SAŠA STANIŠIĆ
VOR
DEM
FEST
Roman
Luchterhand
Für Katja.
For billions of years since the outset of time
Every single one of your ancestors has survived
Every single person on your mum and dad’s side
Successfully looked after and passed on to you life.
What are the chances of that like?
The Streets: On the Edge of a Cliff
I
WIR SIND TRAURIG. Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot. Zwei Seen, kein Fährmann. Zu den Inseln gelangst du jetzt, wenn du ein Boot hast. Oder wenn du ein Boot bist. Oder du schwimmst. Aber schwimm mal, wenn die Eisbrocken in den Wellen klacken wie ein Windspiel mit tausend Stäben.
Um den See kannst du theoretisch zu Fuß, immer am Ufer entlang. Allerdings haben wir den Pfad vernachlässigt. Der Boden ist sumpfig und die Stege morsch und unglücklich, das Gebüsch hat sich ausgebreitet, brusthoch steht es dem Pfad im Weg.
Die Natur erobert sich zurück, was ihr gehört. Würde man woanders sagen. Wir sagen das nicht. Weil es Unfug ist. Die Natur ist inkonsequent. Auf die Natur ist kein Verlass. Und auf was du dich nicht verlassen kannst, damit bau keine Redewendungen.
Unterhalb der Ruine von Schielkes ehemaligem Hof, wo der See die Landstraße zärtlich berührt, hat jemand seinen halben Hausrat am Ufer entsorgt. Ein Kühlschrank steckt im matschigen Grund, eine Dose Tunfisch noch darin. Der Fährmann hat es uns erzählt. Und dass er wütend geworden sei. Nicht wegen des Abfalls generell, sondern wegen Tunfisch speziell.
Jetzt ist der Fährmann tot, und wer uns erzählen soll, was die Ufer treiben, wissen wir nicht. Wer soll so schön sagen: »Wo der See die Landstraße zärtlich berührt«, und: »Das war Tunfisch aus den fernen Meeren Norwegens.« Solche Sätze können nur Fährleute.
Wir haben uns seit der Wende keine gute Redewendung mehr ausgedacht. Der Fährmann war ein guter Erzähler. Glaub aber ja nicht, dass wir in diesem Moment der Schwäche den Tiefen See, der ohne den Fährmann noch tiefer geworden ist, nach seinem Befinden fragen. Oder den Großen See, der den Fährmann ertränkt hat, nach seinem Motiv.
Wie der Fährmann ertrank, hat niemand gesehen. Besser ist es. Was willst du beim Ertrinken auch sehen? Schön ist das nicht. Er muss am Abend hinausgefahren sein, auf dem See lag Nebel. In der Morgendämmerung trieb ein Kahn auf dem Wasser, leer und vergeblich wie ein Abschiedsgruß ohne ein Gegenüber.
Taucher sind gekommen. Frau Schwermuth hat ihnen Kaffee gemacht, sie haben den Kaffee getrunken und auf den See gesehen, und dann sind sie in den See gestiegen und haben den Fährmann rausgeholt. Große Männer, blond und wortkarg, Verben nur im Imperativ, verladen den Fährmann. Stehen am Ufer in ihren engen Anzügen, schwarz und steif wie Ausrufezeichen, gesetzt vom Tod. Essen vegetarische Brote, tropfen.
Der Fährmann wurde begraben, und der Glöckner hat seinen Einsatz verpasst, anderthalb Stunden später hat es geläutet, da waren alle schon beim Beerdigungskuchen im Gleis 1. Ohne Hilfe kommt der Glöckner ja kaum noch eine Treppe hoch. Letztens hat er um Viertel nach zwölf die Glocke achtzehn Mal schlagen lassen und sich auch noch die Schulter ausgekugelt. Dabei haben wir eine Läutautomatik und Johann, den Lehrling. Beide mag der Glöckner aber nicht besonders.
Es gehen mehr tot, als geboren werden. Wir hören die Alten vereinsamen. Sehen den Jungen beim Schmieden zu von keinem Plan. Oder vom Plan, wegzugehen. Im Frühling haben wir den Stundentakt vom 419er eingebüßt. Die Leute sagen, ein paar Generationen noch, länger geht das hier nicht. Wir glauben: Es wird gehen. Es ist immer irgendwie gegangen. Pest und Krieg, Seuche und Hungersnot, Leben und Sterben haben wir überlebt. Irgendwie wird es gehen.
Bloß ist jetzt der Fährmann tot. An wen sollen die Trinker sich wenden, wenn Ulli sie rausgeschmissen hat? Wer soll für die Gäste aus dem Großraum Berlin Schatzschnitzeljagden auf den Inseln so gut veranstalten, dass kein Schatz je gefunden wird und danach die Kinder auf der Fähre leise heulen und die Mütter sich höflich beim Fährmann beschweren und die Väter Tage noch grübeln, wo man den Fehler gemacht hat, und erst die neuen Bundesländer, dann ihre Männlichkeit in Frage stellen, und am Ufer angekommen, essen sie einen Apfel und radeln auf ihren desillusionierten Fahrrädern weiter Richtung Ostsee und kommen niemals wieder? Wer?
Der Fährmann ist tot, und die anderen Toten wundern sich, was soll ein Fährmann unter der Erde? Er hätte ordentlich im See bleiben sollen und gut.
Niemand sagt, ich bin der neue Fährmann. Die wenigen, die verstehen, dass wir unbedingt einen neuen Fährmann brauchen, verstehen nichts von Fähren. Oder davon, wie man Gewässer tröstet. Oder sie sind zu alt. Andere tun so, als hätten wir niemals einen Fährmann gehabt. Die dritten sagen: Der Fährmann ist tot, es lebe der Bootsverleih.
Der Fährmann ist tot, und niemand weiß, warum.
Wir sind traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr. Und die Seen sind wieder wild und dunkel und schauen sich um.
DIE TANKSTELLE HAT DICHTGEMACHT, zum Tanken musst du nach Woldegk. Im Schnitt fährt das Dorf seitdem weniger im Kreis durch das Dorf und mehr geradeaus nach Woldegk, Fontane rezitierend, die, die Fontane auswendig kennen. Im Schnitt vermisst eher Jung die Tankstelle als Alt. Nicht nur wegen Benzin. Wegen KitKat und Bier auf die Hand und Unforgiving, Geschmacksrichtung Orange Inferno, dem Energy-Drink, der die ostdeutschen Tankstellen im Sturm erobert mit 32 mg Koffein pro 100 ml.
Lada, den man Lada nennt, weil er als Dreizehnjähriger mit dem Lada von seinem Großvater nach Dänemark gefahren ist, hat heute zum dritten Mal binnen drei Monaten seinen Golf im Tiefen See geparkt. Hat das was mit der fehlenden Tankstelle zu tun? Nein. Das hat was mit Lada zu tun. Und mit dem Uferweg, der sich hier prima für 200 km/h eignet theoretisch.
Der See hat geblubbert. Johann und der stumme Suzi haben es am Ufer erst lustig, dann nicht mehr lustig gefunden. Eine Minute ist vergangen. Johann hat sein Stirnband ausgezogen und ist rein, und er ist der schlechteste Schwimmer von den dreien. Der jüngste auch. Junge unter Männern. Umsonst. Lada ist von alleine aufgetaucht. Die Kippe noch zwischen den Lippen. Musste Johann ein bisschen mitretten.
Fürstenfelde. Einwohnerzahl: ungerade. Unsere Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Der Sommer hat die Nase klar vorn. Unser Sommer fällt kaum schlechter aus als am Mittelmeer. Statt Mittelmeer haben wir die Seen. Der Frühling ist nichts für Allergiker und nichts für Frau Schwermuth vom Haus der Heimat, die wird im Frühling depressiv. Der Herbst ist zweigeteilt in frühen Herbst und späten Herbst. Im späten Herbst hat sich der Landmaschinentourismus etabliert. Stadtväter bringen ihre Söhne zum Landmaschinengucken in der Nacht. Söhne: begeisterte Schockstarre vor riesen Rädern und Reflektoren und Rabatz. Die Geschichte des Winters in einem Dorf mit zwei Seen ist immer eine Geschichte, die anfängt, wenn die Seen gefrieren, und aufhört, wenn das Eis taut.
»Was machst du jetzt mit der Karre?«, hat Johann Lada gefragt, und Lada, der in puncto Autos-aus-dem-See-Holen und Wieder-zum-ordnungsgemäßen-Laufen-Bringen kein Anfänger ist, sagte: »Hol ich die Tage.«
Der stumme Suzi warf die Angel wieder aus. Wegen Ladas Missgeschick hatte er kurz pausiert. Suzi angelt für sein Leben gern. Bist du stumm geboren, bist du fürs Angeln irgendwie auch prädestiniert. Wobei, was heißt schon stumm? Politisch korrekt wäre: Kehlkopf kaputt.
Johann klopfte sachte einen Rhythmus auf seinen Oberschenkel. Morgen hat er seine Glöckner-Prüfung. Er hat eine kleine Melodie extra für das Fest komponiert und wird sie mit den Klöppeln schlagen. Beiern nennt sich das. Lada und Suzi wissen davon nichts. Ist besser so, sonst gibt es wieder blöde Sprüche.
Die drei zogen sich bis auf die Unterhosen aus. Johann und Lada, damit die Sachen trockneten, Suzi aus Solidarität. Ladas einwandfreie Muskulatur, Suzis einwandfreie Muskulatur. Johanns Rippen. Suzi kämmt das Haar nach hinten, immer einen Kamm dabei, eine vom Aussterben bedrohte Geste. Schwanz eines Drachens auf der Stirn, der mächtige Drachenleib um Suzis Nacken, der feuerspeiende Drachenkopf am Schulterblatt. Suzi, schön wie italienische Filme der Fünfziger. Suzis Mutter schaut sich die immer an und flennt.
Grashüpfer. Schwalben. Wespen. Alle sehr müde, sehr.
Der Herbst ist ja schon da.
Heute, das war der letzte warme Tag dieses Jahr. Der letzte Tag, an dem du gut in Unterhose im Gras liegen konntest, und Käfer klettern auf dir herum, als wärst du ein natürliches Hindernis in der Endmoränenlandschaft, was du ja irgendwie auch bist. Kommst du von hier, weißt du so was: der letzte warme Tag. Nicht wegen der Schwalben oder wegen der Wetter-App. Du weißt das, weil du dich ausgezogen hast und dich hingelegt hast und, falls du ein Mädchen bist, die Zehen in den Sand gesteckt hast. Falls du kein Mädchen bist, hast du nichts mit den Zehen gemacht, sondern dich einfach nur hingelegt. Und so liegend hast du in den Himmel geguckt, und es war ganz klar: Heute – der letzte warme Tag. Sollte durch ein Wunder doch noch einer kommen, das würde nichts bedeuten. Heute war der letzte.
Lada und Johann sahen Suzi zu und gaben ihm Tipps, er fing nämlich nichts. Versuch’s mal unter der Esche, den Fischen ist es zu heiß, so was. Suzi nahm die Angel zwischen die Beine und gebärdete. Lada versteht Suzis Sprache ziemlich gut. Eigentlich versteht er sie ziemlich schlecht, aber er kennt den stummen Suzi halt seit immer. »Uns gehört die Zeit«, hat er für Johann übersetzt. Der sah ihn fragend an. Lada zuckte mit den Schultern, spuckte in den See. Auf dem Uferweg kam Anna mit dem Fahrrad. Trägerkleidchen, so was. Johann winkte spontan, ein Junge halt. Anna sah geradeaus.
»Wie winkst du denn?« Lada boxte Johann gegen die Schulter. Über dem See tuckerte ein Ausflugsboot. Lada pfiff schrill. In die Touristenhüte kam Bewegung. Lada winkte, die Touristen winkten zurück. Die Touristen machten Fotos. Dann zeigte Lada den Touristen den Mittelfinger.
»Das zählt nicht, das sind Touristen, die winken, komme, was wolle«, sagte Johann.
Lada boxte ihn wieder. Auf Ladas Schulter fletscht ein Wolf die Zähne. Auf Ladas Rücken steht: The Legend.
»Was guckst du?«
»Ich lass mich auch tätowieren.«
»Hörst du das, Suzi? Der Scheißer will sich tätowieren lassen. Geil.«
Eines hat Johann im Umgang mit Lada gelernt: Nicht die Nerven verlieren. Dranbleiben. Sich provozieren lassen: Schwäche. »Bedeutet der was?«, fragte er. Auch Suzi hat einen Wolf an der Wade.
Lada sah ihm in die Augen. Spuckte seitlich aus. »Die Wölfe kommen zurück.« Er sprach sehr langsam. »Deutschland wieder Wolfsland. Aus Polen und Russland, Tausende Kilometer machen die. Herrliche Tiere. Jäger. Sag mal Rudel!«
»Rudel.«
»Hammer, oder? So eine Power in dem einen Wort! Der Suzi und ich, wir sind Befürworter von dem Wolf.« Lada packte Johann im Nacken. »Das bleibt unter uns, verstanden? Wir haben Wölfe hergeholt. Aus der Lausitz. Weil, früher hat’s hier auch Wölfe gegeben. Frag deine Mutter. In der Zerveliner Heide, beim Raketenstützpunkt? Da haben wir sie frei gelassen.«
Cool bleiben. Weiter fragen. Manchmal labert Lada so was, um Johann zu erschrecken. Suzi hat sich umgedreht, lauschte aufmerksam. Johann räusperte sich.
»Wie viele denn?«
»Witzig. Ich dachte, du fragst bestimmt, wie. Vier. Zwei Jungwölfe, zwei Erwachsene. Hör zu, Alter: Das ist kein Scheiß. Du hältst die Fresse, haben wir uns verstanden?«
»Ist klar.«
»Gut.«
Suzi hatte einen am Haken. Kurze Gegenwehr. Ein kleiner Karpfen. Suzi setzte ihn wieder zurück.
Lada erhob sich. »Männer, auf geht’s, zum Ulli. Suzi gibt einen aus.« Und so kam es auch, weil Lada ist jemand, der sein Wort hält.
DER KARPFEN KANN FUTTERNEID EMPFINDEN. Wenn Fische fressen, kommt er. Im Herbst, bei sinkender Wassertemperatur, braucht er immer weniger Nahrung.
Die Hornissenmännchen begatten die Jungköniginnen und sterben akkurat. Die Jungköniginnen richten sich bis zum Frühling ein unter dem Moos, im morschen Holz, in den Albträumen der Libelle.
Im Kiecker, dem alten Wald, meißelt der Specht die Millisekunden unserer Sterblichkeit ab.
Der Herbst ist ja da.
Das Rudel ist wach.
GENAU EIN JAHR IST ES JETZT HER, am Tag vor dem letzten Fest, da hat Ulli seine Garage ausgeräumt, hat eine Sitzgruppe und fünf Tische und eine Heiztonne aufgestellt, einen Vorhang aus rot-gelbem Tüll vor das einzige Fenster gehängt und einen Kalender mit Polinnen, die an Motorrädern lehnen, halb wegen Ironie, halb wegen Ästhetik, an die Wand genagelt. Ein Sterni kostet achtzig Cent, ein Stieri neunzig, Molle mit Kompott einsfünfzig, und am Wochenende kann man Fußball gucken, und das alles rechnen ihm die Männer hoch an, auch wenn es keiner sagt.
Wir trinken in Ullis Garage, weil nirgends sonst Sitzgelegenheiten und Lügen und ein Kühlschrank so zusammenkommen, dass es für die Männer miteinander und mit Alkohol schön und gleichzeitig nicht zu schön ist. Nirgends, wo nicht Zuhause ist, gibt es überdacht und in Laufdistanz Pils und Sky Bundesliga und Rauchen und Unter-sich-Sein.
Alle Ehre, Gleis 1. In Gleis 1 willst du aber nicht picheln. Du willst dir ein Abendessen leisten, vielleicht zu einem Jubiläum. Weil, betrink dich mal, während dich Plastikblumen und Radtouristen angucken. Ab und an besorgt Veronika echte Tulpen. Betrink dich mal, während dich echte Tulpen angucken.
Ullis Garage riecht lieblich nach Motoröl. Das Tor schmücken alte Motorradkennzeichen und Bierwerbung und auf einem Schild der Reichsadler mit der Aufschrift Deutsche# Kaiserreich. Es stimmt schon, dass fast nur Männer aus den Neubauten kommen. Manchmal gibt es Stress. Nicht schlimm. Nicht Hass. Manchmal verstehst du dein eigenes Wort nicht. Im Nachhinein bist du auch froh darüber. Manchmal erzählt einer, und alle hören zu. Heute Abend, letzte Runde, wird der alte Imboden erzählen. Imboden ist sonst ein stiller, aber heftiger Trinker. Vor drei Jahren starb seine Frau, da hat er überhaupt erst angefangen. Ulli sagt, der muss jetzt die ganzen nüchternen Jahre aufholen.
In der Garage hat man wegen des Festes morgen über die Feste früher gesprochen, und dass früher bitteschön so viel besser gefeiert wurde. Niemand konnte sich zum Beispiel an eine frische, zufriedenstellende Schlägerei erinnern unter erwachsenen Männern. Die wären früher gang und gäbe gewesen. Heute prügelt nur die Jugend. »Und zwar fies«, hat Lada gelacht, und sonst hat keiner gelacht.
Ja, und jetzt steht der Imboden auf und geht erst mal austreten, sagt aber, bevor er den Raum verlässt – die Garage hat kein Klo, aber vor der Platte steht eine Art Baum –, er sagt: »Moment, jetzt aber. Das stimmt so nicht.«
Seit einigen Wochen klebt ein buntes Bild auf dem Kühlschrank. Ullis Enkelin, Rike, ist in dieser Phase. Das Bild zeigt Opi und Rike in einem kleinen Rechteck, das ist die Garage. Als Ulli das Bild aufgehängt hat, hat er die nackten Polinnen abgehängt. Folgerichtig nannten die Männer Ulli ein paar Tage lang »Opi«. Dann haben sie das vergessen und nannten Ulli wieder Ulli.
Jeder darf bei Ulli trinken, auch mehr, als er kann. Wenn aber einer nicht mehr liegen kann, ohne sich festzuhalten, und auch noch andere zu Boden ziehen will, um dies und jenes mit ihnen auszumachen, dann nickt Ulli Lada zu, und Lada begleitet oder trägt denjenigen nach draußen.
Jeder kann bei Ulli mehr sprechen und mehr meinen als sonst wo. Wenn aber einer auch dann noch spricht und mehr meint, wenn es Ulli reicht, dann nickt Ulli Lada zu.
Man zahlt bei Ulli weniger als woanders. Wenn aber einer nach einem Monat nicht alles gezahlt hat, dann nickt Ulli Lada zu.
Jeder kann bei Ulli einen Witz erzählen, den nicht alle lustig finden. Wenn aber einer etwas ernst meint, das nicht alle lustig finden, dann nickt Ulli Lada zu.
Jeder kann bei Ulli weinen, auch laut. Aber niemand weint bei Ulli.
Jeder kann bei Ulli eine Geschichte von früher erzählen, meistens hören die anderen zu.
Imboden ist vom Pissen zurückgekommen, und Imboden hat erzählt.
UNTER EINER BUCHE, AM RAND DES ALTEN WALDES, liegt still auf dem Laub die Fähe. Von dort, wo der Wald auf Felder trifft, Weizen, Gerste, Raps, sieht sie auf die kleine Ansammlung von Menschenbauten, die auf einem so schmalen Streifen Land zwischen zwei Seen stehen, als hätten die Menschen in ihrem unbändigen Willen, für sich das Angenehmste zu schaffen, aus einem Gewässer zwei geschnitten, um genau dazwischen, fruchtbar und praktisch an gleich zwei Ufern gelegen, Platz für sich und ihre Jungen zu haben, Platz für ihre festen Wege, die sie selten verlassen, Platz für ihre Nahrungsverstecke, ihre Steine und Metalle und die Unmengen anderer Dinge, die sie horten.
Die Fähe ahnt die Zeit, da die Seen noch nicht existierten und keine Menschen hier ihr Revier hatten. Sie ahnt Eis, das die Erde horizontlang zu tragen hatte. Eis schob Land vor sich her, brachte Gestein, höhlte die Erde aus, hob sie zu Hügeln, die heute noch sich wellen, Zehntausende von Fuchsjahren später. In ihrem Schoß wiegen sich die zwei Gewässer, in ihrer Brust stecken die Wurzeln des alten Waldes, in dem die Fähe ihren Bau hat, einen Tunnel, nicht sehr tief, vom Dachs geborgt, mit ihren beiden Welpen jetzt darin – hoffentlich! – und nicht draußen vorwurfsvoll wartend wie letztes Mal, als sie wieder nur Käfer brachte. Der Habicht kreiste schon.
Den erdigen Honig vom Balg ihrer Jungen würde sie unter Tausenden Aromen schmecken, auch jetzt, trotz des falschen Windes, ist sie seiner Süße in der Tiefe des Waldes gewiss. Auch des Hungers ist sie gewiss, des beständigen, strengen Hungers. Ein Junges, kränklich kams zur Welt, ist ihr schon weggestorben. Die beiden anderen stellen sich mit den Käfern geschickt an. Die Sprünge auf die Maus – aus dem Stand fast senkrecht in die Luft – sind noch zu sehr Spiel: Oft wird die Beute darüber vergessen.
Die Fähe hebt den Kopf. Sie forscht nach den Menschen. Es sind keine nah. Aus deren Bauten steigt eine Wärme auf, die an Holz erinnert. Auch tote Pflanzen schmeckt die Fähe dort, wohlgenährte Hunde und Katzen, verwirkte Vögel und vieles, was nicht leicht zuzuordnen ist. Vor manchem fürchtet sie sich. Das meiste ist ihr gleich. Dann Dung, dann Wolle, dann Gärung und Huhn und Tod.
Huhn!
Hinter geflochtenen Metalldrähten in Holzverschlägen: Huhn! Dahin, zum Huhn, will die Fähe heute Nacht.
Ihre Welpen entfernen sich immer länger vom Bau. Die Fähe ahnt, heute Nacht wird die letzte Jagd in deren hungrigem Auftrag sein. Bald ziehen sie alleine los und suchen sich ein eigenes Revier. Zum Abschied will sie ihnen etwas Gutes, etwas Besonderes bringen. Nicht Käfer oder Wurm, nicht von den Menschen zurückgelassene halbe Früchte, sondern – Eier. Weil nichts ein besseres Aroma hat als die delikate, dünne Schale, weil nichts so guttut wie der sämig süße Dotter.
In einen Hühnerbau zu gelangen ist nie einfach. Auch wenn kein Hund ihn bewacht und die Menschen schlafen. Die Krallen der Vögel fürchtet sie nicht. Doch beinahe unmöglich ist der Eier-Transport. Ihre früheren Versuche endeten kläglich, wenn auch köstlich. Diesmal will sie ihr Maul so achtsam schließen wie im Spiel mit ihren Welpen. Diesmal will sie nicht zwei auf einmal nehmen, sondern zurückkommen für das zweite.
Ein Dachsweibchen schlüpft aus dem Gehölz. Die Fähe wittert Farn an ihr und Angst. Wovor? Fledermäuse schießen über ihrem Kopf. Einsilbige Gesellen, zu schnell für jeden Scherz, flattern nervös davon. Am Waldrand hält eine Wildschweinrotte Jagdrat. Unberechenbare Nachbarn, leicht zu reizen, aber fürsorglich. Schmecken gut nach Morast, Schwefel, Gras und Sturheit. Diskutieren jetzt wuselig, rufen grell in ihrer eckigen Sprache, stoßen einander an, scharren mit den Hufen.
Ihre Unruhe treibt auch die Fähe an. Sie trabt los, will die Launischen schnell hinter sich lassen.
Das Oben trägt bullernd den Donner. Es gefällt ihm nicht, dass die Fähe unterwegs ist. Es warnt sie. Droht ihr.
UND HERR SCHRAMM, ehemaliger Oberstleutnant der NVA, dann Förster, jetzt Rentner und, weil es nicht reicht, schwarz bei Von Blankenburg Landmaschinen, schaut die Sportclips auf sport1: Martina (19, Tschechien) macht Sport. Martina spielt Billard. Herr Schramm ist ein kritischer Mann. Er hat Einwände gegen die Sendung, er findet es nicht gut, wie Martina Billard spielt. Martina setzt die Stöße unbedacht. Rein gar nichts trifft Martina, und das beschäftigt Herrn Schramm. Martina aber lacht, wenn sie nichts trifft. Martina tanzt um das Queue, und das passt doch nicht, es passt nicht, dass sie tanzt, es passt nicht, dass sie sich auf den Tisch setzt und mit dem Hintern die Kugeln verschiebt, und es passt nicht, dass sie allein spielt. Weil, wenn du allein spielst, dann musst du doch die klare Absicht haben, die Kugeln zu versenken. Der Gegner, gegen den man am liebsten gewinnt, daran glaubt Herr Schramm fest, ist man selbst.
Klar, Martina muss nach jedem Stoß ein Kleidungsstück ausziehen, das ist ja auch in Ordnung. Aber das hätte sie woanders genauso gut gekonnt. sport1 hätte sie nicht an einen Billardtisch stellen sollen, sondern halt dorthin, wo Martina sich auskennt. Herr Schramm glaubt, dass es für jeden Menschen etwas gibt, worin er gut ist. Er versucht zu erraten, was das für Martina sein könnte. Die Hinweise sind mager: Ihr Busen ist voll, die Finger kurz, ihre Fingernägel glänzen. Herr Schramm glaubt an Talent, und Herr Schramm liebt Talent. Herr Schramm sieht Menschen bei ihrem Talent gern zu: ein Mann mit Haltung und Haltungsschaden und einer leeren Packung Nikotinkaugummis.
Martina sieht er ungern zu. Martina hat noch ihr Höschen an, es ist schwarz und hat vorn eine 8 in einem weißen Kreis. Das findet Herr Schramm witzig. Aber um das Höschen geht es nicht mehr. Es geht darum, dass Martina so miserabel spielt, als würde sie nicht mal die Regeln kennen. Und Regeln sind doch das Erste, was du jemandem beibringst, der irgendwo nicht hingehört.
Herr Schramm ist ein Mann, der Konversationen mit Unbekannten meidet und mit Bekannten am liebsten über Flugabwehrraketen, Fledermäuse und den ehemaligen Skispringer Jens Weißflog spricht, den talentiertesten Skispringer aller Zeiten.
Er findet Martinas Waden gut, wenn sie sich weit über den Tisch beugt. Als sie aber das Höschen abstreift, es über ihren Stock stülpt, beim Stoß dann neben die Weiße haut und darüber auch noch kichern muss, reicht es Herrn Schramm.
»Ja, sag mal«, sagt Herr Schramm.
Er schaltet den Fernseher aus.
In deutschen Haushalten finden sich im Schnitt mehr Bakterien auf der Fernbedienung als auf der Klobrille. Herr Schramm denkt über »im Schnitt« nach. Es geht um die Relation. Klobrillen sind größer als Fernbedienungen. In seinem eigenen Haushalt, denkt Herr Schramm, finden sich im Schnitt mehr Enttäuschungen über ihn selbst als über die Welt.
Mit einem Seufzen erhebt er sich vom Sofa und zieht in derselben Bewegung die Unterhose von den Knöcheln hoch. Die restliche Kleidung liegt im Bad. Er prüft, ob das Kleingeld in den Taschen für eine Schachtel reicht. Ja.
Herr Schramm sitzt erst mal ein bisschen in seinem Golf. Ein großer Mann mit Haltung und Haltungsschaden, der nachdenkt: Im Schnitt. Martina (19, Tschechien). Die Fledermaus hängt kopfüber da, weil ihre Beine zu schwach sind. Sie kann nicht mit Anlauf losfliegen wie zum Beispiel die Gans.
Im Handschuhfach liegt die Pistole.
Herr Schramm hat vieles, was er heute bereut, aus eigenem Antrieb getan. Das, worin Herr Schramm gut war, war Druck. Aushalten und ausüben.
Er fährt los. Vielleicht zum Zigarettenautomaten, vielleicht zur verlassenen Flugabwehr-Raketenabteilung 123 Wegnitz, wo er siebzehn Jahre stationiert war. Kippen oder Kopfschuss, er hat sich noch nicht entschieden.
Martina hat vielleicht ein Talent für Fingernägel. Wie hieß das noch mal?
In Wilfried Schramms Haushalt finden sich im Schnitt mehr Gründe gegen das Leben als gegen das Rauchen.
WIR SIND FROH, Anna wird verbrannt. Morgen Abend beim Fest wird das Urteil vollstreckt. Die Kinder werden zu den Kälbern ins Heu gelegt, aber sie schlafen nicht, sie lugen zwischen den Brettern nach dem, wovor sie im Schlaf Angst haben möchten, und wenn in den Flammen nichts mehr kocht und zischt und weint, stöpselt der Bäcker die Geige an seinen mobilen Verstärker, und dann wird gegeigt, dann wird gesungen, auf dem Grill brät Raubfisch weich. Anna wird verbrannt, und manches Paar findet sich in solch erleichterter Nacht, tanzt unter Funken und Sternen und Sicherheitsvorkehrungen, dass nichts Feuer fängt, was von Flammen keinen Nutzen hat.
Der Herbst ist ja jetzt da. Den Äckern pflücken die Raben die Wintersaat aus dem Leib. Lassen sich auf Vogelscheuchen nieder, putzen sich das Gefieder.
Noch ist Zeit vor dem Fest. Die Nacht muss ausgestanden werden, am Tag werden die letzten Vorbereitungen getroffen. Das Dorf kocht, das Dorf sprüht Glasreiniger, das Dorf schmückt die Laternen. Für die gute Statik des Scheiterhaufens hat lange unser Tischler gesorgt, der ist jetzt tot. Ein zugezogener Innenarchitekt aus Berlin hat sich an seiner Stelle angeboten, aber das gibt nur Probleme, wenn wir den ranlassen, das Dorf meinte schon, es geht doch nicht darum, wo ich mein Sofa hinstelle, sondern dass es nicht wieder so ein Unglück gibt wie 1599, als vier Häuser Feuer fingen und in dem Durcheinander zwei berüchtigte Räuber dem Flammentod entfliehen konnten, also macht das jetzt eine Gerüstbaufirma aus Templin.
Das Dorf bestuhlt. Die Sitzordnung, brisantes Thema. Wer kriegt den Biertisch vorn am Scheiterhaufen? Wer hat es sich verdient, den Flammen nah zu sein? Wer definiert Verdienst in diesem Jahr?
Das Dorf putzt die Schaufenster. Das Dorf poliert die Felgen. Das Dorf duscht. Die Fischerei geht auf den Hecht, die Bäckerei geizt nicht mit der Marmeladenfüllung. Mancher Haushalt wird sich wappnen mit einer doppelten Dosis Insulin.
Töchter schminken Mütter, Mütter träufeln Augentropfen in die Unterlidtaschen müder Väter, Väter finden ihre Hosenträger nicht. Der Frisör würde den Umsatz seines Lebens machen, wenn es denn einen gäbe. Angeblich soll einer aus Woldegk kommen, aber wie das ablaufen soll – macht er Hausbesuche wie donnerstags der Arzt, oder baut er irgendwo zentral Stuhl und Spiegel auf? Wir wissen es nicht.
Frau Reiff hat zum Tag der offenen Tür in ihre Töpferei geladen: Kaffee, Honigstullen, Vortrag. Die Besucher lassen sich Bierkrüge mit Raku-Technik von ihr brennen oder versuchen selbst »eine Vase«. Später gibt es im Innenhof ein Konzert afrikanischer Musik aus Stuttgart. Die Musiker sind schon angereist. Sie loben die ganze Zeit die Landschaft, als könnte das Dorf etwas dafür.
Bäcker Zieschke wird wieder die Kunst und Kurioses Auktion leiten, letztes Jahr mit Hemd aus der Hose und einer Bierflasche als Auktionshammer. Der Erlös kommt dem Haus der Heimat zugute. Einige Gegenstände können wir schon verraten:
Auch Auswärtige werden mitbieten und über manches Angebotene lachen, am heftigsten, wenn es gar nichts zum Lachen gibt. So klingt es, wenn welche sich für klüger halten als die Geschichte, sie trauen uns die Ironie nicht zu.
Unser Annenfest. Was wir feiern, weiß niemand so recht. Nichts jährt sich, nichts endet oder hat an genau diesem Tag begonnen. Die Heilige Anna ist irgendwann im Sommer, und die Heiligen sind uns heilig nicht mehr. Vielleicht feiern wir einfach, dass es das gibt: Fürstenfelde. Und was wir uns davon erzählen.
Noch ist Zeit. Das Dorf schaltet die Fernseher aus, das Dorf flufft die Kissen auf, heute Nacht hat das Dorf kaum Geschlechtsverkehr. Das Dorf geht früh zu Bett. Lassen wir die Träumenden in Frieden. Vertreiben wir uns die Zeit mit den Ruhelosen:
Mit unseren Seen, sie schlafen ohnehin nie.
Mit den Tieren, sie ziehen in den Kampf. Im Schutz der Dunkelheit bricht die Fähe auf zu einer denkwürdigen Jagd.
Mit unseren Glocken, gleich läuten sie den Festtag ein, und wer kann sich heute noch eines Glöckners rühmen und eines Lehrlings noch dazu?
Herr Schramm wiegt die Pistole in der Hand.
Auch Frau Kranz ist wach. Ist das nicht schade? Wie schön manch alte Frau doch schnarcht! Sie ist unterwegs, gut gerüstet für die Nacht: Taschenlampe, Regencape, die Staffelei hat sie geschultert, zieht den Trolley mit ihrem alten Lederköfferchen hinter sich her. Unter dem Woldegker Tor nimmt sie einen Schluck aus der Thermoskanne, darin ist nicht nur Tee. Frau Kranz ist bestens gerüstet.
Und Anna, unsere Anna. Morgen ist ihr letzter Tag. Sie liegt im Dunkeln, summt ein Lied, das Fenster ist offen, eine einfache Melodie, die Nacht zieht kühl über ihre Stirn. Anna ist allein. Anna war im letzten Jahr viel allein auf dem Gehershof, umgeben von der heruntergekommenen Vergangenheit ihrer Familie, Großvaters Werkzeug, Mutters Garten, von Anna vernachlässigt, von den Wildschweinen geliebt, im Schuppen der Škoda, in dem die Katze ihre soundsovielte gescheckte Generation geworfen hat, unter dem Fenster das verwilderte Feld. Und heute Nacht, so eine Nacht ist das, Erinnerungen an ein einmal volles Haus, und die Frage, was je gut war für sie in den achtzehn Jahren dort, und am Montag kommt Lada zum Entrümpeln, und im Frühling übernehmen die Berliner, und Anna, allein, mit aufmerksamer Gleichgültigkeit den Gleichaltrigen gegenüber, Anna mit Abitur und Liebe zu Schiffen, Anna, die mit Großvaters Luftgewehr aus dem Badezimmerfenster auf die Wildschweine im Garten schießt, die durch Nächte läuft, auch heute Nacht, komm zu uns: Am Feld entlang, am Kiecker, an den Seen, all die alten Wege ein letztes Mal, das ist der Plan, Neubauten, Ruinen, Jugend an diesem Ort, wir sind froh, Anna ist nicht allein, Anna summt ein Lied, eine liebe, kindliche Melodie, wir sind bei ihr.
Die Nacht vor dem Fest ist eine eigenartige Zeit. Früher einmal wurde sie Die Zeit der Helden genannt. Wir hatten zwar mehr Opfer zu beklagen, als Helden zu feiern, aber gut, es schadet nicht, auch mal das Positive hervorzuheben.
Drüben bei den Öfen? Das Mädchen mit dem Holzscheit im Arm? Das ist die jüngste von denen, die man Heldin hieß. Ein Kind von gerade mal fünf Jahren, in einem oft geflickten Kittel und zu großem Hemdchen, mit Lederlappen an den Füßen. Neben ihr der Bruder, hell und dürr wie Birke. Ängstlich, aber stolz wirft er das Scheit, das die Schwester ihm gereicht, in die Flammen. In einen Ofen legt die Mutter Flachs zum Trocknen, im anderen will sie Brot backen für das Annenfest. Das Dorf feiert, dass der Krieg nicht länger stiehlt und frisst, vertreibt und tötet, dass die Ernte das Versprechen der Saat gehalten hat. Ausgelassen könnte es werden, der Stadtherr ist nicht da: Poppo von Blankenburg, grob, laut, gerecht nach seinem Recht.
Das Dorf spricht täglich Gebete um ein Einigermaßen. Um ein Zumindest. Um den Fortbestand der Fische. Um den eigenen Fortbestand. Das Mädchen und der Bruder und die beiden Siebmacher-Jungen, sonst gibt es keine Kinder mehr.
Wir schreiben das Jahr soundso. Frau Schwermuth würde es genau wissen. Sie, unsere Chronistin, Archivarin, auch Kräuterfrau, findet ebenfalls keinen Schlaf. Eine Schüssel Mini-Karotten auf dem Schoß guckt sie Buffy – The Vampire Slayer, die sechste Folge, ohne Unterbrechung. Das Fest und das Drumherum verlangen ihr einiges ab: Frau Schwermuth hält viele Fäden in der Hand.
Das Mädchen jagt den Bruder um die Öfen. Anna, nennen wir sie Anna. Die Öfen wurden unlängst aus dem Dorf vor die Mauer verlegt. Zu häufig hatte das Feuer Funken geboren und Funken wieder Feuer, das wie alles Neugeborene hungrig war und fressen wollte, Scheunen und Ställe schluckte, zwei ganze Gehöfte – wobei, das mit dem Riedershof, das, sagen die Leute, hatte mit den Öfen nichts zu tun. Mit dem Teufel hatte das zu tun, mit dem die Rieders im Bunde standen, und der Teufel hatte sich bloß eine Rate für die Zusammenarbeit ausgezahlt.
Die Mutter kehrt mit einem feuchten Reisigbündel die Glut aus und legt die Laibe hinein, behutsam, als bette sie ein Kind. Auf die Brote und auf den Flachs achten sollen die Kinder, mahnt sie, es wäre nicht das erste Mal, dass jemand sich an dem, was ihm nicht gehört, bedient. »Lauft uns holen, wenn ihr Fremde kommen seht.«
Lassen wir das Bild so stehen: Der Bruder kämmt Annas blondes Haar mit den Fingern. Das Mädchen stellt sich näher an den Ofen, hält die Handflächen zum Wärmen vor die Lade. Die Mutter macht sich auf den Weg ins Dorf, sie summt ein Lied.
Anna, unsere Anna, hat eine ähnliche Melodie auf den Lippen. Sie zittert, die Nacht ist kühl.
Komm, wir nehmen dich mit. Zu deiner Namensvetterin, zu den Menschen, zum Tier. Zur Fähe, zu Schramm. In den Lebenshunger, in die Lebensmüdigkeit. Zu Kranz, zu Schwermuth. Zum Brotgeruch und Kriegsgestank. In die Rache und in die Liebe. Zu den Riesen, den Hexen, zu den Braven, den Narren. Wir sind zuversichtlich, du wirst eine passable Heldin geben.
Wir sind traurig, wir sind froh, richten wir, richten wir es an.
HERR GÖLOW SPENDIERT SECHS SCHWEINE FÜR DAS FEST. Von den sechs überlebt eins. Die Kita besichtigt morgen früh die Anlage, anschließend begnadigen die Kinder ein Schwein.
Wobei, was heißt begnadigen?
Die Spieße für die verbleibenden fünf werden hinter dem Scheiterhaufen aufgestellt. Die Kinder dürfen kurbeln, so was bringt ja auch Freude.
Gut Gölow. Zuchtbetrieb. Produktpalette: Honig und Schweinefleisch.
Wenn im Sommer geschlachtet wird, in der Hitze, die alle Geräusche lauter macht, hörst du das Geschrei der Schweine kilometerweit. Vielen Badegästen ist das unangenehm. Einige wenige kennen das Geräusch nicht. Sie fragen nach, und dann ist es auch ihnen unangenehm, das Geräusch, aber auch, dass sie gefragt haben. Für uns sind die sterbenden Schweine kein Problem, die sterbenden Schweine sind das bisschen Industrie.
Olaf Gölow läuft über den Hof. Barbara und die Jungs schlafen. Auch Gölow hatte sich hingelegt, aber seine Gedanken zogen weiter ihre Kreise: um Barbaras anstehende Operation, um das Fest, um Fährmanns Tod, um die Holländer, die sich wieder erkundigt haben, wie es so stehe mit der Anlage.
Gölow ist aufgestanden, vorsichtig, um Barbara nicht zu wecken. Jetzt ist er beim Stall, bei der klimatisierten Süße seiner Schweine, ihrem schläfrigen Grunzen. Er steckt sich eine an, atmet den Rauch weg von den Schweinen, dreht am Lüftungsregler.
Gölow ist so ein Mann, du würdest sagen, eine ehrliche Haut. Es sind so Augenblicke, zum Beispiel lag da mal an einem verregneten Tag was im Matsch vor dem Stall. Es sind so körperliche Eigenarten des Bückens, vielleicht lösen die einen Reflex aus, sein könnte es schon, einen alten Reflex, dass du denkst, da dient einer, so wie er sich bückt. Es sind so Augenblicke, da liegt also was im Matsch, ein Gegenstand, und Gölow bückt sich – breitschultrig, Latzhose, links ein goldener Ohrring – und hebt es auf. Und wie er sich damit Zeit nimmt trotz Regen, wie er es sich aus großer Nähe ansieht und dabei ein wenig schielt, das ist eine so selbstvergessene Geste: Was liegt hier bei meinen Schweinen, was ist denn das, ist das ein Goldklumpen, ist das ein Stift, ein Stift ist das, warum liegt der hier – so jemandem sehen wir gern zu, wir stellen uns vor, er ist gut zu seinen Kindern und gerecht, wenn er den schmutzigen Stift jetzt auch noch auf die Hand drückt, eine Schleife zieht, um zu gucken, ob er geht, und er geht, und Gölow steckt ihn ein, und später fragt er sie alle, Jürgen, Matze, den stummen Suzi, vermisst einer von euch eigentlich einen Stift?
Oder auch: Der Fährmann hat Gölow Geld geschuldet. Nicht viel. Nicht viel für Gölow. Vermutlich viel für den Fährmann. Und Gölow geht hin und kauft ihm einen Sarg. Er kauft ausdrücklich einen bequemen Sarg. Er recherchiert im Internet zwei Nächte lang, Barbara wird ungeduldig: Warum bequem, was macht das noch für einen Unterschied? Gölow sagt, der Fährmann hatte einen kaputten Rücken. Das seien so Bewegungen beim Rudern, beim Seilanziehen, ganz egal, ob du die jahrelang richtig oder falsch ausgeführt hast, am Ende brauchst du einen bequemen Sarg.
Den Fährmann hat Gölow seit eigentlich immer gekannt. Ein alter Mann, so lange Gölow zurückdenken kann. Er fuhr mit ihm zuletzt mehrmals raus, nahm die Jungs mit. Die sind endlich in dem Alter, dass du ihnen auch was Hartes erzählen darfst, ohne dass es gleich Geflenne gibt, und das konnte der Fährmann eins a – erschüttern. Kinder lieben Erschütterung.
Gölow drückt die Zigarette aus. Er raucht ungern und viel. Vorn in der Latzhose immer das Metallkästchen, der mobile Aschenbecher, Alaska-Logo auf dem Deckel. Er spaziert an den Pferchen entlang. Notiert, Gölow notiert. Mit dem einen Stift aus dem Matsch. Wir vertrauen darauf, dass er die besten sechs Schweine aussucht. Obama verschont immer einen Truthahn vor Thanksgiving.
Den mag Gölow nicht so, den Obama. Dampfplauderer. Von denen allen mochte er nur Clinton irgendwie. Dem haben sie mal einen Brief geschickt. Die Jugos, Barbara und er. ’95 war das. Ein Bosnier und ein Serbe waren bei ihm angestellt, er hatte keine Ahnung, was der Unterschied genau war. Und dann hat er erfahren, dass die es auch nicht wirklich wussten. Den Krieg haben sie beide verdammt. Ein Mal nur ging es um die Schuldfrage, weil es ein Mal halt immer bei allen Dingen um die Schuldfrage geht, aber das haben sie friedlich gelöst und danach beschlossen, nur noch deutsche Nachrichten zu gucken, weil da seien alle gleich schuld, nur die Deutschen nicht – die dürften sich für die nächsten tausend Jahre keine Schuld mehr leisten, und damit konnten beide leben.
Zu Hause waren die beiden Schweinebauer gewesen und wussten eine Menge über Schweinehaltung. Jedenfalls hatten sie das beim Vorstellungsgespräch behauptet. Bald genug hat Gölow festgestellt, dass die keine Ahnung hatten, aber die Bezahlung war ihnen recht, und Gölow konnte damals nur soundsoviel zahlen. Schwarz. Klar, schwarz, sonst wäre es gar nicht gegangen, auch wegen dem Visum. Duldung hieß das, die wurden hier geduldet.
Seit Jahren hat Gölow an die beiden nicht gedacht, so eine Nacht ist das. Jedenfalls, der Brief an Clinton. Gerade waren die ganzen Grausamkeiten rausgekommen, die Massengräber, die Lager. Und der Serbe hat dann gesagt, die müssen uns, die Serben, bomben. Wenn die immer nur drohen, hört das nie auf. Nur nicht die Zivilisten. Zerbombte Zivilisten mag niemand. Der Bosnier hatte an der Idee nichts auszusetzen. Ja, und da hat Gölow vorgeschlagen, schreiben wir doch einen Brief an den Präsidenten. Fanden beide sofort gut, obwohl es ein Witz war. Der Serbe hat diktiert, der Bosnier konnte besser Deutsch und hat übersetzt, Gölow hat dann versucht zu erraten, was gemeint war, und Barbara hat das auf Englisch aufgeschrieben. Ging bis spät in die Nacht, am Ende wurde umarmt und geweint und der Brief eingeworfen, adressiert an das Weiße Haus. Als Absender hat der Serbe seine Adresse vor der Flucht aufgeschrieben, um der Bitte Nachdruck zu verleihen. Am nächsten Tag meinte er, dass das wohl ein Fehler war, weil wenn die sehen, dass da ein Serbe schreibt, sprengen sie das Teil sofort.
Gölow glaubt nicht, dass der Brief gelesen wurde. Aber gebombt wurde bald, und dann war auch Ruhe.
Uns war das nicht ganz recht gewesen mit den Jugoslawen. So kurz nach der Wende. Arbeitsmangel und Wut, und der stellt die ein. Soll jetzt nicht so klingen, wie es klingt. Das Dorf hat sich gewundert. Sein eigener Vater, der alte Gölow, früher selber Schweinezüchter, privat und kollektiv, hat sich gewundert. Alle hatten Gölow für jemanden gehalten, der lokal dachte. Vielleicht hat er zu lokal gedacht. An sich. Jetzt ist er allerdings da, wo er ist. Beschäftigt dreizehn Mann. Jetzt geht es Gölow mehrheitlich gut.
Gölow im Büro. Die Luft immer wie alte Socken. Er legt den Zettel mit den sechs Nummern dem stummen Suzi ins Fach. Soll der Junge die morgen raustun, wenn die Kids kommen.
An der Tür ein Poster von Alaska. Alles blau, blaue Berge, Himmel, Wasser, Eisbären. Gölow würde gern nach Alaska. Geld wäre nicht mal das Problem, aber finde mal Zeit. Auch wäre Barbara vielleicht – vielleicht wäre solch eine Reise für Barbara jetzt nicht gut.
Eine Anlage in Alaska, das wäre doch was. Mit den heutigen Klimasystemen ginge sogar der Mond. Kajakfahren, Lachs angeln, und die schneebedeckten Berge spiegeln sich in allem, was spiegeln kann. Blau. Die blaue Abgeschiedenheit und Ruhe. Sehr schön alles. Schlittenhunde. Aber das ist es nicht, was Gölow anzieht. Kajakfahren geht bei uns auch. Gibt andere Spiegelungen. Schilf, gibt Schilfspiegelungen, und eine braune Abgeschiedenheit und Ruhe.
Es ist das Gold. Die Goldgräberzeit. Die neuen Funde. Kürzlich erst in einem alten Goldgräberdorf namens Chicken. Was die Amis als alt bezeichnen, ist ja für unsereinen ein Witz. Chicken ist ausgestorben wie die Hoffnungen auf Wohlstand. Sieben Leute leben da, knappes Geisterdorf. Und dann findet ein Japaner zwanzig Unzen in der Gegend.
Gölow als Goldgräber mit Hut am Klondike River. Er hat als Kind Jack London gelesen. Klar ist alles immer Kindheit. Der hatte nie etwas gefunden. Die Mieten und Lebenskosten sind viel höher als bei uns. Die Holländer haben Gölow eine halbe Million geboten. Zum Lesen kommt er schon lange nicht mehr.
Wir beklagen die toten Tiere nicht.
Wir klagen nicht über verpasste Chancen. Geisterchancen.
Die Ärzte sagen, Barbaras Chancen stehen 50 : 50.
Barbara hat mit der Perücke etwas von dieser Gouverneurin von Alaska. Auch haben beide fettige Haut. Gölow mag das – Barbaras Haut glänzt. Er begreift nicht, mischt sich aber nicht ein, warum sie es bekämpft. Überhaupt, warum glänzendes Haar als schön durchgeht, nicht aber glänzende Haut.
Die Schweine schnarchen. Gölow hätte die Auktion morgen selbst gern geleitet. Wollten die aber nichts davon wissen im Kreativkomitee. Geklüngel alles. Seit Jahren ist sie in Zieschkes Hand. Der macht das zwar nicht besonders schlecht, doch die Witze … Charmant, ja charmant, aber auch zotig. Frauen, Politik. Kannst du privat vielleicht bringen, aber doch nicht vor Gästen! Die lachen dann kein gutes Lachen. Sie lachen das Lachen der Überlegenen. Das findet Gölow nicht gut. Diesen Humor findet er nicht gut.
Und nur weil der das schon vor der Wende gemacht hat. Ist doch kein Argument. Warum muss alles Tradition sein? Gölow schafft dreizehn Arbeitsplätze, Zieschke zwei. Gölow bildet aus, Zieschke sammelt alte Brotrezepte.
Gölow geht über den Hof, Hände in den Taschen. Die Nacht ist still, bis auf das Rumoren des Donners in der Ferne. Gölow stellt sich die Nächte in Alaska lautlos vor. Die Vorstellung allein hilft ihm manchmal in den Schlaf. Heute nicht.
Wir freuen uns auf Olaf Gölows Auktionsbeitrag. Immer ist es etwas Überraschendes. Letztes Jahr hat er heimlich Mini-Schweine gezüchtet. Seine Jungs haben je eins gekriegt, aber eins hat er eben auch in die Auktion getan. So was Süßes, die Leute haben sich nicht mehr eingekriegt. 360 Euro und Applaus. Ging an einen Hotelbesitzer aus Feldberg. Unsereiner ist bei 100 ausgestiegen.
Gölow will es Barbara vorschlagen: zwei Wochen Alaska. Er organisiert alles. Flug, gute Unterkünfte, einen Jeep mit Allradantrieb. Ein bisschen fahren, ein bisschen gucken, Lachs essen, Schlittenhunde füttern, Gold suchen.
Gölow wird nicht verkaufen. Nicht so lange Barbara lebt. An Holländer schon mal gar nicht.
Er schlüpft unter die Decke. Barbara atmet. Gölows Gedanken kreisen in eine blaue Lautlosigkeit, kreisen in den Schlaf.