EINFÜHRUNG
Wochenendausflug
Ein sonniger Samstagmorgen im Februar 2002; wieder einmal stand ein typischer Ausflug nach Art der Familie Karnazes auf dem Programm: Niemand hatte am Vorabend irgendetwas zusammengepackt, und kein Wecker klingelte für einen zeitigen Aufbruch. Jeder pellte sich nach Lust und Laune aus den Federn. Und dann brach das Chaos aus. In wilder Hast wurden Taschen vollgestopft und ins Mutterschiff verladen – unser treues 9-Meter-Wohnmobil. Rasch bereitete Speisen verschwanden in hungrigen Mündern, kaum dass sie vom Herd an den Tisch gebracht worden waren. Kinder lachten, und Bälle und manch anderes Spielzeug flogen durch die Luft.
Alle paar Minuten fragte mein Vater, ob jemand diesen oder jenen dringend benötigten Gegenstand gesehen habe – so auch die Wagenschlüssel. Er war gerade zur Küche hinaus, als meine Frau Julie hereinkam.
»Ist Popou so weit?« Wenn sie das griechische Wort für »Paps« in den Mund nahm, dann musste auch sie in Wochenendstimmung sein! Sie hatte es bei derlei Unternehmungen nicht immer leicht mit der levantinischen Unbekümmertheit ihrer griechischen Familienhälfte, aber meist ließ sie sich früher oder später doch davon anstecken und mischte kräftig mit.
»Popou sucht die Autoschlüssel«, meinte unsere siebenjährige Tochter Alexandria.
»Aber wo ist Nicholas?«, rief Julie entgeistert, der eben aufgefallen war, dass sie unseren Vierjährigen schon eine Weile nicht gesehen hatte.
»Popou sagt, er sei schon mit Yiayia im Wohnmobil«, meldete Alexandria, wobei sie für ihre Großmutter, meine Mutter, ebenfalls das griechische Wort benutzte.
So klein Nicholas noch war, zeigten sich bei ihm bereits erste Anzeichen für die unersättliche Wanderlust seines Vaters. Ließ man ihn auch nur für Sekunden aus den Augen, dann war er schon stracks zur Haustüre hinausspaziert.
»Warte mal …«, ging es Alexandria durch den Sinn. »Wenn Nicholas und Yiayia schon im Auto sind, dann müssen sie doch auch den Schlüssel haben. Wie hätten sie sonst hineinkommen sollen?«
Da hatte sie natürlich recht. Dass ihn ein Kind übertrumpfte, brachte Popou aber nicht aus der Fassung. So etwas kümmerte ihn nicht weiter; Hauptsache, das Abenteuer nahm endlich seinen Anfang und der verdammte Schlüssel, nach dem er seit zehn Minuten überall gesucht hatte, war endlich aufgetaucht.
Schließlich saßen dann doch alle auf ihren Plätzen im Mutterschiff und ließen die Sicherheitsgurte einschnappen. Wie ein erfahrener Kapitän steuerte Popou das Schiff mit sicherer Hand über den Highway nach Norden, während wir sangen, scherzten und Sprüche aus unseren Lieblingsfilmen zitierten.
Der Unterschied zwischen einem Jogger und einem Läufer ist mir erst im Lauf der Jahre richtig klar geworden: Der Jogger hat sein Leben noch im Griff. Wir waren noch keine Stunde unterwegs, als ich schon rastlos mit den Hufen scharrte und meinen Vater bat: »Halt mal kurz an.«
Ich hatte das kommen sehen und meine Laufsachen schon vorher angezogen. Dad dirigierte das Wohnmobil in die nächste Haltebucht, wie wir das im Lauf vieler Familienausflüge perfektioniert hatten. Manchmal startete ich zu Hause vor dem Rest der Familie, und sie lasen mich dann irgendwo an der Strecke wieder auf. Bei anderen Gelegenheiten fuhr ich mit bis zum Ziel und machte mich von dort auf – ab und zu die ganze Nacht über –, bis ich am Morgen wieder zu ihnen stieß. Heute war das Programm vergleichsweise einfach: Ich wollte das letzte Wegstück die Straße entlanglaufen, während die Übrigen Vorräte einkauften, einen Stellplatz anfuhren und ein Schlemmermahl zubereiteten.
Im Hinaushasten gab ich Alexandria und Nicholas noch einen Schmatz auf die Wange, drückte meiner Mutter die Hand, umarmte Julie und winkte meinem Vater.
Mit einem knappen »Dann bis später« war ich aus dem Wagen hinaus.
Ich hatte mir 26 oder 27 Meilen vorgenommen, also in etwa einen Marathon. Was für viele Läufer die ultimative Herausforderung bedeutet, ist für mich eigentlich ein ganz normaler, längerer Wochenendlauf. Es ist nicht außergewöhnlich, wenn ich am Samstag einen Marathon laufe und am Sonntag gleich noch einen. Mehr als einmal bin ich 200 Meilen nonstop gelaufen und nehme jedes Jahr an mehreren 100-Meilen-Rennen an extremen Schauplätzen teil. Bei einem gemütlichen Lauf über einen Bruchteil dieser Distanz sollte ich mich also nicht allzu sehr verausgaben. Ich brauchte mich nur dem hypnotischen Ein- und Ausströmen meines Atems und den rhythmischen Kontraktionen der Muskeln hinzugeben – alles Übrige gab der herrliche Tag dazu. Es war ein perfekter Wintermorgen, wie er für das Napa Valley typischer nicht sein könnte: Am Himmel nicht eine einzige Wolke, die trockene Luft, weder zu kühl noch zu warm, strich mir in einer leichten Brise über die Haut.
Zwei Dinge trage ich auf Trainingsläufen stets bei mir: Handy und Kreditkarte. Ich war schon drei Stunden unterwegs, als das Handy klingelte.
»Hey, Liebling, wir haben vergessen, Parm…« Eine Kolonne von Lastwagen donnerte vorbei und übertönte den Rest des Satzes.
Ich steckte einen Finger ins eine Ohr und presste das Telefon ans andere. »Wie bitte?«
»Wir haben keinen Parmesan gekauft. Käse, hörst du?«
»Ohhh!«
»Kannst du noch welchen mitbringen?«
»Na klar.«
Die anderen waren gerade mit den Vorbereitungen fertig, als ich anderthalb Stunden später auf dem Campingplatz eintrudelte. Was stand da draußen auf einem Picknicktisch doch Herrliches bereit: frische Nudeln, Sauerteigbrot, Cäsarsalat, eine reife Melone und – weil unser Wohnmobil keinen Backofen hat – Kekse aus der Mikrowelle.
»Hast du Parmesan bekommen?«, fragte Alexandria.
»So ein Mist! Ich wusste doch, dass ich etwas vergessen habe!« Ich schlug mir mit der Hand an die Stirn.
»Daaad!«, schalt meine Tochter grinsend, rannte um mich herum und griff in die Lauftasche auf meinem Rücken. Sie hatte mich natürlich durchschaut.
Nach dem Essen machten wir einen langen Spaziergang. Wir gingen einen schmalen von einer Baumreihe gesäumten Pfad entlang, und meine Gedanken wandten sich einem vertrauten Thema zu. Diese Familienausflüge waren für mich der Himmel auf Erden. Alles, was ich mir wünschte, kam da zusammen: die Menschen, die mir lieb und teuer waren, Abenteuer, Freiheit und dazu jede Menge Gelegenheit, weite Strecken zu laufen. Vier oder fünf solche Ausflüge schafften wir im Jahr, meist innerhalb von Kalifornien, aber gelegentlich waren wir bis Oregon und Colorado gekommen. Manchmal flogen wir zusammen in einen weiter entfernten Bundesstaat, mieteten dort ein Wohnmobil und genossen die gleiche Mischung aus Camping, Besichtigungen und, was mich anging, Dauerlaufen. Auf jeder dieser Reisen wünschte ich mir früher oder später, dass die Reise länger dauerte und weiter weg führte. Diesmal jedoch gingen meine Gedanken über den bloßen Wunsch hinaus, und ich entwickelte eine klare Vorstellung, wie dieser perfekte Urlaub aussehen müsste.
Eines ist mir im Leben ganz besonders wichtig: die Herausforderung zu immer gewaltigeren, ganz und gar unmöglich erscheinenden Konditionsleistungen. Auf der Suche nach einer solchen Aufgabe ging mir mit einem Mal durch den Sinn, doch einmal an 50 aufeinanderfolgenden Tagen in jedem der 50 US-Bundesstaaten einen Marathon zu laufen. Jeder Tag wäre wie dieser, nur der Ort und die Landschaft wären verschieden und natürlich die regionale Kultur. So eine Unternehmung wäre natürlich eine harte Probe für die Ausdauer der ganzen Familie. Nacht für Nacht mussten Hunderte von Meilen zurückgelegt werden, im Wechsel mit meinen solo abgespulten 26,2er-Etappen. Kurze Teilstücke konnten die Kinder und meine Eltern ja mitlaufen, wie sie es auch sonst manchmal taten. Sogar Julie könnte mitmachen, obwohl sie normalerweise nur rennt, wenn sie gejagt wird. Mir spukten plötzlich die verschiedensten Möglichkeiten im Kopf herum.
Doch plötzlich wurde mir klar, dass wir uns eine derartige Aktion niemals würden leisten können. Julie und ich mussten beide arbeiten, um über die Runden zu kommen. Und dann war da noch die Schule. Nicholas kam bald in die Vorschule, und Alexandria war bereits eine eifrige Zweitklässlerin. Meine Mutter arbeitete als Grundschullehrerin in Orange County. Auch sie konnte unmöglich so lange freinehmen, und sie würde erst in vier Jahren aus dem Schuldienst ausscheiden. Es waren einfach zu viele Hindernisse zu überwinden, mein Plan war unausgegoren. Ich heftete die Idee in Gedanken ab als einen Traum. Einen verrückten und leider unerfüllbaren Traum.
Während der folgenden Jahre hauchte eine Folge glücklicher Umstände diesem Traum jedoch neues Leben ein, und am Ende erfüllte er sich in einer Weise, die ich mir nicht hätte träumen lassen.
Der erste Schritt war ein Sponsorenvertrag mit The North Face, einer in der San Francisco Bay gelegenen Firma für Outdoor-Ausrüstung und Bekleidung. Ich brauchte zwar noch immer meinen Job, um die Familie zu ernähren, aber mein Sponsor deckte nun einen Großteil der Reisekosten zu Wettkämpfen auf der ganzen Welt ab. Ich begriff das sogleich als Chance, mir höhere Ziele zu stecken. Schon wenige Monate nach Vertragsabschluss bei North Face nahm ich meinen Mut zusammen und reichte bei der Marketingabteilung den Vorschlag für mein »50 Marathons, 50 Bundesstaaten, 50 Tage«-Abenteuer ein. Der Antrag war recht bescheiden. Ich bat lediglich um die Übernahme der Sprit- und Verpflegungskosten für die Zeit, die ich mit meiner Familie durch die Lande karriolte. Wie alle unerfahrenen Athleten mit Sponsorenverträgen vergaß ich dabei, deutlich herauszustellen, was es bei der Sache für den Ausrüster zu gewinnen gab. Ich hatte mir vorgestellt, ich würde einfach ihre Produkte tragen und damit dafür sorgen, dass das Firmenlogo in Outside und Runner’s World zu sehen war.
Die Marketingleute bei North Face sahen offenbar kein großes Potenzial in meiner Idee und rührten sich nicht. Aus Tagen des Wartens wurden Wochen, aus Wochen Monate. Wahrscheinlich hofften sie, dass ich die Sache vergessen würde.
Dann ergab sich ein weiterer glücklicher Umstand: Ich schrieb ein Buch1, das mich praktisch über Nacht zu einem der bekanntesten Läufer Amerikas machte – und das nicht nur in Läuferkreisen. Ich schilderte darin meine Erlebnisse als 24-Stunden-Läufer, und überraschend wurde es zum Bestseller. Meine verrückten langen Läufe der vergangenen Dekade erregten mit einem Mal Interesse. Ich wurde zu David Lettermans Late Show und zu 60 Minutes eingeladen und von Howard Stern interviewt. Rennveranstalter und Präsidenten von Laufklubs auf der ganzen Welt luden mich zu Vorträgen über Motivation ein – und häufig reichten die Stühle nicht aus. Runner’s World und Outside setzten mich auf die Titelseiten, und Time brachte eine Geschichte über mich. Time Magazine! Plötzlich waren meine privaten Abenteuer in aller Munde.
Auch bei North Face wuchs mein Stellenwert. Inzwischen war 2005, und die Geburtsstunde meiner großen Idee lag drei Jahre zurück, als Joe Flannery dort neuer stellvertretender Marketingchef wurde. Als ihm mein schon von Motten angefressener Antrag in die Hände fiel, hatte er selbst eine Vision.
Bei unserem Gespräch in seinem weitläufigen Büro in der Firmenzentrale war ich verständlicherweise mehr als nervös.
»Ich möchte das alles viel größer haben«, meinte Joe.
»Wie, soll ich etwa mehr als die geplanten 50 laufen?«, scherzte ich.
Er lachte kurz und entgegnete: »Nicht weiter, sondern größer.«
Nach Joes Vorstellung sollte aus meinem exzentrischen Familienurlaub ein gigantischer transkontinentaler Fitness-Wanderzirkus samt Medienspektakel namens The North Face Endurance 50 werden. Und anstatt 50 beliebige und vom Kilometerzähler des Mutterschiffs vermessene Solomarathons zu laufen, wo immer ich im betreffenden Bundesstaat gerade Lust hatte, mir die Beine zu vertreten, sollte ich an 50 offiziell beglaubigten und auch für andere Läufer offenen Marathons teilnehmen. Wie bei anderen Marathons würde es sowohl vor als auch nach dem Rennen zusätzliche Veranstaltungen geben. An jedem Austragungsort würde man örtliche wie bundesstaatliche Behörden mit ins Boot holen. Joe und seine Leute würden eine aggressive Medienkampagne ausarbeiten mit dem Ziel, dass jeder in den USA, ob Mann, Frau oder Kind, mindestens einmal von den Endurance 50 hören musste. Der Werbeeffekt für The North Face musste überwältigend sein!
Großartig, dachte ich. Das war’s dann wohl mit dem netten Familienurlaub. Mir müssen die Gesichtszüge entgleist sein, denn Joe spielte gleich seine Trümpfe aus.
»Dean, du bist für viele Menschen zu einem Vorbild geworden«, meinte er ernst. »Das hier ist eine Chance, mehr Leute zu inspirieren, als du dir je hättest erträumen lassen. Von den möglichen Spenden für Karno’s Kids mal ganz abgesehen«, fügte er an. Ich habe diese Stiftung ins Leben gerufen, um Mädchen und Jungen zu körperlicher Aktivität zu ermuntern.
Damit war die Sache klar. Ich war mit dabei, und zwar richtig. Sollte ich im Leben auch nur eine Handvoll Nichtsportler zum Laufen inspiriert haben, dann könnte ich in der Gewissheit sterben, die Welt ein wenig verbessert zu haben. Und das nicht etwa, weil mir kein höheres Ziel einfällt, sondern weil ich davon überzeugt bin, dass es kein besseres Ziel gibt. Man rennt ja nicht bloß, um ein paar Pfunde loszuwerden. Laufen kann Depressionen heilen, schafft Erfolgserlebnisse und stärkt das Selbstbewusstsein. Laufen ist mein Rezept für eine harmonischere Welt.
»Ich bin dabei«, sagte ich.
Joe rief zuerst bei Merrill Squires an, dem Gründer der Squires Sports Group. Die SSG ist eine Art Eventagentur, ihre Spezialität ist die Logistik von Etappenveranstaltungen wie dem olympischen Fackellauf von 2002 quer durch Amerika.
»Klar, das kriegen wir hin«, meinte Merrill zuversichtlich. Dabei hatte SSG bislang noch nichts organisiert, was den Endurance 50 auch nur annähernd gleichkam, ja nicht einmal von einem solchen Versuch gehört. Später erfuhr ich, dass Merrills Freunde ihm hinter seinem Rücken nur eine Chance von eins zu 20 eingeräumt hatten, dass er es hinbekommen würde.
Es war eine gewaltige Herausforderung. Zunächst einmal mussten wir 50 Marathonveranstalter finden, die bereit dazu waren, ihren Lauf an einem von uns vorgeschlagenen Termin in kleinem Rahmen noch einmal durchzuführen oder unser Event parallel zu ihrem Marathon abhalten zu dürfen. Dann mussten wir die Abfolge der Rennen so einrichten, dass es möglich war, von einem zum nächsten zu fahren, alles aufzubauen und den Lauf innerhalb des engen Zeitfensters durchzuführen, das Polizeieinsatz, Genehmigungen und Straßensperren vorgaben. Unzählige Einzelheiten zu Transport, Versorgung, Versicherung und Personal waren zu klären. Und da sich die Kosten für diese beispiellose »Expedition«, wie sie bald genannt wurde, auf unglaubliche 1,2 Millionen Dollar summierten, mussten wir weitere Sponsoren anwerben.
Glücklicherweise war es nicht meine Aufgabe, all das auf die Beine zu stellen. Mir war bei der The North Face Endurance 50 eine andere Rolle zugedacht, als es bei einem Familienurlaub der Fall gewesen wäre. Wenn man sich die Endurance 50 als Film vorstellt, dann konnte ich gottlob die Arbeit als Produzent, Regisseur, Location Scout, Techniker und Kameramann getrost anderen überlassen. Ich war in diesem ganzen Apparat das Talent, wie man so sagt. Ein kleiner Star in einer sehr großen Show.
Die folgenden 15 Monate bis zum Start von Marathon Nummer eins – eine intensive Zeit mit an die 6000 im Training und zur Einstimmung bei Ultradistanzrennen abgespulten Meilen – sind in meiner Erinnerung so verwischt, als hätte jemand die Taste für schnellen Vorlauf gedrückt. Das legte sich erst mit meinem Flug nach St. Louis, Missouri, im September 2006. Von dort fuhren wir ins beschauliche Städtchen St. Charles, wo das seinen Ausgang nahm, was die 50 intensivsten Tage meines ganzen bisherigen Lebens werden sollten – ohne Übertreibung.
St. Charles war Austragungsort des Lewis & Clark Marathon, eines von acht »Liveevents« auf unserer Tour. Der Lauf fand zum zwölften Mal statt und hatte etwa 5000 Teilnehmer. Von St. Charles aus waren im Jahr 1804 Meriwether Lewis und William Clark zu ihrer legendären transkontinentalen Erkundungsexpedition in den äußersten Nordwesten der USA aufgebrochen, und das erfolgreiche Ende der Expedition (23. September 1806) jährte sich zum 200. Mal – passender hätten die Endurance 50 kaum beginnen können.
Am Morgen nach unserer Ankunft traf ich mich mit Joe Flannery auf einem großen Parkplatz. »Das ist es«, rief er. »Dein Zuhause für 50 Tage.« Er deutete auf einen gewaltigen und völlig mit bunten Bildern und auffälligen Sponsorlogos bedeckten Reisebus. »Und hier sind deine neuen Freunde«, fügte er an.
Vor mir stand ein zusammengewürfelter Haufen verwahrlost aussehender Typen, die meisten in den Zwanzigern. Einige hatte ich zuvor schon ein- oder zweimal getroffen, andere waren mir völlig fremd. Und doch sollte ich einen guten Teil der nächsten 50 Tage und Nächte mit diesen Leuten auf Tuchfühlung in einer mobilen Umkleidekabine mit Dreierstockbetten wie in einer Militärbaracke verbringen. Ich konnte nur hoffen, dass wir uns nicht gegenseitig an die Gurgel gingen.
Jason Koop und Jimmy Hopper kannte ich bereits ein wenig. Mit seiner schlaksigen Statur, dem eckigen Kinn und dem verfilzten Haar sieht »Koop« aus wie direkt dem Filmset von Chariots of Fire entsprungen. Als erfolgreicher ehemaliger Collegeläufer und Mitarbeiter von Lance Armstrongs persönlichem Trainer Chris Carmichael war Koop hier in erster Linie für die Überwachung meiner Ernährung und meiner physiologischen Parameter zuständig. »Hopps« konnte mit seinem Blondschopf als südkalifornischer Surfer durchgehen, erschien jedoch am nächsten Morgen aus unerfindlichen Gründen mit kahl rasiertem Schädel.
Neu waren mir English, unser englischer Busfahrer (und ich brauchte entsetzlich lange, bis ich kapierte, dass er aus England stammte und English hieß), und Dave, ein altgedienter Tourmanager bei vielen Rockbands. Er sollte unsere Expedition anführen, weil … nun, weil wir uns außer der Tournee einer Rockgruppe nichts vorstellen konnten, das unserem Vorhaben nur annähernd als Vorbild dienen konnte. English fiel auf durch sein fedriges, silbergraues Haar mit passendem Ziegenbärtchen und durch seinen deftigen Händedruck. Dave hatte stechende Augen, kämmte das Haar mit Gel nach hinten und war auch dann im Hintergrund präsent, wenn er sich gerade mit Gott und der Welt unterhielt. Die beiden waren die Veteranen unserer Mannschaft.
Die jüngeren Mitglieder des Teams hatten die Endurance 50 inzwischen ohne mein Wissen schon in ihrem Sinne uminterpretiert: 50 Bundesstaaten, 50 Tage, 50 Telefonnummern – in der Hoffnung, dass sie in jedem Staat dieser großartigen Nation einer ahnungslosen Helferin die Telefonnummer entlocken konnten. Ohne Zweifel ein ehrgeiziges Ziel, und ich musste feststellen, dass sie mir an Entschlossenheit um nichts nachstanden – vom Einfallsreichtum ganz zu schweigen.
Dave erläuterte, sie würden dort auf dem Parkplatz das »Finish Festival« aufbauen, als Generalprobe für die sich nun Tag für Tag sieben Wochen lang wiederholende Prozedur. Ich musste kurzfristig noch zu ein paar Besprechungen gehen. Zwei Stunden später kam ich zurück und traute meinen Augen kaum. Die Crew hatte inzwischen aus Zelten, Teppichen, Werbebanden und Podesten fast so etwas wie eine kleine Stadt aufgebaut. Nichts erinnerte mehr an den Hotelparkplatz; das Ganze glich nun eher einem firmengesponserten marokkanischen Basar. Die Mannschaft hastete mit Hämmern, Akkuschraubern und anderem Gerät herum, schleppte Kühltruhen voller Nahrungsmittel und Getränke heran und kniff, tief über komplizierte Bauanleitungen gebeugt, die Augen zusammen. Aus Megawatt-Lautsprechern dröhnte Musik, und alle waren von der Schlepperei schweißgebadet. Den improvisierten Eingang zu unserer Traumstadt bildete ein überdimensionales, aufblasbares Zieltor, das wie ein startbereiter Zeppelin hin- und herschwankte, während zwei für das Wochenende gewonnene Freiwillige vom Ort ihr Bestes gaben, um den Bogen sicher zu vertäuen.
Schweigend betrachtete ich das Durcheinander, und mein Magen signalisierte ein Gefühl banger Vorahnung.
Heute würde ich zum letzten Mal für zwei Monate die ganze Nacht in Ruhe durchschlafen können. Die Tatsache traf mich mit voller Wucht, als ich im Hotelzimmer neben Julie wach lag: Während der nächsten 50 Tage muss ich in 50 Staaten 50 Marathons laufen! Ich war zuversichtlich, dass ich es schaffen konnte, aber dennoch konnten Dutzende möglicher Missgeschicke das Scheitern bedeuten. Ein verdrehter Knöchel oder schlimme Blasen an den Füßen und erst recht ein Zusammenstoß mit einem Auto würden das ganze Spektakel schlagartig beenden. Und dabei war das Laufen noch der leichtere Teil der Übung. Von der eigenen Haustür aus 50 Marathons zu laufen war eine Sache, aber das Gleiche eingezwängt zwischen hektischen Zielfeiern und vielstündigen Busfahrten eine ganz andere.
Ich hatte schon öfter aufgeben müssen, aber noch nie zuvor hatten so viele Menschen darauf gezählt, dass ich es schaffte. Ich musste an die mehreren Tausend Läufer denken, die sich gemeldet hatten, um mich bei den 42 extra für die Endurance 50 geschaffenen Rennen zu begleiten, an die Lehrer im ganzen Land, die sich für ihre Schüler im Rahmen der Veranstaltung besondere Aktivitäten hatten einfallen lassen, an die Zeitschriften, Tageszeitungen, Radio- und Fernsehsender, die für mein Vorhaben Sendezeit und Ressourcen bereitgestellt hatten, und die Sponsoren, die beträchtliche Summen vorgestreckt hatten, um das Ganze überhaupt möglich zu machen.
Wenn man sich so lange auf eine Aufgabe vorbereitet, wie ich es bei den Endurance 50 getan habe, dann hat man in Gedanken so viele Eventualitäten durchgespielt, dass es kaum möglich erscheint, dass das Ereignis noch Überraschungen bereithält. Doch genau das hat es getan. Die Endurance 50 haben mich in vielfältiger Weise überrascht, doch am meisten durch die Herausforderung, jede einzelne Lektion, die ich jemals über das Laufen – und das Leben – gelernt habe, auch anzuwenden. Und sie haben mich eine ganze Menge Neues gelehrt, das mir in Zukunft nützlich sein wird. Und das sich weiterzugeben lohnt. Also dann mal los …
Umrechnungstabelle Meilen – Kilometer
Meilen |
Kilometer / Meter |
1 |
1,6093 km = 1609,3 m |
2 |
3,2186 km = 3218,6 m |
3 |
4,8279 km = 4827,9 m |
5 |
8,0465 km |
10 |
16,093 km |
20 |
32,186 km |
26,2 – die Marathondistanz |
42,195 km |
100 |
160,93 km |
199 |
320,25 km |
350 |
563,26 km |
1 »Ultramarathon Man. Aus dem Leben eines 24-Stunden-Läufers«, riva Verlag, München 2007.