Ärger, Wut und Zorn:
Wie „negative“ Gefühle
zur positiven Kraft werden
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
The Other Side of Lovc
© 1999 Moody Press, Chicago/Illinois
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ulrike Zellmer
Lektorat: Petra Hahn-Lütjen
4. Auflage 2012
1. Taschenbuchauflage
© 2000 Brunnen Verlag Gießen
www.brunnen-verlag.de
Umschlagmotive: Olaf Johannson,
Miguel Angel Salinas/Shutterstock.com
Umschlaggestaltung: spoon design, Olaf Johannson
Autorenfoto: Mike Apple
Satz: DTP Brunnen
ISBN 978-3-7655-4149-0
eISBN 978-3-7655-7153-4
Zum Thema
Ärger, Wut und Zorn verstehen und konstruktiv damit umgehen
1 Warum werden wir ärgerlich, wütend oder zornig?
2 Was ist Sinn und Zweck von Ärger, Wut und Zorn?
3 Wie kann Ärger produktiv werden?
4 Was ist entstellter Ärger?
5 Wie man mit entstelltem Ärger gut umgehen kann
6 Was tun, wenn Ärger nach außen oder nach innen explodiert?
7 Wie man mit angestautem Ärger gut umgehen kann
8 Ärger, Wut, Zorn … und die Vergebung
9 … und die Ehe
10 … und die praktische Kindererziehung
11 … auf Gott
12 ... auf sich selbst
13 Wie man mit Menschen voller Ärger gut umgehen kann
Epilog: Gottes Wesen in uns
Wenn Sie in Ihre Stadtbücherei gehen, werden Sie dort sicher einige Bücher zum Thema Ärger, Wut und Zorn finden. Wenn Sie das Jahresregister von Zeitschriften anschauen, werden Sie feststellen, dass alle großen Magazine im Lauf der letzten zwölf Monate Beiträge zu diesem Thema gebracht haben. Warum also ein weiteres Buch darüber schreiben?
Zwei Gründe bringen mich dazu. Erstens: Die meisten Veröffentlichungen zum Thema lassen zwei grundlegende Fragen außer Acht:
1. Was ist der Ursprung von Ärger, Wut und Zorn? und
2. Was ist der Sinn und Zweck von Ärger, Wut und Zorn?
Warum also empfinden Männer und Frauen Gefühle von Ärger, von Wut oder Zorn?
Die beiden Fragen oben gehören zusammen: Erst, wenn wir den generellen Ursprung von Ärger verstehen, können wir den Sinn und Zweck von Ärger begreifen.
Und das ist wichtig, wenn wir lernen wollen, mit unserem Ärger konstruktiv umzugehen.
Die – wenigen – Bücher und Artikel, die die Frage nach dem Ursprung von Ärger, Wut und Zorn aufgreifen, sehen in diesen Gefühlen in der Regel eine Überlebenstechnik, und zwar eine Überlebenstechnik der frühesten evolutionären Entwicklung des Menschen. Die Natur habe dem Menschen das Gefühl von Ärger gegeben, heißt es, damit er in Zeiten der Gefahr reagieren könne.
Als Anthropologe halte ich diese Ansicht für äußerst unzulänglich. Und ich bedauere, dass sie die christliche Weltsicht ignoriert. Selbst, wenn man eine naturalistische Sicht der Welt akzeptiert (die das Dasein und Wirken Gottes ausschließt), hat diese Theorie keine befriedigende Erklärung für die psychologischen Aspekte von Ärger.
Es gibt einige Missverständnisse, wenn es um Ärger, Wut und Zorn geht, auch unter Christen. Das hat meiner Ansicht nach vor allem mit unserer Auffassung über den Ursprung von Ärger zu tun. Einige christliche Bücher beschäftigen sich damit, „wie man Ärger in den Griff kriegt“, gehen aber nicht auf den Ursprung von Ärger ein. Ich bin davon überzeugt, dass wir unseren Ärger viel effektiver unter Kontrolle bekommen, wenn wir besser verstehen, woher Ärger eigentlich kommt.
Wo also liegt der Ursprung von Ärger? Die Antwort finden Sie im 1. Kapitel. Sie überrascht vielleicht und weist schon auf Sinn und Zweck von Ärger hin, dem Thema des 2. Kapitels.
Noch etwas anderes hat mich bewogen, Die andere Seite der Liebe zu schreiben. Das Buch soll Erwachsenen, besonders Paaren, helfen, ihre familiären Beziehungen positiv zu gestalten. Seit fast dreißig Jahren bin ich in der Paar- und Familienberatung tätig. Ich habe mit Hunderten von Familien gearbeitet, die die unterschiedlichsten Probleme hatten. In fast allen Fällen war dabei das fehlende Verständnis dafür, wie man mit Ärger konstruktiv umgeht, ein Schlüsselfaktor für die Störungen in der Familie.
Wenn Erwachsene aber wissen, wie sie positiv mit ihrem eigenen Ärger umgehen können, dann sind sie auch in der Lage, um sich herum eine entspanntere Atmosphäre und in der Familie eine geborgenere Umgebung zu schaffen. Und wenn sie Kinder haben, können sie ihnen besser beibringen, mit Gefühlen von Ärger gut umzugehen.
Und was genauso wichtig ist: Sie können eine positivere Atmosphäre am Arbeitsplatz schaffen und dort zu gesunden Beziehungen und gutem Umgang miteinander beitragen.
Wo Erwachsene es nicht gelernt haben, ihren Ärger konstruktiv zu verarbeiten, gibt es eigentlich immer eheliche und familiäre Schwierigkeiten, die sich manchmal auch auf den Beruf und andere Situationen ausweiten.
In der westlichen Welt sucht man in diesem Fall dann Beratung oder Therapie – ein gangbarer Weg, gute Lösungen zu finden. In Amerika ist die Praxis des Therapeuten inzwischen zum wichtigsten Ort geworden, an dem man lernen kann, konstruktiv mit Ärger umzugehen. Leider suchen die meisten Leute erst dann Hilfe, wenn ihr falscher Umgang mit Ärger sie in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht hat. Tausende von anderen, die bereits über beide Ohren in massiven Problemen stecken, suchen keine Beratungsstelle oder irgendeinen Ansprechpartner auf. Sie bleiben mit ihrer Situation allein. Vielleicht ist es ihnen nicht möglich, auf diese Weise Hilfe zu suchen, etwa aus Zeitmangel, finanziellen Gründen oder aus Unsicherheit. Was kann in diesem Fall helfen und weiterbringen?
Ich denke, dass vieles von dem, was man im Laufe einer Beratung oder Therapie lernen kann, auch in den eigenen vier Wänden möglich ist, wenn entsprechendes Informationsmaterial zur Verfügung steht. Dieses Buch soll die Einsichten und Methoden in lesbare Form bringen, die im Laufe der Jahre Hunderten von Paaren und allein lebenden Menschen geholfen haben, besser mit ihrem Ärger umzugehen. Die Namen der zitierten Männer und Frauen sind allesamt geändert worden, aber die geschilderten Situationen und die Gespräche haben wirklich stattgefunden. Vielleicht erkennen Sie darin Probleme und Reaktionsweisen wieder, die Ihren eigenen ähneln.
Ich wünsche mir, dass dieses Buch ein Beitrag dazu ist, das Gefühl von Ärger, Wut und Zorn besser zu verstehen, und dass die geschilderten Einsichten der Bibel und der Praxis dazu helfen, im ganz normalen Alltag neue, positive Reaktionen auf diese Gefühle zu entwickeln.
Ich hoffe auch, dass Die andere Seite der Liebe gutes Arbeitsmaterial bietet für gemeinsame Gespräche, Diskussionen und Arbeitsgruppen zum Thema Ärger, Wut und Zorn.
Am Ende jedes Kapitels finden Sie unter dem Titel „Nachgehakt“ Fragen zum Weiterdenken, die dazu gedacht sind, sich die wichtigsten Einsichten noch einmal klarzumachen und sie im eigenen Leben anzuwenden.
Ich bin, wie gesagt, davon überzeugt, dass man auch in einer Gemeindegruppe, einem Hauskreis oder Seminar viel über Ärger, Wut und Zorn lernen kann, nicht nur in der Praxis eines Therapeuten. Und das muss meines Erachtens sogar geschehen, wenn wir eine grundlegende Wende im allgemeinen Umgang in unserer Gesellschaft einleiten wollen, in der verbale und körperliche Misshandlungen so auffällig zunehmen.
Ärger, Wut und Zorn sind, wie wir sehen werden, die andere Seite der Liebe, auch wenn es zunächst nicht so scheint. Während die Liebe uns zu dem anderen hinzieht, richtet sich der Zorn gegen diesen Menschen. Doch Gefühle von Ärger, Wut und Zorn haben eigentlich immer einen positiven Zweck, sie können und sollen letztendlich zu etwas Gutem führen.
Die Schlussfolgerungen, zu denen ich in diesem Buch komme, stammen hauptsächlich aus meiner eigenen Beratungstätigkeit und aus dem Studium der Bibel. Wo es angemessen erscheint, beziehe ich mich auch auf neueste psychologische Forschung. In der Bibel finden wir nicht nur theoretische Lehre zum Thema Zorn, sondern auch unzählige Beispiele, wie Menschen mit ihrem Ärger, ihrer Wut und ihrem Zorn umgegangen sind: negativ und positiv. Und was am wichtigsten ist: Die Bibel bezeugt, dass Gott selbst zornig wird und in welcher Beziehung sein Zorn zu seinem liebevollen und gleichzeitig heiligen Wesen steht. Wir werden untersuchen, auf welche Weise unser Zorn dem Zorn Gottes ähnlich ist und wie er sich von ihm unterscheidet.
Die andere Seite der Liebe bietet also eine biblisch begründete Sichtweise von Ärger, Wut und Zorn. Das Buch beleuchtet Ursprung und Sinn dieser Gefühle und zeigt ganz praktisch, wie wir mit ihnen umgehen können und sie unter die Herrschaft Christi bringen können. Wenn wir das tun – also wenn wir Ärger, Wut und Zorn (quasi „zurück“) auf die Seite der Liebe bringen – dann ist das in meinen Augen ganz im Sinne Gottes.
Bill saß an einem heißen Sommertag in meinem Büro. Er war gut angezogen, an seinem rechten Fuß aber hatte er keinen Schuh, sondern eine Bandage. Bald erfuhr ich den Grund dafür.
„Dr. Chapman, ich brauche Hilfe“, begann er. „Ich weiß schon lange, dass ich meinen Ärger nicht unter Kontrolle habe, aber am Samstag bin ich völlig ausgerastet. Ich habe fünfzehn geschlagene Minuten lang versucht, meinen Rasenmäher in Gang zu bringen. Dann habe ich nachgeschaut, ob das Benzin oder Öl ausgegangen war, hab‘ eine neue Zündkerze eingesetzt, doch es tat sich nichts. Schließlich war ich so ärgerlich, dass ich ausholte und dem dummen Gerät einen Fußtritt versetzte. Dabei habe ich mir dann zwei Fußzehen gebrochen, und in einer dritten habe ich eine Schnittwunde. Nachher saß ich auf der Treppe, hielt mir den schmerzenden Fuß und dachte: Das war einfach blöd!
In diesem Augenblick wusste ich noch nicht einmal, dass ich mir die Zehen gebrochen hatte. Später, in der Praxis des Arztes, musste ich das wieder denken: Das war wirklich blöd! Und jetzt sitze ich mit verbundenen Zehen hier bei Ihnen. Das Ganze ist mir ziemlich peinlich. Ich kann ja keinem sagen, was wirklich passiert ist. Also erzähle ich: ‚Ich hatte einen Unfall mit einem Rasenmäher‘. Die meisten denken wohl, ich hätte mich irgendwie am Rasenmäher geschnitten, und sie bemitleiden mich. Ich sage lieber nicht, was wirklich passiert ist. Mir ist es lieber, dass ich ihnen leidtue, als dass sie über mich lachen … Mir ist es auch peinlich, jetzt Ihnen die Wahrheit zu sagen. Aber ich weiß, dass ich ehrlich sein muss, wenn ich Hilfe haben will. Und das mit dem Rasenmäher war nicht das erste Mal, dass ich die Beherrschung verloren habe“, sagte Bill. „Ich habe meiner Frau und den Kindern schon ziemlich hässliche Sachen an den Kopf geworfen. Ich hab sie zwar nie körperlich misshandelt, aber ich war schon öfter nahe dran …“
Im Verlauf unseres Gesprächs erfuhr ich, dass Bill ein gebildeter Mann war. Er hatte Betriebswirtschaft studiert, war verheiratet, hatte zwei Kinder, ein hohes Einkommen und ein schönes Haus am Stadtrand. Bill arbeitete in seiner Gemeinde mit und war ein „ehrenwerter Mann“. Doch er verlor immer wieder die Beherrschung.
Tausende von Männern werden sich mit Bill identifizieren können. Sie haben oft genug ähnlich wie Bill reagiert. Leider sind viele nicht so ehrlich wie Bill, und noch weniger sind bereit, das Problem anzugehen. Und natürlich ist „die Beherrschung verlieren“ nicht nur ein Thema für Männer. Das sehen wir an Anne.
Anne, eine attraktive dreiunddreißig Jahre alte Mutter von zwei Kindergarten-Kindern, liebte ihren Mann Glen, einen aufstrebenden Anwalt. Die beiden waren seit acht Jahren verheiratet. Anne war Buchhalterin, hatte aber beschlossen, mit ihrem Beruf zu pausieren, solange die Kinder noch nicht in der Schule waren.
„Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht“, sagte sie mir. „Ich glaube nicht, dass ich eine gute Mutter abgebe. Ich habe mir immer Kinder gewünscht, aber jetzt, wo ich welche habe, gefällt es mir gar nicht, wie ich mit ihnen umgehe. Und mir gefällt es nicht, was sie mit mir machen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals richtig wütend war oder die Beherrschung verloren habe, als ich noch keine Kinder hatte. Ich habe immer geglaubt, ich hätte meine Gefühle unter Kontrolle. Aber bei den Kindern … ich muss zugeben, dass ich da die Beherrschung schon oft verloren habe. Ich hasse mich selbst dafür. Und ich weiß, dass es den Kindern nicht guttut.“
„Was passiert, wenn Sie bei den Kindern die Beherrschung verlieren?“, fragte ich nach.
„Das ist unterschiedlich“, meinte sie. „Manchmal schreie ich sie an. Oder ich versohle sie kräftig. Neulich habe ich Tina gepackt und sie durchgeschüttelt. Das hat mir richtig Angst gemacht. Gerade am Tag vorher hatte ich im Fernsehen einen Bericht über eine Mutter gesehen, deren Kind an so etwas später gestorben ist. Ich will meinen Kindern nicht wehtun. Ich liebe sie, aber ich verliere manchmal einfach die Beherrschung. Ich wollte, Glen würde sich mal um die Kinder kümmern, damit ich mich mal erholen könnte. Aber er steht beruflich derart unter Stress, dass er meint, nicht auch noch die Kinder verkraften zu können. Manchmal denke ich, dass ich wieder arbeiten sollte und eine Tagesmutter für die Kinder suchen sollte.“
Im Verlauf des Gesprächs stellte sich heraus, dass Anne sich nicht nur über das Verhalten ihrer Kinder ärgerte, sondern auch über Glen, der sie so wenig unterstützte. Sie war wütend auf sich selbst, weil sie ihren Beruf aufgegeben und sich für die Mutterrolle entschieden hatte. Und sie war auch wütend auf Gott, weil er zugelassen hatte, dass sie Kinder bekam. „Er hätte doch wissen müssen, dass ich dieser Situation nicht gewachsen bin“, sagte sie.
Jetzt flossen bei Anne die Tränen. Und mir war auch nach Weinen zumute, als ich an die Hunderte von Müttern dachte, die im Laufe der vergangenen dreißig Jahre in mein Büro gekommen sind, weil sie mit ihrer Weisheit am Ende waren.
Bill mit seinen gebrochenen Zehen und Anne mit ihrem gebrochenen Herzen lebten in ganz verschiedenen Welten. Aber sie hatten eines gemeinsam: die menschliche Erfahrung, heftigen Ärger oder Wut zu empfinden, und die Hilflosigkeit, damit umzugehen. Beiden war klar, dass ihre Gefühle sie zu unangemessenem Verhalten verleitet hatten, aber keiner wusste, was er dagegen tun konnte. Und so litten sie körperlich und seelisch an ihrer destruktiven Art, auf diese Gefühle zu reagieren. Auch ihre Familien litten unter den Folgen dieses negativen Verhaltens.
In späteren Kapiteln werde ich beschreiben, wie Bill und Anne lernten, besser – nämlich konstruktiv – mit ihren Gefühlen umzugehen, aber zunächst müssen wir an den Anfang zurückgehen. Wir müssen eine Antwort auf die Fragen finden: Was ist Ärger, und wo liegt der Ursprung für dieses Empfinden?
Anthropologen haben herausgefunden, dass Ärger eine allgemeine menschliche Erscheinung ist, das heißt, dass diese Empfindung in allen Kulturen auf der ganzen Welt vorkommt. Wenn ich also über die Ursachen von Ärger spreche, meine ich damit nicht die Gründe, weshalb ein bestimmter Mensch an einem bestimmten Tag ärgerlich ist. Ich gehe vielmehr der Frage nach: Warum ist Ärger eine universelle Erfahrung, also eine Erfahrung, die alle Menschen machen? Was ist der Grund dafür, dass der Mensch Ärger empfindet?
Das Gefühl von Ärger ist in keiner Kultur auf eine bestimmte Personengruppe beschränkt. Menschen aller Altersstufen und Gesellschaftsschichten empfinden Ärger. Marianne, eine unverheiratete Frau, ärgert sich über ihre Mutter, die ihr Verhalten beeinflussen will. Bert, ein Schüler, ist zornig über seinen Lehrer, der ihm im Zeugnis eine schlechte Note gegeben hat. Die fünfzehnjährige Inga ist sauer; sie hat das Gefühl, dass ihre Eltern sie wie eine Zehnjährige behandeln. Barbara, eine 85-jährige Großmutter, ärgert sich über ihren ältesten Sohn, der sie nur selten besucht. Sie reagiert aber auch eingeschnappt gegenüber ihrer Tochter, die zwar jeden Tag zu ihr kommt, aber ihrer Meinung nach nie lange genug bleibt. Martin, ein Pastor, ärgert sich über die Ältesten seiner Gemeinde, die seine besten Ideen abschmettern. Beatrice ist gerade drei Jahre alt und sie hat einen Wutausbruch, weil die Mutter ihr das Lieblingsspielzeug weggenommen hat.
Zunächst einmal gilt es zu klären, was wir unter Ärger verstehen. Merriam-Webster‘s New Collegiate Dictionary beschreibt „Anger“ (im Amerikanischen der gemeinsame Begriff für Ärger, Wut und Zorn / Anm. d. Ü.) als „eine starke Leidenschaft oder Empfindung des Unbehagens und in der Regel der Feindseligkeit, die durch ein Gefühl der Kränkung oder Beleidigung hervorgerufen wurde.“ Bei dem Begriff Ärger denken wir normalerweise an ein Gefühl; es handelt sich dabei jedoch um mehr als ein Gefühl. Ärger betrifft die Gefühle, den Körper, den Geist und den Willen, die allesamt durch ein Erlebnis im Leben des Betreffenden in Bewegung geraten sind.
Ärger wird immer durch irgendein Erlebnis hervorgerufen. Wir setzen uns nicht hin und sagen: „Ich glaube, jetzt empfinde ich mal richtig Ärger.“
Ärger ist eine Reaktion, die wir als Gereiztheit, Enttäuschung, Schmerz oder ein anderes Gefühl des Unbehagens spüren können.
Auslöser dieser Reaktion können ganz unterschiedliche Erlebnisse in unserem Alltag sein: Er kommt spät nach Hause; sie hat versäumt, eine Scheckzahlung aufzuschreiben; er hat den Mülleimer nicht rausgetragen. Sie hatten ausgemacht, sich um halb sieben zu treffen. Es ist jetzt halb acht, und sie ist immer noch nicht da. Tausende von Vorkommnissen können unseren Ärger heraufbeschwören. Ist das Ereignis eingetreten, reagieren unsere Gefühle.
Im Ärger spielen meistens mehrere Empfindungen zusammen, z. B. Enttäuschung, Verletzung, Ablehnung, Verlegenheit; alles zusammen nennen wir dann Ärger, Wut oder Zorn. Ärger ist ein Gefühl, das uns gegen die Person, den Ort oder die Sache aufbringt, die dieses Gefühl hervorgerufen hat. Es ist das Gegenstück zum Gefühl der Liebe. Liebe zieht uns zu einem Menschen hin; Ärger, Wut oder Zorn bringt uns gegen diesen Menschen auf.
Aber auch unser Geist ist von Anfang an auf dem Plan. Wenn er zum Beispiel spät nach Hause kommt und nicht anruft, überlegt sie: Wenn ich ihm nicht egal wäre, würde er anrufen. Er weiß, wie sehr ich mich abmühe, um das Essen rechtzeitig auf den Tisch zu bringen. Ich kümmere ihn gar nicht. Er denkt einzig und allein an seine Arbeit. Offenbar bedeute ich ihm nicht viel. Warum habe ich nur einen so selbstsüchtigen Mann geheiratet?
Der Mann mag denken: Ich mähe den Rasen, wasche das Auto und passe auf das Baby auf, während sie mit ihrer Mutter einen Einkaufsbummel macht, und ich bekomme noch nicht mal ein Dankeschön dafür! Er ist wütend.
Mary sitzt still in ihrem Büro, während der Chef ihr mitteilt, dass sie ihre Arbeit nicht zufriedenstellend erledigt hat. Wenn sie ihre Leistung nicht verbessern kann, wird er gezwungen sein, ihr Beschäftigungsverhältnis zu beenden, sagt er. Ihre Gedanken arbeiten fieberhaft, auch wenn sie zunächst nichts sagt. Das tut er, weil ich eine alleinstehende Frau bin, überlegt sie. Ich weiß, dass ich härter arbeite als die Männer hier, aber er hackt immer auf mir herum. Er hat mich von Anfang an nicht leiden können. Das ist nicht fair. Bei diesen Gedanken erlebt Mary auch starke negative Gefühle.
Auch unser Körper spürt unseren Ärger. Das autonome Nervensystem löst einen Adrenalinstoß aus. Es können, abhängig vom Grad des Ärgers, einige oder alle der folgenden Symptome auftreten: Die Nebennieren stoßen zwei Hormone aus, Epinephrin (Adrenalin) und Norepinephrin (Noradrenalin). Diese beiden Substanzen rufen die Erregung, Angespanntheit, Aufregung und die Hitze des starken Ärgers hervor. Diese Hormone wiederum stimulieren Veränderungen in der Herzfrequenz, im Blutdruck, in der Lungenfunktion und der Tätigkeit des Verdauungstrakts. Das wiederum führt zu den allgemeinen Erregungszuständen, die Menschen empfinden, wenn sie ärgerlich sind. Es sind diese körperlichen Veränderungen, die uns das Gefühl geben, dass wir z. B. von Wut überwältigt werden und unfähig sind, sie zu kontrollieren.
Diese Gefühle, Gedanken und körperlichen Veränderungen hängen also eng zusammen. Gemeinsam bewirken sie das, was wir wahrnehmen und als Ärger bezeichnen. Dieser Ärger drückt sich dann in unserem Verhalten aus: in Worten oder in Taten. So tritt Bill mit dem Fuß gegen den Rasenmäher, Anne schüttelt ihr Vorschulkind durch, die Mutter schimpft den Teenager, der spät nach Hause kommt; die Frau zieht sich schweigend von ihrem Mann zurück, der sie verärgert hat, usw.
Ich möchte hier schon etwas erwähnen, was ich in späteren Kapiteln näher ausführen werde. Obwohl wir über unsere seelischen und körperlichen Reaktionen auf ein beunruhigendes Ereignis wenig Kontrolle haben, können wir lernen, unsere Gedanken zu kontrollieren, also die Art, wie wir diese Ereignisse deuten – und daraufhin unser Verhalten, also unsere Worte und Taten.
Später werden wir sehen, wie das geschehen kann. Im Augenblick geht es darum, klarzustellen, was Ärger eigentlich ist. Zusammenfassend kann man sagen: Ärger sind die Gefühle, Gedanken und körperliche Anspannung, die wir erleben, wenn wir glauben, dass wir (oder jemand anderes) unfair behandelt werden.
Wenden wir uns nun der Frage zu, woher unser Ärger kommt. Warum spüren wir Ärger, Wut oder Zorn? Ärger ist eine Grunderfahrung des Menschseins, und wenn wir seinen Ursprung kennen, können wir lernen, angemessen damit umzugehen.
Ich glaube, dass die menschliche Fähigkeit, Ärger zu empfinden, im Wesen Gottes ihren Ursprung hat. Denken Sie nicht, ich sei Gott gegenüber respektlos. Im Gegenteil. Ich empfinde große Ehrfurcht vor Gott, wenn ich behaupte, dass der menschliche Ärger im Wesen Gottes seine Wurzel hat. Ich meine nicht, dass Zorn ein Wesenszug Gottes ist. Ich meine aber, dass Zorn von den beiden Grundzügen seines Wesens herrührt: von Gottes Heiligkeit und von seiner Liebe.
In der Bibel lesen wir, dass Gott heilig ist (siehe zum Beispiel 1. Petrus 1, 16; 3. Mose 11, 44.45). Das Wort heilig bedeutet frei von Sünde. Ob wir von Gott, dem Vater, Gott, dem Sohn, oder Gott, dem Geist, reden, das Wesen Gottes ist frei von Sünde. Im Neuen Testament heißt es von Jesus, dass er „versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde“ (Hebräer 4, 15).
Ein zweiter Wesenszug Gottes ist die Liebe. Der Apostel Johannes fasst die gesamte Lehre der Bibel zusammen in dem einfachen Satz „Gott ist die Liebe“ (1. Johannes 4, 8, die Hervorhebung stammt von mir). Dieser Satz bedeutet nicht, dass Liebe generell mit Gott gleichzusetzen ist, sondern er bedeutet, dass Gott im Grunde seines Wesens ein Liebender ist.
Das ist nicht nur die Gottesvorstellung des Neuen Testamentes. Von Anfang bis Ende zeigt die gesamte Bibel Gott als den, dem es um das Wohl seiner Geschöpfe geht. Es liegt im Wesen Gottes, zu lieben.
Heiligkeit und Liebe. Aus diesen beiden Wesenszügen Gottes leitet sich der Zorn Gottes ab. Es heißt nirgendwo in der Bibel: „Gott ist der Zorn“. Diese Aussage wäre also nicht richtig. Zorn gehört nicht zu den Wesenszügen Gottes. Doch es heißt oft, dass Gott zornig sein kann. Das Wort Zorn finden wir 455 Mal im Alten Testament; 375 Mal davon wird damit der Zorn Gottes bezeichnet. So schreibt der Psalmist: „Gott ist … ein Gott, der täglich zürnt“ (Psalm 7, 12, Menge-Übersetzung).
Gottes Zorn ist nicht auf alttestamentliche Zeiten beschränkt. In den Evangelien lesen wir von Situationen, in denen Jesus zornig wurde (zum Beispiel in Markus 3,1-5; Johannes 2, 13-17). Weil Gott heilig ist, und weil er die Liebe ist, muss er auch Zorn empfinden. Seiner Liebe geht es um das Wohl seiner Geschöpfe. Seine Heiligkeit ist mit der Sünde nicht in Einklang zu bringen. Alle Gesetze Gottes gründen auf seiner Heiligkeit und seiner Liebe; das heißt, sie sind immer auf das Richtige und Gute ausgerichtet und dienen immer dem Wohl seiner Geschöpfe. Gott möchte, dass der Mensch tut, was recht ist, und einen Nutzen davon hat.
So sagte er zum Volk Israel: „Siehe, ich habe dir heute vorgelegt das Leben und das Gute, den Tod und das Böse. Wenn du gehorchst den Geboten des Herrn, deines Gottes, die ich dir heute gebiete, dass du den Herrn, deinen Gott, liebst und wandelst in seinen Wegen und seine Gebote, Gesetze und Rechte hältst, so wirst du leben und dich mehren, und der Herr, dein Gott, wird dich segnen in dem Lande, in das du ziehst, es einzunehmen“ (5. Mose 30, 15.16).
Weil er die zerstörenden Folgen der menschlichen Sünde kennt, wird Gott zornig. Weil es Gott um Recht und Gerechtigkeit geht (die beide seiner Heiligkeit und seiner Liebe entspringen), wird sein Zorn hervorgerufen. Wenn Gott also Böses sieht, wird er zornig. Mit Zorn reagiert er auf Ungerechtigkeit oder Sünde.
Was hat all das nun mit dem menschlichen Ärger zu tun? In der Bibel lesen wir, dass wir „zum Bilde Gottes“ geschaffen sind (1. Mose 1, 27). Obwohl dieses Bild – theologisch gesprochen – durch den Sündenfall des Menschen getrübt worden ist, ist es doch nicht ausgelöscht. Wir Menschen tragen die Spuren der Gottesebenbildlichkeit tief in unserem Inneren. So bemühen wir uns auch als gefallene Menschen noch um Recht und Gerechtigkeit. Das heißt, wir Menschen sind moralische Geschöpfe. Ganz gleich, wie tief ein Mensch fällt, er weiß doch noch immer bis zu einem gewissen Grad um Recht und Unrecht. Wenn Sie den gottlosesten Menschen, den Sie kennen, eine Woche lang begleiten, werden Sie aus seinem Mund solche Sätze hören wie: „Das ist nicht in Ordnung“ – „So darf er nicht mit ihr umgehen“ – „Sie hat ihm Unrecht zugefügt“. Stehlen Sie ihm das Auto und schauen Sie, ob er zornig wird. Ermorden Sie seine Tochter, seine Frau oder Freundin, und Sie werden merken, dass er plötzlich zu einem äußerst moralischen Wesen wird, das Ihre Handlungsweise durch und durch verurteilt.
Hören Sie einem kleinen Kind zu, das gerade beginnt, in ganzen Sätzen zu sprechen, und Sie werden es bald sagen hören: „Das ist ungerecht, Mama“. Wie kommt ein Kind zu einem solchen moralischen Urteil? Ich glaube, dass es tief in seinem Wesen verankert ist; das Kind weiß, wenn ihm Unrecht geschehen ist und wird das freimütig zum Ausdruck bringen.
Ärger ist also das Gefühl, das aufkommt, wenn uns etwas begegnet, das wir für Unrecht halten. Die seelischen, physiologischen und kognitiven Dimensionen von Ärger treten sofort auf den Plan, wenn wir mit einer Ungerechtigkeit konfrontiert werden.
Warum empfindet eine Frau Ärger oder Zorn auf ihren Mann? Weil er sie ihrem Empfinden nach enttäuscht, beschämt, gedemütigt oder zurückgewiesen hat – und ihr damit ihrem Empfinden nach Unrecht zugefügt hat. Warum sind Teenager wütend auf ihre Eltern? Weil sie meinen, dass sich die Eltern unfair, lieblos oder zu streng verhalten hätten, und dass sie sie damit ungerecht behandelt hätten. Warum wird ein Mann wütend auf einen Rasenmäher? Weil er nicht „richtig funktioniert“. Das Gerät oder dessen Hersteller hält nicht das, was es an Leistung versprochen hat. Warum hupen die Leute, wenn die Ampel auf Grün umschaltet? Weil sie glauben, dass der Fahrer vor ihnen „auf die Ampel achten und zwei Sekunden früher auf das Gaspedal hätte treten sollen“. Kurz: Er fährt nicht „richtig“.
Versuchen Sie sich an das letzte Mal zu erinnern, als Sie ärgerlich oder zornig waren, und stellen Sie sich die Frage: Warum war ich ärgerlich/zornig/wütend?
Höchstwahrscheinlich werden Sie sich über eine Ungerechtigkeit aufgeregt haben. Sie fühlten sich unfair behandelt. Irgendetwas war nicht in Ordnung.
Ihr Ärger hat sich gegen einen anderen Menschen, ein Objekt, eine Situation oder gegen Sie selbst oder Gott gerichtet, doch in jedem Fall ist in Ihren Augen etwas falsch gelaufen.
Dabei geht es erst einmal nicht darum, ob Ihre Wahrnehmung von Unrecht berechtigt ist oder nicht. Damit werden wir uns in einem späteren Kapitel befassen. An dieser Stelle wollen wir lediglich festhalten, dass Ärger mit der Wahrnehmung zu tun hat, dass etwas nicht in Ordnung ist, dass es nicht „richtig“ ist. Und dieses Moralempfinden (nach dem manche Dinge richtig sind und andere falsch) hat seinen Ursprung in der Tatsache, dass wir nach dem Bild eines Gottes geschaffen sind, der heilig ist und Gesetze (die sagen, was richtig und gut und was falsch und zerstörerisch ist) zum Wohl seiner Geschöpfe aufgestellt hat.
Ärger oder Zorn an sich ist nichts Böses; Zorn ist keine Sünde; Zorn hat nichts mit unserem Gefallensein zu tun; Zorn ist nicht das Werk Satans in unserem Leben. Ganz im Gegenteil. Zorn ist der Beweis dafür, dass wir nach dem Bild Gottes geschaffen sind; er zeigt, dass wir trotz unseres Gefallenseins noch immer ein Empfinden für Recht und Gerechtigkeit haben. Die Fähigkeit zum Ärger ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass wir mehr als bloße Tiere sind. Die Fähigkeit zum Ärger zeigt unser Bemühen um Recht, Gerechtigkeit und Fairness. Dass wir Ärger empfinden, beweist unseren Adel, nicht unsere Schlechtigkeit.
Wir können Gott dankbar sein für unsere Fähigkeit, Ärger zu spüren. Wenn ein Mensch keinen Ärger oder keinen Zorn mehr wahrnimmt, hat er sein Moralempfinden verloren. Und ohne das wäre unsere Welt eine schreckliche Welt.
Damit sind wir bei der Frage: Was ist der Sinn und Zweck von Ärger und Zorn?
1. Unser ganzes Leben lang werden wir immer wieder Ärger oder Zorn spüren. Versuchen Sie, sich zu erinnern, bei welchen Gelegenheiten Sie als kleines Kind ärgerlich oder zornig wurden, und wann als Teenager und als Erwachsener. Erzählen Sie einem Freund/einer Freundin, Ihrer Frau, Ihrem Mann oder in der Gruppe, mit der Sie über das Thema Ärger, Wut und Zorn sprechen, von einer solchen Situation.
Vergleichen Sie die Reaktionen auf Ärger oder Zorn in den jeweiligen Altersstufen miteinander. Was meinen Sie, können wir mit fortgeschrittenem Alter und Reife besser mit Ärger und Zorn umgehen? Was ist an der Art zu reagieren immer wieder gleich?
2. Wir stellen uns Ärger meistens als Gefühlsregung vor, doch Ärger hat körperliche, geistige und seelische Aspekte. Welche körperlichen Reaktionen haben Sie bei anderen beobachtet, die ärgerlich waren? Sprechen Sie über die körperlichen Reaktionen auf Ärger und auf welche Weise sie unseren Umgang damit beeinflussen.
3. Gott kann zornig werden, doch Zorn ist kein grundlegendes Merkmal seines Wesens. Sein Zorn entspringt seiner Heiligkeit und seiner Liebe. Auf den ersten Blick kann vielleicht der Eindruck entstehen, dass solcher Zorn im Widerspruch zu seinem liebenden Wesen stünde. Lesen Sie dazu den Bericht der Belagerung von Ai durch die Israeliten (Josua 7). Erscheint Gottes Zorn auf das Volk vernünftig? Drückt er seinen Zorn entsprechend seiner Liebe und seiner Heiligkeit aus?
4. Richtiger Umgang mit Ärger. Sie wohnen in einem Mietshaus. Dort herrscht die ungeschriebene Regel, dass die Hausbewohner Waschmaschine und Trockner nicht nach 22 Uhr benutzen dürfen, um die Nachtruhe nicht zu stören. Obwohl Sie rechtzeitig mit dem Wäschewaschen begonnen haben, werden Sie aus verschiedenen Gründen erst gegen 22.30 Uhr fertig sein. Als Sie um 22.15 in den Waschraum gehen, sehen Sie, dass jemand den Trockner ausgeschaltet hat, und Ihre nasse Wäsche auf dem Boden liegt. Sprechen Sie darüber, wie Sie mit Ihrem Ärger darüber umgehen könnten. Sammeln Sie Ideen und überlegen Sie, welche Reaktion am besten geeignet ist, um Ihren Ärger zu verarbeiten. Falls Sie sich Notizen dazu machen, heben Sie sie ruhig für die nächsten Kapitel auf.
Ärger ist eine allgemeine menschliche Erfahrung, und Gott selbst kann zornig werden. Diese beiden Tatsachen, die wir im ersten Kapitel beleuchtet haben, legen nahe, dass der menschliche Ärger einen Sinn hat. Und weil die Fähigkeit zum Ärger in unserer Gottesebenbildlichkeit begründet liegt, stellt sich mir die Frage: Was ist in Gottes Augen Sinn und Zweck von menschlichem Ärger?
Ich denke, die Antwort liegt auf der Hand: Ärger soll uns nach Gottes Willen dazu bewegen, angesichts von Unrecht oder Ungerechtigkeit konstruktiv zu handeln. Dass Ärger insofern eine positive Kraft sein kann, war für Christen nicht immer klar. Der Grund ist vielleicht, dass in unserer gefallenen Welt nicht immer klar ist, was gerecht oder ungerecht ist. Das heißt, nicht immer richtet sich unser Ärger oder Zorn gegen wirkliches Unrecht. Die Tatsache, dass unsere gefallene Natur egozentrisch ist (auf sich selbst gerichtet) statt theozentrisch (auf Gott gerichtet), führt oft dazu, dass wir Ärger spüren, wann immer uns etwas nicht passt – und das ist ja nicht unbedingt immer positiv. Wir werden uns in einem anderen Kapitel mit berechtigtem und unberechtigtem Zorn befassen; hier wollen wir noch bei der Frage bleiben: Was ist in Gottes Augen Sinn und Zweck von menschlichem Ärger?
Ärger soll uns dazu bewegen, angesichts von Ungerechtigkeit positiv und liebevoll zu handeln. Und genau das wird uns meiner Meinung nach von Gott selbst vorgelebt.
Im Alten und Neuen Testament können wir von Situationen lesen, in denen Gott zornig war, und wir können erkennen, was seinem Zorn folgte: Er handelte aus Liebe heraus.
Im Alten Testament sandte er meistens einen Propheten, der dem Volk verkündete, dass seine bösen Taten Gott missfielen, und es dann zur Buße rief. Wenn das Volk Buße tat, legte sich Gottes Zorn, und alles war wieder in Ordnung. Wenn die Menschen jedoch keine Reue zeigten, ergriff Gott weitere Maßnahmen. Ein Beispiel ist Gottes Botschaft an Jeremia: „Geh hin und rufe diese Worte nach Norden und sprich: Kehre zurück, du abtrünniges Israel, spricht der Herr, so will ich nicht zornig auf euch blicken. Denn ich bin gnädig, spricht der Herr, und ich will nicht ewiglich zürnen. Allein erkenne deine Schuld … Kehrt um, ihr abtrünnigen Kinder, spricht der Herr, denn ich bin euer Herr“ (Jeremia 3, 12-14).
Israel hatte sich von der Wahrheit abgekehrt und war Lügen gefolgt. Gottes Zorn trieb ihn dazu, Jeremia zu dem Volk zu schicken, um es zur Buße zu rufen.
Ähnlich verhielt es sich, als Gott Jona nach Ninive schickte. Den Leuten von Ninive war Gott bekannt. Jona verkündete, dass die Stadt in vierzig Tagen zerstört werden würde. Daraufhin kam etwas in Bewegung: „Da glaubten die Leute von Ninive an Gott und ließen ein Fasten ausrufen und zogen alle, groß und klein, den Sack zur Buße an.“ Bald ließ der König ausrufen: „Sie sollen … zu Gott rufen mit Macht. Und ein jeder bekehre sich von seinem bösen Wege und vom Frevel seiner Hände. Wer weiß? Vielleicht lässt Gott es sich gereuen und wendet sich ab von seinem grimmigen Zorn, dass wir nicht verderben.“ Die Leute von Ninive wussten offenbar, dass Gottes Liebe die Triebkraft für seinen Zorn war. So berichtet die Schrift: „Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie sich bekehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat’s nicht“ (Jona 3, 5,8-10).
Gottes Zorn trieb ihn zu positivem Handeln – er erklärte den Übeltätern, dass alles Böse bestraft werden würde. Weil Gott sie liebte, konnte er nicht zulassen, dass ihr ungerechtes Tun ungesühnt blieb. Doch als die Leute von Ninive Buße taten und sich von ihren bösen Wegen abkehrten, vergab ihnen Gott in seinem Erbarmen. Das Böse war wieder gutgemacht worden; Gottes Zorn hatte seinen positiven Zweck erfüllt.
Dieses Muster des positiven, liebenden Handelns als Gottes Reaktion auf seinen Zorn zieht sich durch das gesamte Alte Testament. Wenn Menschen auf die Warnrufe Gottes durch die Propheten mit Reue reagierten, vergab ihnen Gott freimütig ihre Schuld. Doch wenn sie weiterhin Böses taten, ergriff Gott weitere Maßnahmen – so schickte er einen Heuschreckenschwarm, der die ganze Ernte vernichtete, er sandte Hungersnot und Feuer; manchmal auch feindliche Mächte, die sein Volk gefangen nahmen und in die Sklaverei verschleppten. Doch die Botschaft war immer klar: Das tut Gott wegen eurer Sünde (siehe zum Beispiel Amos 1-2).
Manche Bibelleser haben schon Gottes harte Maßnahmen gegen sein Volk Israel und dessen Nachbarn infrage gestellt. Sie sehen darin das Bild eines strengen Gottes, der keine Liebe, sondern nur Gerechtigkeit kennt. Doch bei näherem Hinsehen lässt sich erkennen, dass es letztendlich immer zum Guten seiner Geschöpfe war, wenn Gott solche drastischen Maßnahmen ergriff. Es geht gegen Gottes Heiligkeit, wenn seine Menschen Böses tun, und seine Liebe ist immer darauf bedacht, seinem Zorn so Ausdruck zu verleihen, dass es zum Besten der Menschen geschieht. Wenn zu Zeiten des Alten Testamentes sich das Böse in einer bestimmten Kultur richtig eingenistet hatte und die Herzen der Menschen sich gegen den Ruf Gottes verschlossen hatten, fiel Gottes Urteil hart aus, um den Nachbarländern zu zeigen, dass solche Bosheit nicht für immer geduldet werden würde. Indem er schlimmer Sünde immer wieder Einhalt gebot, wollte Gott andere Nationen daran hindern, denselben destruktiven Weg einzuschlagen. Alle seine Handlungen waren in diesem Sinn gerecht und geschahen aus Liebe.
Wenn wir im Neuen Testament das Leben Jesu betrachten, sehen wir, dass er genauso handelte, wenn er mit seinem Zorn konfrontiert war: Er setzte dem Bösen, das seinen Zorn erregt hatte, positives, liebevolles Handeln entgegen. Die Geschichte, die uns in diesem Zusammenhang wohl am besten bekannt ist, spielt im Tempel von Jerusalem. Jesus sah, wie die Händler dort, im Tempel, Ochsen, Schafe und Tauben verkauften. Er sagte zu ihnen: „Es steht geschrieben: ‚Mein Haus soll ein Bethaus heißen‘; ihr aber macht eine Räuberhöhle daraus“ (Matthäus 21, 13). Ihr unrechtes Tun hatte seinen Zorn heraufbeschworen. Im Johannesevangelium heißt es: „Tragt das weg und macht nicht meines Vaters Haus zum Kaufhaus!“ (Johannes 2, 16). Johannes berichtet, dass Jesus eine Geißel aus Stricken machte und die Händler aus dem Tempelbezirk jagte; er „schüttete den Wechslern das Geld aus und stieß die Tische um“ (Vers 15).
Manche fragen vielleicht: Wo bleibt hier Jesu Geist der Vergebung? Wir können sicher annehmen, dass er den Händlern vergeben hätte, wenn sie ihr Tun bereut hätten; schließlich geschieht Gottes Vergebung immer als Antwort auf die Reue des Menschen. Sein Handeln zeigte nicht nur den Händlern, sondern auch den religiösen Führern, dass das, was hier vorging, im Tempel Gottes unangebracht war. Johannes schreibt: „Seine Jünger aber dachten daran, dass geschrieben steht (Psalm 69, 9): ‚Der Eifer um dein Haus wird mich fressen‘ “ (2, 17). Die Jünger sahen, wie Jesus seinem Zorn Ausdruck verlieh. Sie erkannten darin jedoch seine tiefe Sorge darum, seines Vaters Haus das sein zu lassen, was es sein sollte: ein Bethaus und nicht ein Umschlagplatz für Waren.
Bei anderer Gelegenheit war Jesus am Sabbat in der Synagoge, als ein Mann mit einer gelähmten Hand zu ihm kam – für die Pharisäer eine willkommene Gelegenheit, um Jesus zu beschuldigen, das Sabbatgesetz zu brechen. In dieser Situation stellte ihnen Jesus die Frage: „Soll man am Sabbat Gutes tun oder Böses tun, Leben erhalten oder töten?“ Darauf wussten die Pharisäer nichts zu sagen, und Markus berichtet: „Er sah sie ringsum an mit Zorn und war betrübt über ihr verstocktes Herz und sprach zu dem Menschen: Strecke deine Hand aus! Und er streckte sie aus; und seine Hand wurde gesund“ (Markus 3, 4.5). Jesu Zorn wurde hervorgerufen durch das gesetzliche Denken der Pharisäer, das das Halten der Sabbatgesetze über den Dienst am Menschen stellte. Sein Handeln bestand darin, den kranken Mann vor ihren Augen zu heilen, ihr böses Denken zurückzuweisen, und vor allen Umstehenden zu demonstrieren, dass Dienst am Menschen wichtiger ist als das Einhalten religiöser Gesetze. Das göttliche Modell ist also klar: Gottes Reaktion auf Zorn ist immer liebendes Handeln, dem Bösen Einhalt zu gebieten und den, der Böses getan hat, zu erlösen.
Reden wir wieder über unseren menschlichen Zorn und Ärger. Wir sind Geschöpfe, die nach dem Bild Gottes geschaffen wurden, und deswegen geht es uns – zumindest in gewissem Maß – immer auch um Recht, Gerechtigkeit und Fairness. Wann immer wir uns mit einer Situation konfrontiert sehen, die wir als unrecht, lieblos oder ungerecht empfinden, spüren wir Ärger oder Zorn. Ich glaube, dass dieser Zorn nach Gottes Willen uns dazu bewegen soll, positiv und liebevoll zu handeln, um Unrecht gutzumachen; und wo es sich um eine Beziehung handelt, die Beziehung mit dem, der etwas Falsches oder Böses getan hat, wiederherzustellen.
Ärger soll uns nicht dazu verleiten, den Menschen, die uns womöglich unrecht getan haben, Böses mit Bösem zu vergelten. Er soll uns auch nicht dazu bringen, unseren Mitmenschen Böses zu wünschen, zu sagen oder anzutun. Sinn und Zweck von Ärger liegen darin, uns zu positivem, liebevollem Handeln zu bewegen und Situationen besser zu hinterlassen, als wir sie vorgefunden haben.