MARIE GATÉ

DER KLANG DES
BLEISTIFTES,
DER ZU BODEN
FÄLLT

Für Adrienne,
die mir ihre Liebe schenkte

Für Ubaldo, Pierre und Manuel,
die ich liebe

ISBN 978-3-948065-17-1

Covergestaltung: Matthias Mielitz, München – unter Verwendung eines Gemäldes von Horst Thürheimer, Fotografie von Thomas Lomberg

www.stroux-edition.de

Printed in Germany

Inhalt

SEPIA

DIE PIAZZA GEHÖRT MIR

DIE STRASSE ZUM BELVEDERE

TATIE NENNE

DAS LEBEN IST EIN LANGER RUHIGER FLUSS

DER KLANG DES BLEISTIFTES

LES GRANDES VACANCES

DER DEUTSCHE FRIEDHOF

GANGRÄN

SCHAUSPIELERIN ODER ZUSCHAUERIN?

LOUIS JOUVET

EMANZIPATION

DAS KRIEGSMUSEUM

RÉSISTANCE

VOM HIMMEL GEFALLEN

UBALDO

DER HETEROCONGER HASSI

DIE FRANZÖSISCHE PATIENTIN

MÜNCHNER FREIHEIT

OHNE PAUKEN UND TROMPETEN

DAS SÜSSE LEBEN

TRISTESSE

LIEBE GRENZENLOS

MADEMOISELLE ADRIENNE

PHANTOMSCHMERZ

DIE REISE ZUM MOND

SEPIA

Tintenfische besitzen einen Farbbeutel, der eine monochrom bräunliche Flüssigkeit enthält und sich entleert, sobald das Tier Gefahr wittert. Unser Gedächtnis verfügt zur Linderung allzu scharfer Konturen über den gleichen Verteidigungsmechanismus: eine mit Zeit gefüllte Tintenpatrone. Alles vergeht mit der Zeit, man vergisst das Gesicht, die Stimme entwischt, sogar die schönsten Erinnerungen verlieren ihren Glanz. Aber plötzlich, über den Umweg eines Duftes, eines Wortes, eines Augenblickes taucht die Vergangenheit auf. Sie durchbricht die blasse Eisschicht der Gegenwart und projiziert auf die Filmleinwand des Bewusstseins die wiedergefundenen Bilder.

Als ich unter meinen Füßen kleine Erhebungen im Gras spüre, hebe ich den Blick und entdecke im Gestrüpp des Gartens meiner Schwiegereltern einen jungen Haselnussstrauch.

„Die Gemeine Hasel! Jetzt habe ich den Grund für meine allergische Rhinitis!“, ruft Ubaldo, als ich ihm meinen Fund melde. Am Sonntagstisch beim Sonntagsapfelkuchen unterhält er sich fachlich mit seinen Eltern, beide Mediziner wie er, über die Entfernung dieses Übeltäters. Ich hingegen pflücke eine noch unreife Haselnuss, befreie sie aus ihrem grünen Mäntelchen und knacke mit den Zähnen die weiche Holzschale auf, sehr vorsichtig, um das kostbare weiße Innere, das sich in meinem Mund wie eine Perle anfühlt, nicht zu zerstören. Ich spucke die unerwünschten Schalenstücke aus, lasse die glatte Kugel so lange auf meiner Zunge ruhen, bis der Drang, den säuerlichen Geschmack wiederzufinden, mich antreibt, sie zu zerkauen.

In diesem Moment sitze ich wieder als kleines Mädchen auf der kalten Treppe des Hauses in La Neuville, in einem kurzen Vichy-Karo-Kleid, einen Hammer in der Hand, und beobachte hinter den Holzstäben meines Käfigs das menschliche Geschehen auf der offenen Straße.

Ich habe die verrostete Büchse geöffnet, in der alle Filmestapel meiner Kindheit säuberlich aufgehoben waren. Oberflächlich betrachtet, hat sich die Farbe der Bilder verflüchtigt. Sie scheinen in den Sepia-Modus alter Fotos übergegangen zu sein. Aber nach dem Entweichen eines trügerischen Dunstes taucht – wie aus einer Wunderlampe – immer deutlicher und farbiger der Geist der Vergangenheit auf.

DIE PIAZZA GEHÖRT MIR

„Alles kommt mir so vertraut vor, als ob ich nie weg gewesen wäre.“

„Dein Leben ist nicht hier, hier sind nur die alten Trugbilder.“

Nuovo Cinema Paradiso (1988) | Regie: Giuseppe Tornatore

„Bonjour Madame!“, grüßt pünktlich um 17 Uhr „dieser unverschämte Junge, der doch sehr wohl weiß“, empört sich Tatie Nenne, „dass ich nicht verheiratet bin.“

Die alte Dame, meine Großtante Adrienne, legt besonders Wert auf ihren Titel ‚Mademoiselle‘, den sie stets wie einen Orden trägt. Ich finde den unverschämten Jungen einfach nur unverschämt schön. Jacky Dalbignac besitzt die Schönheit seines Namens und ähnelt dem rebellischen Titelbild einer Zeitschrift meiner Mutter: James Dean. Die ganze Dalbignac-Familie verkehre in den falschen Kreisen, warnt mich die pensionierte Lehrerin: „Seine Mutter ist früh gestorben, und die vielen Kinder sind wild aufgewachsen. Der Vater ist ein Trunkenbold und, wenn es so weitergeht, werden Jacky und seine Brüder genauso enden, denn sie wissen nicht, was sie tun. Man sagt, dass sie öfters bei der Polizei zu Besuch waren.“

Ich mag nicht, dass Tatie Nenne auf diese Art von meinem James Dean spricht. Sie ist sicherlich die Königin der Grammatik, aber mit Menschen kennt sie sich nicht gut aus, denn warum ist sie immer allein, warum hat sie keinen Mann? Sie bringt mir die Geheimnisse der Schrift bei, aber sie hat nicht gelernt, in den Augen der Menschen zu lesen, sonst hätte sie in dem Blick, der Jackys provokative Begrüßung begleitete, die freundliche Nuance bemerkt. Ich winke dem unverschämten Jungen heimlich zu, um die unhöflichen Gedanken meiner Aufseherin zu entschuldigen. James Dean fährt mit der Hand durch seine Haare und zwinkert zurück. Ich verfolge, wie er lässig davongeht.

Weniger erfreulich für mich ist der Sonntagsspaziergang des Ehepaars Hulot um 12 Uhr nach der Messe. Wie zwei Reiher stolzieren sie Richtung Chez Huguette, um sich ihren wöchentlichen Aperitif zu gönnen. Ihr regelmäßiger Halt vor dem Haus meiner Großtante löst bei mir schlagartig Bauchschmerzen aus. Für diesen ehrenwerten Besuch lässt sich Zerberus herab, die Pforte zu öffnen. Die beiden Eindringlinge und mit ihnen der Anfang meines Martyriums betreten den grasgrünen Vorhof unserer Intimität. Ich wische unauffällig die drei reisgepuderten Küsse der Madame Hulot von meinen Wangen, halte kurz die Luft an, um der aufdringlichen Ausdünstung ihres Veilchenparfums aus Toulouse auszuweichen, atme tief ein vor dem folgenden unaufhaltsamen Angriff des Monsieur Hulot. Der große hagere Mann sieht aus wie ein angebranntes Streichholz. Er ist ‚un grand brûlé de la Grande Guerre‘, ‚une gueule cassée‘, ein verunstalteter Kriegsbeschädigter aus dem Ersten Weltkrieg, hat mir meine Großtante anvertraut, als wir abends im gemeinsamen Bett lagen und sie mir von ihren Kriegserlebnissen erzählte. Der Krieg gegen die Deutschen hat Hulots Gesicht und Hände entstellt und lässt sie wie meinen lederner Schulranzen aussehen. Wenn die beiden rohen fleischfarbenen Körperteile sich meiner Taille nähern und sie fest packen, um mich vom Boden auf die Höhe des dazu gehörenden verbrannten Oberteils zu bringen, falle ich regelmäßig in eine geistige Ohnmacht. Die mumifizierte Kreatur umarmt mich und begutachtet gleichzeitig das Gewicht seines hochgehobenen reglosen Bündels: „Mein Gott, bist du schwer geworden. Die frische Landluft tut dir gut!“

„Ja“, antwortet meine Großtante selbstgefällig, „Marie hat einen guten Appetit, und wir ernähren uns sehr gesund, Sie wissen ja, reine Naturprodukte. Hier kann sie sich erholen!“

Ich kann mich nicht erholen, denn ich bin bereits tot. Meine Qual nimmt kein Ende. Das kinderlose Ehepaar genießt offensichtlich die Unterhaltung mit der Lehrerin und ihrer kleinen Großnichte aus der Stadt.

„Marie ist eine schöne Abwechslung für Sie, Mademoiselle Adrienne! Im Dorf ist wenig los. Kommen Sie doch heute Abend vorbei. Im Fernsehen läuft um 20 Uhr 30 eine neue Episode von Der Unsichtbare.“

Dank seiner Rente als Brandopfer des Krieges ist Monsieur Hulot stolzer Besitzer des einzigen Fernsehapparates im Dorf. Eine Einladung bei ihm, dem angesehenen Mitbürger, ist begehrt, denn sie bedeutet intellektuelle und gesellschaftliche Anerkennung. Man sagt, er gehöre der Freimaurerloge an, habe ich einmal mitbekommen, als sich Tatie Nenne mit Ida, der Nachbarin mit der Perücke, über den Zaun unterhielt. Sie hat es mit dieser leisen Stimme gesagt, die ein Geheimnis verbirgt. Dass ein Maurer derlei Bewunderung auslöst, überrascht mich zwar ein wenig, aber es leuchtet mir ein, dass nach dem Dauerkrieg mit den Deutschen solche Menschen, die die kaputten Häuser wiedererrichteten, Helden geworden sind.

Tatie Nenne nimmt das Angebot an: „Das ist sehr freundlich von Ihnen, auch die Kleine wird sich freuen.“

Meine Freude hält sich in Grenzen. Mit dem ausdrücklichen Verbot, die Füße auf die Stäbe des mit Bienenwachs frisch eingeriebenen Stuhls zu stützen, werde ich diesen Abend nicht wissen, wo ich meinen Blick hinrichten soll. Ich werde die Wahl haben zwischen dem bei lebendigem Leibe gehäuteten Gastgeber und dem gruselig bandagierten menschlichen Gehäuse des Unsichtbaren auf dem Bildschirm. Ich weiß schon jetzt, dass ich die kommende Nacht an der Seite meiner alten Tante in den Tiefen des gemeinsamen Bettes von Horrorerscheinungen geplagt sein werde. Der Stuhl, den die fürsorgliche Aufseherin mit der Lehne gegen das Hochbett gestellt hat, um mein mögliches Herunterfallen zu verhindern, und das dickbäuchige Plumeau, unter welchem ich zu verschwinden versuche, werden die Nachtgespenster nicht abhalten.

Aus der zwei Stufen hohen Perspektive vor dem Haus meiner Großtante Adrienne lerne ich die Sonn-und Festtage zu hassen. Die Sonntage hasse ich wegen des Hürdenlaufs mit dem Ehepaar Hulot und die Festtage hasse ich wegen des Festes. Die Krönung des Übels sind die Sonntagsfesttage. An diesen Sonntagfesttagen versammelt sich im Sonntagsgewand das ganze Dorf auf dem Kirchplatz und stellt eine homogene Masse dar, zu der ich keinen Zugang habe und die mein Gefühl der Einsamkeit vervielfacht. Die Erwachsenen stehen vor dem mit Grünzeug geschmückten Pferdewagen des Bauern Manceau, welcher am Abend als Bühne für das Orchester dienen wird, und unterhalten sich. Die herausgeputzten Kinder kleben wie ein Wespenschwarm an dem bemalten Schindelwagen mit der Inschrift CONFISERIE. Mandel-Nougat aus Montélimar, trapezförmige Gewürzbonbons aus Carpentras, Roudoudous, die mit knalligem Zuckerguss gefüllten Venusmuscheln, die giftgrünen Papiertüten der Mistral gagnant, deren pulveriger Inhalt wie ein sandiger Wind schmeckt, pastellfarbener, an Haken hängender Teig aus Mäusespeck, Süßholzwurzeln, viereckige Fruchtgummi-Konfekte, Anis-Lutscher, weißrote Zuckerstangen, dunkle Pralinen und gesponnene rosafarbene Zuckerwatte bilden eine bunte Palette, aus der ich mir aber kein Bild ausmalen darf. Tante Adrienne hält beim Verlassen der Sonntagsmesse meine Hand in ihrem aus feinem Garn gehäkelten Handschuh fest und, mit dem gleichen Kirchenklang in der Stimme wie in der des Pfarrers, redet sie mir zu: „Süßigkeiten, Ma Douce, verderben die Zähne.“

Ich blicke auf meine lakritzfarbenen Lackschuhe und trauere leise vor mich hin, nicht um die verbotenen Früchte, sondern um die mir vorenthaltenen Freunde. Im vollen Bewusstsein ihrer erzieherischen Strenge erlaubt die Tante mir dann, eine Runde Karussell zu fahren. Ich setze mich auf ein Pferd, das mir geeigneter als ein niedriges Feuerwehrauto vorkommt, um den begehrten Pompon zu fangen. Wenn ich nicht zu dem festlichen Rummel gehören darf, will ich wenigstens die Aufmerksamkeit der Schaulustigen auf mich lenken, indem es mir gelingt, den an einem Strick befestigten Bommel, der von dem Karussell-Besitzer in unregelmäßigen Abständen nach oben gezogen wird, zu schnappen. Mein Ehrgeiz schubst mich mit solch einem Schwung in die Höhe, dass ich die Balance verliere und – in einem akrobatischen Voltigieren – auf die drehende Scheibe des Fahrgeschäfts falle. Die erbeutete Trophäe, die ich mit der rechten Hand umklammere, lässt mich den Schmerz vergessen, bedeutet aber wegen des Schreckes, den ich meiner Großtante eingejagt habe, das Nichteinlösen der gewonnenen Freifahrt und das Ende des Karussell-Vergnügens.

Den Rest des Sonntagfesttages verbringe ich auf der kalten Treppe des Hauses, angetan mit meinem kurzen blauen Vichy-Karo-Kleid, ohne die schwarzen Lackschuhe, die ich wegen des nassen Grases im Vorgarten gegen meine Gummistiefeletten getauscht habe, und beobachte das Geschehen auf der Straße zwischen den dicht gefiederten Blättern der Akazie des Nachbarn, die mir die Sicht versperren, und der kleinen Bar Chez Huguette. Ich sauge die mir dargebotenen Bilder und Szenen so intensiv auf wie das Löschblatt meiner Hefte die violette Tinte, und nach und nach gelingt es mir, das große Puzzle zu vervollständigen.

Die Männer des Dorfes marschieren in ihrer Sonntagsuniform vorbei – in Formationen aufgeteilt und mit zwei riesigen Holzkugeln bewaffnet. Sie haben ihre Frauen zu Hause gelassen, denn Boule Lyonnaise ist anscheinend eine Männersache. Wie träge Maikäfer bewegen sich die spielenden Mannschaften auf der Hauptstraße von einem Ende der Gemeinde zum anderen. Auf Höhe des Ausschanks verschwinden einige Mitglieder der Prozession und kommen nach einer Viertelstunde mit Gesichtern so rot wie der Kir, den sie getrunken haben, wieder heraus, um die nächste Gruppe eintreten zu lassen. Immer erlebe ich nur einen Abschnitt dieser Aufführung, höre unanständige Schimpfwörter, wenn eine Kugel wegen der geteerten Unterlage zu weit rollt und das angezielte Schweinchen verpasst oder wenn ein Teilnehmer sein rundes Spielzeug im Gras vor unserem Gartentor verliert, erfahre aber nie, wer gewann, und verzweifle an dem Sinn der Sache. Ich schwöre mir, keine Frau zu werden, die an Sonntagfesttagen zu Hause bleibt, während ihr Mann eine Holzkugel nach einem Schweinchen wirft.

DIE STRASSE ZUM BELVEDERE

Cría cuervos y te sacarán los ojos.

„Züchte Raben, und sie werden dir die Augen aushacken.“

„Das ist die Geschichte eines Kindes, das vom Tod besessen ist.

Oder, was dasselbe ist, das vom Leben besessen ist.“

Cría Cuervos (1975) | Regie: Carlos Saura

Zur Welt gekommen bin ich im dritten Stock einer kleinen Wohnung, aus der ich drei Jahre später herauszuspringen drohte. Zur Welt? Vielleicht hatte ich schon damals geahnt, dass dieses Städtchen namens Rethel nicht die Welt sein konnte. Für mich war von Anfang an klar: aus dieser eintönigen Gegend musste ich, wenn ich die Farben der Welt sehen wollte, weg.

Rethel liegt in einem Loch zwischen Bouillon, einer wohlwollenden wallonischen Stadt im Südosten von Belgien, und Reims, einer bewusstlosen bürgerlichen Stadt in Frankreichs nordöstlicher Gegend La Champagne. Es ist ein durchsichtiger Ort zwischen zwei extrem verschiedenen Flüssigkeiten: einer bodenständigen warmherzigen Brühe und einem leichtsinnigen spritzigen Edelwein – eine bizarre Mischung, die ohne Zweifel abfärben kann.

Entscheidend in meinem Leben sollte das Schild sein, das man erkennen kann, wenn man die kleine mit Geranien geschmückte Aisne-Brücke überquert:

Rethel : Route des Invasions 1914–18 / 1939–40

Die Deutschen! Sie waren lange vor mir da, und ich würde sie nie in meinem Leben loswerden.

Nach einem missglückten Versuch, mich vom dritten Stock der kleinen Stadtwohnung zu stürzen, gerettet – trotz eines erheblichen Blutalkoholgehalts – durch die feste Hand des Briefträgers Raymond, verbrachte ich eine lange ruhige Kindheit in einem größeren Reihenhaus des Boulevard Saint Nicolas, einer steilen für Rollschuhe geeigneten Straße, die zum Belvedere, dem höchsten Aussichtspunkt Rethels, führt. Von da aus konnte ich auf das Schloss Mazarin, die Schule Mazarin, die Grand-Rue Mazarin und auf die Tours Mazarin blicken, einfache Hochhäuser mit Sozialwohnungen, deren edle Benennung an ihrer tristen Erscheinung nichts änderte.

Wenn eine solche ‚keine Stadt‘ außer der Weißwurstspezialität le boudin blanc eine Berühmtheit wie Kardinal Mazarin, die graue Eminenz von Ludwig XIV., besitzt, wird so etwas gnadenlos ausgenutzt. Wer könnte heute noch ahnen, dass Rethel im 11. Jahrhundert Hauptort einer Grafschaft war, die 1581 zum Herzogtum erhoben wurde, dessen Titel 1633 Jules Mazarin erhielt. Ab dieser Zeit bis zur Französischen Revolution trug Rethel sogar den glanzvollen Namen Mazarin.

„Rethel breitet sich graziös von der Höhe eines Hügels bis hinunter an die Aisne aus“, schrieb Victor Hugo in seinem Briefroman Der Rhein. Das klingt malerisch. Ich schätze, dass der gute Mann, als er 1839 und 1840 zwei Rheinreisen unternahm und durch Rethel kutschierte, von seiner Reisebegleiterin, der jungen Schauspielerin Juliette Drouet, der lebenslang von seiner Frau geduldeten Geliebten, so entzückt war, dass ihm sogar die Traurigste aller Realitäten als Idylle vorkam. Oder war es der Champagner, den er kurz davor getrunken hatte, als er Reims zum zweiten Mal besuchte?

Wenn die in einem Kessel eingenistete, neurasthenische Stadt je irgendeinen Hauch Charme besessen haben mochte, wurde dieser durch kriegerischen menschlichen Wahn zerstört. Am 30. August 1914 wurde – während in der Umgebung von Reims fleißige Menschen damit beschäftigt waren, in den Weinbergen des Tales der Marne alles zur Einbringung des teuren Rebenblutes vorzubereiten – das Herz von Rethel durch das 16. Königlich Sächsische Infanterie-Regiment gestürmt und fast dem Erdboden gleichgemacht.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde der Trümmerhaufen wiederaufgebaut, um während des zweiten Weltuntergangs erneut in eine Ruine verwandelt zu werden. Danach hat sich die Stadt Rethel um das Skelett der imposanten Église Saint-Nicolas herum nur mühsam erholen können. Die renovierte Kirche, die der Dichter Verlaine als ‚ein unbestreitbares Wunder mit einem entzückenden Portal‘ beschrieben hatte, so als ob er dieses Meisterwerk des Flamboyantstils den Einwohnern nicht gönnen würde, krönt die trauernden Schieferdächer der Gemeinde wie der Dornenkranz den Gekreuzigten.

Rethel bot wirklich nichts, was für ein erwartungsvolles Mädchen mit kohlenstaubfarbenen Augen ein Grund hätte sein können, auf dieser Erde bleiben zu wollen. Der von einer kriegerischen Geschichte geprägte Rahmen fasste ein düsteres Schwarz-Weiß-Bild ein, aus welchem wie winzige Blutstropfen die roten Himbeeren unseres Gartens hervorstachen. Diese Früchte aus der Familie der empfindlichen Rosengewächse, die sich ungeniert wie Unkraut vermehren, werden nicht wegen ihrer süßen Schönheit, sondern in erster Linie als Schädlingsmelder in den Weinbergen der Champagne geschätzt. In dieser kargen Gegend der Champagne-Ardenne gibt man der Nützlichkeit eindeutig den Vorrang.

In Anbetracht solcher Trostlosigkeit schien es das Schicksal dennoch gut mit mir gemeint zu haben. Es schickte mir rettende Hände, die mich liebevoll zurückhielten, als ich überlegte, aus diesem leeren Kontext zu verschwinden. Eine visionäre Mutter, einen am Boden der Realität haftenden Vater, den musterhaften älteren Bruder Titi und das traumfangende Nesthäkchen Gigi. Alle vier zusammen bildeten um mich einen blauen Schutzfilm, durch den die grauen Farbtöne meiner Umgebung einen silbernen Schimmer gewannen. Ein freudiger Lichtblick an diesem schattenhaften Horizont war auch Pinpin, der freundliche Schluckspecht des Ortes, der in seinem militärischen Tarnanzug mit einer Angelrute auf dem Rathausplatz von Rethel den Verkehr regelte. Wenn man ihn fragte, warum er diese Uniform trug, antwortete er:

„Mir hat keiner gesagt, dass der Krieg vorbei ist.“ Wie die Freiheitsstatue stand er mitten im Verkehrskreisel und förderte mit seinem langen Fischfanggerät die Fahrzeuge auf den von ihm gewählten Weg. Er ähnelte in der Eleganz seiner Bewegung einem Dirigenten und war so berühmt, dass die Polizei aufgegeben hatte, ihn davon abzuhalten, sein Orchester zu leiten. Manche Autofahrer nahmen sogar einen Umweg in Kauf, um ihn zu begrüßen. Er starb tatsächlich wie der Komponist Jean-Baptiste Lully an einer Fußverletzung. Ein unmusikalischer Chauffeur übersah die Schlagbewegung der Angelrute und fuhr taktlos über das elegant vorgestreckte Bein des Melomanen. Er verletzte ihn so schwer, dass der Trinkfreudige einige Monate später wie der Hofmusiker von Ludwig XIV. wegen Wundbrand den Taktstock abgab.

Die Straße, die zum Belvedere führt, war von aufgereihten Häusern eingesäumt, deren Versuch, sich voneinander zu unterscheiden, gescheitert war. Jedes Haus sah dem nächsten täuschend ähnlich und beherbergte meistens das gleiche Szenario: Eine Familie mit zahlreichen Kindern. Ganz unten, gleich bei der Schule Mazarin, hatte die Familie Valet mit elf Kindern das Rennen gewonnen. Ganz oben, uns gegenüber, wohnte die Familie Belleger, die sich mit vier Kindern in der Mitte der Reproduktionsskala befand. Meine Mutter behauptete, dass wir dank des Schauspiels, das die Belleger uns immer wieder boten, kein Kino brauchten. Aus unserem Parkettsitz konnten wir im Frühjahr Jean-Louis, den älteren Sohn, beobachten, wenn er die Hecke ihres Vorgartens mit einer Machete zu schneiden pflegte, als Erinnerung, sagte er, an seine Militärzeit in den französischen Kolonien. Am Vorabend einer Familienfeier verabreichte Vater Belleger, der als Koch im Krankenhaus arbeitete, einem noch lebenden Kaninchen aus seiner eigenen Zucht eine Spritze von Marc de Champagne, einem Tresterbrand aus der Champagne, um seinem in Wein geschmorten Hasenragout bei dem Festmahl einen unvergesslichen Eigengeschmack zu geben.

Die Pechsträhne, die über den Köpfen dieser Familie schwebte, schien kein Ende zu haben. Mutter Belleger, eine geborene Martini, hatte ihre Eltern unter dramatischen Umständen verloren. Während des Zweiten Weltkrieges hatte das Ehepaar Martini, das aus Italien stammte, mit den deutschen Besatzern kollaboriert. Signor Martini, der als Bestatter beschäftigt war, wusste sich in dieser Zeit der großen Knappheit zu helfen. Als in den Geschäften keine Waren mehr verfügbar waren und sich in der Stadt lange Warteschlangen bildeten, um mit Lebensmittel- und Essensmarken die notwendigsten Produkte zu besorgen, hatte er, dank seiner Beschäftigung als Totengräber und dem trinkfreudigen Klang seines Nachnamens, Eintrittsrecht in die Ortskommandantur bekommen.

„Die Toten sollen den Lebendigen unter die Arme greifen“, sagte er jedem, der es hören wollte.

Er nahm eifrig am braunen Markt teil, den die Deutschen organisiert hatten, und versorgte die Funktionäre der Geheimen Staatspolizei in der Feldgendarmerie mit Champagner und süßem Traminer Wein aus dem Elsass. Mit List und Erfindergeist brachte er seine Familie durch die mageren Zeiten des Krieges. Darauf war er stolz. Er hatte aber nicht mit der Rache der neidischen Bürger von Rethel gerechnet. Nach dem Krieg wurde er als Verräter denunziert und seiner der horizontalen Kollaboration beschuldigten Ehefrau der Kopf geschoren. Beiden wurde die französische Staatsangehörigkeit entzogen, sodass sie staatslos blieben. Diese Schande trieb Signora Martini in den Wahn. Die gebrochene Frau übergoss sich mit Benzin und zündete sich an. Auf Grund dessen schoss sich Signor Martini mit seinem Jagdgewehr eine Ladung Schrot ins Gehirn. Ihre einzige Tochter, Marie-Madeleine Belleger, die Mutter der vier Nachbarskinder, wurde Zeugin des Gemetzels und später selbst Opfer unzähligen Quälereien. Sie kam eines Tages weinend zu meiner Mutter mit einer Ausgabe unserer Lokalzeitung L’Ardennais in der Hand. Sie hatte ihren eigenen Namen unter der Rubrik Todesanzeigen entdeckt. Für einen Moment hatte sie an ihrer eigenen Existenz gezweifelt. Nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges hatte der Hass gegen die Sympathisanten mit den ‚Boches‘, wie die Deutschen immer noch genannt wurden, einen Ehrenplatz im Herzen zahlreicher Mitbürger eingenommen. In der kleinen Stadt, die von wiederholten Ardennenoffensiven und Schlachten zunichte gemacht worden war und am Boden lag, brannte das Ressentiment wie das Fegefeuer. Die Asche der Großmutter war auf ungeklärte Weise verloren gegangen. Nach Jahren unbekannter Aufenthalte tauchte die Urne wieder auf und wurde der Familie Belleger ohne ein Wort der Erklärung vom Postboten ausgehändigt.

TATIE NENNE

Tatie nannten sie die griesgrämige alte Tante, in der stillen Hoffnung, die Verniedlichungsform würde den Drachen besänftigen.

Tatie Danielle (1990) | Regie: Étienne Chatiliez

„Kleine Marie, ich werde dir zuwinken, wenn ich den Pré Manceau entlanggehe.“

„Oui, Tatie Nenne.“

Ich stieg auf die schmale Bodenleiste und hielt mich am hervorstehenden Fensterbrett fest, um durch das Küchenfenster schauen zu können. Ich würde mich nicht umdrehen, damit ich die bedrohlichen Schatten des schlecht beleuchteten Zimmers hinter mir nicht sehen musste. So steif und tot wie die Puppe Rose auf dem Stuhl neben dem verschnupften Kamin würde ich warten, bis die vertraute Silhouette endlich wieder erschiene, an der Stelle, wo die hohen Bäume des Angers vom Milchbauern Manceau aufhören und die hässlichen Truthähne sich versammelten, um zu rufen:

„Trut, trut, trut, plus rouge que toi, plus rouge que toi“, wenn Tatie Nenne im Vorbeigehen ihre Ruhe störte. Der Schrei kam aus den feuerroten Kehlen der geschälten Köpfe mit ihren lappenartigen Karunkeln, die mich an das verbrannte Oberteil des Monsieur Hulot erinnerten. Hatten die armen Tiere auch den Krieg gegen die Deutschen durchgemacht? Es würde eine Ewigkeit dauern, bis meine Großtante wieder durch die Gartentür mit ihrer Milchkanne aus silbernem Blech in der Hand hereinkäme. Ich würde wieder atmen können, die schmerzenden Finger vom Fensterbord loslassen und die deutschen Soldaten, die in allen Ecken des Hauses lauerten, für eine Weile vergessen.

Es war Anfang September 1958, ich war im Mai drei Jahre alt geworden, hatte den Versuch, mich aus dem Fenster zu stürzen hinter mir und war aus Gesundheitsgründen von meiner besorgten Mutter in die frische Landluft zur Tante Adrienne geschickt worden.

„Es wird ihr guttun und dir auch, Andrée, du bist total erschöpft. Kein Wunder, vier Kinder in fünf Jahren, und dieses Drama bei der ersten Geburt! Der Körper verlangt eine Pause. Marie ist etwas überdreht. Zwischen dem dominanten Bruder und der kränklichen kleinen Gigi hast du nicht richtig Zeit für sie“, hatte Tatie Nenne mit dieser Stimme entschieden, mit der sie jahrelang ohne Disziplinprobleme die kleinen und die großen Kinder in einer Dorfschulklasse gemeinsam unterrichtet hatte.

Tante Adrienne hatte sich schon um ihre Nichte Andrée, meine Mutter, gekümmert, als diese vierzehn Tage vor dem Geburtstermin ihres ersten Kindes im November 1951 keine Bewegungen mehr in ihrem Bauch gespürt hatte. Andrée hatte drei Tage lang auf ein Zeichen gewartet. Sie hatte ihrem Mann nichts gesagt, denn Robert meinte immer, dass sie zu Hysterie neige und so schnell wie Milchsuppe hochkoche. Aber an diesem Morgen wusste sie es. Das Kind in ihrem Schoß war tot. Sie hatte den zu engen Wollmantel über ihre Schulter geworfen, die Schuhe, die im Winter draußen auf dem Treppenabsatz lagen, vergessen, war mit ihren Pantoffeln die drei Stockwerke hinuntergerannt, die Grand Rue Mazarin wie ein Geist hochgelaufen, mit gekreuzten Händen ihren gewölbten Leib schützend, und in die kleine Praxis des Dr. Jacobé hinter der Kirche Saint-Nicolas gestürmt, deren imposanter Umriss in der Grisaille des Tages die Form einer schwarzen Krähe annahm. Der alte Mann hinter seinem Schreibtisch hatte die Panik, die aus dieser fragilen Erscheinung strömte, sofort richtig eingeschätzt, sich bei seinem Patienten entschuldigt und die werdende Mutter in das Nebenzimmer geführt.

„Doktor, es bewegt sich nicht mehr!“

„Legen Sie sich hin“, sagte er. Sie öffnete die Knöpfe ihres Kleides, das um ihre Taille spannte, und stieg auf die Liege. Der Arzt holte sein Pinard-Rohr, zog die warme Unterwäsche hoch und beugte sich, um die fetalen Herztöne abzuhören. Langsam ließ er das Stethoskop auf der straffen Haut des Bauches wandern. Er suchte krampfhaft nach Leben. Totenstille. Er spürte den brennenden Blick auf seinem Nacken. Er stand auf, wusch sich die Hände in dem Becken hinter dem dünnen Wandschirm, drehte sich um und sah das bleiche Gesicht, das ihn wortlos anstarrte. Wie ein Automat zog sich die zierliche Patientin wieder an.

„Sie haben nichts gehört, nicht wahr, Doktor?“

Er schüttelte den Kopf: „Nein.“

Als zwei Wochen später die Wehen einsetzten, musste mein Vater ganz dringend in der Gastwirtschaft seiner Mutter mithelfen.

„Du weißt, Andrée, ich kann die alte Frau nicht allein lassen, gerade wenn die Eltern der Kinder aus dem Sanatorium zu Besuch kommen. Alle wollen bei ihr zu Mittag essen“, hatte er meiner Mutter gesagt. Sie war überzeugt, dass er vor der Unerträglichkeit der Lage floh.