CARTER
1.
Tod am Obelisken
Wir haben nur ein paar Stunden, also hört gut zu.
Wenn ihr diese Geschichte hört, seid ihr bereits in Gefahr. Vielleicht sind Sadie und ich eure einzige Chance.
Geht zu der Schule. Findet den Spind. Ich werde euch nicht verraten, welche Schule oder welcher Spind, denn wenn ihr die Richtigen seid, findet ihr beides. Die Zahlenkombination lautet 13/32/33. Wenn wir fertig erzählt haben, wisst ihr, was die Zahlen bedeuten. Aber denkt dran: Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Wie sie ausgeht, hängt von euch ab.
Das Allerwichtigste: Behaltet den Inhalt des Päckchens auf keinen Fall länger als eine Woche. Klar, es ist eine Verlockung. Immerhin gewährt er euch fast unbegrenzte Macht. Aber wenn er zu lange in eurem Besitz ist, wird er euch zerstören. Eignet euch seine Geheimnisse schnell an und gebt ihn weiter. Versteckt ihn für die nächste Person, so wie Sadie und ich ihn für euch versteckt haben. Dann macht euch darauf gefasst, dass euer Leben sehr interessant werden wird.
Okay, Sadie meint, ich soll nicht länger rumschwafeln und mit der Geschichte loslegen. In Ordnung. Alles fing in London an, an dem Abend, als Dad das British Museum in die Luft jagte.
Ich heiße Carter Kane. Ich bin vierzehn und mein Zuhause ist ein Koffer.
Ihr glaubt, das ist ein Witz? Mein Vater und ich reisen um die Welt, seit ich acht bin. Ich wurde in Los Angeles geboren, aber mein Vater ist Archäologe, deshalb ist er ständig unterwegs. Meistens fahren wir nach Ägypten, weil das sein Spezialgebiet ist. Geht in einen Buchladen und sucht euch ein Buch über Ägypten – mit ziemlicher Sicherheit ist der Autor Dr. Julius Kane. Ihr wollt wissen, wie die Ägypter das Hirn aus den Mumien herausgepult, die Pyramiden gebaut oder König Tuts Grab verflucht haben? Dann fragt am besten Dad. Es gibt natürlich auch noch ein paar andere Gründe, warum mein Vater so viel durch die Gegend gezogen ist, aber damals kannte ich sein Geheimnis noch nicht.
Ich bin nie zur Schule gegangen. Mein Dad hat mich zu Hause unterrichtet, falls man von »Unterricht zu Hause« sprechen kann, wenn man gar kein Zuhause hat. Er hat mir so ziemlich alles beigebracht, was er für wichtig hielt. Also eine Menge über Ägypten und Basketball und seine Lieblingsmusiker. Ich habe auch viel gelesen – so ziemlich alles, was ich in die Finger bekam, angefangen bei den Geschichtsbüchern meines Vaters bis hin zu Fantasyromanen –, schließlich saß ich oft in Hotels herum, auf Flughäfen und an Ausgrabungsstätten in fremden Ländern, wo ich niemanden kannte. Mein Vater meinte immer, ich sollte das Buch weglegen und rausgehen, um Ball zu spielen. Aber habt ihr schon mal versucht, in Assuan in Ägypten spontan ein paar Leute zum Basketballspielen aufzutreiben? Nicht so einfach.
Jedenfalls hat mir mein Vater früh beigebracht, meine sämtlichen Habseligkeiten in einem einzigen Koffer unterzubringen, den ich als Handgepäck mit ins Flugzeug nehmen konnte. Mein Dad packte genauso, allerdings durfte er zusätzlich noch eine Arbeitstasche für seine archäologischen Werkzeuge mitnehmen. Regel Nummer eins: Ich durfte nicht in seine Arbeitstasche schauen. Bis zum Tag der Explosion habe ich mich an diese Regel auch gehalten.
Es passierte an Heiligabend. Wir waren in London, weil der Besuchstag bei meiner Schwester Sadie anstand.
Da meine Großeltern ihn hassen, darf mein Vater sie nämlich bloß zwei Tage im Jahr sehen – einen im Winter, einen im Sommer. Nach dem Tod unserer Mutter hatten ihre Eltern (unsere Großeltern) diesen ganzen Rechtsstreit mit Dad angefangen. Nach sechs Anwälten, zwei Schlägereien und einem beinahe tödlichen Angriff mit einem Spachtel (fragt nicht) wurde ihnen das Recht zugesprochen, Sadie bei sich in England zu behalten. Sie war erst sechs, zwei Jahre jünger als ich, und meine Großeltern konnten sich nicht um uns beide kümmern – das war zumindest ihre Entschuldigung, mich nicht mit aufzunehmen. Sadie wuchs also als englisches Schulmädchen auf und ich reiste mit meinem Vater um die Welt. Mir war es egal, dass wir Sadie nur zweimal im Jahr sahen.
[Klappe, Sadie. Ja – dazu komme ich noch.]
Jedenfalls waren mein Dad und ich nach etlichen Verspätungen gerade in Heathrow gelandet. Es war ein kalter Nachmittag und es nieselte. Während der gesamten Taxifahrt in die Stadt wirkte mein Vater irgendwie nervös.
Dabei ist mein Dad ein ziemlicher Brocken. Wenn man ihn sieht, denkt man nicht, dass ihn etwas aus der Fassung bringen kann. Er hat die gleiche dunkelbraune Haut wie ich, durchdringende Augen, eine Glatze und einen Spitzbart, er sieht also aus wie ein muskelbepackter fieser Wissenschaftler. An diesem Nachmittag trug er seinen Kaschmirwintermantel und seinen besten braunen Anzug, den er immer zu Vorträgen anzieht. Normalerweise strahlt er ein solches Selbstvertrauen aus, dass er alle sofort für sich einnimmt, aber manchmal – wie an diesem Nachmittag – bekam ich eine andere Seite von ihm mit, die ich nicht richtig verstand. Ständig drehte er sich um, als würden wir verfolgt.
»Dad?«, fragte ich, als wir von der A 40 abbogen. »Stimmt was nicht?«
»Nichts von ihnen zu sehen«, murmelte er. Als er merkte, dass er es laut ausgesprochen hatte, sah er mich ziemlich erschrocken an. »Nein, Carter. Alles bestens.«
Das beunruhigte mich, denn mein Vater ist ein miserabler Lügner. Ich wusste immer, wenn er etwas vor mir verheimlichte, aber ich wusste auch, ich könnte ihn noch so sehr löchern – mit der Wahrheit würde er nicht herausrücken. Möglicherweise versuchte er, mich zu beschützen, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wovor. Manchmal fragte ich mich, ob es in seiner Vergangenheit ein dunkles Geheimnis gab, vielleicht war ein alter Feind hinter ihm her; doch die Vorstellung kam mir albern vor, Dad war schließlich bloß Archäologe.
Was mir auch Sorgen machte: Dad hielt seine Arbeitstasche umklammert. Wenn er das macht, sind wir meistens in Gefahr. Wie das eine Mal in Kairo, als Bewaffnete unser Hotel stürmten. Ich hörte Schüsse aus der Eingangshalle und rannte nach unten, um nach Dad zu sehen. Doch als ich ankam, zog er seelenruhig den Reißverschluss der Arbeitstasche zu, während drei bewusstlose Bewaffnete kopfüber vom Kronleuchter herunterbaumelten. Ihre Gewänder fielen ihnen über die Köpfe und man sah ihre Boxershorts. Dad behauptete, er hätte nichts mitbekommen, und am Ende schob die Polizei alles auf einen ungewöhnlichen Defekt des Kronleuchters.
Ein anderes Mal gerieten wir in Paris in einen Tumult. Mein Dad suchte sich das nächstbeste geparkte Auto, stieß mich auf den Rücksitz und befahl mir, mich zu ducken. Ich legte mich flach auf die Sitzbank und machte die Augen zu. Dann hörte ich, wie Dad in seiner Tasche herumkramte und etwas vor sich hin murmelte, während die Menge draußen herumgrölte und randalierte. Ein paar Minuten später erklärte er mir, ich könne wieder hochkommen. Alle anderen Autos auf der Straße waren umgekippt und angezündet worden. Unser Wagen dagegen war frisch geputzt und poliert und unter den Scheibenwischern klemmten mehrere Zwanzigeuroscheine.
Jedenfalls habe ich die Tasche zu schätzen gelernt. Sie war unser Glücksbringer. Wenn mein Vater sie an sich drückte, brauchten wir das Glück allerdings auch dringend.
Wir fuhren durch das Stadtzentrum Richtung Osten zum Haus meiner Großeltern. Wir passierten die goldenen Tore des Buckingham Palace und die große Steinsäule auf dem Trafalgar Square. London ist ziemlich interessant, aber wenn man so viel unterwegs ist, kann man die Städte kaum noch auseinanderhalten. Wenn ich andere Jugendliche treffe, sagen die immer: »Mensch, hast du ein Glück.« Aber Dad und ich verbringen unsere Zeit ja nicht mit Stadtrundfahrten und wir haben auch nicht genug Geld, um stilvoll zu reisen. Wir waren schon an ein paar ziemlich ungemütlichen Orten und wir bleiben selten länger als ein paar Tage. Die meiste Zeit kommen wir uns eher wie Flüchtlinge vor, nicht wie Touristen.
Man sollte ja denken, die Arbeit meines Vaters wäre nicht gefährlich. Er hält Vorträge über Themen wie »Ist ägyptische Magie wirklich tödlich?« und »Bestrafung in der ägyptischen Unterwelt« und anderen Kram, für den sich kaum jemand interessiert. Aber wie ich schon sagte: Er hat auch noch diese andere Seite. Er ist ständig auf der Hut und durchsucht jedes Hotelzimmer, bevor er mich hineinlässt. Er stürzt in ein Museum, um sich irgendwelche alten Artefakte anzusehen und ein paar Notizen zu machen, dann rennt er wieder hinaus, als könnte er so den Überwachungskameras entgehen.
Einmal, als ich noch kleiner war und wir durch den Flughafen Charles de Gaulle rannten, um auf den letzten Drücker noch einen Flug zu erwischen, und Dad sich erst entspannte, als der Flieger abhob, habe ich ihn einfach unumwunden gefragt, wovor er davonlief, und er starrte mich an, als hätte ich den Stift aus einer Handgranate rausgezogen. Einen Moment lang befürchtete ich, er würde mir tatsächlich die Wahrheit sagen. Doch dann antwortete er: »Carter, es ist nichts.« Als wäre »nichts« das Schrecklichste auf der Welt.
Danach beschloss ich, dass es vielleicht besser war, keine Fragen zu stellen.
Meine Großeltern, die Fausts, wohnen in einer Siedlung in der Nähe von Canary Wharf, direkt am Ufer der Themse. Das Taxi hielt an und mein Vater bat den Fahrer zu warten.
Auf halbem Weg zum Haus blieb Dad plötzlich wie angewurzelt stehen. Er warf einen Blick zurück.
»Was ist?«, fragte ich.
Dann sah ich den Mann im Trenchcoat. Er stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite und lehnte an einem großen dürren Baum. Er war klein und korpulent, seine Haut hatte die Farbe von geröstetem Kaffee. Sein Mantel und der schwarze Nadelstreifenanzug sahen teuer aus. Seine langen Haare waren zu Zöpfchen geflochten und den schwarzen Filzhut hatte er bis zum Rand seiner dunklen, runden Brille ins Gesicht gezogen. Er erinnerte mich an einen der Jazzmusiker, in deren Konzerte mich Dad immer schleppte. Obwohl ich seine Augen nicht erkennen konnte, hatte ich das Gefühl, dass er uns beobachtete. Vielleicht war er ein alter Freund oder Kollege von Dad. Ganz egal, wo wir waren, Dad traf ständig Leute, die er kannte. Aber irgendwie war es komisch, dass der Typ hier vor dem Haus meiner Großeltern wartete. Und er wirkte nicht gerade gut gelaunt.
»Carter«, sagte mein Dad, »geh schon mal rein.«
»Aber –«
»Hol deine Schwester. Wir treffen uns am Taxi.«
Er ging über die Straße zu dem Mann im Trenchcoat, was mir zwei Wahlmöglichkeiten ließ: ihm zu folgen und zu schauen, was passierte, oder zu tun, was man mir aufgetragen hatte.
Ich entschied mich für die etwas ungefährlichere Alternative. Ich ging meine Schwester holen.
Bevor ich auch nur klopfen konnte, öffnete Sadie die Tür.
»Wie immer zu spät«, stellte sie fest.
Auf dem Arm hielt sie ihre Katze Muffin, die Dad ihr vor sechs Jahren als »Abschiedsgeschenk« überreicht hatte. Muffin schien weder älter noch größer zu werden. Sie hatte wuscheliges gelb-schwarzes Fell wie ein Zwergleopard, wachsame gelbe Augen und spitze Ohren, die zu groß für ihren Kopf waren. Um ihren Hals hing ein silberner ägyptischer Anhänger. Sie sah absolut nicht wie ein Muffin aus, wahrscheinlich muss man Sadie zugutehalten, dass sie noch klein war, als sie ihr den Namen gab.
Auch Sadie hatte sich seit letztem Sommer nicht großartig verändert.
[Während ich das aufnehme, steht sie neben mir und wirft mir dauernd böse Blicke zu, ich bin wohl besser vorsichtig mit dem, was ich sage.]
Kein Mensch würde sie für meine Schwester halten. Erstens lebt sie schon so lange in England, dass sie einen britischen Akzent hat. Zweitens schlägt Sadie nach unserer Mutter, die weiß war, deshalb ist ihre Haut viel heller als meine. Sie hat glattes karamellfarbenes Haar, nicht richtig blond, aber auch nicht braun, meistens färbt sie ein paar Strähnchen leuchtend bunt. An diesem Tag waren es rote Strähnen auf der linken Seite. Sie hat blaue Augen. Ungelogen. Blaue Augen, genau wie Mom. Sie ist erst zwölf, aber sie ist genauso groß wie ich, was echt nervt. Wie üblich kaute sie Kaugummi und für den Tag mit Dad hatte sie abgewetzte Jeans, eine Lederjacke und Springerstiefel angezogen, als ginge sie auf ein Konzert und hätte vor, ein paar Leute plattzumachen. Für den Fall, dass Dad und ich sie anödeten, baumelten Kopfhörer um ihren Hals.
[Okay, sie hat mir keine geklebt, ich scheine sie also ganz gut beschrieben zu haben.]
»Unser Flug hatte Verspätung«, erklärte ich ihr.
Sie blies eine Kaugummiblase, streichelte Muffin über den Kopf und warf die Katze mit Schwung ins Haus. »Granny, ich geh dann mal!«
Irgendwo aus dem Haus brummelte Grandma Faust etwas Unverständliches, vermutlich: »Lass sie bloß nicht rein!«
Sadie schloss die Tür hinter uns und musterte mich, als wäre ich eine tote Maus, die ihre Katze gerade angeschleppt hatte. »Da bist du also wieder.«
»Genau.«
»Dann komm schon.« Sie seufzte. »Bringen wir es hinter uns.«
So ist sie nun mal. Kein Hallo, wie ist es dir die letzten sechs Monate ergangen?, Ich freu mich so, dich zu sehen! oder irgendwas in der Art. Aber das ist schon in Ordnung. Wenn man sich bloß zweimal im Jahr sieht, fühlt man sich eher als entfernte Cousins, nicht als Geschwister. Außer unseren Eltern hatten wir absolut nichts gemeinsam.
Wir liefen die Treppen hinunter. Gerade, als mir durch den Kopf ging, dass sie wie eine Mischung aus Alte-Leute-Wohnung und Kaugummi roch, blieb sie so unvermittelt stehen, dass ich gegen sie rannte.
»Wer ist das denn?«, fragte sie.
Den Typen im Trenchcoat hatte ich fast vergessen. Er und mein Vater standen auf der anderen Straßenseite neben dem großen Baum und hatten allem Anschein nach eine ernsthafte Auseinandersetzung. Dad drehte uns den Rücken zu, deshalb konnte ich sein Gesicht nicht sehen, aber er fuchtelte mit den Händen und das macht er nur, wenn er aufgeregt ist. Der andere Typ zog eine finstere Miene und schüttelte den Kopf.
»Keine Ahnung«, erwiderte ich. »Er stand schon da, als wir ankamen.«
»Er kommt mir irgendwie bekannt vor.« Sadie runzelte die Stirn, als versuchte sie sich zu erinnern. »Los, komm.«
»Dad will, dass wir im Taxi warten«, wandte ich ein, aber ich wusste, dass es nichts brachte. Sadie hatte sich bereits in Bewegung gesetzt.
Statt direkt über die Straße zu gehen, preschte sie den Gehweg fast bis zur nächsten Straßenecke hoch, duckte sich hinter Autos, dann überquerte sie die Straße und kauerte sich vor eine niedrige Steinmauer. Langsam pirschte sie sich an Dad heran. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihrem Beispiel zu folgen, auch wenn ich mir dabei ziemlich dämlich vorkam.
»Sechs Jahre in England«, brummte ich, »und sie hält sich für James Bond.«
Ohne sich umzudrehen, schlug Sadie nach mir und robbte weiter vorwärts.
Noch ein paar Schritte und wir befanden uns direkt hinter dem großen kahlen Baum. Ich konnte hören, wie mein Dad auf der anderen Seite sagte: »… tun müssen, Amos. Du weißt, dass es das Richtige ist.«
»Nein«, widersprach sein Gegenüber, der offenbar Amos hieß. Seine Stimme klang tief und ruhig – sehr nachdrücklich. Er hatte einen amerikanischen Akzent. »Wenn ich dich nicht aufhalte, Julius, dann tun sie es. Das Per Anch beschattet dich.«
Sadie formte lautlos die Worte: »Das was?«
Ich schüttelte den Kopf, mir war das genauso schleierhaft. »Lass uns abhauen«, flüsterte ich, denn vermutlich würden sie uns gleich erwischen und dann gäbe es richtig Ärger. Sadie überhörte meine Bemerkung geflissentlich.
»Sie wissen nichts von meinem Plan«, sagte mein Vater gerade. »Bis sie darauf kommen –«
»Und die Kinder?«, fragte Amos. Mir stellten sich sämtliche Nackenhaare hoch. »Was ist mit ihnen?«
»Ich habe Vorkehrungen getroffen, um sie zu schützen«, erklärte mein Vater. »Außerdem, wenn ich es nicht mache, sind wir alle in Gefahr. Jetzt lass mich in Frieden.«
»Ich kann nicht, Julius.«
»Du legst es also auf einen Zweikampf an?« Dads Tonfall wurde todernst. »Du besiegst mich nie, Amos.«
Seit dem Spachtel-Debakel hatte ich Dad nicht mehr gewalttätig werden sehen und ich legte auch keinen gesteigerten Wert auf eine Neuauflage, aber die beiden schienen auf eine Schlägerei zuzusteuern.
Bevor ich reagieren konnte, sprang Sadie aus unserem Versteck und rief: »Dad!«
Er wirkte überrascht, als sie auf ihn zustürzte und ihn umarmte, allerdings nicht annähernd so überrascht wie der andere Typ, Amos. Der machte einen solchen Satz nach hinten, dass er sich in seinem Trenchcoat verhedderte.
Er hatte seine Brille abgenommen und ich musste Sadie Recht geben. Er sah irgendwie vertraut aus – wie eine sehr weit zurückliegende Erinnerung.
»Ich – ich muss los«, murmelte er. Er rückte seinen Hut zurecht und lief schwerfällig die Straße hinunter.
Dad beobachtete, wie er davonging, und legte schützend einen Arm um Sadie. Die andere Hand steckte er in die Arbeitstasche, die über seiner Schulter hing. Als Amos schließlich um die Ecke verschwand, entspannte sich Dad. Er nahm die Hand aus der Tasche und lächelte Sadie an. »Hallo, Süße.«
Sadie machte sich los und verschränkte die Arme. »Ach, jetzt bin ich die Süße, oder wie? Du kommst zu spät. Der Besuchstag ist fast vorbei! Und was sollte das hier? Wer ist Amos und was ist Per Anch?«
Dad erstarrte. Er warf mir einen Blick zu und schien zu überlegen, wie viel wir wohl mitgehört hatten.
»Ist nicht wichtig«, sagte er und versuchte, fröhlich zu klingen. »Ich habe einen tollen Abend geplant. Wer hat Lust auf eine Privatführung im British Museum?«
Sadie ließ sich zwischen Dad und mich auf die Rückbank des Taxis fallen.
»Ich glaub es nicht«, maulte sie. »Da haben wir mal einen gemeinsamen Abend und du hast bloß wieder deine Arbeit im Kopf.«
Dad gab sich Mühe zu lächeln. »Süße, das wird lustig. Der Leiter der Ägyptischen Sammlung hat uns persönlich eingeladen –«
»Ach, wer hätte das gedacht.« Sadie blies eine rot gefärbte Haarsträhne aus ihrem Gesicht. »Heiligabend, und wir schauen uns irgendwelche schimmligen alten Überbleibsel aus Ägypten an. Denkst du jemals an was anderes?«
Dad war nicht sauer. Er ist nie sauer auf Sadie. Er starrte einfach aus dem Fenster in den dunkler werdenden Himmel und den Regen.
»Ja«, erwiderte er ruhig. »Manchmal schon.«
Ich wusste, dass Dad immer an Mom dachte, wenn er so still wurde und ins Nichts starrte. Die letzten paar Monate war das oft der Fall gewesen. Wenn ich in unser Hotelzimmer kam, saß er mit seinem Handy da, von dessen Bildschirm ihm Mom entgegenlächelte – ihr Haar war unter ein Kopftuch geschoben, ihre Augen wirkten vor dem Wüstenhintergrund verblüffend blau.
Oder wir waren an irgendeiner Ausgrabungsstätte. Dad starrte auf den Horizont und ich wusste, dass er sich daran erinnerte, wie er sie kennengelernt hatte – zwei junge Wissenschaftler im Tal der Könige, auf der Suche nach einer vergessenen Grabkammer. Dad war Ägyptologe, Mom war Anthropologin und erforschte richtig alte DNS. Die Geschichte hatte er mir tausendmal erzählt.
Unser Taxi schlängelte sich am Ufer der Themse entlang. Kurz hinter der Waterloo Bridge wurde Dad nervös.
»Entschuldigen Sie«, sagte er, als wir am Victoria Embankment entlangfuhren. »Halten Sie hier einen Augenblick an.«
Der Fahrer hielt am Straßenrand.
»Was ist denn, Dad?«, fragte ich.
Er kletterte aus dem Taxi, als hätte er mich nicht gehört. Als Sadie und ich ebenfalls ausstiegen und uns neben ihn stellten, starrte er an Cleopatra’s Needle hoch.
Falls ihr sie noch nie gesehen habt, die sogenannte Nadel ist ein Obelisk, keine Nadel, und sie hat überhaupt nichts mit Kleopatra zu tun. Als die Briten sie nach London brachten, fanden sie den Namen vermutlich einfach gut. Sie ist ungefähr zwanzig Meter hoch, was im Alten Ägypten vielleicht eindrucksvoll war, an der Themse zwischen all den hohen Gebäuden allerdings eher mickrig und kläglich aussieht. Man kann daran vorbeifahren und merkt überhaupt nicht, dass dort etwas steht, das tausend Jahre älter ist als die Stadt London.
»Gott.« Sadie drehte frustriert eine Runde um die Säule. »Müssen wir an jedem Denkmal stehen bleiben?«
Dad starrte zur Spitze des Obelisken. »Ich musste mir die Nadel noch einmal ansehen«, murmelte er. »Hier ist es passiert …«
Vom Fluss her blies ein eisiger Wind. Ich wollte zurück ins Taxi, aber allmählich machte ich mir echt Sorgen. So abwesend hatte ich ihn noch nie erlebt.
»Was hast du, Dad?«, fragte ich. »Was ist hier passiert?«
»Hier habe ich sie zum letzten Mal gesehen.«
Sadie blieb stehen. Unsicher warf sie mir einen mürrischen Blick zu, dann sah sie wieder zu Dad. »Moment mal. Du redest von Mom?«
Dad strich Sadie das Haar hinters Ohr und sie war so überrascht, dass sie ihn nicht mal wegstieß.
Ich hatte das Gefühl, dass mich der Regen in einen Eisblock verwandelt hatte. Moms Tod war immer ein Tabuthema gewesen. Ich wusste, dass sie bei einem Unfall in London gestorben war, und ich wusste, dass meine Großeltern Dad die Schuld dafür gaben. Aber kein Mensch hatte uns je die Einzelheiten erzählt. Ich hatte es aufgegeben, meinen Vater danach zu fragen, zum einen, weil es ihn so traurig machte, zum anderen, weil er sich strikt weigerte, irgendetwas preiszugeben. »Wenn du älter bist« war alles, was er sagte, und es war die frustrierendste Antwort überhaupt.
»Heißt das, dass sie hier gestorben ist?«, fragte ich. »An Cleopatra’s Needle? Was ist passiert?«
Er senkte den Kopf.
»Dad!«, protestierte Sadie. »Ich geh hier jeden Tag vorbei und jetzt erfahre ich, dass ich davon – die ganze Zeit – nichts gewusst habe?«
»Hast du deine Katze noch?«, fragte Dad, eine reichlich dämliche Frage, wie ich fand.
»Klar hab ich die Katze noch!«, erwiderte sie. »Was hat das denn damit zu tun?«
»Und dein Amulett?«
Sadie griff sich an den Hals. Als wir klein waren, kurz bevor Sadie zu unseren Großeltern kam, hatte Dad uns beiden ägyptische Amulette geschenkt. Meines war ein Horusauge, ein beliebtes Schutzsymbol im Alten Ägypten.
Wie dem auch sei, ich trug mein Amulett jedenfalls immer unter dem Hemd, aber ich hatte angenommen, Sadie hätte ihres längst verloren oder weggeworfen.
Zu meiner Überraschung nickte sie. »Sicher, Dad, aber lenk jetzt nicht vom Thema ab. Gran redet ständig darüber, dass du an Moms Tod schuld bist. Das stimmt nicht, oder?«
Wir warteten. Ausnahmsweise wollten Sadie und ich genau dasselbe – wir wollten die Wahrheit wissen.
»Als eure Mutter starb«, fing mein Vater an, »hier an Cleopatra’s Needle –«
Plötzlich erleuchtete ein Blitz die Uferpromenade. Ich drehte mich halb geblendet um und für einen kurzen Moment sah ich zwei Gestalten, einen großen blassen Mann mit einem Gabelbart und cremefarbenem Gewand und ein kupferhäutiges Mädchen in dunkelblauem Gewand und Kopftuch – Kleidungsstücke, die ich in Ägypten schon hundertmal gesehen hatte. Keine zehn Meter entfernt standen sie dort einfach nebeneinander und beobachteten uns. Dann verblasste das Licht. Die Gestalten verschwammen zu einem undeutlichen Nachbild. Als sich meine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, waren sie verschwunden.
»Äh …«, sagte Sadie nervös. »Habt ihr das gerade gesehen?«
»Steigt ein«, befahl mein Vater und drängte uns zum Taxi. »Wir sind spät dran.«
Von diesem Moment an gab mein Vater keinen Ton mehr von sich.
»Hier können wir nicht reden«, stellte er fest und warf einen Blick nach hinten. Er hatte dem Taxifahrer zehn Pfund extra versprochen, wenn er uns in weniger als fünf Minuten zum Museum brachte, und der Fahrer gab sein Bestes.
»Dad«, begann ich, »diese Leute am Fluss –«
»Und der andere Typ, Amos«, fügte Sadie hinzu. »Sind die von der ägyptischen Polizei oder so was?«
»Passt auf, ihr beiden«, sagte mein Dad. »Heute Abend brauche ich eure Hilfe. Ich weiß, es ist viel verlangt, aber ihr müsst Geduld haben. Ich verspreche, dass ich euch alles erklären werde, sobald wir im Museum sind. Ich bringe alles wieder in Ordnung.«
»Was meinst du damit?«, beharrte Sadie. »Was willst du in Ordnung bringen?«
Dads Gesichtsausdruck war mehr als traurig. Er sah fast schuldbewusst aus. Mit einem Frösteln dachte ich an das, was Sadie gesagt hatte: dass unsere Großeltern ihm die Schuld an Moms Tod gaben. Das konnte nicht das sein, wovon er da redete, oder?
Der Taxifahrer bog in die Great Russell Street ein und hielt mit quietschenden Reifen vor dem Haupteingang des Museums.
»Lauft einfach hinter mir her«, befahl uns Dad. »Wenn wir den Leiter der Sammlung treffen, benehmt euch ganz normal.«
Sadie benahm sich ja eigentlich nie normal, aber ich beschloss, lieber den Mund zu halten. Wir kletterten aus dem Taxi. Während Dad dem Fahrer ein dickes Bündel Geldscheine in die Hand drückte, kümmerte ich mich um das Gepäck. Dann machte Dad etwas Seltsames. Er warf eine Handvoll kleiner Gegenstände auf den Rücksitz – sie sahen wie Steine aus, aber es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. »Fahren Sie weiter«, befahl er dem Taxifahrer. »Nach Chelsea, bitte.«
Das ergab keinen Sinn, schließlich saßen wir gar nicht mehr im Taxi, aber der Fahrer raste davon. Ich sah zu Dad, dann wieder auf das Taxi, und bevor es um die Ecke bog und in der Dunkelheit verschwand, erhaschte ich einen seltsamen Blick auf drei Passagiere auf der Rückbank: Es waren ein Mann und zwei Kinder.
Ich starrte verständnislos hinterher. Das Taxi konnte unmöglich so schnell neue Fahrgäste aufgenommen haben. »Dad –«
»Londoner Taxis bleiben nie lange leer«, bemerkte er nüchtern. »Kommt, Kinder.«
Er marschierte durch das schmiedeeiserne Tor. Sadie und ich zögerten einen Augenblick.
»Carter, was geht hier vor sich?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich das wissen will.«
»Gut, dann bleib von mir aus hier draußen in der Kälte, ich werde jedenfalls nicht ohne eine Erklärung nach Hause gehen.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und stapfte unserem Vater hinterher.
Im Nachhinein betrachtet hätte ich davonlaufen sollen. Ich hätte Sadie da rausschleifen und das Weite suchen sollen. Stattdessen folgte ich ihr durch das Tor.