Theodor Fontane

Unterm Birnbaum

Kriminalgeschichte

Theodor Fontane

Unterm Birnbaum

Kriminalgeschichte

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-954188-56-7

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Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

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Erstes Kapitel

Vor dem in dem großen und rei­chen Oder­bruch­dor­fe Tsche­chin um Mi­chae­li 20 er­öff­ne­ten G­ast­haus und Ma­te­ri­al­wa­ren­ge­schäft von Abel Hrad­scheck (so stand auf ei­nem über der Tür an­ge­brach­ten Schild) wur­den Sä­cke, vom Haus­flur her, auf einen mit zwei ma­gern Schim­meln be­spann­ten Bau­er­wa­gen ge­la­den. Ei­ni­ge von den Sä­cken wa­ren nicht gut ge­bun­den oder hat­ten klei­ne Lö­cher und Rit­zen, und so sah man denn an dem, was her­aus­fiel, daß es Raps­sä­cke wa­ren. Auf der Stra­ße ne­ben dem Wa­gen aber stand Abel Hrad­scheck selbst und sag­te zu dem eben vom Rad her auf die Deich­sel stei­gen­den Knecht: »Und nun vor­wärts, Ja­kob, und grü­ße mir Öl­mül­ler Quaas. Und sag ihm, bis Ende der Wo­che müßt ich das Öl ha­ben, Leist in Wriet­zen war­te schon. Und wenn Quaas nicht da ist, so be­stel­le der Frau mei­nen Gruß und sei hübsch ma­nier­lich. Du weißt ja Be­scheid. Und weißt auch, Kätz­chen hält auf Kom­pli­men­te.«

Der als Ja­kob An­ge­re­de­te nick­te nur statt al­ler Ant­wort, setz­te sich auf den vor­ders­ten Raps­sack und trieb bei­de Schim­mel mit ei­nem schläf­ri­gen »Hüh« an, wenn über­haupt von An­trei­ben die Rede sein konn­te. Und nun klap­per­te der Wa­gen nach rechts hin den Fahr­weg hin­un­ter, erst auf das Bau­er Orth­sche Ge­höft samt sei­ner Wind­müh­le (wo­mit das Dorf nach der Frank­fur­ter Sei­te hin ab­schloß) und dann auf die wei­ter drau­ßen am Oder­bruch-Damm ge­le­ge­ne Öl­müh­le zu. Hrad­scheck sah dem Wa­gen nach, bis er ver­schwun­den war, und trat nun erst in den Haus­flur zu­rück. Die­ser war breit und tief und teil­te sich in zwei Hälf­ten, die durch ein paar Holz­säu­len und zwei da­zwi­schen aus­ge­spann­te Hän­ge­mat­ten von­ein­an­der ge­trennt wa­ren. Nur in der Mit­te hat­te man einen Durch­gang ge­las­sen. An dem Vor­flur lag nach rechts hin das Wohn­zim­mer, zu dem eine Stu­fe hin­auf­führ­te, nach links hin aber der La­den, in den man durch ein großes, fast die hal­be Wand ein­neh­men­des Schie­be­fens­ter hin­ein­se­hen konn­te. Frü­her war hier die Ver­kaufs­stel­le ge­we­sen, bis sich die zum Vor­nehm­tun ge­neig­te Frau Hrad­scheck das He­rum­tram­peln auf ih­rem Flur ver­be­ten und auf Durch­bruch ei­ner rich­ti­gen La­den­tür, also von der Stra­ße her, ge­drun­gen hat­te. Seit­dem zeig­te die­ser Vor­flur eine ge­wis­se Herr­schaft­lich­keit, wäh­rend der nach dem Gar­ten hin­aus­füh­ren­de Hin­ter­flur ganz dem Ge­schäft ge­hör­te. Sä­cke, Zitro­nen- und Ap­fel­si­nen­kis­ten stan­den hier an der einen Wand ent­lang, wäh­rend an der an­dern über­ein­an­der­ge­schich­te­te Fäs­ser la­gen, Öl­fäs­ser, de­ren statt­li­che Rei­he nur durch eine zum Kel­ler hin­un­ter­füh­ren­de Fall­tür un­ter­bro­chen war. Ein sorg­lich vor­ge­leg­ter Keil hielt nach rechts und links hin die Fäs­ser in Ord­nung, so daß die un­te­re Rei­he durch den Druck der oben­auf­lie­gen­den nicht ins Rol­len kom­men konn­te.

So war der Flur. Hrad­scheck selbst aber, der eben die schma­le, zwi­schen den Kis­ten und Öl­fäs­sern frei ge­las­se­ne Gas­se pas­sier­te, schloß, halb är­ger­lich, halb la­chend, die trotz sei­nes Ver­bo­tes mal wie­der of­fen­ste­hen­de Fall­tür und sag­te: »Die­ser Jun­ge, der Ede. Wann wird er sei­ne fünf Sin­ne bei­sam­men ha­ben!«

Und da­mit trat er vom Flur her in den Gar­ten.

Hier war es schon herbst­lich, nur noch As­tern und Re­se­da blüh­ten zwi­schen den Buchs­baum­ra­bat­ten, und eine Hum­mel um­summ­te den Stamm ei­nes al­ten Birn­baums, der mit­ten im Gar­ten hart ne­ben dem brei­ten Mit­tel­stei­ge stand. Ein paar Möh­ren­bee­te, die sich, samt ei­nem schma­len, mit Kar­tof­feln be­setz­ten Acker­strei­fen, an eben die­ser Stel­le durch eine Spar­gel­an­la­ge hin­zo­gen, wa­ren schon wie­der um­ge­gra­ben, eine fri­sche Luft ging, und eine schwarz­gel­be, der ne­benan­woh­nen­den Wit­we Jesch­ke zu­ge­hö­ri­ge Kat­ze schlich, mut­maß­lich auf der Sper­lings­su­che, durch die schon hoch in Sa­men ste­hen­den Spar­gel­bee­te.

Hrad­scheck aber hat­te des­sen nicht acht. Er ging viel­mehr rech­nend und wä­gend zwi­schen den Ra­bat­ten hin und kam erst zu Be­trach­tung und Be­wußt­sein, als er, am Ende des Gar­tens an­ge­kom­men, sich um­sah und nun die Rück­sei­te sei­nes Hau­ses vor sich hat­te. Da lag es, sau­ber und freund­lich, links die sich von der Stra­ße her bis in den Gar­ten hin­ein­zie­hen­de Ke­gel­bahn, rechts der Hof samt dem Kü­chen­haus, das er erst neu­er­dings an den La­den an­ge­baut hat­te. Der kaum vom Win­de be­weg­te Rauch stieg son­nen­be­schie­nen auf und gab ein Bild von Glück und Frie­den. Und das al­les war sein! Aber wie lan­ge noch? Er sann ängst­lich nach und fuhr aus sei­nem Sin­nen erst auf, als er, ein paar Schrit­te von sich ent­fernt, eine große, durch ihre Schwe­re und Rei­fe sich von selbst ab­lö­sen­de Mal­va­sier­bir­ne mit ei­gen­tüm­lich dump­fem Ton auf­klat­schen hör­te. Denn sie war nicht auf den har­ten Mit­tel­steig, son­dern auf eins der um­ge­gra­be­nen Möh­ren­bee­te ge­fal­len. Hrad­scheck ging dar­auf zu, bück­te sich und hat­te die Bir­ne kaum auf­ge­ho­ben, als er sich von der Sei­te her an­ge­ru­fen hör­te:

»Dag, Hrad­scheck. Joa, et wahrd nu Tied. De Mal­ve­sie­ren küm­men all von sülwst.«

Er wand­te sich bei die­sem An­ruf und sah, daß sei­ne Nach­ba­rin, die Jesch­ke, de­ren klei­nes, et­was zu­rück­ge­bau­tes Haus den Blick auf sei­nen Gar­ten hat­te, von drü­ben her über den Him­beer­zaun kuckte.

»Ja, Mut­ter Jesch­ke, ’s wird Zeit«, sag­te Hrad­scheck. »Aber wer soll die Bir­nen ab­neh­men? Frei­lich wenn Ihre Line hier wäre, die könn­te hel­fen. Aber man hat ja kei­nen Men­schen und muß al­les selbst ma­chen.«

»Na. Se heb­ben joa doch den Jun­gen, den Ede.«

»Ja, den hab ich. Aber der pflückt bloß für sich.«

»Dat sall woll sien«, lach­te die Alte. »Een in ’t Töpp­ken, een in ’t Kröpp­ken.«

Und da­mit hum­pel­te sie wie­der nach ih­rem Hau­se zu­rück, wäh­rend auch Hrad­scheck wie­der vom Gar­ten her in den Flur trat.

Hier sah er jetzt nach­denk­lich auf die Stel­le, wo vor ei­ner hal­b­en Stun­de noch die Raps­sä­cke ge­stan­den hat­ten, und in sei­nem Auge lag et­was, als wünsch er, sie stün­den noch am sel­ben Fleck oder es wä­ren neue statt ih­rer aus dem Bo­den ge­wach­sen. Er zähl­te dann die Fäs­ser­rei­he, rief, im Vor­über­ge­hen, einen kur­z­en Be­fehl in den La­den hin­ein und trat gleich da­nach in sei­ne ge­gen­über­ge­le­ge­ne Wohn­stu­be.

Die­se mach­te ne­ben ih­rem wohn­li­chen zu­gleich einen ei­gen­tüm­li­chen Ein­druck, und zwar, weil al­les in ihr um vie­les bes­ser und ele­gan­ter war, als sich’s für einen Krä­mer und Dorf­ma­te­ria­lis­ten schick­te. Die zwei klei­nen So­fas wa­ren mit ei­nem hell­blau­en At­lass­toff be­zo­gen, und an dem Spie­gel­pfei­ler stand ein schma­ler Tru­meau, weiß­la­ckiert und mit Gold­leis­te. Ja, das in ei­nem Ma­ha­go­ni­rah­men über dem klei­nen Kla­vier hän­gen­de Bild (al­lem An­schei­ne nach ein Stich nach Clau­de Lor­rain) war ein Son­nen­un­ter­gang mit Tem­pel­trüm­mern und an­ti­ker Staf­fa­ge, so daß man sich füg­lich fra­gen durf­te, wie das al­les hier­her­kom­me. Pas­send war ei­gent­lich nur ein Steh­pult mit ei­nem Git­ter­auf­satz und ei­nem Kuck­loch dar­über, mit Hil­fe des­sen man, über den Flur weg, auf das große Schie­be­fens­ter se­hen konn­te.

Hrad­scheck leg­te die Bir­ne vor sich hin und blät­ter­te das Kon­to­buch durch, das auf­ge­schla­gen auf dem Pul­te lag. Um ihn her war al­les still, und nur aus der halb of­fen­ste­hen­den Hin­ter­stu­be ver­nahm er den Schlag ei­ner Schwarz­wäl­der Uhr.

Es war fast, als ob das Tick­tack ihn stö­re, we­nigs­tens ging er auf die Tür zu, an­schei­nend, um sie zu schlie­ßen; als er in­des hin­einsah, nahm er über­rascht wahr, daß sei­ne Frau in der Hin­ter­stu­be saß, wie ge­wöhn­lich schwarz, aber sorg­lich ge­klei­det, ganz wie je­mand, der sich auf Fi­gur­ma­chen und Toi­let­ten­din­ge ver­steht. Sie flocht eif­rig an ei­nem Kranz, wäh­rend ein zwei­ter, schon fer­ti­ger an ei­ner Stuhl­leh­ne hing.

»Du hier, Ur­sel! Und Krän­ze! Wer hat denn Ge­burts­tag?«

»Nie­mand. Es ist nicht Ge­burts­tag. Es ist bloß Ster­be­tag, Ster­be­tag dei­ner Kin­der. Aber du ver­gißt al­les. Bloß dich nicht.«

»Ach, Ur­sel, laß doch. Ich habe mei­nen Kopf voll Wun­der. Du mußt mir nicht Vor­wür­fe ma­chen. Und dann die Kin­der. Nun ja, sie sind tot, aber ich kann nicht trau­ern und kla­gen, daß sie’s sind. Um­ge­kehrt, es ist ein Glück.«

»Ich ver­ste­he dich nicht.«

»Und ist nur zu gut zu ver­stehn. Ich weiß nicht aus noch ein und habe Sor­gen über Sor­gen.«

»Wor­über? Weil du nichts Rech­tes zu tun hast und nicht weißt, wie du den Tag hin­brin­gen sollst. Hin­brin­gen, sag ich, denn ich will dich nicht krän­ken und von Zeit tot­schla­gen spre­chen. Aber sage selbst, wenn drü­ben die Wein­stu­be voll ist, dann fehlt dir nichts. Ach, das ver­damm­te Spiel, das ewi­ge Knö­cheln und Tem­peln. Und wenn du noch glück­lich spiel­test! Ja, Hrad­scheck, das muß ich dir sa­gen, wenn du spie­len willst, so spie­le we­nigs­tens glück­lich. Aber ein Wirt, der nicht glück­lich spielt, muß da­von­blei­ben, sonst spielt er sich von Haus und Hof. Und dazu das Trin­ken, im­mer der schwe­re Un­gar, bis in die Nacht hin­ein.«

Er ant­wor­te­te nicht, und erst nach ei­ner Wei­le nahm er den Kranz, der über der Stuhl­leh­ne hing, und sag­te: »Hübsch. Al­les, was du machst, hat Schick. Ach, Ur­sel, ich woll­te, du hät­test bes­se­re Tage.«

Da­bei trat er freund­lich an sie her­an und strei­chel­te sie mit sei­ner wei­ßen, flei­schi­gen Hand.

Sie ließ ihn auch ge­wäh­ren, und als sie, wie be­schwich­tigt durch sei­ne Lieb­ko­sun­gen, von ih­rer Ar­beit auf­sah, sah man, daß es ih­rer­zeit eine sehr schö­ne Frau ge­we­sen sein muß­te, ja, sie war es bei­nah noch. Aber man sah auch, daß sie viel er­lebt hat­te, Glück und Un­glück, Lieb und Leid, und durch al­ler­lei schwe­re Schu­len ge­gan­gen war. Er und sie mach­ten ein hüb­sches Paar und wa­ren gleich­alt­rig, An­fang vier­zig, und ihre Sprech- und Ver­kehrs­wei­se ließ er­ken­nen, daß es eine Nei­gung ge­we­sen sein muß­te, was sie vor län­ger oder kür­zer zu­sam­men­ge­führt hat­te.

Der her­be Zug, den sie bei Be­ginn des Ge­sprächs ge­zeigt, wich denn auch mehr und mehr, und end­lich frag­te sie: »Wo drückt es wie­der? Eben hast du den Raps weg­ge­schickt, und wenn Leist das Öl hat, hast du das Geld. Er ist prompt auf die Mi­nu­te.«

»Ja, das ist er. Aber ich habe nichts da­von, al­les ist bloß Ab­schlag und Zins. Ich ste­cke tief drin und lei­der am tiefs­ten bei Leist selbst. Und dann kommt die Kra­kau­er Ge­schich­te, der Rei­sen­de von Ols­zew­ski-Gold­schmidt und Sohn. Er kann je­den Tag da­sein.«

Hrad­scheck zähl­te noch an­de­res auf, aber ohne daß es einen tiefe­ren Ein­druck auf sei­ne Frau ge­macht hät­te. Viel­mehr sag­te sie lang­sam und mit ge­dehn­ter Stim­me: »Ja, Wür­fel­spiel und Vo­gel­stel­len …«

»Ach, im­mer Spiel und wie­der Spiel! Glau­be mir, Ur­sel, es ist nicht so schlimm da­mit, und je­den­falls mach ich mir nichts draus. Und am we­nigs­ten aus dem Lot­to; ’s ist al­les Tor­heit und weg­ge­wor­fen Geld, ich weiß es, und doch hab ich wie­der ein Los ge­nom­men. Und warum? Weil ich her­aus will, weil ich her­aus muß, weil ich uns ret­ten möch­te.«

»So, so«, sag­te sie, wäh­rend sie me­cha­nisch an dem Kran­ze wei­ter­flocht und vor sich hin sah, als über­le­ge sie, was wohl zu tun sei.

»Soll ich dich auf den Kirch­hof be­glei­ten?« frug er, als ihn ihr Schwei­gen zu be­drücken an­fing. »Ich tu’s gern, Ur­sel.«

Sie schüt­tel­te den Kopf.

»Wa­rum nicht?«

»Weil, wer den To­ten einen Kranz brin­gen will, we­nigs­tens an sie ge­dacht ha­ben muß.«

Und da­mit er­hob sie sich und ver­ließ das Haus, um nach dem Kirch­hof zu ge­hen.

Hrad­scheck sah ihr nach, die Dorf­stra­ße hin­auf, auf de­ren ro­ten Dä­chern die Herbst­son­ne flim­mer­te. Dann trat er wie­der an sein Pult und blät­ter­te.

Zweites Kapitel

Eine Wo­che war seit je­nem Tage ver­gan­gen, aber das Spiel­glück, das sich bei Hrad­scheck ein­stel­len soll­te, blieb aus und das Lot­to­glück auch. Trotz al­le­dem gab er das War­ten nicht auf, und da ge­ra­de Lot­te­rie-Zieh­zeit war, kam das Vier­tel­los gar nicht mehr von sei­nem Pult. Es stand hier auf ei­nem Stän­der­chen, ganz nach Art ei­nes Fe­tisch, zu dem er nicht müde wur­de re­spekt­voll und bei­nah mit An­dacht auf­zu­bli­cken. Alle Mor­gen sah er in der Zei­tung die Ge­winn-Num­mern durch, aber die sei­ne fand er nicht, trotz­dem sie un­ter ih­ren fünf Zah­len drei Sie­ben hat­te und mit sie­ben di­vi­diert glatt auf­ging. Sei­ne Frau, die wohl wahr­nahm, daß er litt, sprach ihm nach ih­rer Art zu, nüch­tern, aber nicht un­freund­lich, und drang in ihn, »daß er den Lot­te­rie­zet­tel we­nigs­tens vom Stän­der her­un­ter­neh­men möge, das ver­drös­se den Him­mel nur, und wer der­glei­chen täte, krie­ge statt Ret­tung und Hil­fe den Teu­fel und sei­ne Sipp­schaft ins Haus. Das Los müs­se weg. Wenn er wirk­lich be­ten wol­le, so habe sie was Bes­se­res für ihn, ein Ma­ri­en­bild, das der Bi­schof von Hil­des­heim ge­weiht und ihr bei der Fir­me­lung ge­schenkt habe.«

Da­von woll­te nun aber der be­stän­dig zwi­schen Aber- und Un­glau­ben hin und her schwan­ken­de Hrad­scheck nichts wis­sen. »Geh mir doch mit dem Bild, Ur­sel. Und wenn ich auch woll­te, den­ke nur, wel­che Be­sche­rung ich hät­te, wenn’s ei­ner merk­te. Die Bau­ern wür­den la­chen von ei­nem Dor­fen­de bis ans an­de­re, selbst Orth und Igel, die sonst kei­ne Mie­ne ver­zie­hen. Und mit der Pas­tor-Freund­schaft wär’s auch vor­bei. Daß er zu dir hält, ist doch bloß, weil er dir den ka­tho­li­schen Un­sinn aus­ge­trie­ben und einen Platz im Him­mel, ja viel­leicht an sei­ner Sei­te, ge­won­nen hat. Denn mit mei­nem An­spruch auf Him­mel ist’s nicht weit her.«

Und so blieb denn das Los auf dem Stän­der, und erst als die Zie­hung vor­über war, zer­riß es Hrad­scheck und streu­te die Schnit­zel in den Wind. Er war aber auch jetzt noch, all sei­nem spöt­tisch-über­le­ge­nen Ge­re­de zum Trotz, so schwach und aber­gläu­bisch, daß er den Schnit­zeln in ih­rem Flu­ge nachsah, und als er wahr­nahm, daß ei­ni­ge die Stra­ße hin­auf bis an die Kir­che ge­weht wur­den und dort erst nie­der­fie­len, war er in sei­nem Ge­mü­te be­ru­higt und sag­te: »Das bringt Glück.«

Zu­gleich hing er wie­der al­ler­lei Ge­dan­ken und Vor­stel­lun­gen nach, wie sie sei­ner Phan­ta­sie jetzt häu­fi­ger ka­men. Aber er hat­te noch Kraft ge­nug, das Netz, das ihm die­se Ge­dan­ken und Vor­stel­lun­gen über­wer­fen woll­ten, wie­der zu zer­rei­ßen.

»Es geht nicht.«

Und als im sel­ben Au­gen­blick das Bild des Rei­sen­den, des­sen An­mel­dung er jetzt täg­lich er­war­ten muß­te, vor sei­ne See­le trat, trat er er­schreckt zu­rück und wie­der­hol­te nur so vor sich hin: »Es geht nicht.«

*

So war Mit­te Ok­to­ber her­an­ge­kom­men.

Im La­den gab’s viel zu tun, aber mit­un­ter war doch ru­hi­ge Zeit, und dann ging Hrad­scheck ab­wech­selnd in den Hof, um Holz zu spel­len, oder in den Gar­ten, um eine gute Sor­te Tisch­kar­tof­feln aus der Erde zu neh­men. Denn er war ein Fein­schme­cker. Als aber die Kar­tof­feln her­aus wa­ren, fing er an, den schma­len Strei­fen Land, dar­auf sie ge­stan­den, um­zu­gra­ben. Über­haupt wur­de Gra­ben und Gar­ten­ar­beit mehr und mehr sei­ne Lust, und die mit dem Spa­ten in der Hand ver­brach­ten Stun­den wa­ren ei­gent­lich sei­ne glück­lichs­ten.

Und so beim Gra­ben war er auch heu­te wie­der, als die Jesch­ke, wie ge­wöhn­lich, an die die bei­den Gär­ten ver­bin­den­de Heck­en­tür kam und ihm zu­sah, trotz­dem es noch früh am Tage war.

»De Tüf­feln sinn joa nu rut, Hrad­scheck.«

»Ja, Mut­ter Jesch­ke, seit vor­ges­tern. Und war dies­mal ’ne wah­re Freu­de; mit­un­ter zwan­zig an ei­nem Busch und alle groß und ge­sund.«

»Joa, joa, wenn een’s Glück heb­ben sall. Na, Se heb­ben’t, Hrad­scheck. Se heb­ben Glück bi de Tüf­feln un bi de Mal­ve­sie­ren ook. I, Se mö­ten joa woll ’n Schef­fel run­ner­pflückt heb­b’n.«

»O mehr, Mut­ter Jesch­ke, viel mehr.«

»Na, be­re­den Se’t nich, Hrad­scheck. Nei, nei. Man sall nix be­re­den. Ook sien Glück nich.«

Und da­mit ließ sie den Nach­bar stehn und hum­pel­te wie­der auf ihr Haus zu.

Hrad­scheck aber sah ihr är­ger­lich und ver­le­gen nach. Und er hat­te wohl Grund dazu. War doch die Jesch­ke, so freund­lich und zu­tu­lich sie tat, eine schlim­me Nach­bar­schaft und quack­sal­ber­te nicht bloß, son­dern mach­te auch sym­pa­the­ti­sche Ku­ren, be­sprach Blut und wuß­te, wer ster­ben wür­de. Sie sah dann die Nacht vor­her einen Sarg vor dem Ster­be­hau­se stehn. Und es hieß auch, »sie wis­se, wie man sich un­sicht­bar ma­chen kön­ne«, was, als Hrad­scheck sie sei­ner­zeit da­nach ge­fragt hat­te, halb von ihr be­strit­ten und dann halb auch wie­der zu­ge­stan­den war. »Sie wis­se es nicht; aber das wis­se sie, daß frisch aus­ge­las­se­nes Lamm­talg gut sei, ver­steht sich, von ei­nem un­ge­bo­re­nen Lamm und als Licht über einen ro­ten Woll­fa­den ge­zo­gen; am bes­ten aber sei Farn­kraut­sa­men in die Schu­he oder Stie­fel ge­schüt­tet.« Und dann hat­te sie herz­lich ge­lacht, worin Hrad­scheck na­tür­lich ein­stimm­te. Trotz die­ses La­chens aber war ihm je­des Wort, als ob es ein Evan­ge­li­um wär, in Erin­ne­rung ge­blie­ben, vor al­lem das »un­ge­bor­ne Lamm« und der »Farn­kraut­sa­men«. Er glaub­te nichts da­von und auch wie­der al­les, und wenn er, sei­ner sons­ti­gen Ent­schlos­sen­heit un­er­ach­tet, schon vor­her eine Furcht vor der al­ten Hexe ge­habt hat­te, so nach dem Ge­spräch über das Sich-un­sicht­bar-Ma­chen noch viel mehr.

Und sol­che Furcht be­schlich ihn auch heu­te wie­der. als er sie, nach dem Mor­gen­ge­plau­der über die »Tüf­feln« und die »Mal­ve­sie­ren«, in ih­rem Hau­se ver­schwin­den sah. Er wie­der­hol­te sich je­des ih­rer Wor­te: »Wenn een’s Glück heb­ben sall. Na, Se heb­ben’t joa, Hrad­scheck. Awers be­re­den Se’t nich.« Ja, so wa­ren ihre Wor­te ge­we­sen. Und was war mit dem al­lem ge­meint? Was soll­te dies ewi­ge Re­den von Glück und wie­der Glück? War es Neid, oder wuß­te sie’s bes­ser? Hat­te sie doch viel­leicht mit ih­rem Ho­kus­po­kus ihm in die Kar­ten ge­kuckt?

Wäh­rend er noch so sann, nahm er den Spa­ten wie­der zur Hand und be­gann rüs­tig wei­ter­zu­gra­ben. Er warf da­bei ziem­lich viel Erde her­aus und war kei­ne fünf Schritt mehr von dem al­ten Birn­baum, auf den der Acker­strei­fen zu­lief, ent­fernt, als er auf et­was stieß, das un­ter dem Schnitt des Ei­sens zer­brach und au­gen­schein­lich we­der Wur­zel noch Stein war. Er grub also vor­sich­tig wei­ter und sah als­bald, daß er auf Arm und Schul­ter ei­nes hier ver­scharr­ten To­ten ge­sto­ßen war. Auch Zeu­gres­te ka­men zu­ta­ge, zer­schlis­sen und ge­bräunt, aber im­mer noch far­big und wohl­er­hal­ten ge­nug, um er­ken­nen zu las­sen, daß es ein Sol­dat ge­we­sen sein müs­se.

Wie kam der hier­her?

Hrad­scheck stütz­te sich auf die Krücke sei­nes Grab­scheits und über­leg­te. »Soll ich es zur An­zei­ge brin­gen? Nein. Es macht bloß Ge­klätsch. Und kei­ner mag ein­keh­ren, wo man einen To­ten un­term Birn­baum ge­fun­den hat. Also bes­ser nicht. Er kann hier wei­ter lie­gen.«

Und da­mit warf er den Arm­kno­chen, den er aus­ge­gra­ben, in die Gru­be zu­rück und schüt­te­te die­se wie­der zu. Wäh­rend die­ses Zu­schüt­tens aber hing er all je­nen Ge­dan­ken und Vor­stel­lun­gen nach, wie sie seit Wo­chen ihm im­mer häu­fi­ger ka­men. Ka­men und gin­gen. Heut aber gin­gen sie nicht, son­dern wur­den Plä­ne, die Be­sitz von ihm nah­men und ihn, ihm selbst zum Trotz, an die Stel­le bann­ten, auf der er stand. Was er hier zu tun hat­te, war ge­tan, es gab nichts mehr zu gra­ben und zu schüt­ten, aber im­mer noch hielt er das Grab­scheit in der Hand und sah sich um, als ob er bei bö­ser Tat er­tappt wor­den wäre. Und fast war es so. Denn un­heim­lich ver­zerr­te Ge­stal­ten (und eine da­von er selbst) um­dräng­ten ihn so faß­bar und leib­haf­tig, daß er sich wohl fra­gen durf­te, ob nicht an­de­re da wä­ren, die die­se Ge­stal­ten auch sä­hen. Und er lug­te wirk­lich nach der Zaun­stel­le hin­über. Gott sei Dank, die Jesch­ke war nicht da. Aber frei­lich, wenn sie sich un­sicht­bar ma­chen und so­gar Tote se­hen konn­te, Tote, die noch nicht tot wa­ren, warum soll­te sie nicht die Ge­stal­ten sehn, die jetzt vor sei­ner See­le stan­den? Ein Grau­en über­lief ihn, nicht vor der Tat, nein, aber bei dem Ge­dan­ken, daß das, was erst Tat wer­den soll­te, viel­leicht in die­sem Au­gen­bli­cke schon er­kannt und ver­ra­ten war. Er zit­ter­te, bis er, sich plötz­lich auf­raf­fend, den Spa­ten wie­der in den Bo­den stieß.

»Un­sinn. Ein dum­mes al­tes Weib, das ge­ra­de klug ge­nug ist, noch Düm­me­re hin­ters Licht zu füh­ren. Aber ich will mich ih­rer schon weh­ren, ih­rer und ih­rer gan­zen To­ten­ku­cke­rei. Was ist es denn? Nichts. Sie sieht einen Sarg an der Tür stehn, und dann stirbt ei­ner. Ja, sie sagt es, aber sagt es im­mer erst, wenn ei­ner tot ist oder kei­nen Atem mehr hat oder das Was­ser ihm schon ans Herz stößt. Ja, dann kann ich auch pro­phezein. Alte Hexe, du sollst mir nicht wei­ter Sor­ge ma­chen. Aber Ur­sel! Wie bring ich’s der bei? Da liegt der Stein. Und wis­sen muß sie’s. Es müs­sen zwei sein …«

Und er schwieg. Bald aber fuhr er ent­schlos­­­­­­­­­­­­­