Impressum
Günther Zäuner
Sport ist Mord - Tödliche Kilometer
1. Auflage
Copyright © 2015
egoth Verlag GmbH
Untere Weißgerberstr. 63/12
1030 Wien
Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit
ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.
ISBN: 978-3-902480-23-1
eISBN: 978-3-902480-26-2
Lektorat: Katharina Martl
Grafische Gestaltung und Satz: Clemens Toscani / Studio.Toscani.at
Gesamtherstellung:
egoth Verlag GmbH
Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.egoth.at
SPORT IST MORD
matschek und korber ermitteln
beim wien-marathon
PROLOG
Zwei Tage vor dem Start
Nur noch vierundzwanzig Stunden
Sonntag, 12. April
Der große Tag
Rätselraten
18
Verdacht
Falsches Spiel
Koks
Die Nadel im Heuhaufen
Rache
Reiner Tisch
In der Bredouille
Fatale Besuche
Die Schlinge zieht sich zu
EPILOG
Dieser Thriller ist reine Fiktion. Namen und Personen, Ereignisse, Orte und Zeiten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Der große Sport fängt da an, wo er längst aufgehört hat, gesund zu sein.
Bertolt Brecht, deutscher Dramatiker
Wenn du alles gibst, kannst du dir nichts vorwerfen.
Dirk Nowitzki,
deutscher Basketballstar in den USA
Die Ehefrau ist das beste Trainingslager.
Otto Rehhagel,
deutscher Fußballtrainer
All die Wissenschaft kann nicht ermitteln, wie gut der Geist in der Lage ist, im Rennen den Schmerz auszuhalten. Manchmal gibt es Tage, an denen ich weiß: heute kann ich sterben.
Gelindo Bordin,
italienischer Marathon-Olympiasieger 1988
Der Marathon ist ein sehr langweiliger Wettkampf.
Emil Zatopek,
„die tschechische Lokomotive“, Läuferstar
Hätte dieser alte Grieche nicht schon nach zwanzig Kilometer tot umfallen können?
Frank Shorter,
ehemaliger amerikanischer Langstreckenläufer und
Olympiasieger
Ich glaube, der Marathon ist ein Ereignis, bei dem du etwas über deinen Körper und deinen Geist lernst, und dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob du 2:30 oder 5:30 rennst. Das wahrhaft Mächtige ist der Geist, denn dein Körper gibt meist bei Kilometer 30 auf und dann ist es an deinem Geist, den Rest zu schaffen.
Paula Radcliffe,
britische Marathonläuferin
Nie wieder!
Grete Waitz,
norwegische Langstreckenläuferin,
nach ihrem Sieg beim New York Marathon 1976
Zweiundvierzigtausendeinhundertfünfundneunzig Meter lauern, ziehen sich kreuz und quer durch die Stadt. 42,195 Kilometer, auf denen sich Glück, Freude, Lust und Qual ununterbrochen ablösen werden.
Nachdem der Startschuss erfolgt ist, sind die ersten Kilometer deine besten Freunde. Doch das ändert sich bald. Mit jedem Meter mehr werden sie unsympathischer. Jeder Kilometer mehr will dich in die Knie zwingen, drängt dich zur Aufgabe. Dein Körper schreit, warum tust du mir das an? Dein Verstand stimmt zu, doch dein Wille verbietet ihm, dazwischenzufunken.
Du willst es schaffen! Es ist nicht dein erster Marathon, du weißt, was dich erwartet. Du bist sehr gut in Form. Du hast dich intensiv darauf vorbereitet, ein enormes Trainingsprogramm absolviert. Wenn das Wetter mitspielt, sind es optimale Bedingungen und du hast gute Chancen, deine Zeit vom Vorjahr wieder entscheidend zu verbessern. Es ist dein zehnter Marathonlauf und bisher hast du dir gegenüber immer Wort halten können. Jahr für Jahr hast du dich gesteigert. Heuer startest du bereits im ersten Block der Hobbyläufer. Kurz nach den Profiathleten, unter denen sicherlich wieder die Schwarzafrikaner überlegen dominieren werden. Als zusätzlichen Ansporn in diesem Jahr hast du dich auf diese absurde Wette mit deinen Kollegen eingelassen. Einen Rückzieher kannst du dir nicht leisten, immerhin ist es deine Idee gewesen. Manche trauen es dir zu, andere sind skeptisch. Du wirst die Zweifler überzeugen.
Thomas Matschek dreht das Wasser ab, steigt aus der Dusche und greift nach dem Badetuch. Jetzt hat er einige Stunden Zeit, sich zu regenerieren, bevor er am Nachmittag für eine weitere Trainingseinheit wieder auf die Donauinsel fahren wird. Sein Jugendfreund hat genaue Trainingspläne ausgearbeitet, die Matschek aufgrund seines Berufes nicht immer exakt einhalten kann. Für die letzten Marathonvorbereitungen hat sich der Polizist eine Woche Urlaub genommen. Der neunundzwanzigjährige Revierinspektor der Spezialeinheit WEGA1 hofft sehr, dass er nicht wegen Personalmangels zurückbeordert wird. In einer Großstadt wie Wien ist immer mit überraschenden Vorfällen zu rechnen. Zwar ist keine heikle Demonstration angemeldet und es findet auch in den Tagen vor dem Marathonstart kein problematisches Fußballmatch statt, doch es reicht ja, wenn jemand durchdreht, sich verschanzt, eine Geiselnahme. Ein Gewalttäter lässt seine Wut an der Familie aus. Oder ein Mensch kündigt seinen Selbstmord an. Wenn uniformierte Polizeikräfte mit ihrem Latein am Ende sind, werden die speziell ausgebildeten und für sämtliche Sonderfälle gewappneten WEGA-Leute angefordert.
Selbstverständlich kommt das permanente Training innerhalb der Einheit Matschek bei seinen privaten sportlichen Ambitionen zugute. Das Innenministerium und die Polizeiführung sind sehr froh, dass es Beamte wie ihn gibt, die nach außen hin sehr viel Positives zum Image der WEGA und der Polizei im Allgemeinen beitragen. Die Eliteeinheit war in den letzten Jahren durch einige unrühmliche Vorfälle ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik und der Medien geraten. Aus Erzählungen weiß Matschek, dass es noch nicht so lange her ist, dass die Kollegen die WEGA-Leute intern wenig schmeichelhaft als „Inbusschädel“ bezeichneten – aufgrund ihres nahezu einheitlichen eckigen Haarschnitts und weil viele von ihnen politisch eher im rechten Lager angesiedelt waren. Seit zwei Jahren ist Matschek nun bei der WEGA und das Bild hat sich grundlegend verbessert. Männer wie er, der er sich bereits in einigen gefährlichen Einsätzen bestens bewährt hat, sind ein Aushängeschild und daher genießt er auch die volle Unterstützung seiner Vorgesetzten. Für ihn ist es ein Traumberuf. Immerhin ist er familiär geprägt, sein Vater ist ebenfalls Polizist und steht knapp vor der Pensionierung.
„Manu!“, ruft er aus dem Badezimmer. „Wann musst du weg?“
„Gegen acht! Das Seminar beginnt um neun. Danach muss ich noch in die Bibliothek und dann komme ich wieder nach Hause. Und du wirst wieder trainieren gehen, Tom, nehme ich an?“
„Nein, heute nicht mehr. Jetzt ist wieder für einige Zeit Schluss!“
Zwar bewundert Manuela Haneka die Entschlossenheit und Konsequenz ihres Freundes, doch dieser inzwischen fast pathologischen Marathonleidenschaft kann sie nichts abgewinnen. Der vierundzwanzigjährigen Archäologiestudentin will partout nicht in den Kopf, wie Menschen freiwillig über vierzig Kilometer durch die Gegend laufen, sich bis an den Rand der Erschöpfung verausgaben und danach auch noch glücklich sein können. Die Steirerin aus Leibnitz ist kein Sportmuffel, aber sie hält sich lieber im Wasser auf oder mit rhythmischer Gymnastik fit.
Vor drei Jahren ist sie dem Zauber der Montur erlegen, als sie mit ihrem Auto einen geringfügigen Parkschaden verursachte und der Geschädigte vehement auf polizeilicher Intervention bestand. Der damalige Verkehrspolizist Thomas Matschek erwies sich als hervorragender Mediator. Somit wurde die harmlose Sache zu einem schnell geregelten Versicherungsfall. Die Delle war der Auslöser für einen beginnenden Flirt zwischen dem feschen Polizeibeamten und der nicht minder attraktiven Studentin.
Im Grunde verläuft das Zusammenleben der beiden harmonisch und unproblematisch, seit Manu vor einem Jahr in seine Junggesellenbude einzog und erst einmal für Ordnung sorgte. Zwei junge Menschen, die sich wirklich lieben und für einander geschaffen zu sein scheinen – gäbe es da nicht diese beiden Reibungspunkte. Mit seinem gefährlichen Beruf hat sie sich längst abgefunden, ist fasziniert davon, dass er ständig mit Leuten konfrontiert wird, denen sie niemals begegnen möchte, die sie aber trotzdem sehr interessieren. Rotlicht, Drogen, organisierte Kriminalität, Mord und Totschlag kennt sie nur aus dem Fernsehen oder vom Schmökern in Kriminalromanen.
Zwar gibt sie es nicht zu, aber Tom ist ihr Held, der sich täglich im Dienste der allgemeinen Sicherheit Gefahren aussetzt und in menschliche Abgründe blickt. Natürlich hat sie jedes Mal Angst, wenn er die Wohnung verlässt und seinen Dienst antritt.
Bloß sein Marathonfimmel stößt ihr säuerlich auf. Ihm, obwohl hoch gebildet und vielseitig interessiert, passt ihr Studium nicht in den Kram. Er ist der Meinung, dass es zwar sehr schön ist, in der Vergangenheit der Menschheit herumzubuddeln, dass der Mensch davon allerdings weder klüger noch besser wird, davon kann er sich jeden Tag selbst überzeugen. Es kann nicht die Erfüllung sein, später bis zur Pensionierung zwischen den Exponaten einer Museumssammlung zu verstauben. Manu versucht, diesen in unregelmäßigen Abständen auftauchenden Diskussionen nach Möglichkeit auszuweichen, weil sie immer mit einer zum Glück nicht lange andauernden Disharmonie enden.
Wenn sie jedoch sich selbst gegenüber ehrlich ist, stört es sie, dass ihr ehrgeiziger Tom vor einem Marathon tagelang von Sex überhaupt nichts wissen will, obwohl er sonst genau das Gegenteil ist und es selbst ihr, sicherlich kein Kind von Traurigkeit, manchmal zu viel wird, denn er hat es wirklich drauf. Über Kinder und Heirat sprechen sie manchmal, doch derzeit ist es kein Thema. Manu will erfolgreich ihr Studium abschließen und sich als Archäologin bewähren, er kann sich noch nicht vorstellen, Familienvater zu sein. Abschreckendes Beispiel ist die Ehe seiner älteren Schwester. Sein Schwager ist der wunde Punkt in einem sonst intakten Familienverband. Er ist ein arrogantes Arschloch, Artdirector in einer renommierten Werbeagentur und verdient dementsprechend, was er den kleinen Bullen bei diversen Familientreffen auch stets unterschwellig spüren lässt. Außerdem hat Tom ihn in Verdacht, sich mit Koks bei Laune zu halten. Bisher ist er ihm noch nicht auf die Schliche gekommen. Keine Ahnung, welcher Teufel damals seine Schwester geritten hat, sich mit diesem aufgeblasenen Wichtigtuer einzulassen. Zumindest ist seine kleine Nichte nach der Mutter geraten.
„Na schön, mein Schatz“, meint Tom und steht barfuß im Wohnzimmer. „Dann hau ich mich jetzt ein Weilchen aufs Ohr.“
Am liebsten würde ihm Manu das Badetuch von den Hüften reißen und diesen stählernen Körper auf der Stelle vernaschen. Doch sie nimmt sich zusammen, weiß sie doch, dass er ihr eine Abfuhr erteilen und sie auf später vertrösten würde. Scheißmarathon …
„Superzeit“, lobt der Sekretär seinen Chef. „Du hast dich wieder gesteigert. Wenn du dir übermorgen geschickt deine Kräfte einteilst, kommst du locker durch und kannst sehr stolz auf dich sein.“
Rudi Pawlicek wischt sich mit einem Frotteehandtuch den Schweiß von der Stirn und lehnt sich an einen Baum in der Prater Hauptallee, wo bereits die Aufbauarbeiten für den Vienna City Marathon angelaufen sind. Diese schnurgerade, knapp viereinhalb Kilometer lange Strecke vom Praterstern zum Lusthaus im zweiten Wiener Gemeindebezirk ist wichtiger traditioneller Bestandteil des Wiener Marathons und ihre Geschichte geht bis ins sechzehnte Jahrhundert zurück. 1538 entstand diese Allee durch Schlägerungen im Auwald und stellte eine Verbindung vom Palais Augarten zum kaiserlichen Jagdgebiet im Prater her. Neben der Hauptfahrbahn wurden Fußgängerpromenaden und Reitwege angelegt, sowie in mehreren Reihen Kastanienbäume gepflanzt.
Die Wiener nutzen diese riesige grüne Oase mitten in der Stadt als Erholungsgebiet und für den Sport. Neben Pawlicek bevölkern viele andere Hobbyläufer, Radfahrer und Nordic Walker die Strecke.
„Nun, bisher habe ich nur zwei Halbmarathons in den Beinen“, meint Pawlicek.
„Dann wird es Zeit, heuer auf die volle Distanz zu gehen. Jeder hat einmal begonnen“, ermuntert ihn sein engster Mitarbeiter.
„Du hast leicht reden“, bleibt Pawlicek skeptisch. „Schließlich kommst du aus der Leichtathletik und betreibst Zeit deines Lebens Sport. Im Gegensatz zu mir hast du nie geraucht und auch um Alkohol stets einen großen Bogen gemacht. Erst als mir mein Arzt die Rute ins Fenster gestellt hat, bin ich endlich aufgewacht. Und der Job fordert natürlich auch seinen Tribut.“
Der Wiener Stadtrat Rudi Pawlicek – sein Ressort in der Stadtregierung ist zuständig für Bildung, Jugend, Information und Sport – polarisiert. Nicht nur in der eigenen Partei, auch in der Bevölkerung. Der fünfundvierzigjährige Familienvater gilt als ehrliche Haut, was in der Politik keineswegs üblich ist, redet Klartext und hält sich auch nicht immer an die Parteilinie. Er ist alles andere als ein willenloser Apparatschik, was ihm schon öfter Rüffel des Parteivorsitzenden eingebracht hat. Pawlicek trägt sein Herz auf der Zunge und das tut ihm nicht immer gut. Er gilt als volksnah, überhaupt nicht abgehoben und ein offenes Ohr für den Bürger zu haben, ist für ihn keine hohle Floskel. Besonders engagiert er sich in Fragen der Asylpolitik und Migration. Klar, dass man sich damit nicht nur Freunde macht. Selbstverständlich ist Pawlicek das Feindbild der rechtslastigen Lager in diesem Land, aber ebenso für weite Kreise der Konservativen und hinter vorgehaltener Hand auch in einigen Teilen der eigenen Partei. Unterstützung bei diesen heiklen Themen findet er nur bei den Grünen, sofern es ihren Interessen entspricht.
„Was steht heute noch auf dem Programm?“, fragt Pawlicek seinen Sekretär, der als Leichtathlet zwar nie den internationalen Durchbruch schaffte, aber mit einigen österreichischen Laufrekorden über unterschiedliche Distanzen heimische Sportgeschichte schrieb. Pawlicek holte, nachdem er das Ressort übernommen hatte, Pokorny als Sportberater für die städtischen Belange in sein Team. Rasch konnte der nur um wenige Jahre jüngere Exsportler Pawliceks Vertrauen gewinnen und seine Loyalität unter Beweis stellen, die der Stadtrat belohnte, indem er ihn zu seinem persönlichen Sekretär auserkor.
„Vor der Gemeinderatssitzung haben wir noch den Fototermin mit den afrikanischen Athleten. Dann noch das Interview mit Wien heute2 wegen des Marathons. Das Team kommt zu uns ins Rathaus.“
„Dann hoffen wir, dass sich die Sitzung nicht wieder wie ein Strudelteig bis tief in die Nacht hinzieht“, seufzt Pawlicek und trocknet sich mit dem Handtuch seine nassen Haare ab.
„Ach ja“, tippt sich Pokorny an die Stirn. „Beinahe hätte ich es vergessen. Um siebzehn Uhr kommt noch dieser Teskalek von der Agentur, um dir die Sujets für die neue Plakatkampagne vorzulegen.“
„Wieder ein Grund mehr für die Opposition, wegen der Kosten Gift und Galle zu spucken.“
Weder dem Stadtrat noch seinem Sekretär fällt der Typ auf, der sie, versteckt zwischen Bäumen, mit seinem Handy filmt und fotografiert.
1Früherer Name: Wiener Einsatzgruppe Alarmabteilung
2Lokale Wiener TV-Nachrichtensendung
Thomas Matschek fühlt sich prächtig, ausgeruht und bereit, sich den extremen Anforderungen zu stellen. Inzwischen zählt er längst zu den erfahrenen Hobbymarathonläufern. Einen großen Anteil an seiner Topform hat er seinem Schulfreund Arthur Korber zu verdanken. Der Sportmediziner und Dopingspezialist, der in Fachkreisen trotz seines jungen Alters als Koryphäe gilt, sorgt wie schon bei den vergangenen Läufen für Toms optimale Vorbereitung. Heuer ist es noch dazu ein besonderer Marathon. Tom will unbedingt die Wette mit seinen Kollegen gewinnen.
Im Grunde eine Schnapsidee, entstanden in der Kantine der Rossauer Kaserne, wo die WEGA stationiert ist. Ein paar Kollegen zogen Tom wegen seines sportlichen Ehrgeizes auf, bis es ihm zu bunt wurde und er selbst diesen verrückten Einfall präsentierte. Da er im ersten Block der bestqualifizierten Hobbyläufer und somit knapp nach den Afrikanern und den anderen Profis starten darf, behauptet er, sich mindestens fünfhundert Meter lang an die Fersen eines dieser favorisierten Spitzenathleten heften und mitzuhalten zu können. Ob es sich dabei um eine Frau oder einen Mann handelt, ist egal. Sollte Tom scheitern und die Wette verlieren, wird er drei Monate lang für seine Kollegen Bereitschaftsdienste übernehmen. Das Gleiche gilt im umgekehrten Fall.
Selbstverständlich verschweigt Tom gegenüber Manu diesen Wetteinsatz. Ansonsten wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit eine wirkliche Krise die Folge. Wegen des Marathons dann noch zusätzliche Dienste übernehmen oder einspringen – das wäre ihr mit Sicherheit zu viel.
Natürlich ist ihr klar, dass sein Beruf niemals ein Nine-to-Five-Job sein kann. Seit sie zusammen sind, musste sie mehrmals in den sauren Apfel beißen und gemeinsame Pläne wurden verschoben, weil sein Dienst dazwischenfunkte, was ihr verständlicherweise nicht behagte. Und jetzt auch noch so eine durchgeknallte Wette! Doch Tom ist hervorragend motiviert und dementsprechend siegessicher. Diese Einstellung verdankt er auch Korber, der von der Wette weiß, aber dichthält.
Der Sportmediziner hat für seinen Freund einen genauen Halbjahrestrainingsplan ausgearbeitet und Tom bemüht sich, diesen strikt einzuhalten, soweit es sein Dienst zulässt. Da Tom berufsbedingt ständig im Training steht, konnte er ohne konditionelle Probleme alle zwei Wochen das Laufpensum erhöhen, das mit fünf Kilometern begann und als Abschluss mit der Marathondistanz in der hervorragenden Zeit von 3:10:28 endete.
Seit drei Wochen ist Tapering, die Phase der Reduzierung, in seinem Programm vorgesehen. Das Wochenpensum der Laufeinheiten wurde auf rund die Hälfte heruntergeschraubt. Auch längere Pausen in einem Ausmaß von ein bis zwei Tagen waren nötig, um dem Körper die Möglichkeit einzuräumen, sich zu erholen.
In den letzten Tagen vor dem Wettkampf nimmt Tom verstärkt Kohlenhydrate zu sich. Dieses in Fachkreisen sogenannte Carboloading verschafft dem Körper vermehrt Glykogen, das mittelfristig dafür sorgt, dass mehr vom Energieträger Glucose produziert wird. Deshalb organisieren viele Veranstalter am Vorabend des Marathonstarts Pastapartys. In Wien wird traditionellerweise zu Kaiserschmarren3 ins Rathaus geladen. Tom ist sich nicht sicher, ob er dieses Jahr hingehen wird. Einerseits reizt es ihn, ein bisschen Erfahrungsaustausch im Großen Rathaussaal zu betreiben, andererseits schadet es sicher auch nicht, rechtzeitig ins Bett zu kommen. Er ist registriert, das Nenngeld bezahlt. Seine Teilnehmerunterlagen mit dem Wichtigsten, der Startnummer, hat er sich bereits abgeholt.
Manu ist noch nicht nach Hause gekommen. Daher wird Tom noch ein Weilchen im Bett bleiben.
Im Gegensatz zu Tom kann es sich Stadtrat Rudi Pawlicek nicht aussuchen. In einer Sitzungspause lässt er sich bei der sehr gut besuchten Kaiserschmarrenparty im Rathaussaal blicken. Sein Sekretär und Pressesprecher Pokorny muss ihn mehrmals leise ermahnen, sich nicht zu verzetteln. Doch das ist leichter gesagt als getan. Es ist das tägliche Geschäft des Politikers. Wer für Volksnähe steht, darf sich nicht plötzlich abschotten. Smalltalk hier, Selfies dort, ein Fototermin für die Presse, Interviews für Radio und Fernsehen und zwischendurch ein paar Bissen von dem köstlichen Kaiserschmarren.
Niemand nimmt von dem jungen Mann in seinem unauffälligen grauen Jogginganzug Notiz, der sich unaufdringlich in der Nähe Pawliceks aufhält und fleißig Handyfotos schießt.
3Eine der bekanntesten Süßspeisen in der österreichischen Küche
Volksfeststimmung im 22. Wiener Gemeindebezirk vor der Reichsbrücke neben dem Vienna International Centre. Eine vieltausendköpfige Menge aus aller Herren Länder wartet auf den ersehnten Startschuss, den, wie jedes Jahr, ein prominentes Mitglied der Stadtregierung abfeuern wird. Ein Kordon von Footballspielern in ihrer martialischen Ausrüstung bildet ein menschliches Absperrband. Sobald der Schuss gefallen ist, sprinten sie los, laufen einige Meter mit und weichen dann zur Seite aus, um dem Marathonheer freie Bahn zu geben.
Zeitlich etwas vorverlegt startet die Profispitzengruppe mit den schwarzafrikanischen Athleten, die auch in diesem Jahr wieder sehr stark vertreten sind. Ihnen sollen keine Hobbyläufer in die Quere kommen und sie behindern. Außerdem könnte keiner dieser Freizeitsportler auch nur annähernd bei diesem rasanten Tempo der Afrikaner mithalten. Nur einer, WEGA-Mann Thomas „Tom“ Matschek, will versuchen, ein wenig an dem Mythos dieser Laufmaschinen zu kratzen. Wäre diese aberwitzige Idee publik, würde sie wohl für erhebliche Heiterkeitsstürme sorgen.
Was 1984 bescheiden mit 794 Teilnehmern, darunter 25 Frauen, als Frühlingsmarathon Wien begann, steigerte sich von Jahr zu Jahr kontinuierlich. Nach einem Jahr hatte sich die Läuferzahl bereits verdoppelt. Schnell sprach sich dieser Marathon in internationalen Läuferkreisen herum. Heute steht der Vienna City Marathon, wie die Laufveranstaltung seit 1993 offiziell heißt, auf einer Stufe mit den renommierten Bewerben in New York, Boston oder Berlin und ist aufgrund seiner hochprofessionellen Abwicklung äußerst beliebt.
Längst ist der Marathon zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor für die Stadt geworden. Im Zuge der Umwegrentabilität fließt einiges an Geld in die Kassen, fördert das Image der Stadt und den Tourismus. Da diese Großveranstaltung für internationale Aufmerksamkeit sorgt, ist sie auch für Sponsoren sehr interessant.
Eigentlich besteht der Wiener Marathon aus mehreren Bewerben. Natürlich steht an oberster Stelle die Königsdisziplin, diese gefürchteten 42,195 Kilometer. Wer sich diese Distanz nicht oder noch nicht zutraut, kann sich im Halb- oder Staffelmarathon bewähren. Besonders letzterer ist bei Firmen als Motivationstraining sehr beliebt. Auch für Kinder gibt es einen eigenen entsprechend verkürzten Lauf.
Die Veranstalter bemühen sich Jahr für Jahr, internationale Läuferasse für einen Start in Wien zu engagieren. Haile Gebrselassie aus Äthiopien oder die Britin Paula Radcliffe ziehen die Massen an. Marathonstars wie die Äthiopier Getu Feleke, Henry Kemo Sugut und John Kiprotich aus Kenia, die Deutsche Anna Hahner, die Kenianerinnen Flomena Cheyech Daniel und Hellen Jemaiyo Kimutai aus Äthiopien sind Zuschauermagneten.
Die Wiener Laufstrecke gilt als sehr attraktiv und abwechslungsreich. Nach dem Start beim Vienna International Centre überqueren die Athleten die Donau über die Reichsbrücke, passieren den Praterstern und laufen über die Hauptallee vorbei am Prater. Danach geht es weiter entlang am linken Ufer des Donaukanals hinauf bis zur Schwedenbrücke und bei der Urania erreicht der riesige Läuferstrom die Ringstraße, die er allerdings bei der Staatsoper verlässt, um in die Linke Wienzeile einzubiegen. Vorbei am Schloss Schönbrunn geht es über die Mariahilfer Straße zurück auf den Ring. Während die Halbmarathonläufer bis zum Ziel am Heldenplatz hier ihre letzten Kräfte mobilisieren, ist für die Marathonathleten noch lange nicht Schluss. Sie laufen am Rathaus vorbei, kommen in den Alsergrund, überqueren den Donaukanal über die Friedensbrücke und kehren über das linke Donaukanalufer ein zweites Mal in den Prater zurück. Vorbei am Ernst-Happel-Stadion und dem Lusthaus rückt langsam das Ziel in greifbare Nähe. Über die Franzensbrücke erneut zurück auf die Ringstraße und nun ist bereits jeder Meter eine Qual, bis endlich der Heldenplatz erreicht ist.
Entlang der Strecke feuern Zuschauermassen die Sportler an. Natürlich stehen die meisten Menschen an der Ringstraße und der Jubel für jeden einzeln, der das Ziel am Heldenplatz erreicht, ist frenetisch. Profiläufer schaffen diese Distanz in einer Zeit von knapp über zwei Stunden. Während sie bereits geduscht und umgezogen ihre Interviews geben, quält sich das Gros der Teilnehmer meist noch immer im ersten Drittel.
In der Geschichte des Wiener Marathons konnten sechs neue österreichische Rekorde aufgestellt werden. Drei von Gerhard Hartmann sowie jeweils einer von Dagmar Rabensteiner, Susanne Pumper und Andrea Mayr.
Nur noch wenige Minuten bis zum Start. Hubschrauber kreisen über dem Vienna International Centre und der Reichbrücke. Die Veranstalter haben wieder ganze Arbeit geleistet. Für die medizinische Versorgung und die Verpflegung der Läufer ist bestens gesorgt. In Kooperation mit der Stadt und der Polizei ist die Strecke bestmöglich gesichert. Dennoch spukt in den Köpfen der Verantwortlichen der Anschlag während des Boston-Marathons herum. Optimalen Schutz gibt es nicht. Vor Verrückten und skrupellosen Attentätern ist niemand gefeit.
Tom Matschek hat sich im ersten Block bis in die erste Reihe durchgekämpft und beobachtet die Afrikaner, die sich aufwärmen und mit kurzen Sprints auf der Reichsbrücke auf den Lauf vorbereiten. Manu wartet auf ihrem Mountainbike unter den Zuschauern. Sie ist seine moralische Unterstützung, wird ihn anfeuern, mit Getränken und speziellen Vitaminriegeln versorgen und somit nach Möglichkeit vor dem gefürchteten Hungerast zu bewahren versuchen, der doch unweigerlich kommen wird. Jene Phase, in der der Körper nicht mehr will und zu streiken beginnt, doch die Psyche das nicht akzeptieren will.
Tom überprüft zum wiederholten Male die Schnürung seiner Laufschuhe. Das Wetter ist perfekt. Strahlende Frühlingssonne, kaum Wind. Zur Sicherheit hat er den alten Läufertrick angewandt und sich die Brustwarzen mit Heftpflaster abgeklebt, um während des Laufens ein Scheuern durch das Trikot zu verhindern. Einige dienstfreie Kollegen winken als Zaungäste, warten gespannt, ob er tatsächlich sein nahezu unmögliches Vorhaben realisieren kann.
Tom ist klar, sollte es ihm gelingen, wird er für einige Minuten die Sensation in der Live-Berichterstattung sein. Der ORF überträgt mit der besten Technik, die derzeit möglich ist. Ob von Hubschraubern aus oder verschiedenen markanten Kamerapositionen an der Strecke. Mobile Reporter und Kameramänner sitzen auf den Soziussitzen von Motorrädern, um den Läufern ganz nah sein zu können. Jedes Keuchen und jeder Schweißtropfen werden live übertragen, jeder Kilometer genau dokumentiert.
Heute früh hat Tom nochmals mit seinem Freund Arthur Korber die Taktik und die Strategie durchgesprochen. Um seine Wette zu gewinnen, muss der Polizist mit einem enormen Tempo starten, damit er überhaupt eine Chance hat, in die Nähe der Afrikaner zu kommen. Zwar ist das gegen alle Regeln des Marathons, doch die Wette ist vorrangig. Daher wird der Sportmediziner für Tom den Schrittmacher spielen. Beide haben so oft wie möglich gemeinsam trainiert und Korber ist guter Dinge, dass ihr Plan problemlos umgesetzt werden kann. Nachdem gleichsam die Wette gewonnen ist, wird das Tempo radikal reduziert, bis sich der Körper wieder erholt hat, um dann wieder zuzulegen. Die Endzeit am Heldenplatz ist zweitrangig, nur das Durchkommen zählt.
Wie viele andere verzichtet Tom Matschek auf ein Frühstück, zumindest in fester Form, um eventuelle Verdauungsprobleme zu vermeiden. Noch letzte leichte Streckübungen, jetzt wird es gleich losgehen. Viele ältere Menschen sind im Starterfeld. Andere nehmen den Marathon nicht so ernst, haben sich abenteuerlich und skurril verkleidet. Doch sowohl Zuschauer als auch Läufer zollen etlichen Rollstuhlfahrern und Handbikern besondere Bewunderung.
Die Spannung ist inzwischen ins Unerträgliche gestiegen. Die Profis haben Aufstellung genommen, konzentrieren sich. Dahinter haben die Footballer ihre Positionen bezogen. Die Masse der Läufer lauert. Nur noch wenigen Sekunden bis neun Uhr. Eine eigentümliche Ruhe hat sich eingestellt. Phasenweise ist nur das Knattern der Hubschrauberrotoren zu hören.
Punkt neun Uhr, der Startschuss ist gefallen.
Mit einer unglaublichen Anfangsgeschwindigkeit setzt sich das Profifeld in Bewegung und muss, wie gleich alle anderen danach, die erste Hürde meistern, denn die Reichsbrücke ist leicht ansteigend. Erst ungefähr in der Mitte flacht sie wieder ab. Jetzt toben die Zuschauermassen, das Laufspektakel ist eröffnet.
Tom fiebert dem Massenstart entgegen. Wann geht es endlich los? Noch bewegen sich die Footballer keinen Millimeter. Das Hauptfeld startet mit einer dreiminütigen Verzögerung.
Endlich!
Der WEGA-Mann startet dermaßen impulsiv, dass sein Schrittmacher Mühe hat, mit ihm gleichzuziehen. Tom selbst muss aufpassen, dass er nicht einem der Footballer, der eben zur Seite ausweichen will, unabsichtlich auf die Ferse tritt und sich gleich selbst außer Gefecht setzt, bevor es überhaupt richtig begonnen hat.
Der Applaus der Zuseher ist Tom gewiss. Wenn auch einige Stimmen laut werden und meinen, diese Geschwindigkeit hält der nie durch. Spätestens in der Lassallestraße, nach der Reichsbrücke, geht der Typ ein.
Arthur Korber läuft neben Tom, deutet ihm mit Handzeichen, es nicht dermaßen wild angehen zu lassen. Dann überholt er Tom und gibt, wie es seine Aufgabe als Schrittmacher ist, das Tempo vor. Die Entfernung zwischen den beiden und dem Hauptfeld vergrößert sich Meter um Meter. Manu muss kräftig in die Pedale treten, um die beiden einzuholen.
Arthur Korber läuft wie ein präzises Uhrwerk und Tom findet rasch in seinen Rhythmus. Die Schreie und der Jubel des Publikums lassen ihn nahezu von Meter zu Meter fliegen. Schon jetzt haben die beiden die Aufmerksamkeit der Journalisten auf sich gezogen. Ein Kameramotorrad fährt neben ihnen her. Der Kameramann schwenkt auf Tom und Arthur. Ein weiteres Motorrad nähert sich. Der Reporter von Wien heute spricht hektisch in sein Mikrophon, ist ebenso wie die Zuschauer verwundert über die beiden Läufer, die bei diesem hohen Anfangstempo noch keinerlei Anzeichen von Schwäche zeigen.
„Da scheint sich gleich zu Beginn eine kleine Sensation bei diesem Vienna City Marathon abzuzeichnen“, schildert Martin Lang vom ORF-Landesstudio Wien vom Rücksitz des Motorrades aus. „Den beiden gelingt es tatsächlich, das Hauptfeld derzeit weit hinter sich zu lassen.“ Jetzt ist der Reporter auf gleicher Höhe mit Tom und Arthur. „Meine Herren, was haben Sie vor?“
„Ins Ziel zu kommen“, spricht Tom knapp in das hingestreckte Mikro. „Was sonst?“
„Und Sie meinen, dieses Höllentempo durchhalten zu können?“
Als Antwort erhält Lang nur Toms hochgestreckten Daumen, während Arthur abwinkt und zu keinerlei Aussagen bereit ist.
Noch klappt Arthur Korbers ausgeklügelte Strategie hervorragend. Lang erhält über Kopfhörer von der Regie die Anweisung, an den beiden dranzubleiben. Der Regisseur im Übertragungswagen ahnt, dass hier etwas ganz Besonderes im Busch zu sein scheint. Über die Startnummern weiß man inzwischen, wer die beiden sind, doch ihre Namen sind völlig unbekannt. Manu haben bereits die Kräfte verlassen. Inzwischen ist sie mit ihrem Mountainbike weit zurückgefallen.
Bislang hat Tom keine Probleme, das Tempo zu halten, das sein Freund vorlegt. Inzwischen steigt die Begeisterung des Publikums für diese beiden Läufer von Kilometer zu Kilometer. Nach und nach spricht es sich herum, dass die beiden Amateure sind. Selbstverständlich bleiben gewisse Unkenrufe nicht aus. Einige meinen, dass hier wohl Doping im Spiel sei.
Neben der Spitzengruppe sind Tom und Arthur derzeit die Attraktion der Live-Berichterstattung. Unzählige Handyfotos und Videoclips der Zuschauer landen umgehend im Netz. Die professionellen Fotografen richten ihre Objektive auf die beiden Amateure, die drauf und dran sind, die internationale Marathonwelt auf den Kopf zu stellen.
Tom hat sein Ziel bereits vor Augen. Nach den ersten fünfhundert Metern in der Prater Hauptallee ist die Spitzengruppe in realistische Nähe gerückt. Sportreporter Martin Lang glaubt, seinen Augen nicht zu trauen.
, wie es so schön heißt, sicher. Sein Gefährte und offensichtlicher Schrittmacher ist Dr. Arthur Korber, ein Mediziner, wie wir bisher in Erfahrung bringen konnten.“