doch ganz anders denken würde über das Thema. Er hatte sie verwundert angesehen. Dann argwöhnisch. Ob sie jetzt schon über ein Ende ihrer Beziehung nachdenke, hatte er gefragt. Sie hatte verneint. Damals. Ob das heute noch so wäre, sie hätte es in diesem Moment, wo ihr all das wieder durch den Kopf ging, nicht mit Sicherheit bestätigen können.

Endlich lief der Zug ein. Es war ihr kalt. Hätte sie sich doch lieber für die festeren Schuhe entschieden. Natürlich drängelten sich die Jugendlichen an den Türen. Die älteren Fahrgäste schüttelten teils die Köpfe, einige schimpften murmelnd vor sich hin. Dann konnte auch Regina einsteigen. In Leer war der Zug meistens noch nicht so voll, also konnte sie sich einen Platz aussuchen. Und natürlich wählte sie ein Abteil ohne Geschrei. Sie saß gerne in Fahrtrichtung und entdeckte einen freien Sitzplatz am Fenster, der ihren Vorstellungen entgegenkam. Nur dahinter und daneben saßen noch andere Fahrgäste. Sie mochte es nicht, wenn man sie während der Fahrt ansprach. Sicher, es gab Menschen, die hatten das dringende Bedürfnis, sich zu unterhalten, selbst, wenn sie neben Fremden saßen. Regina hatte das nicht. Aber sie war auch nicht unhöflich und antwortete immer einsilbig oder nickte zum Gesagten. Sie stellte ihre Tasche auf den Sitz neben sich und knöpfte ihren Mantel auf. Das Abteil war gut geheizt und sie machte es sich gemütlich.

 

Sebastian hatte sich am Bahnhofskiosk noch eine Hannoversche Allgemeine gekauft und breitete diese nun vor und neben sich aus. Als Banker interessierte ihn zunächst immer der Wirtschaftsteil. Und am Nachmittag würde er einen großen Konzern beraten, der zu expandieren plante. Da war es gut, wenn man mit den Neuigkeiten am Markt vertraut war. Doch er war abgelenkt, denn er musste an Marina denken. Er hatte ihr viel Glück gewünscht für das Vorstellungsgespräch. Doch sie musste gemerkt haben, dass er nicht dahinter stand. Doch es war natürlich richtig, dass sie das tat, was sie für richtig hielt. Für die Kinder würde man eine Lösung finden. Und sie hatte nicht von ihm verlangt, dass er sich mehr einbrachte. Das hatte ihn eigentlich gewundert. Er selber hatte auch nichts in der Richtung vorgeschlagen, dass er seine Arbeitszeit reduzieren könnte. Und das nahm er sich selber übel. Heutzutage waren beide Elternteile für die Erziehung und Versorgung der Kinder zuständig. Sowas las man ja ständig in der Zeitung. Selbst in der Bank, in der er arbeitete, hatte man für die weiblichen Beschäftigten nach Lösungen gesucht, dass sie Arbeit und Familie besser miteinander verbinden konnten. Komisch war nur, dass solche Ideen gar nicht an die Männer herangetragen wurden. Ein Kollege hatte nachgehakt und arbeitete jetzt teilweise im Homeoffice. Eigentlich könnte ich das auch machen, dachte Sebastian, als die Tür zu seinem Abteil aufging und für einen Moment ohrenbetäubender Lärm zu ihm herüberdrang. Die Meute hatte sich immer noch nicht beruhigt und der Lehrer hielt sich wahrscheinlich tapfer die Ohren zu. Die Tür schloss sich wieder und es wurde stiller.

Sebastian ließ seinen Blick über die wenigen anderen Fahrgäste gleiten. Und dann sah er sie. Für den Hauch einer Sekunde stockte sein Atem. Sie saß am Fenster und hielt ein Buch in der Hand. Bücher interessierten ihn eigentlich nicht, wenn es keine Fachliteratur war. Doch bei ihr, da hätte er gerne gewusst, was sie da las. Einen Liebesroman? Oder doch eher einen Krimi? Es zuckte hin und wieder um ihre Mundwinkel, so, als lächelte sie nach innen. Also ging es wohl nicht um Mord.

Ihre Wangen waren leicht gerötet und ihre dichten dunklen Wimpern lagen wie ein samtiger Schleier über ihren gesenkten Augen. Ihre auf die Schultern wie weiche Flocken fallenden Haare glänzten im hereinscheinenden Sonnenlicht. Immer dann, wenn sich die Lücke zwischen den Bäumen bot, an denen der Zug jetzt vorbeiraste. Bestimmt hatte sie braune Augen. Das konnte gar nicht anders sein. Oder vielleicht grüne. Aber bestimmt nicht so leuchtend blaue Augen wie Marina.

Plötzlich sah sie von ihrem Buch auf und direkt in seine Richtung. Er fühlte sich ertappt und raschelte sofort wieder mit seiner Zeitung herum, als hätte es diesen magischen Moment gar nicht gegeben.

 

Beobachtet er mich etwa?, fragte sich Regina. Das fände sie wirklich sehr unverschämt. Automatisch zog sie ihren Kragen des Pullovers zurecht. Dann sah sie genauer hin, wer er war. Nein, er wirkte nicht wie einer von diesen plumpen Männern, die Frauen nachstellten. Er war gepflegt, trug einen teuren grauen Anzug und ein weißes Designerhemd. Sie kannte sich mit solchen Dingen aus, weil Georg sich ebenso ausstattete. Und ja, er sah gut aus. Seine dunkelblonden Haare waren modisch geschnitten. Aber dennoch fielen sie wie durch Zufall in seine Stirn. Er war bestimmt kein Angeber. Sein Gesicht hatte männliche und doch feine Züge um die schmale Nase.

Was mache ich hier eigentlich?, fragte sich Regina plötzlich und rief sich zur Ordnung. Sie räusperte sich und sah wieder in ihr Buch. Noch etwa fünfzehn Minuten, dann waren sie endlich in Oldenburg. Sie freute sich auf das Treffen mit ihrer Freundin.

Als der Zug schließlich hielt, wartete sie, bis der Fremde vor ihr aus dem Abteil gegangen war.

Das Schicksal

In Oldenburg verloren sich die einzelnen Menschen in der Menge und Regina hielt Ausschau nach ihrer Freundin. Zwei Arme wurden hochgerissen und jemand eilte auf sie zu. Das war natürlich Stefanie. Sie war so ganz anders als Regina. Meistens unbeherrscht und überschwänglich. Deshalb fiel sie Regina auch gleich um den Hals, als sich die beiden erreichten.

„Ich freue mich so“, sagte Stefanie und ließ Regina wieder frei. Eigentlich mochte diese keine Umarmungen, wenn man sich traf. Sie fand das meistens völlig übertrieben, wenn sie andere dabei sah, die taten, als hätten sie sich nach Jahrzehnten das erste Mal wiedergesehen, obwohl sie vermutlich nur zwei Tage ohne einander hatten auskommen müssen. Aber das war wohl die neue überbordende Emotionalität. Jeder sollte sehen, dass man jemanden hatte, der sich freute, einen zu treffen. Die Menschen klammerten sich in einer immer kälter werdenden Gesellschaft aneinander wie Ertrinkende.

„Ich freue mich auch“, sagte Regina.

„Du wirkst irgendwie abwesend. Ist was passiert?“

„Passiert? Nein, was sollte denn passiert sein?“ Sie wurde rot und ertappte sich dabei, dass sie Ausschau nach dem fremden Mann aus dem Zug hielt. Doch sicher war er schon längst ganz woanders und sie würde ihn nie wiedersehen.

„Dann komm“, sagte Stefanie fröhlich und hakte sich bei Regina ein.

 

„Das Meeting fängt gleich an, kommst du?“

Sebastian hatte nicht gemerkt, dass jemand in sein Büro gekommen war. Er war viel zu vertieft in seinen PC. Er hatte versucht herauszufinden, welches Buch die Unbekannte im Zug gelesen hatte. Der Umschlag war auffällig dunkel gewesen mit gelber Schrift. Sicher war es doch ein Krimi. Aber unter den aktuellen Neuerscheinungen hatte er bisher kein Glück gehabt.

„Sicher“, sagte er jetzt und klappte seinen Laptop zu. Er konnte ja später noch einmal weitersuchen.

Das Gespräch mit dem Geschäftsführer des expandierenden Unternehmens lief glatt über die Bühne. Und immer wieder schweiften Sebastians Gedanken ab. Was sie wohl gerade machte? Sie war ja auch in Oldenburg ausgestiegen. Aber er ging nicht davon aus, dass sie wie er hier arbeitete. Es war doch unmöglich, dass auch sie am Morgen den Zug verpasst hatte, so wie er. Wenn ja, dann wäre es Schicksal, dachte er, als er wieder vor seinem PC saß. Doch das Buch, das fand er nicht.

Er wusste, dass es nicht richtig war, doch er musste sie wiedersehen.

Zuhause

Marina hatte Sebastian am Bahnhof abgeholt, als er um achtzehn Uhr zwanzig wieder in Leer eintraf. Sie saßen gemeinsam mit ihren Kindern am Abendbrottisch und am meisten redete wie immer Lotte. Sie war ein überaus aufgewecktes wissbegieriges Mädchen. Wenn sie etwas machte oder dachte, dann ließ sie immer alle daran teilhaben. Ganz anders als Erik. Er war ein stiller Junge. Schon immer gewesen. Marina hatte sich damals gewundert, dass er so selten weinte oder schrie, wenn er Hunger hatte.

„Wie war dein Vorstellungsgespräch?“, fragte Sebastian an Marina gewandt.

„Ach, ich glaube, das wird nichts“, gab sie zu.

„Warum nicht?“

„Zuviel Schichtdienst. Und ich möchte ja lieber nur am Vormittag arbeiten wegen der Kinder.“

„Hm. Das tut mir leid.“ Dieses Mal meinte er es wirklich ehrlich.

„Schon gut. Es wird sich bestimmt etwas anderes finden. Zum Glück sind wir finanziell ja nicht darauf angewiesen, dass ich arbeiten gehe.“

„Nein, das sind wir nicht.“

Das Thema war damit wohl abgehandelt und Lotte übernahm wieder die Regie, indem sie in den buntesten Farben schilderte, wie sie im Kunstunterricht eine Riesenschlange in Regenbogenfarben gemalt hatte und dafür eine eins bekam.

„Das ist so schön, mein Schatz“, lobte Marina.

„Ich war die einzige, die eine eins bekommen hat“, sagte Lotte mit Stolz in der Stimme.

„Ach ja?“, fragte Sebastian nach, „waren die Bilder der anderen Kinder denn nicht so schön geworden?“

Lotte zog eine Schnute. „Doch, eigentlich schon.“

Das mochte er an seiner Tochter. Sie freute sich über gute Leistungen und Lob der Lehrerin, doch immer nahm sie auch die anderen Kinder aus ihrer Klasse mit. Sie freute sich nicht diebisch daran, die Beste zu sein. Für sie war es wohl einfach nur Glück, das sie gerne mit anderen teilte. Deshalb hatte sie auch viele Freunde in der Schule. Man mochte sie und neidete ihr nichts.

„Dann war dein Bild eben einfach das Schönste“, sagte Marina, „irgendein Bild muss ja immer das Schönste sein, oder nicht? Oder gibt es die Möglichkeit, dass mehrere Bilder die Schönsten sind?“ Sie richtete diese Frage an Sebastian.

Und dieser war froh, dass sie im Moment nicht seine Gedanken lesen konnte. Denn die fremde Frau spukte in seinem Kopf herum und er nahm ihre Frage zum Anlass, die beiden miteinander zu vergleichen. Wer war die Schönste? Marina seine Frau oder sie? Oder waren beide schön? Ja, das waren sie, jede auf ihre ganz besondere Art. Die Fremde hatte ebenso wie Marina dieses gewisse Etwas, dass es Männern unmöglich machte, sie zu ignorieren. War es der Augenaufschlag, die Haltung der Hände oder der Gang? Bei Marina war es eine Mischung aus allem. Und er hätte nicht sagen können, warum er nur mit ihr zusammen sein wollte. Sicher, es gab viele Frauen, die objektiv betrachtet bestimmt noch hübscher als Marina waren. Die gab es immer irgendwo. Doch bisher hatte er sich nicht mit anderen Frauen beschäftigt. Und er befürchtete, dass das nach dieser Begegnung im Zug nun irgendwie anders werden würde. Nein, das war es schon. Und das machte ihm in gewisser Weise auch Angst.

„Sebastian? Wo bist du mit deinen Gedanken?“, hakte sie nach, weil er nicht antwortete. Auch die Kinder sahen ihren Vater jetzt gespannt an.

„Wie?“, fragte er.

„Na, die Bilder. Ist es möglich, dass mehrere Bilder die Schönsten sein können? Oder kann es eigentlich eines, also das eine schönste Bild geben?“

„Ich glaube, es gibt mehrere Möglichkeiten“, sagte er, „jedes Bild ist auf seine ganz besondere Art schön.“

Lotte jauchzte. „Das werde ich morgen unserer Lehrerin sagen. Und dann möchte ich, dass alle eine eins bekommen. Nicht nur ich.“

„Du bist ein Schatz“, sagte Marina und drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange.

„Das hast du ihr beigebracht“, sagte Sebastian, „dass sie nicht nur an sich denkt. Du bist eine großartige Mutter.“ Er griff nach ihrer Hand.

„Wir beide haben das ganz gut hingekriegt“, erwiderte sie und bestätigte im Grunde damit genau das, was er gesagt hatte.

„Boah“, machte Erik und verzog gespielt das Gesicht, „kann ich jetzt auf mein Zimmer gehen. Das ist hier ja nicht mehr auszuhalten, diese ständige Selbstbeweihräucherung.“

„Du hast recht“, bestätigte Marina, „wir sind furchtbar. Aber ja, du kannst ruhig auf dein Zimmer gehen, ich denke, wir sind alle fertig. Oder Lotte?“

„Ja Mama. Ich bin fertig.“

Sie räumten alle zusammen ab. Auch das hatte Marina hinbekommen, dachte Sebastian anerkennend, als alle ohne zu murren mit anfassten. Er wusste von Kollegen, dass das ganz bestimmt nicht die Regel war. Andere Kinder waren aufsässig und frech. So etwas konnte er sich in seiner kleinen heilen Welt gar nicht vorstellen. Und war er jetzt auf dem besten Wege, das alles wegen einer fremden Frau zu zerstören? Das hatten Marina und die Kinder wirklich nicht verdient.

 

Regina war guter Laune, als sie nach Hause kam. Es war später Nachmittag und sie hatte noch gute zwei Stunden Zeit, um das Abendbrot für Georg vorzubereiten. Sie selber aß abends in der Regel nichts mehr. Sie war von jeher ein schlanker Typ gewesen und wollte es auch bleiben.

Sie ging ins Schlafzimmer, um das neue Kostüm noch einmal anzuziehen, das sie sich in einem sündhaft teuren Laden in Oldenburg gekauft hatte. Eigentlich brauchte sie es nicht. Doch ihre Freundin hatte sie ermuntert, es doch einfach mal anzuprobieren, weil es ihr im Schaufenster so gut gefallen hatte. Die geschäftstüchtige Verkäuferin setzte dann das I-Tüpfelchen und schon landete das dunkelblaue Kostüm aus feinstem Samt in einer Einkaufstasche.

Regina fuhr jetzt mit ihrer flachen Hand über den geschmeidigen Stoff. Es fühlte sich sinnlich an. Und sie hätte nicht sagen können, warum, doch plötzlich hatte sie sein Gesicht vor Augen. Wie er sie angesehen hatte im Zug. Sie hatte ihn ertappt, als sie plötzlich aufgesehen hatte. Eher durch Zufall in seine Richtung. Aber irgendwie hatte sie gespürt, dass ein Augenpaar auf ihr geruht hatte. Sie fand, dass der blaue Samt vergleichbar mit der Farbe seiner Augen war. Sein Blick war irgendwie melancholisch gewesen. Verletzlich hatte er gewirkt. Ja, das war es gewesen, warum sie jetzt wieder an ihn denken musste. Bestimmt war er ein sehr gefühlvoller Mann. So anders als Georg. Wie sein Name wohl war? Sie fand ja, dass er einen schönen Namen haben musste, so, wie er aussah. Vielleicht Viktor? Nein, das klang irgendwie zu hart. Sein Name war weicher im Klang. Er sah nicht wie ein Rudolf aus und schon gar nicht wie ein Georg. Sie kam zu keinem Ergebnis. Und eigentlich wollte sie ja auch gar nicht an ihn denken. Sie hängte das Kostüm auf einen Bügel, ohne es noch einmal anzuziehen, und tat es in den Kleiderschrank.

Um auf andere Gedanken zu kommen, ging sie schließlich in die Küche, um den Kartoffelauflauf, den Georg sich für heute gewünscht hatte, vorzubereiten. Wichtig war dabei, dass sie feste Kartoffeln nahm, damit sie noch Biss hatten, wenn sie auf den Tisch kamen. Einmal, da hatte sie tatsächlich weichkochende Kartoffeln genommen, einfach, weil keine anderen mehr da waren. Georg hatte nach dem ersten Bissen, den er ihr zuliebe noch genommen hatte, obwohl er sah, wie verkocht schon alles aussah, den Teller wortlos zur Seite geschoben und sich ein Brot geschmiert.

Dieses Mal hatte sie auf jeden Fall die richtigen Kartoffeln und mechanisch bereitete sie alles vor, um die Form dann in den Backofen zu schieben. Dann sah sie zur Uhr. Eine gute Stunde würde es dauern, bis sie das Essen herausnehmen konnte.

Also Zeit genug, um noch ein Bad zu nehmen, dachte sie bei sich. Irgendwie brauchte sie jetzt Wärme um sich herum.

Die Suche

Seit vier Uhr in der Frühe hatte Sebastian sich im Bett hin und her gewälzt und als Marinas Wecker klingelte, ging er als erstes ins Bad.

„Lass nur“, hatte er gesagt, als seine Frau wie sonst auch aufstehen wollte, nachdem sie den Wecker gestoppt hatte. Sie war es immer, die das Frühstück für alle zubereitete.

„Wenn du meinst“, sagte sie schlaftrunken und kroch wieder unter die Decke.

Sebastian fühlte sich schlecht, als er unter der Dusche stand. Schlecht und gemein. Denn Marina wusste ja nicht, dass er nicht einfach nur nett sein wollte. Nein, er hatte nicht schlafen können, weil er ständig an sie denken musste. Die Frau im Zug. Eine Wildfremde. Und er bekam sie einfach nicht aus seinem Kopf. Auch, wenn er es in manchem Moment gerne gewollt hätte. Doch die Erinnerung an diesen Blick, den sie ihm geschenkt hatte. Er wirkte wie ein süßes Gift, das sich immer weiter in seinen Körper fraß. Und er konnte nichts dagegen tun. Ob die Zeit darüber hinweghalf, dachte er, als er sich abtrocknete und in den Spiegel sah. Er würde sie ja sowieso nie wiedersehen. Er fuhr nie mit der Bahn. Und schon gar nicht so spät am Vormittag. Also entschied im Grunde genommen das Pragmatische für ihn. Wie sollte er ihr begegnen, wenn er immer mit dem Wagen fuhr? Das leuchtete ihm ein und er sah sich zufrieden im Spiegel lächeln. Es war alles nur eine kurze Episode, die ihn aus der Bahn geworfen hatte. Für einen Augenblick.

Arme schlangen sich von hinten um ihn.

„Wieso bist du denn noch nicht in der Küche?“, flüsterte Marina ihm ins Ohr.

Er drehte sich zu ihr um. Sie roch so weich und nach Schlaf. Langsam schob er die Träger ihres seidenen Nachthemds zur Seite. Sie wehrte sich nicht. Dann stöhnte sie auf, als er sie überall küsste.

„Das geht nicht“, sagte sie mit belegter Stimme. „Die Kinder müssen doch zur Schule.“

Da hatte sie recht.

Er kam wieder hoch und sie sahen sich an.

„Ich liebe dich“, sagte er.

Sie küsste ihn lange auf den Mund. Dann ging sie unter die Dusche.

 

Es dauerte natürlich länger, bis das Frühstück fertig auf dem Tisch stand, weil Sebastian gar nicht wusste, wo alles verstaut war in den Schränken.

„Papa“, tadelte Lotte, als sie zu ihm kam. „Ich nehme doch nur die fettarme Milch in meine Cornflakes.“

„Oh“, sagte er ertappt. „Dann esse ich sie und mache dir eine neue Schale.“

„Schon gut“, sagte sie und klang wie eine Erwachsene, indem sie ihre Mutter imitierte, „das kann ja jedem mal passieren. Ich esse sie natürlich.“

Er musste schmunzeln. Sie war so ein Mädchen, das später den Männern den Kopf verdrehen würde. So, wie ihre Mutter. Sie hatte ihre strahlend blauen Augen geerbt und sah damit einfach hinreißend aus. Schon jetzt bekam sie dauernd WhatsApp Nachrichten von Jungen aus der Schule auf ihr Handy. Sebastian gefiel das zwar nicht, weil er der Ansicht war, dass so ein Gerät nichts für Kinder in ihrem Alter war. Doch da alle Kinder ein Handy hatten und auch die Lehrer darüber mit ihnen kommunizierten, war er mit seiner Ansicht machtlos gegen die technische Entwicklung im Kinderzimmer.

Erik gesellte sich zu ihnen und setzte sich wortlos an seinen Platz.

„Möchtest du auch Cornflakes?“, fragte Sebastian seinen Sohn.

„Hm.“

„Also ja?“

„Ja, okay.“

„Geht es dir nicht gut?“

„Wieso?“

„Naja, du wirkst noch sehr müde.“

„Das bin ich doch immer morgens, Papa.“

Sicher hätte seine Mutter das gewusst, dachte Sebastian. Aber er selber führte sich hier auf wie ein neues Kindermädchen. Ich werde mich mehr mit meinen Kindern beschäftigen, nahm er sich vor. Dann kam endlich Marina in die Küche und alles konnte seinen gewohnten Gang nehmen.

Als Sebastian später mit den Kindern in seinem Wagen saß und sie Marina, die im Bademantel in der Tür stand, zuwinkten, da bedauerte er, dass die Werkstatt so schnell gearbeitet hatte. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als die Kinder zur Schule und selber weiter zur Arbeit zu fahren. Auf dem Weg zur Autobahn dachte er für den Bruchteil einer Sekunde daran, einfach zum Bahnhof zu fahren und auf den nächsten Zug zu warten. Ob sie heute wohl wieder nach Oldenburg fuhr? Doch er beherrschte sich und war schließlich auf der Autobahn angekommen.

 

Regina saß alleine in der Küche und löffelte ihre Grapefruit gedankenverloren aus. Georg war bereits aus dem Haus gegangen. Er war wie immer. Doch mit ihr, da stimmte etwas nicht. Als sie heute Morgen sein Ei gekocht hatte, da hatte sie ein Lächeln auf den Lippen gehabt. So wie jetzt auch. Sie dachte an ihn. Den schönen Unbekannten. Was er jetzt wohl gerade machte? Ob er wieder den Vormittagszug nach Oldenburg nahm? Wo er wohl hinfuhr? Schon, als sie aufgewacht war, hatte sie an ihn gedacht. Sie musste heute nicht zur Arbeit, weil sie ihren Chef gestern noch angerufen hatte, um zu fragen, ob sie auch am Freitag noch frei machen könnte. Sie hätte noch so viele Überstunden. Er hatte nichts dagegen. Und deshalb hatte sie nun nichts weiter vor.

Und plötzlich hatte sie eine Idee. Sicher, es war verrückt. Und vielleicht machte sie es gerade deshalb. Sie ging ins Bad und machte sich fertig. Danach fuhr sie zum Einkaufen, was sie sonst am Freitagnachmittag erledigte. Und anschließend fuhr sie zum Bahnhof. Einfach so. Warum denn nicht, dachte sie bei sich. Was sollte schon passieren?

Sie setzte sich ins Bahnhofscafé in die hinterste Ecke, von wo aus sie den Bahnsteig im Blick hatte und auch die Gäste, die sich an die anderen Tische setzten. Bei jedem Mann, der in ihr Gesichtsfeld trat, schlug ihr Herz ein wenig schneller. Solange, bis sie erkannte, dass er es nicht war. Und überhaupt, welcher Mann fuhr schon am späten Vormittag zur Arbeit. Er hatte in der Zeitung geblättert und sich besonders für den Wirtschaftsteil interessiert. Das hatte sie an den Titelzeilen sehen können, wenn er umblätterte. Ob er selbständig war mit einer eigenen Firma? Dann konnte er es sich bestimmt erlauben, später anzukommen. Aber jeden Tag?

Wieder ein Mann mit ähnlicher Statur. Als er sich zu ihr drehte, da war er es nicht. Auch draußen auf dem Bahnsteig war nichts von ihm zu sehen. Nach einer Stunde schließlich, als es schon auf die Mittagszeit zuging, zahlte sie und verließ das Café.

Um sich abzulenken, bummelte sie noch ein wenig in der Leeraner Fußgängerzone, doch im Grunde nahm sie gar nicht wahr, was sie da sah. Ich verrenne mich da gerade in etwas, das es gar nicht gibt. Das muss aufhören.

Als Regina schließlich wieder zuhause eintraf, schlüpfte sie ernüchtert wieder in ihr altes Leben mit Georg zurück. Er war ja auch nicht immer so gewesen. So kalt und berechnend. Sie beschloss, ihm heute Abend etwas ganz Besonderes zu kochen, schließlich war ja Wochenende. Den Freitagabend verbrachten sie in der Regel mit einem Glas Rotwein vor dem Fernseher. Meistens ging sie zuerst zu Bett. Am Samstag verlief es ähnlich, nur mit dem Unterschied, dass er dann ebenfalls den Fernseher ausschaltete, wenn sie müde wurde. Einmal die Woche hatten sie noch Sex. Jeden Samstag. Es hatte sich so eingespielt. Gehörte zum Programm. Doch Regina fühlte schon lange nichts mehr dabei. Ob es ihm bewusst war? Vielleicht. Aber dieses Vielleicht, das wollte sie jetzt nicht mehr so im Raum stehen lassen, dachte sie. Und deshalb würde sie heute etwas Schönes kochen. Dazu einen Nachtisch mit Sekt und Erdbeeren. Und dann würde sie versuchen, ihn zu verführen, so, wie sie es früher gemacht hatte. Da war er noch empfänglich für ihre leidenschaftlichen Anwandlungen gewesen. Mit der Zeit allerdings hatte er vorgeschoben, dass er am nächsten Tag früh raus musste. Und so hatte sich ihr Leidenschaft auf den Samstag eingependelt, wo er am Sonntag ausschlafen konnte. Bisher hatte Regina mit niemandem darüber gesprochen. Nicht einmal mit ihrer Freundin, die ein außerordentlich lasterhaftes Sexualleben führte, wenn man ihren Ausführungen Glauben schenken konnte. Und genau das wollte Regina jetzt auch wieder haben. Leidenschaft, heiße Küsse und begehrt werden. Keine Maschine, die man am Samstagabend anwarf.

Und als sie dann in der Küche stand, um ihre Pläne in die Tat umzusetzen, da wusste sie im nächsten Moment, dass es alles sinnlos war. Georg war Georg. Und alle leidenschaftlichen Wünsche fixierten sich wieder auf den fremden Mann, der sie für einen Moment zu lange angesehen hatte.

 

Der Freitag verlief in der Bank meistens mäßig aufregend. So hatte Sebastian jede Menge Zeit, sich mit Dingen zu beschäftigen, die er lieber aus dem Kopf bekommen wollte. Doch nun ertappte er sich schon wieder dabei, wie er an sie dachte. Ob sie jetzt auch in Oldenburg war? Ob sie den Zug genommen hatte? Wäre ich doch nur noch zum Bahnhof gefahren, dachte er frustriert und kaute auf seinem Kugelschreiber herum. Nun stand ein langes Wochenende bevor, wo er garantiert nicht die Chance hätte, sie wiederzutreffen. Morgen am Samstag wollten er und Marina mit den Kindern zu einem Freizeitpark fahren. Sicher kämen sie erst spät am Abend zurück. Die Kinder todmüde. Lotte jedenfalls. Und Erik in seiner üblichen Art gelangweilt dreinguckend. Sicher, er kam nun in ein Alter, wo er sich nicht mehr unbedingt in einem Kinderkarussell wohlfühlte. Die meiste Zeit verbrachte er auf seinem Zimmer vor dem Computer. Was genau er da machte, das wusste Sebastian nicht. Es war nicht mehr so leicht, Erik etwas zu fragen, ohne, dass dieser sich ausgehorcht und bewacht fühlte. Wann hatte er die Verbindung zu seinem Sohn verloren? War es schleichend gegangen? Oder lag es einfach daran, dass er sich nicht genug mit ihm beschäftigt hatte? Er nahm sich vor, am Abend noch einmal mit Marina darüber zu sprechen. Er wollte ein guter Vater sein. Ein guter Ehemann. Ja, er wollte es wirklich. Und trotzdem klickte er sich jetzt in den Fahrplan der Bahn für den kommenden Montag, obwohl er wusste, dass der Zug natürlich wieder fuhr. Er fuhr jeden Tag. Und dann ging plötzlich die Fantasie mit ihm durch. Er sah sie und sich selber in dem Abteil sitzen. Sie waren alleine. Er las in der Zeitung, sie in ihrem Buch. Dann sah sie auf. Sie sahen sich an. Sie kam zu ihm. Einfach so. Setzte sich neben ihn. Er nahm ihren Duft auf. Süßlich und verlockend. Sie sah ihn an mit ihren großen braunen Augen in dem zarten Gesicht. Sie rückte näher an ihn heran, so dass er ihren Atem auf seinem Gesicht spürte.

„Sebastian? Schläfst du?“

Eine harte Stimme holte ihn zurück. Sein Kollege, mit dem er mittags immer etwas in der Innenstadt aß.

„Oh, ist es schon so spät?“

„Ja, ist es“, lachte der Kollege, „und ich möchte gleich beim Essen jedes Detail erfahren.“

„Detail?“

„Klar. Du willst mir doch nicht erzählen, dass du gerade an deine Frau gedacht hast, oder?“

„Blödmann.“ Sebastian schüttelte mit dem Kopf und nahm seine Jacke.

Montag

Nichts war passiert. Oder doch. Es war nur nichts anderes passiert. Das Wochenende war vorbei und Regina nahm das Ei aus dem brodelnden Wasser und schreckte es ab. Georg hatte von ihrer inneren Zerrissenheit nicht das Geringste gespürt. Er hatte sich sehr gefreut über das Essen am Freitag. Es hatte aber keinen Sekt und keine Erdbeeren gegeben.

Und am Samstag hatte sie das Zubettgehen so lange hinausgezögert, bis er auch er todmüde war. Er hatte nicht einmal gefragt, warum sie länger aufblieb. Vielleicht war es ihm sogar ganz recht gewesen. Er war noch vor ihr eingeschlafen.

Sie hatte sich wieder aus dem Bett geschlichen und war in das zweite Schlafzimmer gegangen, das im Grunde nur als Gästezimmer diente. Sie konnte unter diesen Umständen einfach nicht neben ihm liegenbleiben. Denn sie dachte an Montag. Sie würde wieder zum Bahnhof gehen. Egal, wie lange es auch dauerte, bis sie ihn wiedertraf. Die Sehnsucht nach Nähe war so stark in ihr herangewachsen, dass sie fürchtete, Georg könnte von ihrem keuchenden Atem wach werden. Und deshalb war sie ins andere Zimmer gewechselt. Und während sie sich selber streichelte, dachte sie an den anderen Mann. Ob er sie begehrenswert fand? Sie jedenfalls begehrte ihn, obwohl sie ihn überhaupt nicht kannte. Dieser eine Augenblick, er hatte alles in ihrem Leben verändert. Er hatte sie wachgeküsst mit seinen blauen Augen.

Nun stand sie also am Montagmorgen ratlos vor ihrem Kleiderschrank, nachdem Georg das Haus verlassen hatte. Sollte sie das neue blaue Kostüm anziehen? Nein, dachte sie, als sie es sich vorhielt und in den großen Ankleidespiegel sah. Das wirkte viel zu förmlich. Wohlerzogen und ganz bestimmt nicht nahbar. Also doch einfach eine Jeans und einen schwarzen Pullover? Dazu ein Trenchcoat, wie sonst auch? Sicher war das am besten. So würde er sie wiedererkennen. Natürlich, das war die Lösung. Sie würde sich für die Arbeit eine Ausrede einfallen lassen, warum sie gegen zehn unbedingt wegmusste. Ein Zahnarzttermin war da immer gut. Meistens fragte da auch keiner nach, weil niemand gerne dorthin ging und sich einen Bohrer und nach hinten gelehnte Behandlungsstühle vorstellte.

Kurz darauf stieg Regina voller Zuversicht in ihren Wagen.

 

Sie hatten sich an diesem Wochenende zweimal geliebt und auch jetzt schmiegte sich Marina an ihn, als der Wecker geklingelt hatte.

„Es wird Zeit“, flüsterte er in ihr langes blondes Haar.

„Es war schön“, erwiderte sie.

„Ja.“

„Ich meine alles. Die Ausflüge mit den Kindern und ...“.

Bevor sie weitersprach, küsste er sie leidenschaftlich auf den Mund. Es war wichtig für ihn gewesen, sich zu beweisen, dass er sie noch liebte. So richtig liebte und sie körperlich begehrte und befriedigen konnte. Dann war doch alles noch in Ordnung, oder? Doch er belog sich selber. Es war Montag. Und eben, als der Wecker klingelte, war das erste, woran er gedacht hatte, der Bahnhof. Er konnte nicht anders. Er würde gleich wie immer aus dem Haus gehen, die Kinder zur Schule fahren und dann würde er zum Bahnhof fahren. Es war wie ein innerer Zwang. Eine Kraft, die er nicht mehr kontrollieren konnte, hatte Besitz von ihm ergriffen.

„Ich steh dann mal auf“, sagte Marina und löste sich aus seiner Umarmung.

„Ist gut. Ich komme auch gleich“, erwiderte er und natürlich beschlich ihn wieder das schlechte Gewissen. Es fühlte sich an, als betrüge er sie. Und dabei war er doch nur mit den Gedanken woanders gewesen. Zählte das schon als Betrug? Nun, hätte er Marina die Frage gestellt, dann konnte er sich denken, was sie sagen würde. Im Scherz gingen sie manchmal darauf ein, dass es auch andere schöne Frauen gab neben ihr. Sie war in dieser Hinsicht sehr großzügig. Und wenn es mal zu Trennungen deshalb im näheren Umfeld kam, weil einer der Partner den anderen betrogen hatte, dann plädierte sie immer dafür, nicht gleich das Handtuch zu werfen. Gerade, wenn Kinder im Spiel waren. Ob sie in eigener Sache auch so großzügig sein würde?

Er hörte Lotte singend aus ihrem Kinderzimmer kommen und ins Bad gehen. Ein Stich ins Herz. Nein, er konnte seiner Tochter niemals wehtun. Und er wollte auch nicht ohne sie sein. In diesem Moment, da nahm er sich fest vor, wie gewohnt auf die Autobahn Richtung Oldenburg zu fahren. Er musste diese andere Frau einfach vergessen.

 

Pünktlich um kurz vor zehn Uhr saß Regina wieder auf ihrem Platz im Bahnhofscafé. Es war kein Problem gewesen, die Kollegen wegen eines Termins anzulügen. Und es würde ja auch nur maximal eine Stunde dauern, hatte sie versichert. Und jetzt lief also die Zeit. Sie hatte sich ein Frühstück zusammenstellen lassen und rührte davon doch nichts an. Aber wenn sie hier eine Stunde herumsaß, dann konnte sie sich unmöglich nur einen Kaffee bestellen. Immer wieder sah sie nach draußen zum Bahnsteig. Dann wieder zum Eingang des Cafés. Vielleicht war er ja heute früher dran und machte es wie sie und trank noch einen Kaffee.

 

„Bis heute Abend“, rief Marina und winkte schon, als die Kinder sich noch in die Sitze drückten und anschnallten.

Sebastian küsste sie wie üblich zum Abschied auf die Wange. „Ich wünsche dir einen schönen Tag“, sagte er.

„Den wünsche ich dir auch.“

Er ging zum Wagen und stieg ein. Im Rückspiegel sah er seine Frau in der Tür stehen. Sie winkte noch immer, weil jetzt auch Lotte wild mit den Armen wedelte und Tschüss Mama rief. Sollte er es wirklich wagen, dieses Glück für einen Moment der Leidenschaft zu zerstören? Hatte er überhaupt das Recht dazu? Er startete den Wagen und fuhr los.

Die Kinder stiegen bei der Schule aus und er fuhr wieder an. Seine Hände klammerten sich um das Lenkrad. Du musst jetzt zur Autobahn fahren, beschwor er sich. Alles andere wäre ein großer Fehler. Du würdest die Menschen, die du liebst sehr unglücklich machen. Das darfst du nicht tun. Du darfst es einfach nicht.

Und doch fuhr sein Wagen dann wie von selbst zum Bahnhof. Es war noch viel zu früh, das wusste er. Wenn sie wie immer den Zug um fünfzehn Minuten nach zehn nahm, dann hatte er noch über zwei Stunden Zeit. Zeit genug, um wieder zur Vernunft zu kommen. Immer wieder sah er auf die Uhr. Sollte er nicht doch lieber losfahren? Er war doch kein pubertierender Teenager mehr. Er war ein erwachsener Mann mit Verantwortung. Für seine Kinder und seine Frau. Eine Frau, die er wahnsinnig liebte. Fast wie am ersten Tag. Natürlich, wenn man sich über fünfzehn Jahre kannte, dann war es nicht mehr wie am ersten Tag, wenn man sich küsste oder liebte. Man hatte sich aneinander gewöhnt. Wusste, was man sagen würde oder wie man reagierte. Das war nicht schlimm. Das ging allen anderen Paaren doch auch so. War er etwa schon in der Midlife-Crisis mit Ende dreißig? Bildete er sich Dinge ein, die gar nicht da waren, weil er sich in einer Eintönigkeit gefangen fühlte, für die weder er noch Marina etwas konnten? Sehnte er sich insgeheim nach einer leidenschaftlicheren Frau? Solche Gedanken waren sicher nicht strafbar. Und wer wusste, wie Marina über all das dachte. Vielleicht träumte sie sich hin und wieder auch zu anderen Männern hin. Aber würde sie so weit gehen, ihn zu betrügen? Es war nicht das erste Mal, dass er darüber nachdachte. Doch bisher war es eher eine Art von Eifersucht gewesen, dass es so sein könnte, weil er sie so liebte. Und da sie so großzügig mit ihm war, wer sagte ihm denn, dass sie es nicht auch war, weil sie sich selber durchaus gewisse Freiheiten herausnahm. Vielleicht traf sie sich schon längst mit einem anderen, ohne, dass er es überhaupt ahnte. Sie war den ganzen Tag alleine zuhause. Oder zumindest, bis die Kinder gegen vierzehn Uhr nach Hause kamen. Eine Menge Zeit, um sich ein Abenteuer zu gönnen.

Zweimal hatte er es dann sogar geschafft, den Wagen zu starten und wieder Richtung Autobahn zu fahren. Und jedes Mal war er wieder umgedreht. Als es dann immer später geworden war, hatte er direkt in der Nähe des Bahnhofseingangs geparkt. So konnte er ganz sicher sein, dass er jeden Menschen sah, der ins Gebäude ging. Und dann war sie gekommen. Es war wie Blitzeinschlag gewesen, der ihn mit aller Wucht traf. Sie schien es eilig zu haben, ins Bahnhofsgebäude zu kommen. Und doch sah sie sich immer wieder unsicher um. Sie trug wieder den Mantel vom letzten Mal. Die Haare offen und einen hellen Schal um den Hals gewickelt. Die Art, wie sie ging. Es war, als sehe er ein Wesen aus einer anderen Welt. Er stieg aus dem Wagen und folgte ihr ins Gebäude, immer auf der Hut, dass sie ihn nicht sah. Dann verschwand sie im Bahnhofscafé und bestellte sich etwas am Tresen. Ein Frühstück? Er wunderte sich darüber. Wollte sie gleich nicht mit dem Zug fahren?