„Wenig sprechen, viel zuhören,
und dem anderen in die Augen blicken.“
Papst Franziskus
In Dankbarkeit für Wolfgang
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© 2020 Sabine Wöger
Illustration: Sabine Wöger
Veröffentlichung: Wolfgang Wöger
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7519-1278-5
Die Logotherapie ist ein Weg mit einem zutiefst humanen Anliegen. Sie intendiert, menschliche Existenz friedvoll, ethisch reflektiert, wertorientiert und sinnstiftend zu gestalten.
Die logotherapeutische Haltung klingt durch die zwischenmenschliche Interaktion wie der Cantus firmus in den gregorianischen Chorälen. Das ist diejenige Stimme, welche die Hauptmelodie in sich trägt und von den darüber liegenden Stimmen in figurierter Begleitung umspielt und variiert wird. Der Cantus firmus selbst bleibt weitgehend unverändert. Analog dazu ist die therapeutische Beziehung eine verlässliche. Niemand „fällt aus der Liebe“, wenn er/ sie/es Haltungskorrekturen (noch) nicht vollziehen oder einer Vereinbarung nicht nachkommen kann. Der „darüber liegende“ Auftrag und das therapeutische Vorgehen unterliegen einer laufenden Adaptierung und Feinabstimmung. Und wie im Leben auch bleiben vor allem jene Sequenzen in eindrücklicher Erinnerung, an denen die Dissonanzen in Harmonien übergehen, sich Bedrängnis und Not in verantwortetes Tun und geistige Freiräume wandeln. Währenddessen erklingt die Melodie des Cantus firmus, die Beständigkeit der therapeutischen Beziehung, stets und unaufdringlich.
Im Rahmen der Logotherapie sollen sich Menschen zutiefst wahr- und ernst genommen fühlen. Sie sollen die Erfahrung machen, dass es jemanden gibt, der dazu bereit ist, sich auf ihre Nöte, Bedürfnisse, Sehnsüchte und Gedanken einzulassen, frei von Zeit-, Erwartungs- und Lösungsdruck. Um Menschen in schwierigen Lebenslagen beizustehen, braucht es vor allem die Begegnung von Mensch-zu-Mensch: eine höchstmögliche emotionale Präsenz und die wohlwollende Sorge um die Klient*innen, das ehrliche Interesse an ihrem Erleben, eine hochgradige Ernsthaftigkeit einerseits und die feine Prise Humor andererseits. Ich versuche zu verstehen, was Menschen bewegt. Das bedeutet nicht, dass ich mit allem einverstanden bin. Als Therapeutin lasse ich mich emotional berühren, wissend, dass ich vieles von dem, was mir Menschen erzählen, auch in mir finden kann bzw. dass auch ich mich (eines Tages) in der Situation der Klient*innen befinden könnte.
Studienergebnisse, Modelle und Theorien fokussieren auf jeweils einzelne Aspekte des Menschen und befassen sich mit bestimmten Ausschnitten der Wirklichkeit. Fachliches Wissen steht während der Therapiegespräche in einem imaginären Koffer bereit. Ich vertraue darauf, dass ich genau das in meinen Koffer gepackt habe, was für den Menschen vor mir, in der konkreten Situation, hilfreich ist. Falls nicht, sage ich das offen und bin darum bemüht, meinen Koffer mit einem weiteren Aspekt zu bestücken. Bei der Suche nach der Wahrheit und nach dem Erlösenden greift selbst umfangreiches und detailliertes Fachwissen mitunter zu kurz, weil es des intuitiven Wahrnehmens bedarf. Nicht nur das Gesagte oder Sichtbare zählt, sondern vor allem das Durchklingen der verborgenen und unvergleichlich wunderbaren Gesamtpersönlichkeit, durch Worte und Gebärden hindurch. Wenn auch nur wenige unter uns über ein absolutes Gehör verfügen, so liegt es dennoch an uns, das Heraushören und das Vertiefen der Wahrnehmungsfähigkeit möglichst vieler Frequenzen durch fortwährende Reflexion zu schulen.
Das therapeutische Ziel verleiht den Gesprächen eine wichtige Orientierung. Im Hinblick auf den Gesamtsinn greift es möglicherweise zu kurz, da sich dieser oftmals „transtherapeutisch“ und erst im Nachhinein, vielleicht Jahre später, erschließt. Manche Therapien enden und lassen zugleich vieles offen. Und auch das fühlt sich gut, richtig und stimmig an, denn: „Verschlingt des wilden Augenblicks Gewalt. Oft, wenn es erst durch Jahre durchgedrungen, Erscheint es in vollendeter Gestalt. Was glänzt, ist für den Augenblick geboren, Das Echte bleibt der Nachwelt unverloren“ (Goethe, 1808, zit. n. Kallipe, o. J., online).
Mit diesem Buch möchte ich einen praxisnahen Einblick in das logotherapeutische Wirken geben. Hierzu lege ich Sequenzen aus den Feldern Psychotherapie, psychologische Beratung, Einzel- und Gruppensupervision dar. Es ist mir wichtig aufzuzeigen, wie individuell und kreativ auf Basis des logotherapeutischen Menschenbildes den Hilfesuchenden geholfen werden kann. Auf umfangreiche theoretische Unterlegungen habe ich bewusst verzichtet, und dennoch liegen sie dem therapeutischen Wirken zugrunde. Die Leser*innen erwartet ein Buch mit tiefgehenden Einblicken in die Erlebenswelt der logotherapeutischen Gesprächsprozesse zwischen mir als Psychotherapeutin/Beraterin/Begleiterin und meinen Klient*innen. Ich lade Sie herzlich dazu ein, sich auf die Kraft der Logotherapie einzulassen.
Das Buch richtet sich an psychologische Berater*innen und ebenso an interessierte Personen aus anderen psychosozialen Berufsfeldern.
Personenbezogene Daten, sensible Informationen und Hinweise zu spezifischen Kontexten werden in anonymisierter Form dargelegt.
Die jeweilige Anthropologie beeinflusst die Begegnung mit den Klient*innen, die therapeutische Haltung, die Methodik und somit den gesamten Beratungs- und Therapieprozess. Es macht einen Unterschied, ob eine Person als ein Wesen gesehen wird, das seinen Gestimmtheiten hilflos ausgeliefert ist oder das sein Leben sinn- und wertorientiert zu gestalten vermag.
Dr. med., Dr. phil., Dr. h. c. mult. Viktor Emil Frankl, Arzt und Psychotherapeut, 1905–1997, entwickelte ab 1926 die Logotherapie als Ergänzung zur traditionellen Psychotherapie, die er um die Dimension des Geistigen, des ‚Noetischen‘, erweiterte. Diese noetische Dimension des Menschen zeigt sich vor allem in der Suche nach Sinn, die von der damalig vorherrschenden psychotherapeutischen Ausrichtung nicht aufgriffen wurde. Frankls primäre Intention lag zunächst nicht in der Gründung einer eigenen psychotherapeutischen Schule, sondern in der Ergänzung der Individualpsychologie (Batthyány, 2006, S. 10–11). Frankl konstituiert Existenz als eine „dem Menschen arteigene Seinsart“ (2002, S. 60), die sich dadurch auszeichnet, dass dem Menschen nicht ein faktisches, sondern ein fakultatives Sein eigentümlich ist, also nicht ein „Nun-einmal-so-und-nicht-anders-Müssen“, sondern ein „Immer-auch-anders-werden-Können“ (ebd.).
Nach Ansicht von Viktor Frankl vermochte das psychoanalytische Modell von Sigmund Freud (1973) die menschliche Psyche aufgrund der Vernachlässigung der noetischen Dimension nur fragmentarisch zu erfassen. Kritisch äußerte er sich über den entlarvenden Zugang der Tiefenpsychologie, da dieser die Gefahr in sich berge, zutiefst Menschliches am Menschen einer Fehlinterpretation zu unterziehen. Er verdeutlichte dies am Beispiel von sozial engagierten Menschen, denen irrtümlich Selbstherrlichkeit als Motiv für ihr soziales Engagement unterstellt und dieses zudem als behandlungsbedürftiger Komplex verstanden wurde (Frankl, 2012, S. 16). Humangeistige Inhalte wie Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft und die Fähigkeit, zugunsten höherer Werte eigene Bedürfnisse zurückzustellen, wurden triebdynamisch interpretiert. Aus Sicht von Frankl bedeutete das Lustprinzip ein psychologisches Artefakt, da Lust nicht als Ziel menschlicher Strebungen interpretiert werden könne, sondern als Folge ihrer Erfüllung, gemäß dem intentionalen Charakter psychischer Aktivität (Frankl, 1946, S. 27).
Das therapeutische Ziel der Individualpsychologie lag in der Einbeziehung des Symptoms in die persönliche Verantwortungssphäre und in der Weitung der Ich-Sphäre durch einen Zuwachs an Selbstverantwortung. Aus individualpsychologischer Sicht intendieren Neurotiker*innen durch das Arrangement mit dem Symptom seine Exkulpation. Nach Krankheitslegitimation strebend meiden sie zugleich einen selbstverantwortlichen Umgang mit einer Situation. Eine Ich-Einschränkung erfolgt demnach durch ein mangelndes Verantwortlichsein. Frankl stand der Eindimensionalität des individualpsychologischen Ansatzes kritisch gegenüber, wonach seelische Störungen auf Frustrationen im Hinblick auf das Gemeinschaftsgefühl, Geltungsstreben und auf Macht zurückzuführen seien.
In der Logotherapie bilden jedoch nicht das Bewusst-sein oder das Verantwortlich-sein, sondern sowohl das Bewusst-sein als auch das Verantwortlich-sein einander ergänzende Aspekte des Menschsein (ebd., S. 35). Im Unterschied zur Psychoanalyse, die den „Willen zur Lust“ und die Bewusstmachung des Seelischen anstrebt, auch anders als die Individualpsychologie, die den „Willen zur Macht“ als das eigentlich menschliche Streben definiert, forscht die Logotherapie um die Bewusstmachung des Geistigen, weshalb sie als eine „Psychotherapie vom Geistigen her“ (ebd., S. 20) bezeichnet wird. Laut Frankl gibt es keine Psychotherapie, die sich aller Wertungen entziehen könnte. Gar meinte er, wäre eine Psychotherapie „die sich für wertfrei hält, […] in Wirklichkeit bloß wertblind“ und zudem „geistlos“ (ebd., 2002, S. 60). Die Bewusstmachung des Geistigen, die als „Psychotherapie vom Geistigen her“ bezeichnet wird, ist ein Kernanliegen der Logotherapie (ebd., 2012, S. 19).
Die Existenzanalyse ist eine der Logotherapie zugrunde liegende Forschungsrichtung und zugleich ein therapeutischer Weg. Es handelt sich um eine Anthropologie, die den Menschen in seiner leiblich-seelisch-geistigen Einheit und Ganzheit zu fassen sucht und die Charakterisierung und Qualifizierung der Essenz der Existenz intendiert. Gemeint ist eine „Analyse der ganzen Existenz“ und eine „Analyse auf Existenz hin“, also auf das menschliche Sein hin, das Ver-antwort-lichsein bedeutet. Das Ziel der Existenzanalyse liegt in einem eigenverantworteten, selbstgestalteten und menschenwürdigen Lebensvollzug. Mittels Existenzanalyse wird somit die Essenz der Existenz charakterisiert.
In der speziellen Existenzanalyse wird das konkrete individuelle Leben von Klient*innen, ebenso von Gruppen, auf die möglichen existenziellen Wurzeln seelischer Erkrankungen hin durchleuchtet. Der therapeutische Aspekt der Existenzanalyse liegt also in der Erhellung der konkreten existenziellen Situation(en) und in der Unterstützung auf dem Weg zu einer selbstständigen Sinnfindung.
Die Logotherapie ist die angewandte Psychotherapie auf Grundlage des von Viktor Frankl entwickelten wert- und sinnorientierten Modells, also die therapeutische Ausgestaltung des logotherapeutischen Menschenbildes. Sie richtet den Fokus auf Störungen des spezifisch Menschlichen, die gemäß Frankl in der Geistigkeit des Menschen und seinem existenziellen Bedürfnis nach Sinn zu finden sind (1975, S. 16–17).
„Er [der Mensch] ist als Sinneswesen das höchste der Tiere,
als Geistwesen der niedrigste der Engel,
ist aber weder Tier noch Engel, sondern beiden verwandt
durch einen Teil seines Wesens […]“ (Jaspers, 2017, S. 42).
Die Anthropologie der Existenzanalyse nach Viktor Frankl gründet auf dem existenzphilosophischen Gedankengut. Die Existenzphilosophie ist eine Philosophie der Subjektivität. Der zufolge ist das Wesen des Menschen seine Freiheit, jedoch nicht als ein Akt von Willkür, sondern vielmehr im Sinne von Übernahme von Verantwortung für sich selbst, für das eigene Leben, samt den zu treffenden Entscheidungen und Handlungen. Diese Freiheit wird durch das Fakultative des Menschen begründet. Die Erarbeitung eines allgemeinen Subjektbegriffes, ebenso die empirische Erklärung des Menschen, hat Frankl stets abgelehnt. Der Einzelne sollte sein eigenes Ethos auch nicht in der Gesellschaft, sondern in sich selbst konstituieren. Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ von 1781 und Max Schelers „Formalismus in der Ethik“ von 1913 waren prägende und erste von Frankl gelesene Werke.
Vertreter*innen der Existenzphilosophie beziehen sich oftmals auf Werke von Søren Kierkegaard (1813–1855). Dieser vertrat die Ansicht, dass die Einzelnen in den jeweiligen Situationen und angesichts des Anspruchs Gottes, zu dem sie sich wesentlich verhalten, verantwortlich sind. Aus der Angst, die dem Menschen seine Schuld, seine Sterblichkeit und Einsamkeit bewusst macht, darf nicht in die Sphäre der sozialen Konformität geflohen werden. Existenz und Dasein werden in der Existenzphilosophie zur Beschreibung der Besonderheit allein des Menschen verwendet. „Dasein“ steht zumeist für den Menschen allgemein, „Existenz“ hingegen qualifiziert dieses Dasein näher. Existenz meint demnach „das Wesen des Daseins“. Kierkegaard verwendete den Begriff „Existenz“ im Sinne von Aufgabe und Vollzug. Existenz bedeutet demnach kein Gegeben-Sein, sondern ein Aufgegeben-Sein. Sie gelangt durch Überschreiten und Transzendieren des Erreichten und Bestehenden zum Sein und kann somit nur als einzelner Augenblick, als eine herausgehobene Situation im Leben erfahren werden. Der Mensch muss demnach etwas Sinnvolles tun, um zu seiner Existenz zu gelangen. Existenz ist außerdem das Urerlebnis des Selbstsein-Müssens und -Könnens (Biller & Stiegeler, 2008, S. 87–88).
Nach Jaspers liegen in der menschlichen Endlichkeit, der sich der Mensch als einziges Lebewesen bewusst ist, zugleich all jene Möglichkeiten, die ihn ins Unendliche zu strecken vermögen (2017, S. 54). Ebenso ist Frankls Auffassung von der menschlichen Existenz stark an die Existenzanalytik von Heidegger angelehnt, dessen Transzendenzbegriff wiederum demjenigen von Jaspers nahesteht. Demnach stellt der Tod nicht nur eine mögliche Form von Leid, sondern das Ende allen sinnlichen Erlebens dar. Die einzige Gewissheit besteht darüber, dass wir sterben, nicht jedoch darüber, wie sich das Leben davor, der Sterbeprozess und der Tod vollziehen werden.
Frankl setzt in Anlehnung an Heidegger Existenz mit Sinn gleich. Existenz hat demnach keinen Sinn, denn sie ist bereits Sinn. Dieser muss sich demnach in der gleichen Bewegung wie „Ex-sistenz“, im „Aus-sich-Herausgehen“, ereignen. Somit erweist sich nach Frankl Sinn als ein Stimulans, das den Menschen zu Eigenaktivitäten anregt und auf diese Weise sein Leben grundlegend verändern kann (Biller & Stiegeler, 2008, S. 59).
Die Logotherapie umfasst drei Säulen: eine Anthropologie (Menschenbild), eine beraterisch-therapeutische Theorie und eine methodisch-strukturierte Praxis (Heilkunde), ergänzend zur herkömmlichen Psychotherapie, sowie eine Philosophie (Weltbild). Die drei Bereiche sind durch einen Theoriekern miteinander verbunden. Dieser konstituiert sich durch das Phänomen des Geistig-Personalen, das Ausgerichtet-Sein auf Sinn und Werte, wie auch der Verantwortlichkeit, der die Freiheit des Menschen zugrunde liegt. In seinen zahlreichen Schriften beschäftigte sich Frankl mit Themen im Grenzbereich von Psychotherapie, Religion und Philosophie, insbesondere unter Berücksichtigung der Sinn- und Wertproblematik. Wo die herkömmliche Psychotherapie versuchte, seelische Störungen und Abhängigkeiten zu erkennen und zu bearbeiten, war und ist die Logotherapie um die Förderung geistiger Unabhängigkeiten und um existenzielles Engagement bemüht (Lukas, 2006, S. 23).
Abbildung 1: Die drei Säulen der Logotherapie: Freiheit des Willens, Wille zum Sinn und Sinn des Lebens
„Das Leben selbst ist es, das dem Menschen Fragen stellt“
(Frankl, 1946, S. 48).
Eine im philosophischen Sinne kopernikanische Wende erfährt das Leben durch die gewissenstreue und wertgeprüfte Beantwortung existenzieller Fragen im Angesicht von Leid und Schicksal, die das Leben an die Einzelnen stellt und der Erfüllung der „Forderung der Stunde“ (ebd., S. 125) harrt.
Im Konzentrationslager erschloss sich Frankl und den Gefangenen die Erkenntnis, dass der Sinn des Lebens in jener Totalität bedeutsam ist, die auch den Tod miteinschließt. Demnach, so Frankl, ist nicht nur der Sinn des Lebens, sondern auch der des Leides und des Sterbens gewährleistet. Frankl (2009, S. 30–32) verwies auf die Notwendigkeit, neben der Vermittlung von Wissen auch das Gewissen ständig zu verfeinern, um die einer jeden Situation innewohnende Forderung heraushören zu können.
Er [der Mensch] hat nicht zu fragen, er ist vielmehr der vom Leben her Befragte, der dem Leben zu antworten – das Leben zu ver-antworten hat. Die Antworten aber, die der Mensch gibt, können nur konkrete Antworten auf konkrete ‚Lebensfragen‘ sein. In der Verantwortung des Daseins erfolgt ihre Beantwortung […]. (Frankl, 2009, S. 48)
In der geistigen Dimension menschlichen Seins liegen die freie Stellungnahme zu Leiblichkeit und Befindlichkeit, zu Soma und Psyche und ebenso die Intentionalität, die den Menschen zu einer selbstständigen Willensentscheidung befähigt. Hilfreich erweist sich nach Frankl dabei das Gewissen, von ihm auch als „Sinnorgan“ (2012, S. 24) bezeichnet. Es ist im weitesten Sinn ein Selbstbezug, bei dem der Mensch seine oberste innere Leitinstanz auf sich selbst bezieht. Sein zentrales Moment ist ein Wissen um letztbegründende moralische Normen und Werte, die für einen Menschen gültig und verbindlich sind. Ein aktiviertes Gewissen wendet die Normen und Werte auf das unmittelbare, das vergangene wie auch das künftige Tun und Lassen eines Menschen an und urteilt über dessen Wert. Somit kann es den Menschen anweisen, eine Handlung auszuüben oder zu kontrollieren. In der Logotherapie wird diese spezifisch humane Dimension als geistige, „noetische Dimension“ bezeichnet. Der somatischen Ebene werden alle biologisch-physiologischen Körperfunktionen, der psychischen Ebene die Gestimmtheiten, Gefühle, Instinkte, Affekte und Begierden zugeordnet (Biller & Stiegeler, 2008, S. 111; Lukas, 2006, S. 20). Die somatische und psychische Ebene, auch „subnoetische Dimensionen“ bzw. „Psychophysikum“ genannt, sind nach Frankl der noetischen Dimension untergeordnet. Alleinig der Blick auf all die körperlichen und psychischen Reduzierungen und Verluste, die Menschen im Laufe eines Krankheits- oder Sterbeprozesses erfahren, würde das Menschlichste am Menschen, sein Wertgefüge, seine ihm angeborene Sehnsucht nach Sinn und somit die Fähigkeit zur geistigen Unabhängigkeit, deren er trotz Leiderfahrung fähig ist, außer Acht lassen (Biller & Stiegeler, 2008, S. 45–49). Der Mensch ist also nicht frei von biologischen, psychologischen und soziologischen Umständen, aber allemal ist und bleibt er frei, zu all diesen Bedingungen und Umständen Stellung zu beziehen, sei es, dass er sich ihnen unterwirft, oder sei es, dass er sie überwindet, indem er Gebrauch macht von der Trotzmacht des Geistes (Frankl, 2012, S. 93; Frankl & Kreuzer, 1986, S. 76).
Auch wendete sich Frankl gegen das in den 1960er-Jahren durch die Humanistische Psychologie entworfene Konzept der Selbstverwirklichung insofern, als dabei eine Verwirklichung von etwas gemeint ist, das die eigene Person nicht überschreitet.
Die Person ist gemäß Frankl des aus sich selbst Heraus- und sich selbst Gegenübertretens fähig. Sie vermag qua geistiger Person, sich selbst qua psychophysischem Organismus einen Gegenpol zu bilden bzw. steht der psychophysische Parallelismus dem psychonoetischen Antagonismus gegenüber. Beispielsweise liegt es nicht an der Depression, ob sich eine Person mit dieser Diagnose davon distanzieren kann oder ob sie es nicht kann, sondern alleinig an der geistigen Person und ob die Fähigkeit zur Trotzmacht des Geistes aktiviert wird (Frankl, 2002, S. 60–62).
„Im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einer Person
erfüllt der Mensch sich selbst. Je mehr er aufgeht in seiner Aufgabe,
je mehr er hingegeben ist an einen Partner, umso mehr ist er Mensch,
umso mehr wird er er selbst“ (Frankl, 2009, S. 18).
Nach Frankls Auffassung kann sich der Mensch nur in dem Maße verwirklichen, in dem er einen Sinn draußen in der Welt, nicht aber in sich selbst erfüllt. Diesen Prozess nennt Frankl die „Selbsttranszendenz der menschlichen Existenz“ (Frankl & Kreuzer, 1986, S. 31). Eine Selbstverwirklichung, die auf etwas ausgerichtet ist, was nicht über den Menschen selbst hinausgeht, ist nach Frankl „sinn-los“. „Mensch sein heißt ausgerichtet und hin geordnet sein auf etwas, das nicht wieder es selbst ist; auf etwas oder auf jemanden“ (ebd., S. 78). Wirklich Mensch wird der Mensch erst dann und ganz er selbst ist er nur dort, wo er in der Hingabe für eine Aufgabe aufgeht, im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einer anderen Person sich selbst übersieht und vergisst (ebd., S. 78). Letzteres ist auch Schwerkranken und körperlich äußerst geschwächten Personen noch möglich. Nicht die Forderungen des Menschen an das Leben, sondern dessen Erwartungen an die einzelne Person sind bedeutsam. Gemäß Frankl ist es für das menschliche Sein unerlässlich, sich im polaren Spannungsfeld zwischen Sein und Sollen zu bewegen.
Der tragischen Trias menschlicher Existenz, Leid, Schuld und Tod, kann durch eine reflektierte Haltung und Einstellung in positiver Weise begegnet werden, denn gerade dort, wo Hilf- und Hoffnungslosigkeit sich breitmachen, sind Menschen dazu aufgerufen, sich selbst zu ändern. Nur dann, wenn der Mensch selbst ein anderer wird, bekommt Leiden (s)einen Sinn (Frankl, 2009, S. 32– 34). Die Fähigkeit zur Selbsttranszendenz stellt nach Frankl ein fundamental anthropologisches Phänomen dar. Je mehr die Person aufgeht in der Hinwendung an eine Aufgabe oder in der Liebe zu einer Partnerin/einem Partner, desto eher ist es ihr möglich, zum Psychophysikum in eine fruchtbare Distanz zu treten und über sich selbst hinauszuwachsen. Diese spezifisch humane Fähigkeit bezeichnet Frankl als „noo-psychophysische[n] Antagonismus“ (2009, S. 18).
Auch wenn Frankl die der Logotherapie zugrunde liegenden Philosophie bereits vor dem Nationalsozialismus in den Grundzügen konzipiert hatte, so intensivierte sich diese durch persönliche und tief greifende Erfahrungen in den Konzentrationslagern und im Zuge der Auseinandersetzung mit einer menschenunwürdigen Ideologie.
„Das Problem ist aber nicht das Angewiesensein selbst, sondern die gesellschaftlich
vermittelte Vorstellung, der Mensch könne nur in Souveränität und
Unabhängigkeit wirklich er selbst sein […]“
(Maio, 2015, S. 90).
Kein Mensch und kein Schicksal sind mit einem anderen vergleichbar, haben demnach den Charakter von Einzigartigkeit und Einmaligkeit. In keiner einzigen Lebenssituation würde das Leben der angefragten Person eine Sinnmöglichkeit verwehren (Frankl, 1946, S. 33, 44).
„Wen sollte ich auch hassen, ich kannte ja nur die Opfer,
aber ich kenne nicht die Täter […]. Es gibt keine Kollektivschuld“
(aus der Rede von Viktor Frankl am 11. März 1988;
in Frankl, 2002, S. 300).
Ausdrücklich distanzierte sich Viktor Frankl von jeglicher kollektiven pauschalen Abwertung und Beschuldigung von Menschen. Hingegen lag ihm daran, in einem jeden Menschen Gutes wie Böses differenziert zu erkunden. Er entsagte sich jeglichem antideutschen Völkerhass und begegnete gar jenen Täterinnen und Tätern, die sich der Verantwortung entzogen und/oder sich zu zweifelhaften Kompromissen bereit erklärt hatten, verständnisvoll. Die lebensrettende Sinnsuche verwirklichte Frankl gemäß seinem theoretischen Konzept und in realen Situationen äußerster Verachtung, Gewalt und Ungerechtigkeit (Seifert, 2005, S. 74–75).
„Mein Geist hat sich von Fesseln befreit: Ringend entwand er sich Raum
und Zeit, entschlief in unendliche Ewigkeit,
ergoß sich in ewige Unendlichkeit,
und sank auf den Grund allen Seins als alles umfassendes Eins
(Frankl, 2002, S. 17; gedichtet ungefähr um 1920).
Wären wir unsterblich, so Frankl, könnten wir mit Recht jede Handlung ins Unendliche aufschieben. Angesichts des Todes als unübersteigbare Grenze unserer Zukunft und Begrenzung unserer Möglichkeiten stehen wir unter dem Zwang, unsere Lebenszeit auszunutzen und die einmaligen Gelegenheiten, deren endliche Summe das ganze Leben darstellt, nicht ungenutzt vorübergehen zu lassen. Somit erweist sich die Endlichkeit nicht nur als ein Wesensmerkmal des menschlichen Lebens, sie ist für dessen Sinn sogar konstitutiv (ebd., 1946, S. 49–50; ebd., 1990, S. 245). In Unkenntnis darüber, wann wir von dieser Welt „abberufen“ werden, gilt es, die Zeit zu nutzen, auch auf die Gefahr hin, dass wir unser Werk nicht vollenden können, denn der „Fragmentcharakter des Lebens tut dem Lebenssinn keinen Abbruch“ (ebd., 1946, S. 51). „Keinesfalls“, so Frankl (ebd.), „kann man aus der Zeitdauer eines Menschenlebens auf dessen Sinnfülle schließen.“ Zudem könnte der Tod den Sinn des Lebens alleinig deswegen nicht infrage stellen oder es seiner unbedingten Sinnhaftigkeit berauben, „weil in der Vergangenheit nichts unwiederbringlich verloren, sondern vielmehr geboren ist“ (ebd., 2002, S. 9).
„Der Mensch, jeder einzelne, kann wählen, das ist Ausdruck seiner Eigenart
und Selbstmächtigkeit, darin liegen sein Triumph
und seine Tragödie“ (Schmid, 1998, S. 85).
„Das Reich der Werte ist ein transzendentes Reich objektiver Gegenstände“ (Frankl, 1946, S. 31), da der Wert dem intendierenden Akt notwendigerweise transzendent ist. Die Gegenstände der Werterkenntnis vergleicht Frankl mit einer leuchtenden Lampe. Unabhängig davon, ob eine Person die Augen geöffnet oder geschlossen hat, gibt es diese leuchtende Lampe. Analog ist ein Wert (implizit) erfasst und er existiert als absoluter Wert, unabhängig davon, ob die Person diesen aufgreift oder nicht (ebd., S. 31–32). Frankl wollte dem Menschen das Reich der Werte in der ganzen Fülle erschließen. Entgegen dem Nihilismus und Werteskeptizismus motivierte er zur Wendigkeit im Ergreifen von Wertegruppen (ebd., S. 33). Einmal vermag der Mensch die Forderung einer Stunde durch eine Tat zu erfüllen, das andere Mal durch das Aufgehen in einem Erlebensangebot (ebd., S. 35). Die Wertelehre Frankls postuliert, dass Menschen in ihrem Leben folgende Wertekategorien zu realisieren versuchen:
Schöpferische Werte, auch Schaffenswerte genannt, wie produktive Arbeit (ebd., S. 33), ebenso handwerkliches wie künstlerisches Schaffen, geistige Arbeit, Beziehungsarbeit, Konfliktbewältigung und Persönlichkeitsbildung usw.
Erlebniswerte wie Kontemplation, Natur- und Kunsterleben, ebenso familiäre und soziale Beziehungen, Sport, Spiel, Kulinarik usw.
Einstellungswerte, der höchsten Werteebene zugehörig, werden dann verwirklicht, wenn das Leben weder schöpferisch und produktiv, auch nicht reich an Erlebenswerten ist, sondern sich die Möglichkeiten verengen. Einstellungswerte werden durch das „tapfere Ertragen“ (ebd., S. 34) von Leid und Schicksalsschlägen mittels der „Trotzmacht des Geistes“ (Frankl & Kreuzer, 1986, S. 76) verwirklicht, abseits aller Wertverwirklichung durch Aktivität. Bedeutsam ist, wie sich die Person gegenüber einer unveränderbaren schicksalhaften Lage einstellt. Sobald der Mensch fähig ist, Einstellungswerte in seinem Leben zu verwirklichen, behält sein Leben seinen Sinn (Frankl, 1946, S. 34–35).