Gisbert Haefs
Mörder und Marder
Matzbach exklusiv bei KBV:
Acht Neuauflagen und zwei Neuerscheinungen
Mord am Millionenhügel (Juni 2012)
Und oben sitzt ein Rabe (Juni 2012)
Das Doppelgrab in der Provence (Herbst 2012)
Mörder und Marder (Herbst 2012)
Matzbachs Nabel (Herbst 2012)
Kein Freibier für Matzbach (Frühjahr 2013)
Schmusemord (Frühjahr 2013)
Feuerwerk für Matzbach (Frühjahr 2013)
Finaler Rettungskuss (Juni 2012)
Zwischenfälle (Frühjahr 2013)
Gisbert Haefs, Jahrgang 1950, lebt und schreibt in Bonn; als Übersetzer/Herausgeber verantwortlich für Borges, Kipling, Brassens, Dylan u. a., als Autor haftbar für Erzählungen, historische Romane (Hannibal, Troja, Raja, Die Rache des Kaisers, Das Labyrinth von Ragusa u. a.) und Krimis (»Matzbach«).
Die Originalausgabe erschien
1985 als Goldmann-Krimi
© 2012 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
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Umschlagillustration: Ralf Kramp
unter Verwendung von: © Pixler - www.fotolia.de
Print-ISBN 978-3-942446-51-8
E-Book-ISBN 978-3-95441-117-7
» … wurde Baltasar Matzbach als ›Universaldilettant‹ bezeichnet, der sich in die Gefilde der Kriminalistik verirrt habe. Das Etikett … beklebt einen, der von vielen Dingen zu viel weiß, um sie ernst zu nehmen, zu wenig, um von ihnen ernstgenommen zu werden, und genug, um Experten zu bluffen und Laien zu amüsieren. … Ein Bekannter mutmaßte auch, B. M. leide (?) an Elephantiasis der Seele. Interessanter sind jedoch andere Aspekte, so z. B. Matzbachs verwegene Verfressenheit; wie zu Zeus Sein Donner und zu Jehovah Sein Zorn gehört zu Baltasar Sein Wanst. Immerhin kann er es sich seit vielen Jahren leisten, Hecht zu essen und zum folgenden Fleischgang einen Grand Cru zu trinken. Er wuchs nach dem Verscheiden seiner Eltern bei Verwandten auf und studierte später Philosophie und Atomphysik. Dabei erfand er etwas für ein Betatron, so kompliziert, daß er es selbst schon längst nicht mehr erklären kann, aber das Patent wird international verwendet und wirft einiges ab; anschließend wandte Matzbach sich der Musik zu und komponierte ein bißchen, darunter einen vollendet schwachsinnigen Schlager, der noch immer läuft und zwei- bis dreimal pro Jahr neu aufgenommen wird, und so schickt die GEMA ihm bisweilen einen freundlichen Scheck. Ein Hauptgewinn im Lotto sorgte 1962 dafür, daß Baltasar aus dem Gröbsten heraus war. Er investierte klug und ergab sich der sinnlosen Bildung, wobei er von den exakten zu den diffusen Gebieten überging; so stammt aus seiner Feder ein in Fachkreisen geschätztes Werk über Monotheistische Strömungen des inselkeltischen Druidentums.* Einige Jahre hielt er sich an der bretonischen Nordküste auf, bevor die touristische Völkerwanderung sie verwüstete, und weilte dort als Mäzen und Manager junger Künstler, Veruntreuer von frühen Touristinnen und Privatdozent gegen Okkultismus. Dabei verfaßte er zwei weitere Standardwerke: Schamanistische Einflüsse in die Analekten des Konfuzius* und Sexualpathologische Aspekte der Psychokinese.* Und tat zahllose weitere unsinnige Dinge, die ausnahmslos zu Gold wurden (er habe, behauptet er, in dieser Beziehung etwas durchaus Eselhaftes an sich). Jahrelang verdiente er sich ein regelmäßiges Zubrot mit seinem Kummerkasten Fragen Sie Frau Griseldis; außerdem droht irgendwann die Veröffentlichung seines geheimen Hauptwerks Der Leichnam in der Weltliteratur. (Die Mutmaßung, seine detektivischen Aktivitäten seien nur ein Vorwand dafür oder umgekehrt, ist nicht von der Hand zu weisen.) …«
* Alle Titel erschienen im Verlag für Enzyklopädische Geisteswissenschaften (Edinburgh – Simla – Wachtendonk – Córdoba – Beaune).
Es gibt einen Grund dafür, Käsekrusten in einem Pizzaofen anzuheizen.«
Matzbach sagte es ohne Betonung; wie man Feststellungen über die jedem ersichtliche Qualität des Wetters macht. Es war ein trüber Tag, nicht ungewöhnlich für Bonn im Frühling, Sommer, Herbst oder Winter; die Jahreszeit war unentschlossen. Anfang März, laut Kalender und Zeitung, aber für Winter zu mild (»dätschig«), für Frühling zu klamm (»uselig«). Baltasar trug sich entsprechend; eine undefinierbare Hose lugte aus dem Trenchcoat, der mit Matzbach etliche Nächte in einem Schützengraben zugebracht haben mochte, und der Stetson hockte auf Baltasars Kopf wie eine Meise auf einem Kürbis.
Henry Hoff zwinkerte. Er kannte derlei Begrüßungen. »Das mag sein. Obwohl du auch ›Guten Tag‹ sagen könntest oder ›Wie geht es dir?‹ oder so was.«
Matzbach blies Luft durch seine wulstigen Lippen; es klang wie ein schlapper Helikopter. »Nein. Ich weiß, wie es mir geht, und dieser Tag ist nicht gut.« Dann überflog er Hoffs Äußeres, den kühn vom Halse tropfenden schwarzen Schal, die Wildlederjacke, die hellbeige Breitkordhose und blickte in die Augen, deren Linsen kontaktfreudig glommen. »Du hast offenbar Geld gefunden und dich neu eingekleidet. War das nötig?«
Hoff machte eine großartige Geste, die an der Treppe des Alten Rathauses begann und, nach einem Halbkreis über Kopf, bei den Gemüseständen des Wochenmarktes endete. Dazu benötigte er beide Arme. Er öffnete den Mund.
»Übst du Fliegen?« erkundigte Baltasar sich blitzschnell.
»Das wäre eine Möglichkeit, dir zu entgehen. Was ich sagen wollte ist: Alles ist nötig. Der Markt und die Welt und meine neue Hose. Nur für dich sehe ich keine Notwendigkeit.«
Matzbach grinste. »Aha. Du übst also nicht Fliegen, sondern positives Denken, ja?«
Seit dem Ende ihrer gewinnbringenden, dramatischen Rutschpartie auf dem Eis vor Sankt Peter-Ording* waren sie einander nicht mehr in die Quere gekommen. Diese Veranstaltung hatte jedem Beteiligten an die 100.000 DM eingetragen.
»Drei Monate lang«, sagte Hoff dumpf, »war mein Leben frei von deinen Sprüchen, deinem Benehmen und überhaupt deiner Existenz. Es war herrlich. Wollen wir einen Cappuccino trinken?«
»Wenn du mich einlädst. Ich habe zuviel Geld für solche billigen Vergnügen.«
Henry nickte und zupfte am Ärmel des Trenchcoats. »Na, dann kommen Sie, Mister Sherlock Marlowe, oder wie immer Sie in diesem Gewand heißen.«
Im Snobcafé am Römerplatz setzten sie sich aufs Podest neben dem Eingang. Matzbach entglitt seinem Trenchcoat, dessen Taschen mit Utensilien gefüllt waren; der Kleiderständer schwankte. Den Hut behielt Baltasar auf dem Kopf. Draußen blieben zwei halbwüchsige Jungen stehen, deuteten durch die Scheibe auf ihn und krümmten sich vor Lachen.
Baltasar preßte seine Nase gegen das Fenster. »Bastarde und Wechselbälger, ihr zwei. Habt ihr noch nie eine Hinterglas-Ikone gesehen?«
»Sei mild gegen sie«, sagte Hoff. »Sie können dich nicht hören.«
Eine schlanke, blonde Kellnerin in schwarzem Wams mit weißer Schürze kam, stellte einen frischen Aschbecher hin und erkundigte sich nach den Wünschen der Herren. Baltasar streckte seine Pfote aus und zupfte an der Schürze.
»Ein nettes Schlabberlätzchen haben Sie da, Madame«, sagte er. Dann entdeckte er ihre abgekauten Fingernägel und schwieg erschüttert.
»Zwei Cappuccino«, sagte Hoff.
»Und zwei Cognac«, knurrte Matzbach.
»Einen. Ich trinke so früh keinen Alkohol.«
»Also zwei Cappuccino und drei Cognac. Für mich. Und was willst du, Henry? Einen Cappuccino? Mit Strohhalm?«
Sie ergaben sich diffusem Schweigen, bis die Kellnerin mit drei Cappuccino und drei Cognac wiederkehrte. Demonstrativ zahlte Hoff mit einem Fünfhunderter.
»Ist das der Rest von der Beute?« sagte Baltasar.
»Nein, es ist noch etwas mehr da. Ich bin doch nicht du. Wie soll ein Mensch mit normalen Gewohnheiten in drei Monaten hunderttausend Mark ausgeben?«
Matzbach betrachtete den ersten leeren Schwenker, spülte mit Cappuccino nach und leckte sich die sahnigen Lippen. »Wohl wahr. Aber mit normalen Gewohnheiten wäre ich nicht in die Lage gekommen, aus der du mit hunderttausend entronnen bist.«
Hoff nickte stumm.
»Und mehr als eine neue Hose ist nicht daraus geworden?«
»Doch. Ich bin nicht mehr arbeitslos.«
Matzbach beugte sich interessiert vor; der Stetson rutschte nach hinten. »Ah. Oh. Hast du eine Firma gekauft, wo man dich jetzt zum Dank Nachtwächter spielen läßt?«
»Selbst für deine Verhältnisse bist du heute ungewöhnlich bösartig. Was ist dir über die Leber gelatscht? Eine Laus mit Holzschuhen?«
Matzbach winkte ab. »Meine Leber geht dich einen feuchten bräunlichen Haufen an. Womit vertreibst du die Zeit, die dich ohnehin flieht?«
Hoff zog ein Päckchen Pall Mall aus der Jacke und legte es auf den Tisch. »Mit Rauchen und Denken.«
Matzbach griff zum zweiten Schwenker. »Das ist gut. Damit richtest du keinen Schaden an, außer wider dich. Immerhin brauchst du nicht mehr selber zu drehen.«
Hoff zündete sich eine Zigarette an, blies eine Rauchfahne gen Baltasars Nase und rührte in seinem Cappuccino. »Ja. Soll ich mich jetzt bedanken, weil du mich auf diese Nordlandreise mitgenommen hast?«
»Nein, nein. Du hattest Urlaub verdient. Du bist mir zwar nicht nützlich gewesen, aber man soll nicht nachtragend sein. Was hast du mit dem Geld angestellt?«
Hoff bildete mit den Händen einen Schalltrichter. »Ich hab mich selbständig gemacht«, flüsterte er.
»Als was?«
»Als Philosoph.«
Matzbach grinste, dann kicherte er. »Gut. Das finde ich sehr schön. Und wie? Hast du dir eine Tonne angeschafft und läufst jetzt zweimal täglich, außer sonntags, mit einer Taschenlampe durchs Bonner Regierungsviertel auf der Suche nach Menschen? Ich sage dir gleich: Es gibt dort keine.«
»Ich weiß. Ich kenn deine Einstellung. Bitte erspar mir Vortrage über Politiker und Beamte.«
»Ganz wie Sie wünschen. Aber wo philosophierst du denn?«
Hoff verschränkte die Arme. Er schob die Unterlippe vor; die Zigarette richtete sich auf, als sträube sie sich. »Ich weiß nicht, ob ich dir das sagen soll. Nachher behelligst du mich wieder dauernd. Es gibt Leute, denen sollte man weder Adresse noch Telefonnummer mitteilen.«
»Anschrift und Nummer des Fernsprechanschlusses. Wenn du schon kategorische Erlasse absonderst, dann bitte auch im entsprechenden Kauderwelsch.«
Henry legte die Zigarette in den Aschbecher. »Ja, ja, ja. Is ja gut. Also: Ich bin jetzt freier Philosoph. Mit einer Praxis zwischen Ärzten und Anwälten in der Cassius-Bastei.«
Matzbach kniff ein Auge zu; dann trank er den ausreichend geschwenkten zweiten Cognac und leerte die angefangene Tasse. »Du willst mich auf den Arm nehmen, wie?«
»Bei deinem Gewicht?« Hoff zog die Brieftasche, zückte eine Visitenkarte und legte sie auf Baltasar an.
Der Dicke nahm das Stück Bütten und las:
HENRY HOFF
PHILOSOPH
Cassius-Bastei
Bonn
Dann ergriff er den dritten Cognac und schnüffelte, ohne zu trinken. »Ich bin sprachlos; kein Wort fällt mir dazu ein.«
Hoff nickte. »Sehr gut. Dich sprachlos zu sehen war schon lange mein Wunsch.«
»Und wie machst du das, mit dem Philosophieren?«
»Ach, das ist ganz einfach. Ich werde in der nächsten Ausgabe des Branchenverzeichnisses als Philosoph stehen, mit Nummer und Sprechstunden. Bis jetzt sitz ich in meiner Praxis und berate Laufkundschaft.«
»Du willst doch nicht im Ernst sagen, du hast so ein ulkiges Blechschild vor der Tür, darauf steht Philosoph, und orientierungslose Menschen, die zum Einkaufen in die City pilgern, kommen einfach so auf einen Schwatz bei dir vorbei?«
»Doch, genau das tun sie. Ich hab kurz vor Weihnachten damit angefangen, also ungefähr zweieinhalb Monate Erfahrung, und ich kann dir sagen: Es läuft.«
Matzbach bestand darauf, mehr zu erfahren. Nachdem sie ihre Getränke verbraucht hatten, machten sie sich auf den Weg zur Cassius-Bastei, einem weitläufigen Bunkerkomplex aus Rigips, in Bahnhofsnähe; Gruppen ansehnlicher Altbauten hatten dafür sterben müssen.
Im zuständigen Aufzug prangte Hoffs Name an einem Schildchen neben dem Knopf für die entsprechende Etage. Sie gingen einen mit Teppichboden ausgelegten Flur entlang.
Schließlich blieb Hoff stehen, deutete auf eine Mahagonitür, das Schild neben der Klingel und sagte triumphierend: »Da!«
Das Büro bestand aus einem großen Raum mit englischem Eibenschreibtisch, Chefsessel, zwei Kundensesseln aus weichem Leder und einer Couch. An den Wänden zogen sich Eichenregale hin, die erst zum Teil gefüllt waren. Baltasar wanderte umher und überflog die Titel auf den Buchrücken.
Hoff sah ihm vergnügt zu. »Dir ist natürlich klar, daß ich mir so endlich alle erstklassigen Ausgaben der tausend Denker anschaffen kann, nicht wahr? Arbeitsmaterial, unbedingt notwendige Fachliteratur. Mein Steuerberater meint, auch die siebenunddreißig Bände Plinius gehören zu den nötigen Aufwendungen.«
Matzbach hielt eben einen der alten Bände der lateinischfranzösischen Parallelausgabe der Naturalis Historia in der Hand und rümpfte die Nase. Es sah aus wie Verachtung, war aber der pure Neid.
Auf einer Kommode nahe dem großen Schreibtisch stand die lebensnotwendige Kaffeemaschine; Hoff tätschelte sie. »Hm?«
Matzbach nickte, ohne hinzusehen. »Hm!«
Hoff nahm die Glaskanne und ging ins Bad, in dem neben Dusche, Toilette und Waschbecken gerade noch Platz für einen Getränkekühlschrank war. Er füllte die Kanne mit Wasser, holte Filterpapier und Kaffee aus einer Schublade der Kommode und zelebrierte dies alles wie eine große Amtshandlung.
»Hast du auch was, um den Kaffee zu verdünnen?«
Hoff deutete auf ein Kabinett zwischen den Büchern.
Matzbach öffnete es, musterte die Etiketten und fischte einen Gran Duque de Alba heraus. »Respekt. Habe die Ehre. Respekt.«
Hoff setzte sich in seinen Chefsessel und legte die Beine auf die grüne Lederplatte des Schreibtischs. »Sie dürfen sich setzen, Herr Kollege.« Er deutete auf einen der Sessel.
Matzbach stellte die Flasche ab, holte aus dem Kabinett ein Whiskyglas, füllte es bis zur Hälfte mit Brandy und versenkte sich in dem weichen Leder. »Schön haben Sie es hier.« Er roch an dem Getränk. »Gutes Frühstück. Aber den Kollegen verbitte ich mir. Ich bin schließlich kein ziellos denkender Philosoph, sondern ein erfolgreicher Detektiv.«
Henry wackelte mit den Füßen. Auch die unauffällig eleganten Lederschuhe waren neu. »Wieso nur Detektiv? Du bist doch auch Berater in allen Lebensfragen, oder? Hast du etwa Frau Griseldis abgegeben?«
Matzbach seufzte. »Nein, noch immer nicht. Die zahlen zu gut. Ich brauche das Geld zwar nicht, aber ich habe mich an den wöchentlichen Tausender so gewöhnt, daß ich ihn vermissen würde.«
Die Kaffeemaschine gluckerte. Hoff veränderte durch gekonnten Hüftschwung seine Position, griff in eine Schreibtischschublade und holte ein Kästchen hervor. »Ich hab damit gerechnet, dich früher oder später hier begrüßen zu müssen.« Er schob das Kästchen über die Platte. »Du hast, seit wir uns getroffen haben, noch nicht geraucht. Hast du etwa aufgehört?«
Matzbach schüttelte den Kopf. Er schnupperte mit geblähten Nüstern an den Partagás, nahm einen kleinen Mundvoll Brandy, gurgelte, bis er die kubanische Spitze abgeschnitten hatte, schluckte, riß ein Streichholz an und begann zu nuckeln. Schwerer, süßlicher Duft füllte den Raum. Baltasar rülpste mächtiglich.
»Ach ja. So. Und nun erzähl mir doch mal, wie du darauf gekommen bist, und wie das im täglichen Einsatz aussieht.«
Hoff verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Tja, im Prinzip war das doch ein naheliegender Gedanke, oder? Alle möglichen Irren verkaufen anderen Irren irre Ratschläge. Wie man Migräne los wird. Wie man sein Geld los wird. Wie man das perfekte eheliche Glück erreicht, ohne zu heiraten. Dann die Kanaillen, die seit Jahrhunderten erläutern, wie man den perfekten Staat einrichtet, in dem keiner es aushallen kann. Angefangen bei Plato. Addiere die ganzen Gurus und Sekten, die sich zur Zeit breitmachen, vom großen reisenden Guru in Rom bis zu Scharlatanen wie Bhagwan. Oder Hubbard, der mit Science-Fiction nicht genug verdient hat und sich jetzt von Mitläufern und Heilssuchern seine erstunkene Religion finanzieren läßt. Da hab ich dann gedacht, daß offenbar ein großer Bedarf an Rat und Hilfe besteht.«
»Wohl wahr. Wie du auch in meinem Fall siehst.«
»Na ja, also, Fragen Sie Frau Griseldis find ich nicht besonders hilfreich. Aber jedenfalls herrscht Bedarf. Und da hab ich mir gedacht, wenn finstere Ärsche das ausnutzen, indem sie Nonsens vertreiben und sich dafür bezahlen lassen, warum soll ich es denn nicht auch ausnutzen und den Leuten die klugen Dinge näherbringen, die weise Menschen der letzten Jahrtausende über ihr spezielles Problem gesagt haben?«
»Ja. Warum nicht? Ich habe aber in deinen Regalen auch Wittgenstein, Heidegger und Konsorten gesehen. Wen willst du denn damit trösten?«
»Vielleicht ergibt sich sogar eine praktische Rechtfertigung für die Existenz von Adorno. Wer weiß.«
Matzbach zitierte einen Satz des amerikanischen Satirikers Tom Lehrer über zeitgenössische Philosophen, die ihre hilfreichen Ratschläge besonders gern gegen jene Leute richten, die glücklicher sind als sie.
»So ungefähr.« Hoff nickte. »Aber die Vorstellung, Philosophie sei etwas Hilfreiches, ist antiquiert.«
»Ja. Sie findet sich allenfalls noch bei Menschen, wogegen Philosophen und Professoren nichts davon wissen wollen.«
»Nun laß doch mal diese Spitzfindigkeiten. Sind Philosophen und Professoren vielleicht keine Menschen?«
»Nicht eigentlich. Man muß unterscheiden zwischen homo sapiens, dem Angehörigen einer aussterbenden Rasse, und homo doctus, dem Außenseiter einer aussterbenden Rasse. Professoren und Philosophen gehören letzterer Sorte an. Sie befassen sich in unverständlichem Jargon mit Dingen, für die sich keine Sau interessiert und die nichts bewegen, während die armen Säue immer noch der Meinung sind, man müsse vor ihnen Respekt haben, denn sie hülfen vielleicht.«
Hoff warf der langsamen Kaffeemaschine einen verzweifelten Blick zu.
»Aber letztlich«, setzte Baltasar düster hinzu, »hülfe es ja doch keinem, selbst wenn ein Jegliches seine Zeit hätte und von Rost und Motten Zerfressenes gewönne, dort, wo Heulen ist und der dreißigste Silberling mit seinem letzten Zahn knirscht, ob er ihn auch verlöre.«
Hoff schluckte etwas Größeres herunter und stand auf; er belauerte die letzten Tropfen, die in den Filter stürzten.
»Übrigens eine interessante Frage, die ich mir als Greis einmal stellen werde. Ob man mit einem Zahn noch knirschen kann? Wieso nicht? Ich kenne auch Leute, die mit einem Auge noch schielen.«
Die Aromen von Partagás und Kaffee rangen um die Vorherrschaft. Hoff füllte zwei Becher und stellte Baltasar einen unter die Nase. »Sauf und schweig«, sagte er. »Jedenfalls hab ich mir gedacht, wenn so viele Verbrecher Unsinn als Rat verkaufen und dabei doch nur Geld und Macht haben wollen, verzichte ich gern auf Macht und nehme Geld für philosophische Perlen, die alt und ehrwürdig sind. Einige sind sogar ausgesprochen hilfreich.«
Matzbach gestikulierte mit der Zigarre, deutete auf ein Regal, in dem Seneca, Epikur, Albertus Magnus und die Autobiographie von Giambattista Vico sich vertrugen. »Du sitzt also hier herum, bis jemand vorbeikommt, der ein Problem hat, und dann sagst du ihm, was die hilfreichen Älteren dazu zu sagen haben?«
»So ungefähr. Immerhin hab ich ja Philosophie studiert.«
»Und lange genug arbeitslos warst du auch. Ja, ich gebe zu, das ist ein guter Einfall. Die Rückführung der Philosophie zu ihrer eigentlichen Aufgabe. Seit sich die Bastarddisziplinen Sozio-, Psycho- und Sonstwaslogie von der Allmutter Philosophie gelöst haben und abgehoben um sich selbst kreisen, wie? Wo hat der Satz angefangen? Jedenfalls, seit sich die Philosophie aufgespalten hat, hilft von alledem nichts mehr. Das ehemals Hilfreiche an ihr hält sich für eigenständige Wissenschaft, statt für hilfloses Tasten in der Finsternis, und der Rest ist impotente Theorie. Nein, ich sage ja. Prost. Auf dein Wohl. Und hat es schon angefangen zu laufen?«
Hoff nickte, lächelnd. »Ich will nicht deine schlechte Meinung über die Psychologie bekräftigen, wenn ich jetzt nicke. Aber ja, es läuft schon ganz gut.«
Baltasar grunzte. »Psychologie ist der Versuch, dem Menschen einzureden, daß er sie brauche. Matzbach. Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält. Kraus.«
»Wie hält Ariane das nur so lange mit dir aus?«
Baltasar schloß die Augen. »Hält sie ja gar nicht. Aber es ist schön, daß es bei dir läuft. Wie sieht das Laufen denn aus?«
Henry starrte ihn an. »Wieso hält sie gar nicht? Habt ihr Schluß gemacht?«
Baltasar öffnete ein Auge. »Sie meinte, anderthalb Jahre mit einem Ungeheuer reichen. Wir werden hinfort gelegentlich Kaffee trinken. Finis. Also, wie ist das mit dem Laufen?«
»Aber wieso denn? Ihr seid doch so gut miteinander ausgekommen?«
»Hör auf, in meinem Gemüt stochern zu wollen«, sagte Matzbach. Er öffnete nun auch das zweite Auge. »Ich habe keins.«
Hoff nickte ergeben. »Ich weiß. Trotzdem – was wäre ich für ein Freund, wenn ich nicht Anteil an deiner Seele nähme? Nun erzähl doch schon, Mensch.«
»Meine Freunde sind mir zu schade, um sie mit meinen Innereien zu behelligen. Hast du viel Kundschaft?«
Hoff seufzte. »Es geht. Manchmal ruft jemand an, aber häufiger kommt einfach einer rein, setzt sich da hin, erzählt mir, was er auf der Seele hat, ich sage ihm, was Seneca oder Heraklit oder Augustinus dazu meinen. Dann nehme ich einen Fünfziger entgegen, und ein erleichterter Klient verläßt den Raum.«
»Erleichtert ist zweideutig.«
»Ich meine: seelisch erleichtert. Es ist erstaunlich, wie viel Hilfreiches sich bei den alten Denkern finden läßt. Und wie wenige Leute sie gelesen haben.« Er grinste und holte eine Art Rezeptblock aus einer Schublade. »Hier. In schwierigen Fällen schreibe ich Autor und Titel auf. Senecas Briefe an Lucilius sind in letzter Zeit in Bonn gut verkauft worden. Man hat sich darauf eingestellt und hält sie vorrätig.«
»Und du findest nicht, daß du Hilfesuchende ausbeutest?«
»Keineswegs, mein Lieber. Erstens zahlst du mehr, wenn zum Beispiel ein IBM-Mechaniker deine Schreibmaschine repariert, und vielleicht ist mein Magister nicht mehr wert als sein Diplom, aber auch nicht weniger. Zweitens ist das keine Forderung, sondern ein Angebot. Ich sage nur: ›Wenn Sie meinen, ich hätte Ihnen geholfen, dann nehme ich gern fünfzig Mark entgegen. Wenn nicht, bedaure ich, Ihnen nicht geholfen zu haben.‹ In diesem Fall nehme ich auch kein Geld.«
»Nobel.«
»Nein, ich finde das normal.«
»Das hängt von der Definition ab.« Matzbach betrachtete mißmutig die Zigarre; sie war erloschen. »Norm wäre dann etwas, an das sich keiner hält.«
»Von mir aus. Jedenfalls habe ich zur Zeit vier bis sechs Klienten pro Tag. Ich schreib ihnen nicht vor, was sie zu tun haben; ich red ihnen keine Verdrängungsdisziplin ein, sondern sag ihnen, was andere zu diesem Thema gedacht und gesagt haben. Und zwar durchaus widersprüchlich. Das heißt, ich gebe keine vorgefertigten Antworten, sondern verschiedene Handwerkszeuge, mit denen sie sich selbst helfen können.«
Matzbach zündete die Zigarre wieder an. »Mir gefällt das. Das ist eine gute Sache. Sie könnte mir eingefallen sein.«
Hoff füllte Kaffee nach. »Sag mal – also, du und Ariane, das ist zu Ende? Wirklich? Nicht nur vorübergehend?«
Matzbach stand auf und ging zu einem der Regale. »Sieh da. Leisegangs Gnosis – seit Jahren versuche ich, sie antiquarisch zu kriegen. Und du hast das Buch. Warum legen die Affenärsche das nicht endlich mal neu auf?«
Hoff zupfte an seinem Ohrläppchen. »Mir fällt gerade was ein«, sagte er, beinahe aufgeregt.
Matzbach warf ihm einen mißtrauischen Blick über die Schulter zu.
»Hab ich dir mal von den Wochenenden im Westerwald erzählt?«
»Nein.«
»Ah. Paß auf, das ist so. Ein paar Leute, alte Kommilitonen. Wir haben alle diese brotlose Kunst studiert und uns damals in dem Haus im Westerwald aufs Examen vorbereitet. Es gehört einem Onkel von einer von uns.«
»Bei so viel ›vons‹ müßtet ihr adlig sein.«
»Har-har-har. Das war vor einigen Jahren. Es war eine sehr – hm, abwechslungsreiche und amüsante Zeit. Vier Frauen und vier Männer.«
»Ja. Soll ich jetzt die Anzahl der möglichen Varianten berechnen?«
»Quatsch. Seitdem treffen wir uns jedes Jahr, am ersten Märzwochenende. Freitag fahr ich hin. Manchmal bringen wir noch Gäste mit. Hast du nicht Lust, mitzukommen?«
Baltasar stellte das Buch zurück. »Meinst du, ich sei der Zerstreuung unbedarft bedürftig?«
Hoff hob die Hände über den Kopf. »Mann, nun dreh doch nicht jeden Gedanken siebenmal um. Ich dachte nur, es könnte dich interessieren. Ich bin nämlich von der Truppe der letzte, der einen Beruf erfunden hat. Die anderen sind längst in merkwürdigen Tätigkeiten befangen.«
Baltasar verzog das Gesicht. »Paß auf deine Bilder auf, sonst verhedderst du dich. Was für merkwürdige Tätigkeiten?«
Hoff gluckste. »Oh, da haben wir eine hochbezahlte Portraitrice, die alles mögliche kann, nur nicht malen. Einen Auftragsdichter. Einen Tierverleiher. Eine Hexe …«
»Moment. Du willst sagen, alle haben, ach, Philosophie sinnlos studiert und sich hinterher Berufe einfallen lassen, die es nicht gibt?«
»Genau. Und wir treffen uns am Freitag, irgendwann am frühen Nachmittag, in einem Haus im Westerwald, um Geschichten auszutauschen und uns an die alten Zeiten zu erinnern.«
Matzbach lächelte jäh. »Geschichten. Das klingt gut. Wilde Geschichten? Bizarre Geschichten?«
Hoff sah ihn lauernd an. »Ja. Kommst du mit?«
Das Lächeln wich einer Grimasse. »Nur, wenn du keine Hintergedanken in Richtung Seelentröstung hast.«
Hoff seufzte. »Dummes altes Chamäleon. Wie könnte ich? Ich glaube nur, es wäre für dich ganz interessant. Für uns auch. Da sind einige Leute, mit denen du dich bestimmt hervorragend mißverstehst. Ein schönes Wochenende mit Streit, Wortgefechten, Schlägereien und anderen Zerstreuungen. Na?«
Matzbach spitzte den Mund. »Jo. Ich habe aber im Moment keinen Wagen. Und dich im Verdacht, daß du mich mal wieder nur als Chauffeur anheuern willst.«
Hoff war empört. »Mal wieder nur als Chauffeur … Wer hat dich denn in deinem komischen alten Citroën gefahren? Du mich oder ich dich?«
»Du mich auch. Aber den Wagen gibt’s nicht mehr. Das Packeis von Sankt Peter-Ording hat ihn verschlungen.«
»Packeis schlingt nicht. Aber das ist dir ja egal. Wieso hast du kein neues Auto? Bist du drei Monate lang zu Fuß gegangen? Kein Geld?«
Matzbach klopfte auf seinen umfänglichen Leib. »Seh ich so aus? Nein. Ich habe in den letzten Zeiten Mietwagen verschiedenster Fabrikate gelenkt, aber nichts gefunden, was mich befriedigt. Und weil ich mir einen Rolls leisten könnte, bin ich wählerisch, also kommt Rolls nicht in Frage.«
»Du solltest mich mal konsultieren, was formale Logik angeht. Das ist eine philosophische Disziplin, weißt du. Wieso hast du dir denn keine neue Pallas angeschafft?«
»Gibt’s nicht«, knurrte Baltasar. »Die alten, das war wie Omas robuste gute Stube auf Rädern. Die neuen, das ist wie Helikopter mit Rundum-Armaturen. Furchtbar. Nein, will ich nicht.«
»Wir können mit meinem Ford fahren.«
Es klingelte. Matzbach runzelte die Stirn; Hoff stand auf und ging zur Tür. Ein Mann in grauem Flanell stand auf dem Korridor, einen Übergangsmantel über den Arm.
»Sind Sie der Philosoph?« Dann sah er Matzbach. »Oh, Sie haben schon jemanden in der Sprechstunde ...«
Hoff lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist ein Bekannter. Er wollte sowieso gerade gehen. Kommen Sie, setzen Sie sich.«
Baltasar stand auf, leerte seinen Brandy, warf die Zigarre in den Aschbecher und stapfte zur Tür.
»Eh, also Freitag. Ich hol dich ab«, sagte Hoff.
»Bestens«, murmelte Matzbach. Er packte den Türknopf.
»Moment noch«, rief Henry. »Vorhin hast du was über Käsekrusten und Pizzaöfen gesagt.«
»Habe ich das? Ach so, ja, es gibt einen guten Grund dafür, Käsekrusten in einem Pizzaofen anzuheizen. Ja.«
Der Flanellkunde blickte besorgt zwischen beiden hin und her.
»Und der wäre?« Hoff biß sich auf die Unterlippe, um nicht laut zu lachen.
»Ich kenne ein Lokal«, sagte Baltasar verträumt. Er tätschelte liebevoll seine Wampe. »Ein italienisches, um nicht zu sagen italisches. Dort gibt es köstlichen, uralten, steinharten Parmesan. Man kann ihn nur essen, indem man ihn mit den Backenzähnen bröckchenweise bricht und malmt. Die Kruste ziehe man sich langsam und genüßlich zwischen den oberen und unteren Schneidezähnen hindurch, um nicht das Beste zu missen. Wenn man die steinigen Krusten dann in den Pizzaofen legt, etwa fünf Minuten lang, dann kann man sie noch einmal warm und weich ablutschen. Großartig.« Damit ging er.
Als die Tür ins Schloß gefallen war, blickte der Ratsuchende Hoff an. »Haben Sie viele solche Freunde?«
Hoff grinste. »Glücklicherweise nicht.«
»Hinter Kirburg links ab; ich sag Bescheid.« Hoff lehnte sich zurück. Matzbach hielt den Ford-Kombi in der Linken; mit der Rechten lenkte er den Brasil-Stumpen zwischen Mund und Aschbecher hin und her.
»Fuchskaute«, sagte er bedächtig.
»Was kaute der Fuchs?«
»Dummkopf. So heißt der höchste Berg in dieser verlassenen Gegend. Scchshundertsiebenundfünfzig Meter.«
»Ach so.«
»Ja.«