INHALT:

9 ½ Märchen in großer Schrift

BOD, Books on Demand GmbH Norderstedt

© Claudia J. Schulze, Lektorat: Phillo, Leipzig, Große Schrift

ISBN: 9783752870817

Bilder: Anke Hartmann, Neuauflage 2021

Allen guten Geistern, starken Mädchen und klugen Jungs gewidmet

Der Schuh ist zu klein

Niemand hatte je besonders viel von Anastasia gehört, dabei war sie immerhin die ältere Halbschwester der weltberühmten Cindie, die früher „Aschenputtel“ hieß, doch das war in der heutigen Zeit viel zu unmodern, so dass man sich auf einen eher international und eher feminin klingenden Namen geeinigt hatte. In so ziemlich jeder Erzählung, die sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder ein bisschen verändert hatte, war sie ganz schön schlecht weggekommen. Vor allem wohl, weil Martha, Cindies Stiefmutter Anastasia unbedingt mit einem Prinzen verheiraten wollte, was ohnehin schon einem sehr unrealistischen Unterfangen glich. Immerhin konnte man sich sicherlich unschwer vorstellen, dass die Konkurrenz schon deshalb nicht schlief, weil es sich um den einzigen Prinzen im ganzen Umkreis handelte. Wenn man dann auch noch täglich eine solche Ausnahme-Schönheit wie Cindie um sich hatte, dann konnte einem das die Laune schon gründlich verderben.

Auch der Stiefmutter war das aufgefallen, und so sorgte sie dafür, dass Cindie das Haus nicht mehr verlassen durfte. Anastasia konnte das nur Recht sein.

Selbst in einen alten Kartoffel-Sack gekleidet sah Cindie nämlich noch hundertmal schöner aus als Anastasia, wenn man die sehr strengen Schönheitskriterien des Prinzen zugrunde legte - und die waren nun einmal überall im Land bekannt. Der Prinz wollte nämlich eine Frau, die genau wie seine Mutter sein sollte. Nun war es so, dass des Prinzen Mutter aus einem fernen Königreich kam, das viele hundert Tagesreisen entfernt lag, und so kam es, dass die Königin keiner der Frauen aus dem hiesigen Königreich ähnlich sah. Sie war mindestens zwei Köpfe größer als alle anderen Frauen, und ihre Füße waren entsprechend groß – mindestens Größe 43. Die Königin selbst jedoch wollte lieber kleine, zierliche Füße haben, und so war vom schlauen Hofnarren das Gerücht in die Welt gesetzt worden niemand habe kleinere und niedlichere Füße als die Königin, des Prinzen schöne Mutter. Da sie immer sehr lange und königliche Kleider trug, sah man nur ab und an die Spitze eines samtenen Schuhs.

Ihre Füße jedoch bekam niemand sonst zu Gesicht. Wenn sie zu Bett ging, löschte sie sofort das Licht, denn selbst der König, ihr Gemahl, sollte ihre Füße nicht sehen. Zum Glück hatte der bereits alte König ohnehin einen gesegneten Schlaf. Er fiel sozusagen schon schlafend ins Bett, achtete weder auf Füße noch auf sonst etwas außer seinen feinen, weichen Eider- Daunenkissen und schnarchte die Nacht friedlich durch. Die Königin war an jedem neuen Tag vor ihm wach und konnte, zu ihrer Erleichterung, in Ruhe ihre großen Füße unter den bestickten Säumen ihrer sehr hoheitlichen Kleidung verbergen. Und somit glaubte ein jeder im Lande, dass es sich tatsächlich so verhielt, und niemand kleinere und zierlichere Füße habe als eben die Königin höchst selbst. Cindie nun war die Einzige, die ebenfalls größer war als die anderen Frauen. Ihre früh verstorbene Mutter war ebenfalls aus der Fremde gekommen und beachtlich groß gewesen, fast wie ein Baum, so dass es daher vielleicht….möglicherweise einen gewissen inhaltlichen Zusammenhang gab. Vielleicht aber auch nicht, so genau kann man das hinterher natürlich nicht mehr sagen.

Und auch ihre großen Füße hatte bisher noch niemand gesehen, da sie stets braune Lumpen um ihre Füße gebunden hatte. Sie musste in der Küche am offenen Ofen arbeiten, so dass die Sache mit den Lumpen ziemlich praktisch war, bot es doch einen gewissen Schutz.

Asche kann nämlich ziemlich heiß sein, und da muss man sich schon vorsehen, so viel stand jedenfalls fest. So wusste ebenfalls niemand, auch Anastasia nicht, wie groß die Füße ihrer Halbschwester eigentlich waren. Sie waren, um genau zu sein, sogar noch eine ganze Nummer größer als die der Königin. Hätte Cindie Schuhe besessen- was nicht der Fall war- wären diese mindestens auf die doch recht stolze Schuhgröße 44 1/2 hinausgelaufen – mindestens!

In Anastasias Vorstellung jedoch waren Cindies Füße so klein und zierlich wie die Füße der Königin – zumindest ebenso, wie die Königin dies alle glauben machen wollte. Anastasias Neid kannte daher selbstverständlich keine Grenzen, was auch ihr geradezu abscheuliches Verhalten gegenüber der Halbschwester erklärte. Dabei war Anastasia sonst eigentlich gar nicht so.

Ganz im Gegenteil. Sie war sonst zu fast jedermann freundlich, ihr Pferd und die Tiere des Waldes behandelte sie mit allergrößtem Respekt. Nur eben bei Cindie vergaß sie alle guten Manieren.

Man muss wissen, dass es zu dieser Zeit für Frauen ungemein wichtig war zu heiraten.

Einen Prinzen zu heiraten war so etwas wie der Hauptgewinn, und nicht nur Anastasia fieberte darauf hin. Nun jedoch drohte Cindie mit ihrer Schönheit Anastasia die Suppe gründlich zu versalzen. Es war wirklich zum aus der Haut fahren.

Als schließlich der feierliche, königliche Ball herannahte, zu dem einfach jede Frau im heiratsfähigen Alter geladen wurde, beschloss Anastasias Mutter Cindie zu verstecken und ihr so viele schwere Küchenarbeiten und sonstige Beschäftigungen aufzutragen, dass es ihr nicht möglich wäre am Königsball teilzunehmen. Abgesehen davon, dass Cindie ohnehin nicht über die nötige Kleidung verfügt hätte, war dieser Plan der Stiefmutter ziemlich wirksam. Cindie wirkte zwar traurig, doch immerhin hatte sie ihre Tauben, die immer in der Nähe der Küche waren, um Cindie Gesellschaft zu leisten. Also befolgte sie die Anweisungen ihrer Stiefmutter und sortierte Erbsen. Anastasia atmete auf. Um sich aber die Konkurrenz, welche die anderen Damen unweigerlich für sie darstellen würden, auszuschalten, begab sie sich in den Wald zu der Heidekrum, die dort seit Jahren lebte.

Diese wusste genauestens mit allerlei merkwürdigen Schönheitswässerchen und sowieso sehr geheimen Tricks Anastasia kolossal herauszuputzen. Heidekrum war es auch gewesen, die die Schönheitsvorstellungen des Prinzen überallhin verbreitet hatte. Das hatte ihr reichlich Kundschaft beschert, so dass sie sich mittlerweile längst zur Ruhe hätte setzen können. Doch das kam der Heidekrum nicht in den Sinn, worüber Anastasia in ihrer Aufregung natürlich froh war. Sie hätte einfach alles dafür getan, um schöner auszusehen! Und in der Tat sah Anastasia am Abend des Balls besonders hübsch aus. Heidekrum hatte sie für ein paar Stunden mit den Füßen nach oben an einem knorrigen Baum aufgehängt, so dass sich die Knochen strecken konnten. Und tatsächlich war sie nach dieser Behandlung mindestens acht, wenn nicht neun Zentimeter größer, wenngleich ihr jeder einzelne Knochen ganz höllisch schmerzte. Doch mit dieser nun zusätzlichen Körpergröße musste sie den wählerischen Prinzen doch einfach für sich gewinnen!

Anastasia fühlte sich bereits als Siegerin als sie, mit stolz zurückgeworfenem Kopf, den hell erleuchteten Ballsaal betrat.

Was sie nicht wusste war, dass Cindie dort – mit einiger Zauberhilfe – doch noch auftauchte und mit ihrer imposant großen Erscheinung und einem wunderbaren, fein gewirkten und bestickten Festgewand aus reinem Silber dem Prinzen alle Sinne raubte.

Da der Zauber nur bis Mitternacht anhalten sollte, verschwand Cindie natürlich kurz vor Mitternacht in ihrem so atemberaubenden silbernen Kleid, wobei sie bei der Rennerei die Treppe hinunter einen ihrer silbernen Schuhe verlor. Hohe Absätze in Größe 44 1/2 gleiten einem schneller vom Fuß als einem lieb sein kann. Entgegen dem, was in Märchen im Allgemeinen behauptet wird, fand nicht der Prinz, sondern vielmehr der Hofnarr den Schuh. Dieser war listig wie immer. Er nahm den Schuh an sich (Größe 44 1/2 – das sollte man keinesfalls an die große Glocke hängen!) Er ließ den Schuh nachmachen, doch um zehn Nummern kleiner. Diesen winzigen Schuh händigte er dem Prinzen zwei Tage nach dem Ball aus mit dem Hinweis, er habe ihn ganz zufällig gefunden, und dieser Schuh gehöre der rätselhaften, schönen großen Prinzessin in Silber. Der Hofnarr stellte ihm weiterhin in Aussicht, dass er mit genau diesem Schuh in der Lage sei die Unbekannte zu finden.

Insgeheim hatte er längst einen Plan. Er wollte dem Prinzen bei der Suche keinen Augenblick von der Seite weichen und die Schuhe im alles entscheidenden Augenblick flink austauschen. Dann, da war sich der Hofnarr sicher, würde der Prinz auch davon ausgehen, dass niemand kleinere und hübschere Füße besäße als die