»In diesen Roman geriet ich aus Versehen oder vielmehr durch eine Bequemlichkeit.« Die Folge: Der Erzähler hat sich auf eine Reise durch die Archive zu begeben. Das Aktenstudium zwingt ihn zu einem Höllenritt durch das 20. Jahrhundert, das sich im 21. Jahrhundert bruchlos fortsetzt.
Die in den Archiven lagernden Akten öffnen den Blick auf zwei Familien und ergeben ein Gesamtpanorama dieser extremistischen Jahrzehnte. In dessen Mittelpunkt bewegen sich das deutsche Ehepaar Trutz (mit Sohn Maykl) und der Sowjetbürger Waldemar Gejm mit Frau und seinen zwei Kindern. Der Schriftsteller Rainer Trutz flieht 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten nach Moskau. Dort begegnet er Waldemar Gejm, einem Professor für Mathematik und Sprachwissenschaft an der Lomonossow-Universität, der gerade ein neues Forschungsgebiet entwickelt: die Mnemotechnik, die Lehre von Ursprung und Funktion der Erinnerung.
Die Schwankungen in den weltpolitischen Konstellationen sowie die Kurswechsel der Partei in der Sowjetunion werden seit dem Ende der dreißiger Jahre Trutz wie Gejm zum Verhängnis.
Die beiden Söhne, Maykl Trutz und Rem Gejm, begegnen sich Jahrzehnte später, im wiederhergestellten Deutschland und machen fast dieselben Erfahrungen wie ihre Väter.
In seiner objektiven und zugleich sich ein­fühlenden Chronik der Lebensläufe zweier Familien hat Christoph Hein einen Jahrhundertroman im zweifachen Sinn geschrieben: ein Jahrhundert umgreifend, ein Jahrhundert widerspiegelnd, ein Jahrhundert verstehbar zu machen und nachzu­erleben.

Christoph Hein, geboren 1944 in Heinzendorf/Schlesien, aufgewachsen in Bad Düben bei Leipzig, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Christoph Hein

Trutz

Roman

Suhrkamp

Trutz

In diesen Roman geriet ich aus Versehen oder vielmehr durch eine Bequemlichkeit. Ich wollte mir eine längere Fahrt mit der S-Bahn ersparen, gleichzeitig die Chance nutzen, eine der Direktorinnen des Bundesarchivs Lichterfelde in einem kleinen Kreis ansprechen zu können, ohne in ihrem Archiv offiziell um einen Gesprächstermin zu bitten, eine Bitte, die man mir dort möglicherweise abschlagen würde.

Im Gebäude der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur war eine Veranstaltung zur wechselvollen Geschichte der deutsch-russischen Verhältnisse im letzten Jahrhundert unter dem Titel Feindliche Freunde für den zwölften Februar angekündigt. Eine stellvertretende Direktorin des Bundesarchivs wollte über neue, in ihren Besitz gelangte Dokumente zu dieser leidvollen Beziehung sprechen. Das Thema interessierte mich nur am Rande, ich war mit anderen Dingen beschäftigt, aber die Möglichkeit, eine leitende Dame des Bundesarchivs in einer, wie ich hoffte, kleinen Runde zu treffen, verlockte mich, an jenem Montagnachmittag in die Kronenstraße zu gehen, mir ihre Ausführungen scheinbar interessiert anzuhören, um sie dann mit einem Anliegen zu belästigen, mit einer Anfrage, worüber nur eine Person der oberen Etage des Bundesarchivs eine Entscheidung fällen konnte.

Ich war seit mehr als einem Jahr dabei, die seltsamen Umstände des Todes eines Terroristen zu erhellen, der von einer Hundertschaft Grenzpolizisten ergriffen werden sollte, dabei durch eine Kugel ums Leben kam, doch war trotz mehrerer Prozesse nie aufzuklären, wer den tödlichen Schuss abgegeben hatte, der Gesuchte selbst oder einer der Beamten. Die Staatsanwälte und Richter mussten eine Hundertschaft von Grenzpolizisten befragen sowie, ungeachtet ihrer Amtsgewalt und der Befugnis, von allen Behörden Auskunft notfalls zu erzwingen, und trotz ihrer Unabhängigkeit, die Aussagen der einhundert Grenzpolizisten, die den Auftrag hatten, einen des Terrorismus Verdächtigen festzunehmen, hinnehmen, dass von diesen einhundert Beamten in dem Augenblick, wo der Verdächtige durch eine Pistolenkugel starb, nicht ein einziger zu dem Festzunehmenden blickte, sondern alle abgelenkt waren und daher nichts bezeugen konnten. Vor Gericht konnte sich keiner der Grenzpolizisten an den genauen Ablauf erinnern, und die Beteiligten sagten aus, sie hätten in dem Moment, als der Schuss fiel, woanders hingeschaut. Alle mit dem Fall befassten Gerichte mussten sich trotz erheblicher Bedenken mit diesen Auskünften und einem non-liquet, der Feststellung der Beweislosigkeit, zufriedengeben. Einen Tag nach dem tödlichen Schuss trat der Innenminister zurück, zwei Tage später wurde der Generalbundesanwalt entlassen. Der Rücktritt, so wurde der Öffentlichkeit mitgeteilt, erfolge aus persönlichen Gründen, die Entlassung stehe in keinem Zusammenhang mit dem vom Gericht aufzuklärenden Geschehen. Eine vom Gericht beantragte Vernehmung des zurückgetretenen Ministers wie des entlassenen Bundesanwalts unterblieb, da beiden Personen die Aussagegenehmigung verweigert wurde.

Gern wäre ich im Amtszimmer des Richters dabei gewesen, als er in der Gerichtsakte die Einstellung des Verfahrens gegen die Beschuldigten wegen Nichterweislichkeit einer Beweisbehauptung notierte, als er sein non-liquet eintrug, es ist nicht klar. Zwei der mit diesem Fall befassten Richter waren bereit, mit mir zu sprechen, beide waren mittlerweile pensioniert, doch sie vermochten keine zusätzlichen Fakten und Hintergründe zu benennen, die über die in den Gerichtsakten festgehaltenen hinausgingen. Einer der Ruheständler sagte, in keinem seiner Prozesse sei er entwürdigender vorgeführt worden, der Staat habe zugelassen, dass seine garantierte Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive zur Farce verkam.

Ich war als Mann ohne jede Amtsgewalt chancenlos und hatte keinerlei Aussicht, mehr Licht als die Staatsanwälte und Richter in dieses Dunkel zu bringen, hoffte jedoch, im Bundesarchiv in der Finckensteinallee ein paar Akten zu finden, die weiterhelfen könnten, aber gleichzeitig wusste ich, dass ich dort sehr gute, sehr gewichtige Gründe vorbringen musste, damit man mir eine solche Akteneinsicht gewährte. Ein freundliches Gespräch und viel Charme würde mir eventuell die so sorgsam verschlossene Tür öffnen. Da der Schlüssel für diese Tür in der Direktionsetage lag, musste ich dahin vordringen, und nur deswegen ging ich an jenem Montag zu diesem mich wenig interessierenden Vortrag. Ich war sogar eine halbe Stunde früher in dem prachtvollen Gebäude in der Hoffnung, die hohe Dame vielleicht vor ihrem Referat sprechen zu können.

Tatsächlich sah ich sie im Foyer der Stiftung, einen Prosecco in der Hand, plauderte sie mit der Gastgeberin. Als diese ihr das leere Glas abnahm, um es zum Tresen zu bringen, stellte ich mich vor und sprach kurz mein Anliegen an. Die Gastgeberin kam zurück, die Archivchefin entschuldigte sich und bat darum, bis nach der Veranstaltung zu warten, um ihr dann meinen Wunsch zu erläutern. Beide Damen verschwanden hinter einer Tür.

Die neuen Dokumente, die die Archivarin dem Publikum mit Overheadfolien präsentierte, erschienen mir belanglos. Es waren keine sensationellen Erkenntnisse, die eine Neubewertung der geschichtswissenschaftlichen Sicht auf das letzte Jahrhundert erforderlich machten, und was daran unbekannt war, überraschte nicht, sondern blieb im Rahmen des Erwartbaren.

Die Zuhörer folgten den Ausführungen mäßig interessiert. Ein älterer Herr, er saß eine Reihe vor mir, zwei Stühle weiter, schien der Einzige zu sein, der genau zuhörte und von ihrer Rede gefesselt war, jedenfalls schrieb er ununterbrochen mit und füllte die Seiten eines Schreibblocks für Stenotypisten. Die Gastgeberin, die Hausherrin der Stiftung, erhob sich nach dem Vortrag, applaudierte stehend, dankte der Archivarin und fragte, ob es Fragen oder Wortmeldungen gäbe. Da sich niemand meldete, wollte sie die Veranstaltung mit einer Einladung für alle Anwesenden zu einem Glas Prosecco, Saft oder Wasser beenden, als der ältere Herr aufstand und um das Wort bat.

Die beiden Damen am Podium nickten erfreut und forderten ihn auf zu sprechen.

»Verzeihung, aber es waren einfach zu viele Fehler in Ihrem Vortrag, verehrte Dame«, begann er und listete dann acht oder neun gravierende Unstimmigkeiten auf.

Die Referentin wurde abwechselnd blass und rot während seiner Bemerkungen, dann fasste sie sich und sagte, als der Mann zum Schluss kam und sich wieder hinsetzte, erkennbar erregt, der Herr würde sich irren, alle Daten und Fakten wären kontrolliert worden, Archivare würden, bevor sie die kleinste Kleinigkeit herausgeben, alles wieder und wieder überprüfen.

Die Frau neben mir murmelte etwas von einem Klugscheißer, der sich wichtig machen wolle, und die Hausherrin sagte, um die Referentin zu beruhigen, lächelnd, es sei bei ihrer Stiftung an der Tagesordnung, dass nicht alle Besucher mit den Ausstellungsexponaten oder den wissenschaftlichen Referaten einverstanden seien. Es gebe halt die Ewiggestrigen, die einem untergegangenen Staat nachtrauerten und sich daher gegen die ihnen unangenehme Wahrheit sperren.

»Ich trauere einigen Menschen nach, ja, einigen von ihnen sogar sehr«, widersprach ihr der ältere Herr, der sich erneut erhoben hatte, »jedoch gewiss keinem untergegangenen Staat, keinem einzigen. Aber die Wahrheit muss bleiben, und für Sie, eine Archivarin, sollte nichts als die Wahrheit zählen. Sie können meine Korrekturen überprüfen, alle. Einige sogar hier, auf der Stelle. Ich sehe, Sie haben den großen Schmitz auf Ihrem Tisch liegen, diesem Standardwerk werden Sie wohl keine Schnitzer unterstellen. Lesen Sie dort die Ausführungen zum Militärgeld. In der DDR wurde es erst 1980 gedruckt, aber nie verwandt, das vergleichbare Geheimgeld der Bundesrepublik druckte man Anfang der sechziger Jahre und stellte diese Aktion 1981 ein.«

Die Gastgeberin versuchte ihn zu unterbrechen: »Sehr geehrter Herr, ich hatte die Veranstaltung bereits beendet. Wir können das ja alles bei einem Glas besprechen.«

»Nein, bitte schlagen Sie den Schmitz auf. Seite vierhundertzweiunddreißig, der letzte Absatz, schauen Sie es sich an. Lesen Sie es bitte vor.«

Verärgert und irritiert schlug die Referentin das vor ihr liegende Buch auf und blätterte darin.

»Seite vierhundertzweiunddreißig«, wiederholte der Mann, »unten, der letzte Absatz. Lesen Sie bitte die Zeilen vor.«

Hochrot gestand die Archivarin, wohl einen Fehler gemacht zu haben, doch der ältere Herr gab keine Ruhe und sagte, mit Hilfe des großen Schmitz könnte sie gleich noch einen weiteren Irrtum korrigieren, denn nach dem Geheimen Zusatzprotokoll im deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 24. August 1939, der wegen Ribbentrops Ankunft auf den 23. August vordatiert wurde, sollten nicht Tausende von Flüchtlingen auf Verlangen gegenseitig ausgeliefert werden, die Zahl wurde damals genau angegeben. Jede Seite hatte laut Protokoll Anspruch auf Rückführung von eintausendfünfhundert Emigranten, und beide Seiten hätten Flüchtlinge ausgeliefert, am 22. Juni 1941, als die deutsche Wehrmacht in die Sowjetunion einmarschierte und der Pakt damit hinfällig war, hatten beide Seiten erst achtzig Prozent der Gegenseite übergeben.

Im Saal wuchs der Unmut, man wollte zum Buffet und keine weitere Diskussion, und als die Hausherrin eine einladende Bewegung in Richtung des Tisches mit den gefüllten Gläsern machte, standen alle Besucher auf und begaben sich dorthin. Der Mann angelte nach seiner Unterarmstütze und steckte seinen Schreibblock ein, ich ging nach vorn zum Podium, um die Archivarin zu sprechen, doch die Dame vom Bundesarchiv war noch immer hochgradig erregt, sagte, als ich vor ihr erschien, sie habe keine Zeit mehr, ich möge mich an den archivfachlichen Dienst wenden, die würden mir weiterhelfen. Sie nahm ihr Manuskript und die Bücher, auch den großen Schmitz, und verschwand zusammen mit der Hausherrin in den hinteren Räumen.

Bei den Garderobenhaken stand nur der ältere Herr, die anderen Besucher versammelten sich um den Tisch mit den Gläsern, einige von ihnen schauten verachtungsvoll zu dem Mann hinüber, der es gewagt hatte, die Referentin, eine stellvertretende Direktorin des Bundesarchivs, in Verlegenheit zu bringen. Ich nahm meinen Mantel vom Haken und fragte den Mann, ob ich ihm behilflich sein könne, die Krücke störte ihn beim Überziehen seines Mantels. Obwohl er es war, der meine Hoffnung, mit der stellvertretenden Direktorin des Bundesarchivs unter vier Augen zu reden, durch seine Kritik zerstört hatte, ich also in die Finckensteinallee hinausfahren müsste und dort gewiss keine der Direktorinnen des Bundesarchivs zu sprechen bekam, die allein über mein Ersuchen entscheiden könnten, sondern lediglich einen der Archivsklaven, bot ich ihm meine Hilfe an, denn es hatte mir gefallen, wie unverfroren er sie kritisierte, wie er ihr Fakten und Daten um die Ohren haute, die er offenbar alle im Kopf hatte. Selbst als er die Fehler und Irrtümer wiederholte, die ihr im Vortrag unterlaufen waren, schaute er nicht einen Moment auf die Notizen in seinem Schreibblock.

»Gern«, sagte er, »vielen Dank. Ja, dieses verfluchte Bein, erst eine Knieoperation, dann eine Thrombose, sehr schmerzhaft, sehr langwierig.«

Ich hielt ihm die Tür auf und ging weiter langsam neben ihm her, da er ebenfalls zum U-Bahnhof lief. Dabei erkundigte ich mich, wieso er gewusst habe, worüber die Archivarin sprechen werde.

Er schüttelte den Kopf: »Nein, ich wusste es nicht. Ich wollte hören, was sie zu sagen hat.«

»Aber wieso konnten Sie ihr die Fehler nachweisen? Wieso kennen Sie diese Einzelheiten so genau?«

»Ich habe es irgendwann einmal gelesen. Und was ich gelesen habe, weiß ich. Und wenn ich es aufgeschrieben habe, weiß ich es für alle Zeiten.«

Ich lächelte, mir schien er nun etwas verwirrt und skurril zu sein. Oder ein Klugscheißer, wie die Frau neben mir gesagt hatte.

»Nur ein wenig Training, junger Mann«, sagte er, »nur etwas Gehirntraining. Mnemonik, sagt Ihnen das was?«

»Nein, tut mir leid. Nie gehört. Hat es etwas mit Mnemotechnik zu tun?«

»Sie sind auf dem richtigen Weg. Mnemonik ist eine Wissenschaft, und diese Technik, von der Sie sprechen, wurde nach ihren Forschungsergebnissen entwickelt.«

»Von einer Wissenschaft Mnemonik habe ich nie etwas gehört. Gibt es Hochschulen, an denen sie gelehrt wird?«

»Hierzulande nicht. Aber es gab sie auch hier. Heute müssen Sie in die USA fahren oder nach Frankreich. Auch Russland hat die Forschungen wiederaufgenommen, wie ich erfuhr.«

»Und Sie, Sie sind einer dieser Mnemoniker?«

»Nein, leider nicht. In Deutschland ist diese Wissenschaft weniger bekannt. Aber ich wurde von einem Mnemoniker trainiert, von Kindesbeinen an. Vermutlich war er seinerzeit der weltweit beste und berühmteste dieser Zunft. Gejm hieß er.«

»Dieser Name sagt mir auch nichts, leider.«

»Ja, es ist alles vergessen. Ausgelöscht. Blutig ausgelöscht. Die Mnemonik zieht eine Blutspur hinter sich her, bis heute. Bereits zu Beginn war das so, diese Wissenschaft begann mit einem Massaker. Ein gutes Gedächtnis war in der Geschichte der Menschheit stets eine tödliche Gefahr. Das Vergessen wird belohnt, nicht das Gedächtnis. Wenn Sie schnell und rasch vergessen, werden Sie glücklich auf Erden und können in Ruhe alt werden. Doch wenn Sie sich an alles erinnern, bekommen Sie Schwierigkeiten, und die können tödlich sein. So geht es bis in unsere Zeit, bis zu mir. Heute, genau vor einem Jahr, gab es das vorerst letzte Verbrechen. Ein Mord, ein grauenvoller Mord, der einem Gedächtnis galt.«

Ich wusste nicht, ob ich diesem Mann auch nur ein Wort glauben konnte, ob ich einem Kerl mit einem besonders schrulligen Spleen begegnet war, einem jener Irren, die mit Verschwörungstheorien durchs Land ziehen und von Plänen zur Eroberung der Welt oder eines Kontinents schwätzen, um vor einer absonderlichen, irdischen oder extraterrestrischen Gefahr zu warnen, oder ob an seinem Gerede von einer Wissenschaft mit Blutspur und Massaker etwas dran war.

»Ich weiß nicht, Herr …«

»Trutz heiß ich, Maykl Trutz«, sagte er.

Ich gab ihm die Hand, stellte mich ebenfalls vor und fragte, wo man mehr über diese Wissenschaft erfahren könne, von der ich noch nie gehört hatte.

»Kommen Sie zu mir, besuchen Sie mich, dann will ich Ihnen gern etwas darüber erzählen. Aber in einer halben Stunde ist das nicht abgetan. Ich muss dann von dem großen Gejm berichten, von Waldemar Gejm und seinem Sohn Rem. Von meinem Vater Rainer Trutz, von meiner Mutter, von Lilija und noch von einigen anderen, wenn Sie etwas von der Mnemonik verstehen wollen. Melden Sie sich bei mir, wenn Sie Zeit haben.«

Er blieb stehen, klemmte die Krücke unter einen Arm, zog sein Portemonnaie heraus, entnahm ihm eine Visitenkarte und gab sie mir.

Ich bedankte mich und versprach nach kurzem Zögern, mich bei ihm zu melden. Zusammen stiegen wir langsam die Treppen zum U-Bahn-Schacht hinunter, auf dem Bahnsteig fragte ich, was ich mitbringen dürfe.

»Einen ausgeschlafenen Kopf und ein gutes Gedächtnis, das reicht«, sagte er und fügte dann noch hinzu: »Und Sie könnten einen Wodka mitbringen, einen Gorbatschow möglichst.«

»Mach ich. Ist das ein guter Wodka?«

»Keine Ahnung, ich trinke nicht. Höchstens einmal im Jahr ist mir danach, und heute ist so ein Tag, heute würde ich sehr gern einen Gorbatschow trinken.«

Er wies auf die einfahrende Bahn: »Melden Sie sich. Oder lassen Sie es bleiben. Auf Wiedersehen.«

Er humpelte in den Waggon und setzte sich auf eine Bank, ich sah ihm nach, bis die Bahn abfuhr, er schaute sich nicht nach mir um. Ich blickte auf die Visitenkarte, Maykl Trutz, Fischerinsel, und steckte sie in die Reverstasche. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn tatsächlich aufsuchen wollte.

In den nächsten Wochen arbeitete ich Tag für Tag an meinem Manuskript. Ich fuhr auch ins Bundesarchiv hinaus, in die Finckensteinallee, aber dieser Besuch war überflüssig. So viel Charme ich auch aufwandte, man wollte mir nicht einmal sagen, ob zu jenem Fall Akten bei ihnen liegen, noch nicht einmal diese Auskunft dürfe erteilt werden. Die ältere Archivarin, mit der ich sprach und der ich um den Bart ging, von dem tatsächlich etwas zu sehen war, meinte, ich würde ohne eine Genehmigung keine Einsicht bekommen, selbst wenn ich der Bundeskanzler wäre, auch bei dem hätte entweder der Bundestag oder der Generalbundesanwalt zuzustimmen. Wer in diesem Fall eine Genehmigung erteilen darf, wisse sie nicht, da müsse sie sich erst in der Benutzungsverordnung des Bundesarchivs kundig machen. Ich erwiderte, diese Mühe könne sie sich sparen, ich sei derzeit in einem anderen Beruf tätig. Nach einer längeren Plauderei, ich versuchte vergeblich, sie aufzutauen, fragte ich sie ganz direkt, ob es nicht andere Wege, nichtoffizielle Zugänge, also ein Hintertürchen zu diesen Akten gebe.

Sie war nicht verärgert, lächelte freundlich und sagte. »Und Ihre nächste Frage ist, ob ich Ihnen Haschisch beschaffen kann oder andere Drogen?«

Ich nickte und erwiderte: »So direkt hätte ich Sie das nicht zu fragen gewagt.«

Wir lachten herzlich, sie offenherzig, ich eher verzweifelt, dann verabschiedete ich mich.

Anfang März, an einem Samstag, rief ich Trutz an. Herr Trutz erinnerte sich augenblicklich an mich, wir verabredeten uns für den kommenden Freitag fünfzehn Uhr. Er wohnte in einem der neueren Hochhäuser der Fischerinsel, im sechsten Stockwerk. Seine Frau öffnete mir die Tür, brachte mich in sein Zimmer und fragte, ob ich Kaffee oder Tee wünschte. Herr Trutz blieb in seinem Sessel sitzen, als ich eintrat, ich erkundigte mich nach seinem Bein, er wischte die Frage mit einer Handbewegung weg und sagte, ich solle mich setzen und zuhören. Ich reichte ihm die gewünschte Wodkaflasche, er dankte und stellte sie achtlos neben seinen Schreibtisch, der in dem riesigen, alle drei Zimmerwände bedeckenden Bücherregal eingebaut war. Er bat mich, ihm zwei Broschüren von seinem Schreibtisch zu holen. Als ich sie ihm reichte, sagte er, diese beiden dünnen Büchlein könne er mir, so ich wolle, ausleihen, da würde ich das eine und andere zur Mnemonik finden, mehr gäbe es leider nicht. Ich dankte und versprach, sorgsam mit den Broschüren umzugehen. Seine Frau kam ins Zimmer und brachte eine riesige Thermosflasche mit Tee, sie habe die große Flasche genommen, um uns später nicht stören zu müssen. Sie goss mir und ihrem Mann Tee ein und verabschiedete sich mit einem Lächeln.

»So«, sagte Maykl Trutz, »fangen wir an. Ich will nicht bis in die Antike zurückgehen, vorerst nicht. Ich fange mit meinem Vater an.«

Er redete vier Stunden ohne Unterlass, ich hörte ihm zunehmend gebannt zu und schrieb in Stichpunkten mit, was er sagte. Während er erzählte, schaute er aus dem Fenster auf die Spree und das Rolandufer, nur selten sah er einmal zu mir. Um neunzehn Uhr, genau nach vier Stunden, beendete er seinen Bericht und sagte, er sei jetzt müde und nicht mehr ausreichend konzentriert. Wenn ich mehr erfahren wolle, müsse ich wiederkommen. Ich erkundigte mich, wann es ihm recht sei, und er entgegnete, er sei Rentner, Pensionist, ihm sei jeder Tag recht. Wir verabredeten uns für den sechsten März, wiederum um fünfzehn Uhr. Ich fragte, ob ich ein kleines Aufzeichnungsgerät mitbringen dürfe, einen Recorder, ich hätte nicht sein fabelhaftes Gedächtnis und beim Mitschreiben entgehe mir vieles.

»Wie Sie wollen«, sagte er.

Ich besuchte Maykl Trutz acht Mal. Bei jedem Besuch sprach er vier Stunden lang, genau vier Stunden, um dann plötzlich und ohne auf die Uhr zu schauen seinen Bericht abzubrechen, da er erschöpft sei und verbraucht, und mich rasch zu verabschieden.

Ende April sah ich ihn zum letzten Mal. Wir telefonierten danach gelegentlich, alle zwei, drei Monate meldete ich mich bei ihm, da ich noch Fragen hatte, hauptsächlich aber war ich mit jenen Vorgängen beschäftigt, zu denen nicht nur mir, sondern auch drei deutschen Gerichten vollständige Akteneinsicht verwehrt worden war. Ähnlich den damaligen Richtern würde auch ich wohl meine geplante Publikation mit einem non-liquet beenden müssen. Die Aktenlage gab keine andere Möglichkeit her oder vielmehr die Archive gaben die Akten nicht her.

Meine Zweifel gegenüber Trutz, die anfängliche Vermutung, es bei ihm mit einem jener Verwirrten zu tun zu haben, die eine fixe Idee beherrschte, die unter Zwangsvorstellungen litten und Verschwörungstheorien nachjagten, hatten sich bei meinem allerersten Besuch in Luft aufgelöst, dieser Mann hatte mein volles Vertrauen.

Im Mai 2003 rief ich Maykl Trutz an und sagte, nun würde ich mich vollständig und ausschließlich mit seinem Fall befassen und deshalb in vier Tagen nach Moskau fliegen, ich hätte mit einem Militärarchiv im Stadtteil Sewerny Verbindung aufnehmen können und hoffe, dort fündig zu werden und weitere Dokumente aufzuspüren. Ich benötigte für die neue Recherche so viele der irgendwo gesammelten Aktenstücke wie nur möglich, ich erwartete weitere Aufklärung, um alles besser zu verstehen, um die Zusammenhänge zu begreifen und verstehbar zu machen.

Für diesen Fall gab es in den deutschen Archiven keinerlei Beschränkungen, ich bekam alles, um was ich bat. Die Ausbeute war jedoch gering, weshalb ich mich auf russische Archive konzentrierte, bei denen ich jedoch auf größeren Widerstand stieß, bei fast jeder zweiten angeforderten Akte in den Archiven der sowjetischen Armee wie auch der Zweiten und Dritten Hauptverwaltung des KGB wurde mir Einsicht verweigert. Die Suche war mühsam, zweimal unterbrach ich diese Arbeit und war schon fast entschlossen, sie für immer einzustellen. Doch bei der Durchsicht meiner Gesprächsnotizen und einem wiederholten Anhören der Tonaufzeichnungen von Maykl Trutz wurde ich wieder verführt weiterzumachen.

Im Mai 2007 starb Maykl Trutz, er wurde dreiundsiebzig Jahre alt. Drei Monate zuvor hatte man einen inoperablen Gehirntumor bei ihm diagnostiziert. Im März noch hatte ich mit ihm telefoniert, am Telefon bemerkte ich, dass er Schwierigkeiten beim Sprechen hatte, doch von dem Tumor sagte er mir nichts. Auf die Traueranzeige von Annika Trutz war ich nicht vorbereitet.

Am Tage seiner Beerdigung wollte ich am Morgen mit Aeroflot über Moskau nach Tscheljabinsk fliegen, da ich endlich eine Besuchserlaubnis für das Archiv ITL erhalten hatte, in dem sich die Akten des Tscheljabinsker Besserungsarbeitslager befanden. Ich rief in dem Archiv an, konnte den vereinbarten Termin um drei Tage verschieben und auch die beiden Flüge umbuchen, um bei der Beisetzung auf dem Sophienfriedhof dabei zu sein.

Etwa fünfundzwanzig Leute versammelten sich in der kleinen Friedhofskapelle, Annika Trutz erkannte mich sofort wieder, wir hatten uns jahrelang nicht gesehen, und dankte für mein Kommen. Mit dem Requiem von Mozart wurde die Feier eröffnet, ein Mann vom Beerdigungsinstitut oder von der Friedhofsverwaltung stand an dem CD-Spieler, regelte die Lautstärke und unterbrach die Musik an einer geeigneten Stelle, damit einer der Freunde von Maykl Trutz sprechen konnte.

Zum Ende der kurzen Feierlichkeit gab es einen befremdlichen Vorgang. Vier Träger hatten den Sarg aufgenommen und schritten gemessenen Schrittes aus der Kapelle, Annika Trutz folgte ihnen, und alle anderen standen auf, um sich ihr anzuschließen. Plötzlich setzte ein Walzer ein, ein fröhlicher, beschwingter Walzer. Alle Gäste erstarrten, ich auch, und blickten erschrocken auf den Mann an dem CD-Spieler, dem offensichtlich oder vielmehr unüberhörbar ein dummer, ein höchst peinlicher Missgriff unterlaufen war, er jedoch stand seelenruhig neben dem Gerät und grinste verlegen, und da Annika Trutz sich nicht entsetzt umgewandt hatte, sondern weiter mit kleinen Schritten dem Sarg folgte, war diese Musik, dieses unpassende Operettencouplet, offenbar von ihr bestellt worden. Noch bevor die Träger mit dem Sarg die Ausgangstür erreicht hatten, ertönte die dunkle Stimme eines Tenors, in die ein heller, ein jubilierender Sopran einfiel, und während die kleine Trauergemeinde die Kapelle verließ, sangen die beiden, es sei nur der glücklich, der vergessen könne, was nicht zu ändern ist.

Am offenen Grab nahm ich eine Handvoll Erde auf und warf sie auf den Sarg von Maykl Trutz. Diesem Mann verdanke ich diesen Roman, für den ich die Archive dreier Länder aufsuchte, um seinen Bericht zu vervollständigen und um weitere Details aufzuspüren.

Ihm, Maykl Trutz, sei daher dieses Buch gewidmet.

Tatsächlich aber werde ich diesen Roman erst an dem Tag vervollständigen und wirklich beenden können, wenn, wie Rem seinem Freund Maykl schrieb, sich die Gräber auftun und die Archive geöffnet werden.

Erster Teil

1. Kapitel

Rainer Trutz, Maykls Vater, hatte als Neunzehnjähriger sein Heimatdorf Busow verlassen, eine kleine Siedlung an der Bahnstrecke, die von Ducherow und Kamp über eine eingleisige, handbetriebene Drehbrücke nach Swinemünde führte, und war nach Berlin gegangen, da der väterliche Bauernhof seinem zwei Jahre älteren Bruder Frieder übereignet worden war und ihm der Sinn nicht danach stand, sein Leben mit Feldarbeit und Viehzucht zu verbringen. In seinem Dorf und in der weiteren Umgebung gab es keine Arbeit, die ihn lockte, zumal in der gesamten nördlichen Region die Arbeitslosigkeit höher war als im restlichen Deutschen Reich.

Das einzige größere Projekt in diesem deutschen Randbezirk war ein in Planung befindliches Brückenbauwerk, eine zweigleisige Hubbrücke nach dem Vorbild der Marstallbrücke, die aber anders als die Lübecker Konstruktion nicht dem Autoverkehr und den Fußgängern dienen, sondern ausschließlich Zügen der Reichsbahn vorbehalten sein sollte. Die neue Brücke war seit längerer Zeit ein beständiges Thema der regionalen Zeitung, die Bevölkerung beteiligte sich mit teilweise deftigen Leserbriefen lebhaft an der Diskussion, die einen erwarteten von der Brücke Arbeitsplätze und eine steigende Zahl von Feriengästen, andere befürchteten, das Bauwerk würde die Küstenlandschaft verschandeln und ein in schwindelerregender Höhe dahinrasender D-Zug sei eine fortwährende Gefahr für Leib und Leben nicht allein der Reisenden, sondern auch der unter der Bahnstrecke ansässigen Mitbürger.

Der jungen Trutz sah in diesem Projekt keine zukunftsträchtige Chance für sich, denn es würden gewiss viele Arbeitsplätze entstehen, aber allein für Bauarbeiter, Schmiede, Schweißer und Eisenleger, für Berufe, die allesamt mit schwerer körperlicher Arbeit verbunden waren, wozu er nach den Jahren auf dem väterlichen Bauernhof nicht die geringste Neigung verspürte.

Er war, verbunden mit alltäglichen, halbstündigen Busfahrten, in Anklam aufs Gymnasium gegangen, und die Lesezeit im Bus wie der Schulbesuch waren für ihn die schönen Stunden des Tages. Daheim gab es immerfort etwas für ihn zu tun, er hatte kaum Zeit für die Schularbeiten, musste dem Vater im Stall und auf dem Feld helfen. Sich mit einem Buch zurückzuziehen galt als Faulenzerei und wurde gerüffelt, selbst die erforderliche Lektüre für die Schule und das Lernen der englischen und französischen Vokabeln wurde daheim ungern gesehen. Da sein älterer Bruder bereits nach der achten Klasse von der Schule abgegangen war und keinerlei Interesse an Büchern oder Musik aufbrachte, sondern von früh an sich auf dem Hof nützlich machte und dem Vater zur Seite stand, wirkten Rainers Vorlieben für Literatur und die Künste auf seine Eltern besonders befremdlich, ihr jüngerer Sohn war in ihren Augen lebensuntauglich.

Der Deutschlehrer seiner letzten drei Schuljahre war es, der die Neigungen und Begabungen des jungen Trutz erkannte und förderte, und er war es auch, der dem siebzehnjährigen Rainer zusammen mit drei anderen Schülern die Möglichkeit verschaffte, erstmals in ihrem Leben eine Theateraufführung zu besuchen. Rainers Eltern wollten ihrem Sohn diesen Theaterbesuch nicht erlauben, sie waren nicht bereit, auch nur einen Pfennig dafür zu bezahlen, so dass sein Deutschlehrer sich entschloss, die Theaterkarte wie auch das Busticket nach Stralsund für seinen begabtesten Schüler aus der eigenen Tasche zu bezahlen.

An einem Sonntagmittag fuhr er mit den vier Schülern zum Neuen Theater, wo sie Schillers Wilhelm Tell sehen konnten, eine Aufführung in einer bombastischen Bühnenlandschaft, die einen Teil des Mont-Blanc-Massivs darstellen sollte, in der es offenbar auch tätige Vulkane gab, da im Hintergrund der Berggruppe beständig Feuer und Rauch zu sehen waren. Rainer war hingerissen, und wochen- und monatelang war für ihn entschieden, Schauspieler zu werden. Er las nun vor allem Theaterstücke, suchte sich Rollen heraus, die er auswendig lernte und bei der Feldarbeit halblaut vor sich hin sprach.

Rainer beendete die Schule mit einem der besten Abiturzeugnisse, die das Anklamer Gymnasium je vergeben hatte. Nun stünde ihm jede Universität offen, versicherten ihm seine Lehrer, doch sein Vater und der ältere Bruder, der mittlerweile den Hof übernommen hatte, erklärten, ihn in dieser Zeit und bei der wirtschaftlichen Situation des Hofes mit keinem Pfennig bei einem lustigen Studentenleben unterstützen zu können. Den Eltern wie seinem Bruder schienen alle Berufswünsche von Rainer nur Tagträumereien eines Menschen zu sein, der der Arbeit aus dem Wege zu gehen suchte und seine Zeit stattdessen mit Büchern verbringen wollte. Rainer entschied sich daraufhin, das Elternhaus zu verlassen und für immer nach Berlin zu gehen.

In dieser gerühmten und aufregenden Weltstadt, in der so viele ihren Weg und ihr Glück gefunden hatten, könnte er sich wohl leichter und schneller in einem Beruf beweisen, der einer seiner Neigungen entsprach, wobei er hoffte, in der großen Stadt die nötigen Anregungen zu bekommen, um sich für eine seiner Veranlagungen und Begabungen zu entscheiden, denn noch trieb es den jungen Mann in alle möglichen Richtungen. Immer noch träumte er von einer Karriere als Schauspieler, aber er begeisterte sich tagtäglich auch für andere Berufe, sei es in einem Kunstgenre oder in einer wissenschaftlichen Disziplin, sei es die Idee, als Forschungsreisender entlegene, unerschlossene Gebiete zu betreten und fremde Kulturen und unbekannte Sprachen zu studieren oder auch nur von ihm bewunderte handwerkliche Fähigkeiten zu erlernen. Berlin, davon war er überzeugt, als er sich auf den Weg in die Hauptstadt machte, würde ihm den richtigen Weg weisen, den Weg, der ihm bestimmt war, auf dem er Erfolg, Geld und Ruhm erlangen würde.

In den ersten Wochen zeigte ihm Berlin die kalte Schulter, eine eiskalte Schulter. Mittellos wie er war, musste er die ersten Nächte in einem Obdachlosenquartier im Gewerkschaftshaus am Engeldamm zubringen. Da er nie Mitglied einer Gewerkschaft war und das Quartier den in Not geratenen und arbeitslosen Gewerkschaftlern vorbehalten war, wurde er nach acht Tagen von seinem Schlafplatz verjagt und musste notgedrungen in einem Asyl in der Krausnickstraße um einen Platz bitten. Dieses Obdachlosenquartier bestand aus zwei miteinander verbundenen Wohnkellern, in denen es keine Bettgestelle aus ungehobelten Holzlatten gab wie im Gewerkschaftshaus, hier lagen die alten und modrig riechenden Matratzen direkt auf der gestampften Erde des Kellers, eine Matratze dicht an der anderen. In der Nacht war für den jungen Trutz kaum an Schlaf zu denken, denn immerfort schrie oder fluchte einer, weil andere sich die Seele aus dem Leib husteten oder sich geräuschvoll schnäuzten. In der dritten Nacht hatte er eine heftige Auseinandersetzung mit einem Polen und einem Rumänen, die ihm die wenigen Habseligkeiten aus seinem Rucksack zu stehlen suchten, den er sich unter seinen Kopf gelegt hatte. Die beiden schlugen heftig auf ihn ein, da er den Rucksack mit beiden Armen fest umklammert hielt und sich nicht entreißen ließ. Die anderen Asylbewohner schauten dem Kampf gelangweilt zu oder brüllten ihn an, den Rucksack herauszurücken, damit endlich Ruhe einziehen könne.

In den nächsten vier Nächten schlief er auf Parkbänken, wobei er häufig von anderen Bankschläfern geweckt und verjagt wurde, die ihm versicherten, einen alten und von allen respektierten Anspruch auf den von ihm belegten Platz zu haben. In einer Nacht wurde er von zwei Polizisten, die zu Pferd den Park durchstreiften, grob von der Bank gestoßen und aufgefordert zu verschwinden, da er anderenfalls in ein Quartier komme, das sie, die Polizisten, für Leute wie ihn bereithielten.

Bereits am Tag nach seiner Ankunft hatte er eine Arbeit gefunden, zumindest glaubte er es. Eine Agentur in der Großen Hamburger Straße, deren Niederlassung den Namen »Vermittlungsinstitut und Annoncen-Expedition Chipper« trug, suchte in einem Aushang nach jungen, begeisterungsfähigen Männern mit Interesse an ungewöhnlich hohen Verdienstmöglichkeiten. Der junge Trutz betrat das Büro der Agentur und wies auf den Aushang im Fenster. Man bot ihm an, als Vertreter und Werbefachmann für sie zu arbeiten und Lose einer Lotterie und Abonnements für Zeitungen und Zeitschriften zu verkaufen. Er würde zwei bis acht Mark pro abgeschlossenen Vertrag erhalten, und er wäre ein gemachter Mann, wenn er jeden Tag auch nur zwanzig unterschriebene Verträge vorlegte, was spielend zu erreichen sei, die meisten anderen Werbefachleute, wie die Agentur ihre Türklingeldrücker nannte, schafften das Tag für Tag und es gäbe ausgefuchste Spezialisten, die vierzig und manchmal fünfzig Verträge vorweisen könnten. Jeden Vormittag müsse er zwischen zehn und elf in der Agentur erscheinen, um den Vortag abzurechnen, und dann könne er sich auf den Weg machen, um so viel Geld zu verdienen, wie er wolle. Man riet ihm, nie vor elf Uhr mit dem Abklappern der Häuser zu beginnen und nach sieben Uhr abends nicht mehr an Wohnungstüren zu klingeln, stattdessen solle er dann die Kneipen seines ihm zugewiesenen Sektors aufsuchen, bierselige Kunden wären leicht für einen der Verträge zu gewinnen.

Die in Aussicht gestellten prächtigen Verdienstmöglichkeiten lockten ihn, und er ließ sich die Mappe mit den Ansichtsexemplaren der Zeitungen und Zeitschriften sowie einen dicken Stapel von Vertragsformularen für Abonnements der Blätter und Lotterieverträge aushändigen. Auf dem im Büro aushängenden Stadtplan wurde ihm sein Sektor zugewiesen. Der Angestellte der Agentur sagte, diese Straßen seien eine reine Goldader, er müsse das Gold nur schürfen, und da er jung sei und gut aussehe, wäre das für ihn gewiss kein Problem. Allerdings gäbe es Vorgaben, die Agentur könne einen solchen Goldclaim nur erfolgreichen Verkäufern im Außendienst überlassen. Wenn er zu wenige Verträge abschließe, sei man gezwungen, diese Goldader einem anderen zuzuweisen. Er ermahnte ihn, bei seinen Werbetouren sich sauber und ordentlich zu kleiden, die Kunden höflich zu behandeln, denn er vertrete gewissermaßen die Agentur nach außen, ein falsches und unkorrektes Auftreten von ihm oder gar ein Skandal würden dem Vermittlungsinstitut angelastet werden, was die Agentur Chipper keinesfalls hinnehmen könne.

»Und jetzt viel Erfolg, Herr Trutz. Scheuen Sie nicht davor zurück, schnell reich zu werden«, sagte er zum Abschied.

Als er fünf Tage später um zehn in der Agentur Chipper erschien, teilte er dem nicht sonderlich überraschten Angestellten mit, dass er die Arbeit aufgebe. An den zurückliegenden Tagen hatte er, obwohl er von zehn Uhr früh bis in den späten Abend hinein mit der Mappe der Annoncen-Expedition unterwegs war, nicht einen einzigen Vertrag abschließen können. Er habe keine einzige Zeitung und kein einziges Lotterieabonnement an den Mann gebracht, er habe folglich nicht einen Pfennig verdient, entweder sei er für diese Arbeit nicht geeignet oder was er anzubieten habe, locke keinen hinter dem Ofen hervor. Tatsächlich war er täglich acht Stunden die Treppen hoch- und runtergelaufen, hatte sich die Tür vor der Nase zuschlagen und sich beschimpfen lassen, dreimal war ihm angedroht worden, den Hund auf ihn zu hetzen, und das Freundlichste, was er bei diesen Klingeltouren erlebte, war, dass ein älterer Mann ihm aufmerksam zuhörte, als er seine Anpreisungen vortrug, die er mit einer immer gleichen Suada beendete. Der Mann lauschte ihm offensichtlich interessiert und zustimmend, um schließlich, bevor er überraschend die Wohnungstür ins Schloss warf, überaus freundlich und mitfühlend zu ihm zu sagen: »Ach, du armes Hascherl, du!«

In den Kneipen waren die Gäste, an deren Tisch er sich setzen wollte, um ihnen eine Zeitung oder ein Los aufzuschwatzen, über ihn verärgert. Mehrmals riefen sie laut und empört nach dem Gastwirt, der, einer wie der andere, mit grimmiger Miene von der Theke herbeieilte, ihn am Kragen packte und mit dem Hinweis, sich hier nie wieder blicken zu lassen, zur Tür hinausstieß.

Der Angestellte der Agentur Chipper hörte sich schweigend die Klage von Trutz an, nahm die Mappe entgegen und ließ ihn wort- und grußlos stehen, womit dieser Traum vom leicht zu verdienenden, vielen Geld für ihn ausgeträumt war und er sich erneut nach einer Arbeit umschauen musste.

Rainer Trutz wurde immer verzweifelter, denn er sah die vielen Arbeitslosen auf der Straße, die ebenso gierig wie er händeringend eine Arbeit suchten, sich jedoch viel besser als er in der Stadt auskannten. Wie sollte er hier eine Beschäftigung finden, wenn selbst diejenigen, die seit ihrer Geburt oder seit Jahren in Berlin lebten, nichts für sich ergattern konnten. Er sah, an den Kiosken wurden die Zigaretten einzeln verkauft, und auch der Schnaps war dort glasweise zu erstehen. Die Armut war in der Großstadt deutlicher sichtbar als in seinem Dorf, wo die Arbeitslosen nicht auf der Straße standen, sondern sich in ihrem Vorgarten betätigten oder einen Feldstreifen bewirtschafteten, den sie seit Generationen besaßen und von dem sie sich halbwegs ernähren konnten. Das Elend dort war nicht geringer, aber auch in der ärmlichsten Bauernkate gab es immer etwas zu tun und ringsherum wuchsen Pflanzen und Kräuter, von denen man sich ernähren konnte, und wer von ihnen das Fallenstellen beherrschte, hatte auch jede Woche einen Braten auf dem Tisch. Der Mangel in der Stadt war bedrückender, die bedürftigen und bettelnden Menschen erschienen ihm verloren und wirkten stumpfsinnig in ihrer trüben Hoffnungslosigkeit. Wie erstarrt standen sie an den Straßenecken oder saßen in Türeingängen, eine Hand reglos vorgestreckt, warteten sie auf ein Almosen oder bückten sich rasch, um eine weggeworfene Kippe aufzulesen und dann rasch und gierig an ihr zu nuckeln.

Dennoch wollte er keinesfalls zurück. Nicht nur den Hohn und Spott des Bruders fürchtete er oder die Verachtung des Vaters, er hatte den ungeliebten, den verhassten Kleinbauernhof mit den Mistforken und dem Stall für zwei Schweine und drei Ziegen, den mit Hühnerkot gepflasterten Vorgarten und den penetranten säuerlichen Gestank, der über dem Hof lag und die Küche und alle Zimmer durchdrang, verlassen, um sich nie wieder in das Joch einer stumpfsinnigen und bedrückenden Arbeit im Stall und auf dem Feld einschirren zu lassen. Er brauchte die Stadt, die Großstadt mit ihrem wilden und anregenden Leben, die beständige Erregung, die Hast und Eile der Großstädter, die sprunghafte, pulsierende Betriebsamkeit, die Lust am Überschreiten von Grenzen, Grenzen der Moral, des Anstands, der bürgerlichen Sitten. Der rauhe Umgangston, der scharfe Witz, dem man auf der Straße und in der Kneipe ausgesetzt war, mit dem ihn selbst die Metzgerfrau und die Verkäuferin im Bäckerladen für Momente sprachlos machten, diese Weltbürger, bei denen das allerhöchste Lob, das man von ihnen hören konnte, nur in einem Da kann man nich meckern bestand, die vielen Kinos und Theater, in die man mit verbilligten Restkarten oder Billetts für Stehplätze hineinkam, und die Cabarets, Revuebühnen und Nachtbars, vor denen er minutenlang stand, um die Bilder der halbnackten Frauen anzustarren, die Fotos von Tänzerinnen, bei deren Anblick man daheim wohl in Ohnmacht gefallen wäre, all dies begeisterte ihn.

Nein, ins Dorf zurückzugehen, das kam für ihn nicht in Frage, und wenn Berlin und die deutschen Großstädte ihn verschmähten, würde er nach Amerika auswandern, nach New York, um dort sein Glück zu machen. Er könnte als Schiffsjunge oder Küchenkraft auf einem Überseedampfer anheuern, und in Amerika würde es ihm irgendwie gelingen, unbemerkt von Bord zu kommen und, legal oder illegal, amerikanischen Boden zu betreten. Eine Woche gab er sich noch, in Berlin einen Fuß auf die Erde zu bekommen, anderenfalls würde er per Anhalter nach Hamburg reisen, im Hafen nach einem Überseedampfer, einem Passagierschiff oder einem Frachtschiff, das nach Amerika ausläuft, Ausschau halten und sich anheuern lassen. So oder so, er würde es schaffen, er würde in einer großen deutschen Stadt oder im Ausland seinen Weg finden, und dann würden seine Eltern und der Bruder eine bunte Ansichtskarte von ihm bekommen, über die sie nur staunen konnten.

2. Kapitel

An seinem zehnten Tage in Berlin wurde er auf dem Bürgersteig in der Mohrenstraße von einem Auto angefahren, das aus einer Hofeinfahrt schoss. Der rechte Kotflügel einer großen Limousine riss ihn zu Boden, er schlug mit einer Schulter hart auf dem Kopfsteinpflaster auf, sein Kopf prallte auf den Bürgersteig und er blieb für Sekunden benommen und nahezu ohnmächtig liegen.

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