ALAN DEAN FOSTER
DAS TAR-AIYM KRANG
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Widmung
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Für Larry Thor und
John W. Campbell, jr.,
meine Lehrmeister
Der Flinx war ein ethischer Dieb, denn er stahl nur von solchen, die es mit dem Gesetz nicht ganz genau nahmen. Und auch das nur, wenn es absolut notwendig war. Nun, vielleicht nicht absolut. Aber er versuchte es wenigstens. Seiner Umgebung entsprechend war seine Moral notwendigerweise in hohem Maße anpassungsfähig. Und wenn man alleine lebt und seinen siebzehnten Sommer noch nicht erreicht hat, muss man in solchen Dingen etwas großzügig sein.
Man könnte nun natürlich sagen, falls der Flinx bereit wäre zuzuhören (ein höchst unwahrscheinlicher Umstand), dass die endgültige Entscheidung, von wem man nun sagen könne, dass er es mit den Gesetzen genau nehme oder nicht, eine höchst totalitäre wäre. Ein Philosoph würde wissend beifällig nicken. Flinx konnte sich solchen Luxus nicht leisten. Seine Ethik wurde vom Kampf ums Überleben und nicht von abstrakten Begriffen bestimmt. Man musste es ihm hoch anrechnen, dass er es bis zur Stunde geschafft hatte, so weit auf der akzeptablen Seite der augenblicklichen Moralbegriffe zu bleiben, wie das bei ihm der Fall war. Andererseits musste man fairerweise auch dem Zufall einen Teil dieses Lobes zukommen lassen.
Aber in der Regel erwarb er sich seinen bescheidenen Lebensunterhalt meist auf ehrliche Weise. Und das war nicht nur eine Frage der Vernunft, sondern auch die seines freien Willens. Ein zu erfolgreicher Dieb zieht immer zuviel unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich. Und zu guter Letzt wirkt sich dann so etwas wie ein kriminalistisches Naturgesetz aus, welches besagt, dass zwar von nichts nichts kommt, dass aber allzuviel auch ungesund ist.
Und außerdem waren die Gefängnisse von Drallar notorisch ungastlich.
Gute Plätze für reisende Jongleure, Minnesänger und dergleichen, auf denen diese in der Stadt ihr Talent zur Schau stellen konnten, gab es nur wenige. Und einige davon waren wesentlich besser als andere. Dass es ihm bei seinem vergleichsweise bescheidenen Alter gelungen war, sich einen der besten davon zu sichern, war in gleichem Maße seinem Glück und der Hartnäckigkeit der alten Mutter Mastiff zuzuschreiben. Von seiner frühesten Jugend an hatte sie die kleine, etwas erhöhte Plattform neben ihrem Laden für ihn reserviert und alle anderen Schausteller mit der Kraft ihrer Stimme oder, wenn es sein musste, auch mit Waffengewalt vertrieben, je nachdem, wie es die Umstände und die Hartnäckigkeit des Eindringlings notwendig machten. Sie hieß natürlich in Wirklichkeit nicht Mutter Mastiff, aber so nannten sie alle. Flinx eingeschlossen. Auf Drallars Marktplatz hielt man nicht viel von nichtigen Namen. Zur Identifizierung taugten sie nicht viel, dafür nützten sie aber den Steuereintreibern um so mehr. Und so ergab es sich, dass jedem neuen Bewohner schnell ein passender Name zugeteilt wurde. Mutter Mastiff beispielsweise glich der terranischen Hunderasse gleichen Namens, auch unter der wesentlich unfreundlicher klingenden Bezeichnung ›Bullenbeißer‹ bekannt, verblüffend. Man verpasste ihn ihr im Spaß, und sie zeigte sich nicht gerade begeistert, akzeptierte ihn aber nichtsdestoweniger. Ihre bärbeißige Art und ihre missmutige Miene taten ein übriges, um die physische Ähnlichkeit zu untermalen.
Der Junge war Waise gewesen. Wahrscheinlich, ohne es zu wollen, wie die meisten seinesgleichen. Aber wer konnte das schon sagen? Wäre sie nicht damals an den Sklavenpferchen vorbeigegangen und hätte zufällig in eine bestimmte Richtung geblickt, wäre es ihr nie aufgefallen. Aus Gründen, die sie nie ganz begriff, hatte sie das Kind gekauft, es aufgezogen und es, sobald es dafür alt genug war, dazu angehalten, ein Handwerk zu erlernen. Glücklicherweise hatten sich seine theatralischen Neigungen im Verein mit seinen seltenen Talenten schon in sehr früher Jugend gezeigt. So löste sich das Problem von selbst, welches Gewerbe sich wohl am besten eignete. Er erwies sich als aufmerksamer, beinahe würdig wirkender Beobachter und war so sein eigener bester Lehrling. Schön und gut, weil die älteren Berufskollegen in seiner Gegenwart immer viel nervöser wurden, als sie zuzugeben bereit waren. Und um es nicht zugeben zu müssen, erklärten sie ihn für unbelehrbar und überließen ihn sich selbst.
Sie hatte ihn auch, so früh das praktisch durchführbar war, gelehrt, dass in Drallar Unabhängigkeit viel mehr war als ein bloßer abstrakter Begriff. Sie war ein Besitztum, selbst wenn man es nicht in die Tasche stecken konnte, und als solches musste man sie schätzen. Dennoch war sie traurig, als er sie beim Wort genommen hatte und ausgezogen war, um alleine zu leben, und die Traurigkeit haftete ihr an wie ein neuer Anstrich. Aber sie sagte ihm das nie, aus Angst, Schwäche zu zeigen. Nicht mit Worten und nicht mit ihrer Miene. Im Gegenteil, sie nötigte ihn liebevoll, aber entschieden, so wie man die jungen Vögel von den Polen treibt. Außerdem wusste sie, dass für sie jederzeit der Augenblick kommen konnte, und sie wollte, dass das dann sein Leben nur so leicht wie möglich streifen sollte.
Flinx spürte das, er wusste, dass Mutter Mastiff seine Mutter aus Sympathie, nicht aus Blutsverwandtschaft war. Sein Vater war der Zufall, sein Erbe das Glück. Von seinen wahren Eltern wusste er nichts, auch der Auktionator hatte von ihnen nichts gewusst. Auf seiner Karte hatte noch weniger gestanden, als in solchen Fällen üblich ist, nicht einmal der elementarste Stammbaum. Ein Bastard. Das sah man an seinem langen orangeroten Haar und seiner olivfarbenen Haut. Der Grund seines Waisentums würde in alle Ewigkeit so obskur wie ihre Gesichter bleiben. Er ließ den Lebensstrom der Stadt in seinen Geist eindringen und die unangenehmen Gedanken überfluten.
Ein Tourist, der mehr Verstand gezeigt hatte als die meisten, hatte einmal bemerkt, wenn man durch den großen Zentralmarkt von Drallar schlenderte, so wäre das, wie wenn man in einer Brandung steht und sich von den geduldigen Wellen umspülen lässt. Flinx hatte das Meer nie gesehen, also konnte er mit dem Vergleich nicht viel anfangen. Auf Moth jedenfalls gab es wenig größere Gewässer und Ozeane schon gar nicht. Nur die nie gezählten, unzähligen Seen von Dem-Blau-Das-Blendet.
Der Planet war mit ungewöhnlicher Schnelligkeit aus seiner letzten Eiszeit herausgewandert. Die schnell schwindenden Gletscher hatten auf seiner Oberfläche Pockennarben hinterlassen – glitzernde lapislazulifarbene Seen, Tümpel und Teiche. Und die fast täglichen Regenfälle sorgten dafür, dass die Wasserstände, die von den zurückweichenden Gletschern einmal aufgebaut waren, auch erhalten blieben. Drallar lag in einem ungewöhnlich trockenen Tal, und die gute Entwässerung und das Fehlen von Regenfällen (genauer gesagt: das Fehlen von Schlamm) war einer der wichtigsten Gründe für das Wachstum der Stadt. Hierher konnten die Händler ziehen, um ihre Waren auszubreiten, und Handwerker konnten Läden errichten, ohne befürchten zu müssen, dass sie jeden dritten Monat weggespült wurden.
Der ewige Kreislauf zwischen Verdunstung und Niederschlägen unterschied sich auf Moth von dem vieler sonst ähnlicher Planeten vom Homanx-Typ. Wüsten konnten nicht entstehen, weil es keine richtigen Bergketten gab, welche die mit Feuchtigkeit beladene Luft hätten blockieren können. Da es auch keine Meeresbecken gab und das Terrain im allgemeinen etwas hügelig war, konnte sich nie ein größeres Entwässerungssystem bilden. Die Flüsse und Flüsschen, Bäche und Bächlein, Kanäle und Kanälchen von Moth waren ebenso unzählbar wie die Seen, aber größtenteils an Länge und Volumen unbedeutend. Also verteilte sich das Wasser des Planeten ziemlich gleichmäßig über seine Oberfläche, wenn man von den zwei großen Eiskappen an den Polen und den Überresten der großen Gletscher absah. Moth war vergleichbar mit den Ebenen im amerikanischen Mittelwesten auf Terra, nur dass auf Moth Koniferen standen, wo auf der Erde Mais gedieh.
Die rhythmischen Rufe der Händler, die die Waren von tausend Welten anpriesen, bildeten einen nervösen Kontrapunkt zu dem vergleichsweise gleichmäßigen Murmeln der Menge. Flinx eilte an einem Kleiderladen vorbei, den er kannte, und wechselte im Vorüberlaufen ein kurzes geheimes Lächeln mit seinem Besitzer. Dieser Zeitgenosse, ein kräftig gebauter, blonder Mensch in mittleren Jahren, hatte gerade an zwei ausländisch gekleidete Außerplanetarier ein paar Mäntel aus Durfaqhaut verkauft … um einen Preis, der das Dreifache ihres Wertes darstellte. Ein Sprichwort kam ihm in den Sinn: ›Wer unerfahren nach Drallar kommt, um Haut zu kaufen, wird Erfahrungen machen‹.
Flinx’ wohl ausgewogenes Gefühl für Geschäftsethik störte das überhaupt nicht. Das war kein Diebstahl. Caveat Emptor. Pelze und Fasern, Holz und Wasser waren der Lebensnerv von Moth. Kann man einer Tomate Samen stehlen? Der Verkäufer war mit seinem Handel zufrieden, die Käufer ebenso, und der Unterschied würde mithelfen, die Stadt in Form von Wohltätigkeit und Bestechung am Leben zu erhalten. Außerdem konnte sich jeder Außerplanetarier, der es sich leisten konnte, nach Moth zu kommen, es sich auch verdammt gut leisten, die dort üblichen Preise zu bezahlen. Die Händler von Drallar waren keineswegs räuberisch veranlagt, nur gerissen.
Im großen und ganzen war es ein ziemlich offener Planet. Die Regierung war eine Monarchie, ein Relikt aus den früheren Tagen des Planeten. Historiker fanden ihn anheimelnd und altmodisch und studierten ihn, Touristen fanden ihn malerisch und knipsten munter drauflos, und für seine Bewohner war er nur dem Namen nach erschreckend. Moth war abrupt und unvorbereitet mitten in den Strudel interstellaren Lebens hineingeschleudert worden und hatte den schwierigen Übergang recht gut überstanden. Was Außerplanetarier, die sich auf Moth bereichern wollten, sehr schnell herausfanden. Aber auf einem Planeten, wo das Gros der eingeborenen Bevölkerung aus Nomadenstämmen bestand, welche ebenso nomadischen Pelztieren folgten, die dem Verlust besagter Pelze einigen Widerstand entgegensetzten, hätte sich eine demokratische Regierung als äußerst problematisch erwiesen. Und die Kirche mischte sich natürlich nicht ein. Die Räte dachten selbst nicht daran, eine Regierung zu konstituieren, folglich kamen sie natürlich auch nicht auf den Gedanken, anderen eine solche Regierung aufzuzwingen. Die Demokratie würde auf Moth warten müssen, bis die Nomaden es zulassen würden, dass man sie zählte, katalogisierte, etikettierte und aktenkundig machte, und bis dahin würde noch sehr, sehr viel Zeit vergehen. Es war allgemein bekannt, dass das königliche Büro für Volkszählung jährlich Zahlen veröffentlichte, die eher höflich als genau waren.
Die Hauptwirtschaftszweige des Planeten waren Holzprodukte, Pelze und Tourismus. Das und der Handel. Pelztiere jedes vorstellbaren Typs (und auch ein paar unvorstellbare) gab es in den endlosen Wäldern des Planeten zuhauf. Selbst die Insekten trugen Pelz, um das allgegenwärtige Wasser abgeben zu können. In den Barklands gediehen die meisten bekannten Arten von hartem und weichem Holz. Darunter auch eine Anzahl einmaliger und nicht klassifizierbarer Typen wie zum Beispiel eine bestimmte Laubpilzsorte. Die riesigen Seen beherbergten Fische, die man von umgebauten Barken aus fing, die mit kyborgunterstützten Fischleinen ausgestattet waren. Und das Jagdleben auf dem Planeten fing gerade erst an – in erster Linie, weil diejenigen, die sich in die riesigen Wälder wagten, beunruhigend schweigsam blieben.
Drallar war die Hauptstadt von Moth und gleichzeitig auch die größte Stadt des Planeten. Dank günstiger galaktischer Koordinaten und der aufgeklärten Steuerpolitik einer ganzen Folge von Königen war es jetzt auch ein interstellarer Umschlagplatz für Waren- und Handelsgeschäfte. Alle großen Finanzhäuser hatten wenigstens eine Niederlassung hier, wenn sie schon ihre wichtigeren Büros den ›zivilisierteren‹ Planeten vorbehielten. Der Monarch und seine Beamten waren höchstens dem Namen nach korrupt, und der König sorgte dafür, dass das Volk nicht von übertriebenen Vorschriften und Gesetzen überfordert wurde. Nicht dass das aus Liebe für den Mann auf der Straße geschah. Es war einfach handelspolitisch logisch. Denn wenn es keine Geschäfte gab, dann gab es auch keine Steuern. Und wenn es keine Steuern gab, so hieß das, keine Regierung. Und keine Regierung würde bedeuten, dass es keinen König gab, einen Zustand, den der augenblickliche Monarch, seine Trockenste Majestät König Dewe Nog Na XXIV. sich große Mühe gab, zu vermeiden.
Und dann konnte man Drallar auch riechen.
Die Geschäfte Drallars wurden, neben den eingeborenen Menschen, auch von einem halben Hundert intelligenter Rassen geführt. Um dieses Konglomerat der Wirtschaft ungehindert pulsieren zu lassen, benötigte man eine phantastische Vielfalt organischer Treibstoffe. So umgab den Zentralmarkt eine scheinbar endlose Reihe von Garküchen, Roboküchen und Restaurants, die in Wirklichkeit eine einzige große, ununterbrochene Küche darstellten. Die sich ergebende Kombination von Aromen, die von diesen Etablissements erzeugt wurde, vermischte sich und bildete eine Atmosphäre, die in der ganzen bekannten Galaxis ihresgleichen suchte. An etwas zivilisierteren Handelsstützpunkten wurden solche exotischen Düfte im Hintergrund gehalten. Auf Drallar gab es kein Ozon, das hätte verseucht werden können. Das was dem einen Nahrung war, diente dem anderen als Narkotikum. Und was dem einen Narkotikum war, konnte durchaus bei einem anderen Geschöpf Übelkeit erzeugen.
Aber durch irgendeinen glücklichen Umstand der Chemie mischten sich all diese Dünste so gut in die natürlich feuchte Luft, dass sich alle etwa schädlichen Effekte irgendwie aufhoben. Es blieb nur ein dickes Parfüm, das einen im Halse kitzelte und den Unvorbereiteten ständig schlucken ließ. Man konnte sich ein opulentes und befriedigendes Mahl beschaffen, indem man sich einfach mitten auf den Markt setzte und eine Stunde lang tief atmete. Wenig andere Orte im Spiralarm hatten sich diesen Ruf erworben. Es entsprach durchaus den Tatsachen, dass Feinschmecker bis von Terra oder Procyon herbeieilten, nur um sich an den Rand des Marktplatzes zu setzen, und lange und erregte Wettbewerbe abhielten, in denen die Teilnehmer versuchten, die Gerüche zu identifizieren, die von der feuchten Brise nach draußen getragen wurden.
Der Grund für diese kreisförmige Anordnung war einfach. Ein Geschäftsmann konnte sich am Rande des Marktes stärken und sich dann in den Wirbel der Geschäfte stürzen, ohne besorgt sein zu müssen, dass ihn mitten in einer wichtigen Transaktion ein plötzlicher Hauch – sagen wir – würzigen Pregorauchs von den Bahnholzfeuern umwarf. Den größten Teil des Tages erfüllte dieser weite Kreis seinen Zweck geradezu bewundernswert, aber während der Hauptmahlzeiten glich der Markt mehr denn je dem Wechsel von Ebbe und Flut.
Flinx blieb am Stand des alten Kiki stehen, eines Süßigkeitenhändlers, und kaufte sich einen kleinen Thisk-Kuchen. Es handelte sich dabei um ein Gebäck, das aus zähem mutierten Weizen hergestellt und innen mit Fruchtstückchen, Beeren und kleinen Parma-Nüssen gefüllt war. Das fertige Produkt wurde dann in warmen Honig getaucht und durfte anschließend aushärten. Man brauchte gesunde Zähne, um es zu genießen, aber wenn man erst einmal durch die harte Kruste war, erschloss sich dem Gaumen ein geradezu himmlischer Genuss. Nur einen Nachteil hatte es: seine Konsistenz. Wenn man in einen Thisk-Kuchen hineinbiss, war das, zunächst einmal, als schlüge man die Zähne in die Isolierung alter Raumanzüge. Aber dafür hatten die Kuchen einen hohen Energiegehalt, die Parma-Nüsse waren leicht berauschend, und Flinx empfand das Bedürfnis einer milden Anregung, ehe er sich ans Werk machte.
Und abgesehen von den Geräuschen und den Gerüchen, abgesehen von allem, bot Drallar auch einen höchst beeindruckenden Anblick.
Die Gebäude am Markt waren ziemlich niedrig, aber außerhalb des Garküchenhalbkreises konnte man die alten Mauern sehen, Überreste der Altstadt. Und zwischen und hinter diesen Mauern verteilten sich die Gebäude, wo der wichtigere Handel stattfand. Die Lebensader von Moth verlief hier, nicht in den Ständen darunter. Jeden Tag wurde in den verräucherten Hinterzimmern und Büros dieser alt-neuen Gebäude das Vermögen von einem Dutzend Welten verschachert. Dort verwöhnten die Feinschmeckerrestaurants die reichen Sportsleute, die von den Seen zurückkehrten und die Nase rümpften und die Fenster schlossen, um die plebejischen Ausdünstungen fernzuhalten, die aus den Garküchen zu ihnen drangen. Dort gingen die Tierausstopfer ihrem widerlichen Handwerk nach, stopften daunige Yax’m-Pelze voll und montierten die ebenholzfarbenen alptraumhaften Köpfe der gehörnten Demichin Devilope.
Und dahinter erhoben sich die Wohnhäuser, wo die unteren und mittleren Klassen lebten, wobei die Behausungen der Ärmeren an der geringeren Fensterzahl und dem abspringenden Verputz kenntlich waren, jene der wohlhabenderen durch die wunderschönen mehrstöckigen Wandgemälde, die fahrende Künstler angebracht hatten, und den strahlend azurfarbenen Dachziegeln, die die Häuser im Winter warm und im Sommer kühl hielten. Und noch weiter dahinter stiegen die isolierten Turmgruppierungen der reichen Vorstädte auf mit ihren hängenden Gärten und den verstärkten Kristallterrassen. Diese Behausungen erhoben sich hochmütig über den Lärm und den Dunst und schimmerten wie juwelenbesetzte Giraffen im Morgennebel.
Und aus dem Zentrum der Stadt stieg, alles dominierend, der große Palast der Herrscher von Drallar in den Himmel. Generationen von Königen hatten daran gebaut, und jeder hatte einem Flügel oder einem Trakt den Stempel seiner eigenen Persönlichkeit aufgeprägt. Dort residierte König Dewe Nog Na und sein Hof. Manchmal fuhr er mit dem Lift ins oberste Minarett und überblickte dort von der sich langsam drehenden Plattform aus müßig den unmöglichen Ameisenhaufen, der sein Reich bildete.
Aber das Schönste an Moth war nicht Drallar mit seinen schimmernden Türmen und seiner vielfarbigen Bürgerschaft, auch nicht die unzähligen Seen und Wälder und nicht die vielfältigen mannigfachen Geschöpfe, die darin wohnten. Es war der Planet selbst. Es war das, was ihm seinen Namen verliehen und ihn im ganzen Spiralarm einzigartig gemacht hatte – das was die Menschen ursprünglich in sein System gelockt hatte. Planeten mit Ringen waren selten genug.
Moth aber hatte Schwingen.
Die ›Schwingen‹ von Moth waren ohne Zweifel einmal ein breiter Ring gewesen ähnlich dem des Saturn. Aber irgendwann in ferner Vergangenheit war dieser Ring an zwei Stellen gebrochen – vielleicht infolge von Gravitationsspannungen oder vielleicht auch einer Veränderung der magnetischen Pole. Niemand wusste es bestimmt. Das Resultat jedenfalls war ein unvollständiger Ring, der aus zwei großen Halbmonden aus pulverisierten Steinen und Gas bestand, die den Planeten umkreisten, getrennt durch zwei große Lücken. In der Nähe des Planeten waren diese Halbmonde enger, aber draußen im Weltall breiteten sie sich infolge der abnehmenden Schwerkraft wie natürliche Fächer aus, was zu dem berühmten ›Schwingen‹-Effekt führte. Sie waren auch wesentlich dicker als die Ringe des Saturn und enthielten eine höhere Konzentration fluoreszierender Gase. Und das Ergebnis waren zwei gigantische dreieckige buttergelbe Gebilde, die sich zu beiden Seiten des Planeten ins All erstreckten.
So war es vermutlich unvermeidbar, dass der einzige Mond des Planeten Moth den Namen Flame bekam. Manche hielten das für etwas albern, aber der Name blieb haften. Er war etwa ein Drittel kleiner als Terras Luna und beinahe doppelt so weit entfernt. Eine Eigenschaft war charakteristisch. Er ›brannte‹ nicht, wie man vielleicht aus dem Namen hätte schließen können, wenn er auch hell genug war. Tatsächlich fanden manche den Begriff ›Mond‹ unpassend, da Flame sich überhaupt nicht um seinen Mutterplaneten drehte, sondern statt dessen auf der gleichen Bahn wie Moth um dessen Sonne kreiste. Die beiden Namen blieben jedenfalls haften. Eine Rübe, die einen juwelenbesetzten Esel anlockt, dem in alle Ewigkeit die Befriedigung seines Appetits versagt bleibt. Glücklicherweise hatten die Entdecker des Systems der Versuchung widerstanden, die beiden Weltkörper nach jenem letztgenannten Sprichwort zu benennen. Die beiden waren, wie so viele Spiele der Natur, zu herrlich, als dass man sich über sie hätte lustig machen dürfen.
Die Schwinge an Drallars Seite konnte Flinx nur als dünnen, glühenden Strich erkennen, aber er hatte Bilder gesehen, die man aus dem Weltall aufgenommen hatte. Er selbst war noch nie im Weltraum gewesen, nur Bilder hatte er gesehen, aber er hatte viele der Schiffe besucht, die im Hafen lagen. Dort lauschte er zu Füßen der alten Raumfahrer gebannt, wenn sie ihre Geschichten von den großen KK-Schiffen erzählten, die das finstere leere Firmament durchzogen. Da diese monströsen interstellaren Fahrzeuge natürlich nie auf Planeten landeten, hatte er ein solches nie persönlich gesehen. Solche Landungen wurden nur in äußerster Not und auch dann nie auf bewohnten Planeten durchgeführt. Ein Doppelka trug den Gravitationstrichter einer kleinen Sonne auf der Nase, so wie eine Biene Pollen trägt. Selbst wenn man es auf die winzige Größe zusammenschrumpfen ließ, die eine einfache Landung erforderte, würde dieses Feld die ganze Schiffsmasse schützen. Und gleichzeitig würde es eine beträchtliche Furche in die Planetenkruste reißen und alle möglichen unerwünschten Naturphänomene auslösen, wie Tsunamis und Orkane und dergleichen. Also tanzten die kleineren Shuttles wie ein Jo-Jo zwischen dem Fernraumer und dem Planeten hin und her, trugen Menschen und ihre Waren nach unten, während die mächtigen Transporter selbst in der schwarzen, kalten Weite in polyphemischem Exil verblieben.
Es hatte ihn ins Weltall gedrängt, aber er hatte bis jetzt noch keinen guten Grund dafür gefunden, und außerdem konnte er ja schließlich Mutter Mastiff nicht alleine lassen. Obwohl sie stets mit lautstarken Beteuerungen darauf bestand, kerngesund zu sein, sie war über hundert. Sie wegen einer bloßen Vergnügungsreise alleine zu lassen, war ein Gedanke, der ihm gar nicht erst in den Sinn kam.
Er zog sich den Umhang um die Schultern und begrub Pip dabei fast in dickem Pelz. Für einen von Menschen bewohnten Planeten war Moth nicht besonders kalt, aber tropisch konnte man ihn auch nicht nennen. Er konnte sich nicht erinnern, am Morgen je etwas anderes als feuchten, klammen Nebel verspürt zu haben. Das einzig Gute, was man über dieses Klima sagen konnte, war, dass man sich darauf verlassen konnte. Man benutzte hier Pelze mehr, um Wasser abzugeben, als sich vor der bitteren Kälte zu schützen. Es war kalt, kein Zweifel, aber nicht eisig. Zumindest schneite es nur im Winter.
Pip zischte leise, und Flinx begann geistesabwesend ihm die Rosinen zu geben, die er aus dem Thisk-Kuchen gebohrt hatte. Das Reptil würgte sie eifrig ganz hinunter. Wenn es Lippen gehabt hätte, hätte es damit geschmatzt. So schoss die lange Zunge heraus und liebkoste Flinx’ Wange so zart wie ein Diamantschneider. Die irisierenden Schuppen des Minidrachs schienen sogar noch heller zu funkeln als gewöhnlich. Aus irgendeinem Grunde mochte er Rosinen besonders gerne. Vielleicht lag das an ihrem Eisengehalt.
Er blickte auf das Plusfenster seines persönlichen Kredimeters. Sie waren nicht gerade pleite, aber sie schwammen auch nicht in Luxus. O ja, es war höchste Zeit, an die Arbeit zu gehen!
Von einer Ecke ihres Standes feilschte Mutter Mastiff freundlich mit zwei kleinen mit Juwelen behängten Thranx Touristas. Ihre Technik war bewundernswert und kompetent. Schließlich musste sie das auch sein, sagte er sich. Sie hatte ja genügend Zeit gehabt, sie zu vervollkommnen. Die Gegenwart der Insektoiden überraschte ihn nur wenig. Ganz wohl schienen die beiden sich freilich nicht zu fühlen. Thranx liebten Regen und Feuchtigkeit, und in dieser Beziehung war Moth perfekt, aber sie hatten es gerne nicht so kalt und dafür lieber noch etwas höhere Luftfeuchtigkeit. Paradoxerweise konnte die Luft nass sein und für sie dennoch zu trocken. Jedes Mal wenn ein neuer Treibhausplanet entdeckt wurde, gerieten sie in Ekstase und dies trotz der Tatsache, dass solche Welten ausnahmslos die unangenehmsten und bösartigsten Umgebungen besaßen. Wie jeder andere junge Mensch hatte er zahllose Bilder von Thranx und Planeten gesehen: Hivehom, ihr Gegenstück zu Terra, und auch die berühmten Thranxkolonien am Amazonas und im Kongobecken auf der Erde selbst. Warum sollten Menschen sich in unfreundlichem Klima abmühen, wo Thranx dort vorzüglich gedeihen konnten? Sie hatten jene unwirtlichen Regionen viel besser ausgenutzt, als der Mensch das je getan hatte oder hätte tun können – so wie umgekehrt Menschen das Mittelmeerplateau auf Hivehom besiedelt hatten.
Die Verschmelzung hatte tatsächlich allen Beteiligten viel Nutzen gebracht.
Dem Schnitt ihrer Halsbänder nach stammten die beiden wahrscheinlich von Evoria. Nach der Tiara der Frau und der Glasur ihres Ovipositors zu schließen, gab es daran keinen Zweifel. Wahrscheinlich ein Paar, das zur Jagd hierher gekommen war, um sich zu entspannen. Es gab nicht viel, was Thranx nach Moth lockte, sah man von den Erholungsmöglichkeiten, der Politik und dem Leichtmetallhandel ab. Moth war reich an Leichtmetall, dafür fehlten viele der schwereren Metalle. Wenig Gold, Blei, Uran und dergleichen. Dafür Silber, Magnesium und Kupfer im Überfluss. Es ging das Gerücht, dass der mächtige Elecseed-Industriekomplex von Thranx Pläne hatte, aus Moth einen Produzenten von Elektro- und Computerhalbfabrikaten zu machen, ähnlich wie sie es bei Amropolous gemacht hatten. Aber bis jetzt war das nur ein Gerücht geblieben. Jedenfalls würde die Firma ihre besten PR-Leute Tag und Nacht einsetzen und eine ganze Menge Geld springen lassen müssen, um qualifizierte Thranxarbeiter zur Auswanderung nach Moth zu veranlassen. Selbst außerplanetarischen menschlichen Arbeitern würden die Lebensbedingungen bestenfalls unangenehm erscheinen. Nein, er glaubte nicht, dass etwas daraus wurde. Und ohne Atomkraftwerke würde es ein großes Energieproblem geben. Hydroelektrizität stand mangels entsprechender Flüsse nur in beschränktem Maße zur Verfügung. Ein verzwicktes Problem. Wie erzeugte man genügend Elektrizität, um die Fabrik zu betreiben, die elektrische Produkte herstellen sollte?
Doch all diese Überlegungen würden ihm keinen Credit auf sein Konto oder Brot auf den Tisch bringen.
»Meine Dame, mein Herr, was halten Sie von meinen Waren? Ich wüsste nicht, wo Sie bessere finden könnten.« Sie wühlte scheinbar ziellos in ihren Mustern. »Hier ist etwas, das Ihnen vielleicht gefallen könnte. Was sagen Sie zu diesem Paar abgestimmter Trinkbecher aus Kupfer, wie? Einen für die Dame, einen für den Herrn.« Sie hob zwei hohe, schlanke Thranxtrinkgefäße aus gehämmertem Kupfer. Sie waren kunstvoll graviert und die Schnäbel in komplizierte Spiralen geformt.
»Sehen Sie sich die Handwerksarbeit an, die feine Ziselierung, mein Herr«, lobte sie und fuhr die feinen Linien mit einem runzeligen Zeigefinger nach. »Ich sage, Sie finden nirgendwo besseres!«
Der männliche Thranx wandte sich seiner Begleiterin zu. »Was meinst du, meine Liebe?« Sie sprachen Symbo, jene eigenartige Mixtur aus terranischem Basic und den Zisch- und Klicklauten der Thranx, die im ganzen Homanx Commonwealth die dominierende Handelssprache geworden war, und nicht nur dort, sondern auch in einem großen Teil der außerhalb liegenden zivilisierten Galaxis.
Die Frau streckte ihren Handfuß aus und ergriff das Gefäß an einem seiner Doppelgriffe. Ihr kleiner herzförmiger Kopf neigte sich in einer eigenartigen, menschlich wirkenden Geste zur Seite, während sie mit beiden Echthänden über die Seiten des Gefäßes strich. Sie sagte nichts, sondern blickte ihrem Begleiter nur in die Augen.
Flinx blieb, wo er war, und nickte wissend, als er das unschuldige Lächeln in Mutter Mastiffs Gesicht sah. Dieses Raubtier-Grinsen sah er nicht das erste Mal. Und was er in ihren Empfindungen las, lieferte ihm weitere Informationen über das, was nun unvermeidbar folgen würde. Seit einem Jahrhundert lebten Mensch und Thranx jetzt zusammen, waren miteinander vertraut geworden, und doch gab es immer noch Menschen, die selbst die alltäglichsten Nuancen der Gestik und der Blicke dieser Insektenrasse nicht zu deuten vermochten. Mutter Mastiff war darin Expertin, und keiner konnte ihr etwas vormachen. Ihre Augen waren scharf genug, um zu lesen, was jetzt schon in großen Buchstaben in den Gehirnen ihrer Kunden stand: GEKAUFT.
Der Mann begann die Verhandlungen recht geschickt. »Nun … vielleicht ließe sich etwas machen … wir haben schon eine Anzahl solcher Andenken … exorbitante Preise … vernünftiges Niveau …«
»Niveau! Sie sprechen von Niveau?«
Mutter Mastiffs empörtes Schnaufen war so heftig, dass der Knoblauchhauch bis zu Flinx hinüberreichte. Die Thranx ignorierten ihn bemerkenswerterweise. »Verehrter Herr, ich verdiene hier kaum mein Existenzminimum! Die Regierung nimmt mein ganzes Geld, und mir bleibt nur ein Almosen, ein Almosen, Herr, für meine drei Söhne und zwei Töchter!«
Flinx schüttelte bewundernd den Kopf. Mutter Mastiff war unerreicht. Die Thranx vermehrten sich im Mehrfachen der Zahl zwei, eine in die Genetik ihrer Rasse eingebaute Überlebenssicherung. Bei den meisten irdischen und menschlichen Dingen hatte es wenig oder gar keine Konflikte gegeben, aber aus irgendeinem unergründlichen psychologischen Zufall waren die Thranx außerstande, die ungeraden Nachkommenschaften der Menschen als etwas anderes als etwas Obszönes, ja beinahe Bedauernswertes zu sehen.
»Dreißig Credits«, seufzte sie schließlich.
»Blasphemie!«, rief der Mann, und seine Antennen zitterten heftig. »Zehn sind sie vielleicht wert, und dabei schmeichele ich dem Handwerker schon ungebührlich.«
»Zehn!«, jammerte Mutter Mastiff und verdrehte die Augen. »Zehn, sagt dieses Geschöpf und prahlt noch damit! Aber … aber, mein Herr, Sie erwarten doch nicht von mir, dass ich ein solches Angebot ernst nehme! Nicht einmal im Scherz würde ich so etwas sagen.«
»Dann eben fünfzehn, aber ich sollte Sie bei den Behörden melden. Selbst gewöhnliche Diebe besitzen den Anstand, inkognito zu arbeiten.«
»Fünfundzwanzig. Mein Herr, Sie, ein kultiviertes wohlhabendes Wesen, Sie haben doch Besseres zu tun, als sich über eine alte Frau lustig zu machen. Jemand, der ohne Zweifel so viele Eier befruchtet hat wie Sie …« Die Thranxfrau senkte den Kopf und wurde rot. Die Thranx waren in Sexdingen sehr offen – ob es nun sie selbst oder andere betraf –, trotzdem fand Flinx, dass es Grenzen gab, die man nicht überschreiten sollte. Vielleicht waren es keine guten Manieren gewesen, aber, in ihrem Fall zumindest, allem Anschein nach geschäftlich günstig. Der Mann räusperte sich verlegen, ein tiefes vibrierendes Brummen. »Dann zwanzig.«
»Dreiundzwanzigfünfzig und kein Zehntel Credit weniger!«, tönte Mutter Mastiff. Sie verschränkte die Arme in einer für jedermann erkennbaren Geste der Endgültigkeit.
»Einundzwanzig«, konterte der Thranx.
Mutter Mastiff schüttelte eigensinnig den Kopf, unbeweglich wie eine Baumwand. Sie schien bereit, wenn nötig, bis ans Ende aller Zeiten zu warten.
»Dreiundzwanzigfünf, und keinen Zehntel Credit weniger. Mein letztes und endgültiges Angebot, guter Herr. Ich finde schon einen Käufer für dieses Paar. Ich muss schließlich auch leben, und ich fürchte, ich hab’ Ihnen schon zu weit nachgegeben.«
Der Mann hätte, wenn aus keinem anderen Grunde, dann aus Prinzip weitergefeilscht, aber an diesem Punkt legte die Frau ihre Echthand auf seinen B-Torax, gerade unter dem Ohr, und strich leicht darüber. Das beendete das Feilschen.
»Ah! Fünfundzwanzig, nein, dreiundzwanzigfünf dann! Diebin! Unvernunft! Es ist wohlbekannt, dass ein Mensch selbst seinen eigenen weiblichen Elternteil betrügen würde, um einen Halbcredit zu verdienen!«
»Und ebenso gut ist bekannt«, erwiderte Mutter Mastiff, während sie den Verkauf abwickelte, »dass die Thranx von allen Rassen in der ganzen Galaxis sich am besten auf das Feilschen verstehen. Sie haben mich fast bestohlen, mein Herr, also sind Sie der Dieb und nicht ich!«
Als der Credittausch abgeschlossen war, verließ Flinx seinen Standplatz neben der alten Mauer und schlenderte zu dem Verkaufsstand, der ihm zugleich das Zuhause war. Die Thranx waren mit ineinander verschlungenen Antennen glücklich abgezogen. Ihr Hochzeitsflug? Der Mann zumindest war ihm dafür zu alt erschienen. Sein Chiton begann bereits tiefblau zu schimmern, das sah man trotz der Kosmetika, die er offensichtlich benutzte, während die Frau von viel jüngerem Aquamarin war. Die Thranx nahmen sich gelegentlich auch Geliebte. In der feuchten Luft spürte man noch ihr Parfüm.
»Nun, Mutter«, begann er. Das war kein Hinweis auf elterliche Abkunft – darauf hatte sie vor Jahren bestanden –, er gebrauchte nur den Titel, den die Leute vom Markt für sie geprägt hatten. Alle nannten sie Mutter. »Das Geschäft scheint gut zu laufen.«
Offenbar hatte sie ihn nicht kommen sehen und war daher etwas verstört. »Was? Was? Oh, du bist’s, Kleiner! Pah!« Sie wies in die Richtung, in die die Thranx gegangen waren. »Diebe sind diese Käfer, mich so zu bestehlen! Aber habe ich eine Wahl?« Sie wartete nicht auf Antwort. »Ich bin eine alte Frau und muss gelegentlich etwas verkaufen, um leben zu können, selbst zu solchen Preisen, denn wer würde mich sonst in dieser Stadt ernähren?«
»Eher würdest du die Stadt ernähren, Mutter. Ich hab’ selbst gesehen, wie du vor kaum sechs Tagen diese Krüge von Olin, dem Kupferschmied, gekauft hast … für elf Credits.«
»So? Hhm«,hüstelte sie. »Du musst dich irren, Junge. Selbst du kannst hie und da einen Fehler machen. Äh, hast du heute schon gegessen?«
»Nur einen Thisk-Kuchen.«
»Habe ich dich so erzogen, dass du von Süßigkeiten lebst?« Sie war über den Themawechsel dankbar und tat so, als wäre sie verärgert. »Und ich wette, du hast die Hälfte davon ohnehin deiner verdammten Schlange gegeben!«
Pip hob den Kopf und zischte leise. Mutter Mastiff mochte den Minidrach nicht, hatte ihn nie gemocht. So ging es den meisten Leuten. Manche täuschten vielleicht Freundschaft vor, und einige konnte man sogar dazu überreden, ihn zu streicheln. Aber niemand konnte vergessen, dass das Gift dieser Gattung einen Menschen in sechzig Sekunden töten konnte und dass das Gegenmittel rar war. Flinx wurde nie betrogen, wenn die Schlange sich um seinen Hals ringelte.
»Beruhige dich, Mutter. Weißt du, er versteht, was du sagst. Nicht so sehr, was du sagst, als warum du es sagst.«
»Oh, sicher, sicher! Jetzt sag nur noch, dass das Monstrum intelligent ist! Verhext ist es vielleicht. Letzteres glaube ich zumindest, denn ich kann nicht leugnen, dass ich das Biest schon ganz seltsam habe reagieren sehen, aber es arbeitet nicht, schläft dauernd und isst unablässig. Du wärst besser dran, wenn du es nicht hättest, Junge.«
Er kratzte den Minidrach geistesabwesend hinter seinem flachen schuppigen Kopf. »Dein Vorschlag ist gar nicht spaßig, Mutter. Außerdem arbeitet er doch in meinem Akt …«
»Ein Trick«, schnaubte sie, aber nicht besonders laut.
»Und was seine Schlaf- und Eßgewohnheiten angeht, so ist er eben ein fremdes Geschöpf und hat Bedürfnisse, die anders sind als die unseren. Und was das Wichtigste ist, ich mag ihn … und er mag mich.«
Mutter Mastiff hätte die Diskussion fortsetzen können. Bloß dass sie über die Jahre bereits zahllose Varianten dieses Themas gespielt hatten. Ohne Zweifel wäre ein Hund oder einer der eingeborenen domestizierten Laufvögel als Haustier für einen kleinen Jungen geeigneter gewesen, aber als sie die Waise aufgenommen hatte, hatte Mutter Mastiff kein Geld für Hunde oder Vögel gehabt. Flinx hatte den Minidrach selbst in der Gasse hinter ihrer ersten Hütte gefunden, als er in einem Abfallhaufen nach Fleisch und Brotresten gesucht hatte. Da er nicht wusste, um was für ein gefährliches Geschöpf es sich handelte, war er ihm offen und ohne Angst gegenübergetreten. Sie hatte die beiden am Morgen darauf im Bett des Jungen gefunden. Sie hatte sich einen Besen geschnappt und versucht, den Minidrach zu verscheuchen, aber statt sich Angst einjagen zu lassen, hatte das Ding das Maul aufgerissen und sie drohend angezischt. Dieser erste Versuch stellte ihren ersten und letzten zugleich dar, die beiden zu trennen.
Die Beziehung war eine ungewöhnliche, und es wurde viel darüber gesprochen, um so mehr, da Alaspin viele Parsek entfernt war und niemand sich erinnern konnte, je einen Minidrach in Freiheit außerhalb seiner eigenen Welt gesehen zu haben. Man nahm allgemein an, dass das Tier irgendeinem Raumhändler gehört hatte und ihm im Hafen entlaufen war. Da die Einfuhr giftiger Tiere auf den meisten Planeten unter Strafe stand, auch auf Moth, überraschte es keinen, dass der ursprüngliche Besitzer keinerlei Bemühungen unternommen hatte, sein Eigentum zurückzubekommen. Jedenfalls hatte Pip noch niemandem etwas zuleide getan (Flinx wusste, dass das nicht stimmte, war aber schlau genug, damit nicht zu prahlen), und so beschwerte sich niemand auf dem Markt bei den Behörden darüber, obwohl alle inbrünstig wünschten, dass der Minidrach sich ein anderes Zuhause suchen möge.
Er wechselte das Thema.
»Wie steht es mit deinem Kredit, Mutter?«
»Pah! Armselig, wie gewöhnlich. Aber …« – und das sagte sie mit einem schlauen Grinsen – »die letzte Transaktion sollte mir etwas weiterhelfen.«
»Das würde ich wetten«, gluckste er. Er wandte sich von ihr ab und blickte auf die farbenfreudige Menge hinaus, die vor dem kleinen Laden vorbeiströmte, und versuchte abzuschätzen, wie viel wohlhabende Touristen wohl darunter sein mochten. Von der Mühe bekam er wie gewöhnlich Kopfschmerzen.
»Ein ganz gewöhnlicher Tag oder nicht, Mutter?«
»Oh, dort draußen ist jetzt schon Geld; das rieche ich. Aber es kommt nicht in meinen Laden. Hoffentlich hast du mehr Glück, Junge.«
»Vielleicht.« Er trat unter dem Vordach hervor und stieg auf das Podest zur Linken des Ladens. Sorgfältig machte er sich ans Werk, die größeren Töpfe und Pfannen neu zu arrangieren, die den Großteil von Mutter Mastiffs billigerem Inventar darstellten, um mehr Platz für seine Arbeit zu bekommen.
Seine Methode, eine Menschenmenge anzulocken, war einfach und erprobt. Er holte vier kleine Brana-Bälle aus der Tasche und begann damit zu jonglieren. Sie waren aus dem Saft eines Baumes hergestellt, der nur in der Äquatorialzone von Moth gedieh. Unter dem diffusen UV-Licht der Sonne schimmerten sie im schwachen gelben Licht. Sie waren für seine Zwecke perfekt, da sie massiv und von gleichartiger Konsistenz waren. Eine kleine Menge hatte sich bereits angesammelt. Jetzt tat er einen fünften Ball dazu und veränderte seine Darbietung, indem er sie auch hinter dem Rücken kreisen ließ, ohne den Rhythmus zu unterbrechen. Das Wort machte die Runde wie unsichtbare Tentakeln, die einen Menschen hier und einen dort in den Kreis zogen. Bald hatte er sich seine eigene Insel aufmerksamer Wesen um sich geschart. Er flüsterte leise dem Minidrach zu, der im weichen Pelz verborgen war.
»Hoch, Junge.«
Pip löste sich von Flinx’ Schulter, entfaltete seine ledernen Schwingen und breitete sie aus. So selten auch Minidrachs waren, erkannte die Menge doch, um was es sich handelte, und wich zurück. Die Schlange erhob sich in die Lüfte, beschrieb einen Bogen und legte sich dann wie eine Krone um den Kopf des Jungen. Dann fing sie jeden einzelnen Ball auf und warf ihn hoch in die Luft, so dass die Form, wenn auch nicht der Rhythmus seiner Nummer geändert wurde. Jetzt war das fluoreszierende Muster viel komplizierter. Leiser Applaus schlug ihnen entgegen. Jongleure gab es auf Drallar wie Sand am Meer, aber ein junger Jongleur, der so geschickt mit einem giftigen Reptil arbeitete, war schon etwas anderes. Ein paar Münzen landeten auf seinem Podest, prallten gelegentlich klirrend von den großen Pfannen ab. Noch mehr Applaus und noch mehr Münzen, als die Schlange alle fünf Bälle, einen nach dem anderen, in einen kleinen Korb hinten am Podest warf.
»Danke, danke, meine Wesen!«, sagte Flinx und verbeugte sich theatralisch und dachte, jetzt kommen wir zur Sache. »Und jetzt zu Ihrer Information, Mystifikation und Erleuchtung … und eine kleine Gebühr« (leises Gelächter), »werde ich versuchen, Fragen, alle Arten von Fragen, die jemand unter Ihnen, gleichgültig welcher Rasse er angehört oder von welchem Planeten er stammt, zu beantworten, wenn Sie sie mir stellen wollen.«
Das übliche skeptische Gemurmel erhob sich in der Menge, einige seufzten gelangweilt.
»Alles Kleingeld, das ich in der Tasche habe«, rief ein Händler in der ersten Reihe, »wenn du mir sagen kannst, wie viel es ist!« Er grinste, und rings um ihn kicherten einige nervös.
Flinx achtete nicht auf den Sarkasmus in der Stimme des Mannes und stand ruhig da, die Augen geschlossen. Nicht dass er sie hätte schließen müssen. Er konnte ebenso gut ›arbeiten‹, wenn sie offen waren. Das war reine Schau und die Menge schien das immer von ihm zu erwarten. Warum sie erwarteten, dass er nach innen blickte, wo er doch nach außen sehen musste, würde ihm stets ein Rätsel bleiben. Er wusste auch nicht, wie es kam, dass die Antworten ihm zuflogen. Zuerst war sein Geist leer, verschwommen und im nächsten Augenblick … manchmal … kam eine Antwort. Obwohl ›kam‹ nicht der richtige Ausdruck war. Manchmal verstand er die Fragen nicht einmal, besonders wenn fremde Wesen sie stellten. Oder die Antworten. Glücklicherweise war das den Zuhörern gleichgültig. Erläuterungen hätte er nicht versprechen können. Da!
»Mein Herr, Sie haben vier Zehntelstücke, zwei Hundertstelstücke in der Tasche … und einen Schlüssel für einen bestimmten Club, der …«
»Halt, halt!« Der Mann fuchtelte wild mit den Händen und sah verlegen seine Nachbarn in der Nähe an. »Das reicht schon! Du hast mich überzeugt.« Er griff in die Tasche, holte eine Handvoll Kleingeld heraus, schob den peinlichen Schlüssel wieder ein, damit Neugierige, die ihn umstanden, ihn nicht sehen konnten. Er schickte sich an, die Münzen zu übergeben, und hielt dann fast abwesend inne, perplex. Langsam änderte sich sein Gesichtsausdruck.
»Beim Pali, der Kleine hat recht! Zweiundvierzig Hundertstel. Er hat recht!« Er reichte Flinx die Münzen und entfernte sich im Selbstgespräch.
Die Menge applaudierte, Münzen flogen. Linx schätzte ihre Stimmung fachmännisch ein. Glauben und Spott mischten sich ineinander. Natürlich gab es einige, die annahmen, dass der Kaufmann ein Helfer von ihm war. Aber sie räumten ihm ein, dass er seine Schau überzeugend abgezogen hatte.
»Kommt, kommt, ihr Wesen! Das ist ein Spiel für Kinder und Larven. Es gibt doch sicher welche unter ihnen mit Fragen, die eine Herausforderung für mein Geschick sind?«
Ein Wesen hinten in der Menge, ein Quillp im vollen Federschmuck, drehte seinen dünnen straußenähnlichen Hals nach vorne und fragte mit hoher, quiekender Stimme: »In welchem Sommermonat meine Nestlinge kommen werden?«
»Es tut mir wirklich leid, mein Herr, aber das ist eine Frage, die die Zukunft betrifft, und ich bin kein Hellseher.« Das Wesen seufzte unglücklich und schickte sich an, die Versammlung zu verlassen. Auf dieses Anzeichen hin, dass Flinx ein ganz gewöhnlicher Sterblicher war, schienen einige andere geneigt, den Kreis zu verlassen. Deshalb fügte Flinx eilig hinzu: »Aber ich inständig hoffe, alle fünf Ihrer Nestlinge erfolgreich sein werden!«
Der Quillp wirbelte überrascht herum und starrte die kleine Bühne mit hervortretenden Augen an. »Woher Sie wussten diese Nummer mein Kreis hatte?«
In seiner Erregung sprach er in seiner eigenen Sprache und musste von einem Nachbarn ermahnt werden, Symbo zu sprechen.
»Ich habe es mir zum Prinzip gemacht, meine Berufsgeheimnisse nicht preiszugeben«, gähnte Flinx gekünstelt. »So, und jetzt eine richtige Frage, ihr Wesen. Ich beginne mich zu langweilen. Wunder kann ich aber keine liefern, und die sind meistens ohnehin langweilig.«
Zwei Menschen, große muskelbepackte Burschen, drängten sich jetzt zur Bühne vor. Der zur linken Seite von Flinx trug eine Brille – nicht wegen ihres antiken therapeutischen Wertes, sondern weil sie in gewissen schicken Kreisen zur Zeit Mode waren. Er hielt Flinx eine Kreditkarte hin.
»Nimmst du das an, Junge?«
Flinx ärgerte sich über das ›Junge‹, holte aber seinen Kredimeter heraus. »Natürlich kann ich das, mein Herr. Stellen Sie Ihre Frage.«
Der Mann machte den Mund auf und hielt dann inne. »Woher weiß ich, was ich dir zahlen muss?«