Werke
Erster Teil
Romane und Erzählungen
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1884.
Er ist dahingeschieden der bedeutendste Dichter Rußlands, der Mann mit der unerschöpflichen Phantasie und drm warmem Herzen, der Freund seines Volkes, der Liebling aller Nationen seiner Zeit — Iwan Turgénew ist nicht mehr.
Aber er lebt in seinen Werken. Um sie richtig zu beurtheilen, muß man des Dichters äußeres Leben kennen.
Iwan Sergejewitsch Turgénew geboren in Orel am 20. Oktober (9. November) 1818, war der mittlere von drei Söhnen des Obersten Sergino Turgénew dessen Frau Barbara Lutovinow. Der jüngste Bruder starb im ersten Jünglingsalter, der ältere lebt in Moskau. Kaum sechzehn Jahre alt, verlor Iwan seinen Vater, während die Mutter volle sieben Decennien erreichte, jedoch ebenfalls 1850 das Zeitliche gesegnet hat. Im Jahre 1822 machte die Familie, wie es unter vermögen Edelleuten häufig geschah und geschieht, eine Reise ins Ausland und besuchte u. a. die Schweiz. Bei Besichtigung des Bärengrabens stürzte der vierjährige Knabe mitten hinein und hätte seine Unvorsichtigkeit vermuthlich schwer gebüßt, wäre dem Vater nicht gelückt, ihn noch schnell an einem Beine wieder herauszuziehen. Nach der Heimat zurückgekehrt, nahm, die Familie dauernden Wohnsitz auf einem Gute bei der kleinen Kreisstadt Mzensk im Orelschen Gouvernement und vertraute den Unterricht der Kinder Lehrern verschiedener Nationalitäten an, natürlich die russische ausgeschlossen. Hierin liegt durchaus nicht Mangel an Patriotismus, vielmehr wäre die Verwendung von Landsleuten als Mangel an Einsicht zu bezeichnen gewesen. Eins der ersten russischen Bücher, mit denen Iwan Bekanntschaft machte, war »Rossiada« (die Russiade), eine erbärmliche Nachahmung des Voltaire’schen Epos. Er verdankte die Kenntniß desselben einem Leibeigenen seiner Mutter, leidenchaftlichem Verehrer der Poesie, welcher Vers für Vers des hochtrabenden Gedichtes zunächst einfach ablas, dann mit Emghase vortrug. Glücklicherweise hat dieses Beispiel der einheimischen Dichtkunst nachhaltigen Einfluß auf das Talent des Knaben nicht geübt, es sei denn abchreckenden. Im Jahre 1828 siedelte Iwan mit seinen Eltern nach Moskau über, bezog die dortige Universität, ging jedoch, nachdem zwei Semester absolvirt waren, im Frühling 1835 nach St. Petersburg, wo er drei Jahre verblieb. Demnächst begab er sich ins Ausland und zwar auf dem Dampfer »Nikolaus I.«, welcher bei Travemünde in Brand gerieth. In Berlin widmete sich Turgénew dein Studium der Geschichte und der Hegel’schen Philosophie wobei er während eines Winters zum Stubengefärten Michael Bakunin hatte, der damals, noch nicht lange aus der russischen Gardeartillerie ausgeschieden, von Politik sich völlig fern hielt. Nach zweijährigem Aufenthalt in Deutchland kehrte unser Dichter nach St. Petersburg zurück und wurde daselbst im Ministerium des Innern angestellt. In dieser Zeit verkehrte er besonders viel mit dem leider zu Früh verstorbenen Wissarion Belinski, dessen kritische Arbeiten über Alexei Kolzow, den sogenannten »Viehhändler- Poeten,« [Kolzow war im Geschäfte seines Vaters, eines Viehhändlers, thätig, fuhr mit demselbe während des Winters im Lande umher, den Einkauf zu besorgen und verbrachte den Sommer in den Steppen, die weidenden Thiere beaufsichtigend. Seine Lieder, welche diese Art des Lebens widerspiegeln, sind in den Volksmund übergegangen.] und Nicolat Polewoi, Dramatiker aus Irkutsk, ihm den Beinamen des »russischen Lessing« eingetragen haben. Obwohl Turgénew schon in der Knabenzeit begonnen hatte, Ferse zu machen — was in Russland bei weitem weniger oft, als bei uns anzutreffen ist — ließ er doch erst 1843 sein erstes Gedicht »Parascha« erscheinen, dem in den folgenden Jahren noch mehrere sich anreihten, ohne großen Beifall zu gewinnen. Entschlossem mit Literatur sich nicht mehr zu beschäftigen, weil es ihm an dichterischer Begabung fehle — der Zweifel ist der Selbstmord des Poeten — verlies er im Januar 1847 St. Petersburg, doch hatte er zuvor Belinski’s Bitten nachgegebhen dem es in der Revue »Der Zeitgenosse« an Abwechslung fehlte, und ihm eine kleine Erzählung »Khor und Kalinytsch« zum Abdruck überlassen. Diese paar Seiten, welche später in die »Memoiren eines Jägers« aufgenommen wurden, brachten großartige Wirkung hervor: sie enthüllten dem Verfasser sein eigenes Talent und der gebildeten russischen Welt einen glänzenden Prosaisten. Turgénew, dem es unter dein System Nikolaus I. daheim unerträglich geworden, begab sich nach Paris und schrieb dort, nun für immer er Literatur sich widmend, die Mehrzahl jener Skizzen, welche den »Jäger« mit einem schlage an die Spitze der russischen Prosaiker stellten. Der Erfolg dieses Buches war aber nicht ohne bittere Beigabe: unter dem Vorwande, daß ein Artikel über den jüngst verstorbenen Gogol in einem Moskauer Blatte das Maß des Erlaubten überschreite, wurde Iwan Sergejewitsch 1852 für zwei Jahre auf seine Güter verbannt. Mit dem Regierungsantritt Alexander II. erhielt er seine Unabhängigkeit wieder, lebte abwechselnd in Rußland und Frankreich, bis er 1863 in Baden-Baden sich ansässig machte und dann nach Bougiwal bei Paris ging. Einige dramatische Versuche haben nicht viel Aufführungen erlebt, seine hohe und volle Bedeutung liegt in den erzählenden Schriften. Seine Leistungen fallen zumeist freilich unter den außerordentlich dehnbaren und gedehnten Begrif der Novelle. Trotzdem ist, wie Eugen Laux in einem — geistvollen Artikel im »Salon« von 1868 hervorbebt, Iwan Sergejeivitsch nicht bloßer Novellist; bei ihm scheint überhaupt die künstlerische Darstellung und Vollendung nicht dasjenige, worauf er sein Hauptaugenmerk richtet, sondern er verfolgt darüber hinaus noch einen anderweitigen Zweck, gebraucht seine Skizzen nur als das wirksamste Mittel, ein außerhalb der Kunst liegendes Interesse durchzuführen — wie unser großer Philosoph es von einem Redner verlangt. Als das wirksamste Mittel: natürlich, denn es war auch beinahe das einzig erlaubte, das einzig mögliche. Zu stolz, um wie Krylow das Gewand der Fabel zu entlehnen und ein langweiliges fabula docet anzuhängen, faßte er den Entschluß, die Wahrheit zu sagen und diese durch sich selbst wirken zu lassen, so weit es unter den gegeebenen Verhältnissen thunlich war. Er stellte seine Menschen, deren Schicksal Theilnahme, Mitleid, Grauen oder Widerwillen, Haß, Abscheu erregen sollte, wie Staffage mitten hinein in die unbefangene und unverfängliche Natur, richtig herausfühlend, daß der Mensch sich doch vor allem für seinesgleichen interessirt und deshalb früher oder später die Aufmerksamkeit am meisten auf sich zieht. So gelang es Turgénew seine Tendenzbilder unter dem Titel Landschaftsstücke unangefochten, wenigstens für den Anfang überall verbreitet und wirkend zu sehen. Man mag zur Entschuldigung der Herren von der Censurbehörde sagen, daß die landschaftlichen Schilderungen trefflich genug sind um auch, als solche ohne jede Nebenabsicht für sehr gelungene Kunstwerke gehalten werden zu können. Der »Jäger« hat das Leben und Weben der russischen Steppen mit dem Auge eines Malers, dem Gemüth eines Kindes betrachtet und mit der Feder eines Dichters wiedergegeben. Nur ein Beispiel zum Beweise dieser Behauptung aus »Der Teufelsgrund« in den »Memoiren eines Jägers.« Der Erzähler, müde heimkehrend von eifrigem Birschen, verirrt sich auf dem ihm sonst genau bekannten Reviere:
»Es war an einem schönen Julitage, an einem jener Tage, wie sie überhaupt nur dann eintreten, wenn das Wetter für längere Zeit beständig geworden. Die Farbe des Himmelsgewölbes, leicht und blaßlilafarben, wechselt nicht tagüber und ist ringsum dieselbe; nirgdends wird es trübe, nirgends droht ein Gewitter, kaum daß hier und da bläuliche Streifen sich hinziehen, die fast unbemerkbaren Regen über die Felder streuen. Gegen Abend verschwinden diese Wolken; die letzten derselben, bisher schwärzlich gleich dem Rauche, lagern in rosigen Massen der Sonne sich gegenüber; dort aber, wo das Tagesgestirn ebenso friedlich hinabrollte, wie es am Himmel friedlich emporgestiegen, ruht purpurnes Leuchten noch kurze Frist über der in Dunkel sich hüllenden Erde und, stillflackernd wie eine mit Vorsicht getragene Kerze, zittert am Firmament der Abendstern. An solchen Tagen erscheinen alle Farben gemildert, hell, aber nicht brennend. Allem ist das Siegel einer gewissen rührenden Wehmuth aufgedrückt. Dann ist wohl bisweilen die Wärme groß und an den Ahängen mitunter sogar stechend, aber der Wind weht und treibt die sich sammelnde Schwüle auseinander, und Wirbelwinde, diese unzweifelhaften Vorboten beständigen Wetters, rücken hohe weiße Säulen die Wege entlang, über die Aecker und Wiesen. Die trockne reine Luft ist durchduftet von Wermuth, gemähtem Roggen und Buchweizen; selbst bis Mitternacht ist Feuchtigkeit nicht zu spüren. Ich streckte mich unter einen abgenagten Busch und fing an, mich rings umzusehen. Es war ein herrliches Bild. Um die Wachtfeuer zitterte und erstarb gleichsam in der Finsterniß der runde rötliche Widerschein derselben; die auflodernde Flamme warf bisweilen jenseits dieses Kreises rasch verschwindende Lichtstrahlen; eine dünne Feuerzunge leckte an den nackten Zweigen des Reisigs und verschwand plötzlich; scharfe lange Schattem wie von der Dunkelheit losgerissen, nahten auch ihrerseits sich dem kleinen Wachfeuer; die Finsterniß kämpfte mit dem Lichte. Manchmal, wenn die Flamme schwächer brannte und der Lichtkreis sich verengte, kam aus der näher gerückten Dunkelheit unversehens ein Pferdekopf zum Vorschein, erst von einer Schecke, schief und knochendürr, dann von einem Schimmel, welcher begierig das lange Gras kaute, uns aufmerksam und stumm ansah, dann wieder sich bückte und auch sofort verschwand. Nur konnte man hören, wie er noch immer kaute und auf dem Grase schnaubte. Von dem beleuchteten Platze aus ist schwer zu erspähen, was in der Dunkelheit geschieht und daher erschien in der Nähe alles wie mit schwarzem Schleier umhangen, aber weiter in der Ferne sah man am Horizonte Hügel und Wald wie dunkle Flecken. Der reine, tiefblaue Himmel stand feierlich und unerfaßlich hoch über uns in seiner ganzen geheimnißvollen Majestät; süß beengt wurde die Brust beim Einathmen jenes eigentümlichen ermüdenden und frischen Duftes — des Duftes einer russischen Sommernacht. Rund umher war fast kein Geräusch; hörbar. Nur von Zeit zu Zeit schnalzte in dem nahen Flusse ein großer Fisch auf oder das Uferschilf säuselte sanft, von herangeeilter Welle schwach bewegt. Unsere Feuer allein knisterten stetig durch die Nacht.«
Dergleichen fein empfundene Bilder finden sich in beträchtlicher Anzahl, wie wenn durch das ganze Buch eine landschaftliche Stimmung weht: aber sie sind nur die schützende Erdschicht, bestimmt, das eingestreute Samenkorn, bis es gekeimt hat und kräftig aufgegangen ist, gegen die schädlichen Einflüsse der Witterung und die Strenge des Klimas zu sichern . . .
Die menschlichen Gestalten, welche auf diesem Hintergrunde sich abzeichnen, gehören dem kleineren Adel, dem Beamten- und Bauernstande an, selten mischen andere Elemente sich ein. Bekannt ist, daß Gavarni seinem Stifte in der Regel freien Lauf gestattete, eine, zwei, drei Figuren zusammenstellte, je nachdem der Raum es zugab oder verlangte, erst später die einzelnen Blätter vereinigte, sie bald in dieses, bald in jenes Nest einschob, so daß eigentlich keines vollständig oder unvollständig war. Und wenn er dann der auf den Stein gebrachten Personen ansichtig wurde, legte er sich selbst die Frage vor, was jene wohl im gegebenen Momente miteinander sprächen, und ertheilte darauf eigenhändig Antwort. In gleicher Weise muß Turgénews Schaffen gedacht werden. Mit dem Herzen voll, nicht von Nationalstolz, sondern von echter Vaterlandsliebe, vertraut, nicht mit der Salonliteratur, sondern mit den civilisatorischen Grundgedanken deutscher Geistesbildung, kam es ihm darauf an, das unglückliche Volk seiner Landsleute aus dein Joche der Leibeeugenschaft zu befreien. Die Russen sind im allgemeinen gutmüthig. War ihnen nur erst einmal die unselige Lage von zweiundzwanzig Millionen ihrer Brüder recht klar gemacht, dann ließ sich auch mit Bestimmtheit erwarten, die ungeheuere Mehrzahl werde die Aufhebung der erniedrigendem erdrückenden Knechtschaft sich geneigt erklären und die öffentliche Meinung auf die maßgebenden Kreise unwiderstehlichen Druck ausüben. Große Bücher philosophischen I und politischen Inhalts konnten im Dienste dieser Aufgabe nicht verwendet werden, dergleichen finden kein Publikum. Flugschriften derselben Gattung stießen auf unübersteigliche Hindernisse und gefährdeten nutzlos den Verfasser. Da nun die Freude an Schilderungen heimatlicher Zustände durch die eingangs erwähnten Dichter einmal angeregt war, so setzte Turgénew an diesem Punkte seinen Hebel an, der, wie es Alexander II. selbst wiederholt eingestanden, die alte Welt der Leibeigenschaft aus den Angeln gehoben und über den Haufen geworfen hat.
Turgénews Stellung in der Literatur bildet nach Honeggers scharfer Carakterumgrenzung eine Art Mittelglied zwischen der alten und neuen Schule, der idealistisch-romantischen und der realistisch-revolutionären. Obwohl er nach der überwiegenden Geistesrichtung durchaus jenen Aelteren zugehört, hat er doch starke Beziehung auch zu den Neueren. Sein Hauptwerk, die Tagebuchskizzen, mit den schneidenden Angriffen auf die von der Leibeigenschaft geschaffenen Zustände, also ganz in den Dienst einer durchgreifendsten politischen Reform gestellt, steht sonach in diesem Zweck und dem Stoffgehalte den Sittenbzeichnungen der neuesten Autoren allerdings näher als den Helden Puschkin‘s oder Lermontow’s. Seine Stellung zu den brennenden Tagesfragen ist scharf ausgesprochen und auch darin weicht er gründlich ab von jenen Aelteren, welche in vornehmer Nichtachtung oder Rückhaltung der traurigen Wirklichkeit den Rücken kehrten. Aber andererseits bleibt seine Denk- und Anschauungsweise durchaus ideal; von dem modernsten Versinken in die niedrig häßliche Wirklichkeit steht er noch viel weiter ab als von jenem obenhingehenden Abwenden. So verhält sich auch seine Beobachtung und sein Schaffen: das allerschärfste Beobachtungstalent läßt er nie in der bloßen realistischen Skizzirung aufgehen; er verarbeitet die aufgenommenen Eindrücke innerlich, formt sie in poetische Gestalten um; künstlerische Bildung feiner Art ist ein Augenmerk und die ganze Weltanschauung ist bei ihm zu tiefsinnig angelegt, als daß er beim ordinären Realismus stehen bleiben könnte. Aber auch insofern steht er auf einer höheren Warte, als er mitten in Zeichnung des nationalen Lebens nicht bei dem rein russischen Gesichtspunkte beharren bleibt, sondern den allgemein menschlichen einnimmt. Und der Pessimismus, der seine Weltanschauung durchzieht, ist nichts Geringeres als die edel empfundene aber ungestillte Sehnsucht nach dem Ideal. Die Art seines Schaffens hat er selbst wohl erkannt und charakterisirt: Indem er sich keine überreiche Erfindungsgabe zutraute, bekennt er sich dazu, daß er immer daran angewiesen gewesen sei, auf gegebenem Boden Fuß zu fassen; »Typen« habe er nie geschaffen oder geschildert, ohne von einem esten Ausgangspunkte, von einem Gesichte, das er wirklich gesehen, die Anregung erhalten zu haben. Das benimmt dem Werth und der Bedeutung keiner Zeichnungen nichts, gar nichts; im Gegentheil, es erhöht ihre Treue.
Turgénew ist wohl der größte Skizzenzeichner und Erzähler der Gegenwart — ein Genie; in diesem feinem specifischen Fach hat er das Höchste geleistet.
Es hat guten Grund, wenn seine Werke auch im Auslande so viel Boden gefaßt haben wie diejenigen keines zweiten Russen. In Deutschlan und Frankreich haben sie sich so eingebürgert, daß sie fast populär geworden sind. Er half mehrfach selbst an der französischen Uebersetzung, schrieb auch mehreres in dieser Sprache. Seine berühmteste Arbeit, die »Skizzen«, ist ins Deutsche mehrfach, ins Französische, Englische und Ungarische übertragen, neuestens wohl noch weiter.
Es ist ein glänzender und zugleich ein seelenvoller Pinsel, der seine Naturgemälde hinwirft. Turgénew erst hat uns die Wälder und Steppen seines Landes entdeckt; er hat sie für uns sprechen machen und — schweigen, etwas Aehnliches vollbringend wie Sealsfield für jene jetzt himmlischen, jetzt teuflischen Tropenregionen Mexikos. Die Differenz der Gemälde bei den Zwei mächtigen Malern ist aber nicht minder groß als die ihrer Objekte: in Turgénew’s Naturbildern liegt um vieles weniger Farbengglut, Phantasiegewalt und bewältigende Großartigkeit der Scenerie, aber um Vieles mehr Gemüth, Unmittelbarkeit, man möchte sagen Innerlichkeit. Es ist das uralte ewige Welträthsel, von dem die allgewaltige Natur dem schwachen Menschen einen Zipfel enthüllt, aber mehr nicht, als sein kurzsichtiges Auge zu ertragen versteht.
Turgénew ist ein ganz im Gedankenkreise Schopenhauers stehender Pessimist. Er führt uns durchweg den fruchtlosen Kampf seiner gelgen gegen den Fatalismus vor oder weniger noch, wenn diese seine Helden passiv verharren. Er öffnet die Wunden, aber er heilt sie nicht. Er führt die Streiter nicht zur Resignation, noch weniger zur durchgekämpften innern Ruhe, auf der andern Seite auch nicht gerne zum Selbstmord. Aber er läßt sie als unvollendete und unbefriedigte Geschöpfe stehen. Das sind die Typen jener 1840er Generation, die unter Nikolaus zur Selbstauflösung bestimmt war, die ganz unnütz in beredten Phrasen und halb platonischen Anstrebungen sich verzettelnde Kraft; wie ein Kritiker sehr gut meint: das traurige Produkt einer traurigen Gesellschaft.
Unser Autor würde schon wegen des unausgesetzten muthigen und eifrigen Kampfes gegen das fluchwürdige Uebel er Leibeigenschaft die Unsterblichkeit verdienen; ein besonderes Glück, daß er ihre Aufhebung erleben sollte! In einer ganzen Reihe seiner Erzählungen wird der Fluch dieses Knechtszustandes förmlich Central- und Tendenzpunkt, so deutlich, daß wir alles Recht haben zu behaupten, er habe die Unerbittliche Verfolgung dieses Krebsübels zu einem Hauptgesichtspunkt all’ seines Wirkens gemacht. Den gewaltigen Kampf, weleher bis auf die letzten Zeiten herunter in einzelnen seiner Schriften nachgezittert hat, eröffneten schon die »Memoiren eines Jägers’s« wo er sich über diesen Gegenstand ausspricht wie folgt: »Ich konnte nicht mehr die gleiche Luft athmen noch leben in einer Atmosphäre, die, ich verabscheute. Ich mußte mich von meinem Feind entfernen (— die Memoiren sind im Auslande geschrieben —), um mit mehr Gewalt über ihn herzufallen. Dieser Feind hatte eine genau bestimmte Form und trug einen bekannten Namen; es war die Leibeigenschaft. Ich beschloß, bis zu meinem Ende gegen ihn anzukämpfen und schwor, mich nie mit ihm auszusöhnen. Das war für mich der Schwur Hannibals.« Er hat ihn gehalten, diesen Schwur, wie der große Karthager den seinen.
- E n d e -
1852.
Deutsch
von
Alexander Eliasberg.
Wer einmal Gelegenheit hatte, aus dem Bolchowschen Kreise in den Shisdrinschen zu kommen, dem ist wohl sicher der scharfe Unterschied zwischen dem Menschenschlag im Orjolschen Gouvernement und dem Kalugaschen aufgefallen. Der Orjolsche Bauer ist klein von Wuchs, untersetzt, mürrisch, blickt unfreundlich, lebt in elenden Hütten aus Espenholz, tut den Frondienst, treibt keinen Handel, nährt sich schlecht und trägt Bastschuhe; der Kalugasche Zinsbauer wohnt in geräumigen Häusern aus Fichtenbalken, ist groß gewachsen, blickt verwegen und lustig, hat eine reine und weiße Gesichtsfarbe, handelt mit Öl und Teer und trägt an Feiertagen Stiefel. Das Orjolsche Dorf (wir meinen den östlichen Teil des Orjolschen Gouvernements) liegt gewöhnlich mitten im Ackerland, in der Nähe einer Vertiefung, die man mit den dürftigsten Mitteln in einen schmutzigen Teich verwandelt hat. Außer einigen, stets dienstbereiten Bachweiden und zwei oder drei mageren Birken sieht man auf eine Werst weit keinen einzigen Baum; Hütte klebt an Hütte, die Dächer sind mit faulem Stroh gedeckt . . . Ein Dorf im Kalugaschen Gouvernement ist hingegen meistens von Wald umgeben; die Hütten stehen freier und gerader da und sind mit Schindeln gedeckt; die Tore schließen fest, die Zäune hinter dem Hofe sind nicht zerstört, fallen nicht nach außen um und laden nicht jedes vorbeigehende Schwein ein . . . Auch der Jäger hat es im Kalugaschen Gouvernement besser. Im Orjolschen Gouvernement werden die letzten Wälder und PlätzePlätze nennt man im Orjolschen Gouvernement große, zusammenhängende Gesträuchmassen; die Sprache der Orjolschen Bauern zeichnet sich überhaupt durch eine Menge origineller, manchmal sehr treffender, manchmal auch recht häßlicher Worte und Wendungen aus. (Anmerkung Turgenjews) in vielleicht fünf Jahren verschwinden, von Sümpfen gibt es aber keine Spur. Im Kalugaschen Gouvernement dagegen ziehen sich die Gehege Hunderte und die Sümpfe Dutzende von Werst hin, und das edle Federwild, das Birkhuhn, ist hier noch nicht ausgerottet; es gibt auch noch gutmütige Doppelschnepfen, und das geschäftige Rebhuhn erfreut und erschreckt durch sein plötzliches Aufschwirren den Jäger und den Hund.
Als ich zur Jagd in den Shisdrinschen Kreis kam, lernte ich im Feld einen kleinen Kalugaschen Gutsbesitzer namens Polutykin kennen, einen leidenschaftlichen Jäger und folglich vortrefflichen Menschen. Er hatte allerdings einige Schwächen: Er freite zum Beispiel um alle reichen Bräute des Gouvernements; wenn ihm die Hand und das Haus versagt wurden, vertraute er sein Leid zerknirschten Herzens allen seinen Freunden und Bekannten, fuhr aber fort, den Eltern der Bräute saure Pfirsiche und andere unreife Produkte seines Gartens zum Geschenk zu schicken; er liebte es, immer wieder den gleichen Witz zu erzählen, der, wie hoch ihn Herr Polutykin auch schätzte, keinen Menschen zum Lachen brachte; er lobte die Werke Akim Nachimows und die Erzählung Pinna; er stotterte; er nannte seinen Hund Astronom; sagte statt ›aber‹ – ›allein‹ und hatte in seinem Hause die französische Küche eingeführt, deren Geheimnis nach Auffassung seines Koches darin bestand, daß man den natürlichen Geschmack einer jeden Speise auf das radikalste veränderte: Fleisch schmeckte bei diesem Künstler nach Fisch, Fische nach Pilzen, Makkaroni nach Schießpulver; dafür kam bei ihm keine einzige Mohrrübe in die Suppe, ohne vorher die Gestalt eines Rhombus oder eines Trapezes angenommen zu haben. Aber abgesehen von diesen wenigen und unerheblichen Mängeln war Herr Polutykin, wie schon gesagt, ein vortrefflicher Mensch.
Gleich am ersten Tage meiner Bekanntschaft mit Herrn Polutykin lud er mich zum Übernachten ein.
»Bis zu mir sind es an die fünf Werst«, fügte er hinzu. »Zu Fuß ist es zu weit; wollen wir zuerst bei Chorj einkehren.« (Der Leser möge mir erlauben, sein Stottern nicht wiederzugeben.)
»Wer ist Chorj?«
»Einer meiner Bauern . . . Er wohnt ganz nahe von hier . . .«
Wir begaben uns zu ihm. Mitten im Walde erhob sich auf einer ausgerodeten und gepflügten Lichtung, das einsame Gehöft Chorjs. Es bestand aus einigen aus Fichtenbalken gezimmerten, durch Zäune verbundenen Gebäuden; vor dem Hauptgebäude zog sich ein von dünnen Säulchen gestütztes Schutzdach hin. Wir traten ein. Uns empfing ein junger, etwa zwanzigjähriger, hübscher Bursche.
»Ah, Fedja! Ist Chorj daheim?« fragte ihn Herr Polutykin.
»Nein. Chorj ist in die Stadt gefahren«, antwortete der Bursche lächelnd und seine schneeweißen Zähne zeigend. »Befehlen ein Wägelchen anzuspannen?«
»Ja, Bruder, ein Wägelchen. Und bring uns Kwaß.«
Wir traten in die Stube. Kein einziges Susdalsches Bild klebte an den sauberen Balken der Wände; in der Ecke vor dem massiven Heiligenbild mit silbernem Beschlag brannte ein Lämpchen; der Tisch aus Lindenholz war frisch gescheuert und gewaschen; zwischen den Balken und an den Fensterrahmen trieben sich keine flinken Schaben herum und hingen keine nachdenklichen Kakerlaken. Der junge Bursche erschien bald mit einem großen, weißen, mit gutem Kwaß gefüllten Kruge, mit einer riesengroßen Scheibe Weizenbrot und einem Dutzend Salzgurken in einer hölzernen Schüssel. Er stellte alle diese Produkte auf den Tisch, lehnte sich an die Tür und begann uns lächelnd zu betrachten. Wir waren mit dem Imbiß noch nicht fertig, als vor der Tür schon das Wägelchen polterte. Wir gingen hinaus. Ein etwa fünfzehnjähriger, lockiger und rotbäckiger Junge saß als Kutscher da und hatte Mühe, den satten, scheckigen Hengst zu halten. Um den Wagen herum standen an die sechs junge Riesen, die miteinander und mit Fedja große Ähnlichkeit hatten. »Lauter Kinder Chorjs!« bemerkte Polutykiri.
»Lauter Iltisjungen1 !« fiel ihm Fedja ins Wort, der uns vors Haus gefolgt war. »Aber es sind noch nicht alle: Potap ist im Wald, und Sidor ist mit dem alten Chorj in die Stadt gefahren . . . Paß auf, Waßja«, fuhr er fort, sich an den Kutscher wendend. »Fahr schnell, du fährst doch den Herrn. Aber wo der Weg schlecht ist, sollst du langsamer fahren, sonst machst du den Wagen kaputt und bringst auch die Eingeweide des Herrn in Unruhe!«
Die übrigen Iltisjungen lächelten über diesen Witz Fedjas.
»Man setze den Astronomen herein!« rief Herr Polutykin feierlich aus.
Fedja hob nicht ohne Vergnügen den gezwungen lächelnden Hund in die Höhe und setzte ihn auf den Boden des Wagens nieder. Waßja ließ die Zügel locker. Wir rollten davon.
»Das da ist mein Kontor«, sagte mir plötzlich Herr Polutykin, auf ein kleines, niedriges Häuschen weisend, »wollen Sie hineinschauen?«
»Gerne.«
»Es ist jetzt aufgehoben«, bemerkte er, aus dem Wagen steigend, »aber es lohnt sich doch hineinzublicken.«
Das Kontor bestand aus zwei leeren Zimmern. Der Wächter, ein einäugiger Alter, kam vom Hinterhof herbeigelaufen.
»Grüß Gott, Minjajitsch«, versetzte Herr Polutykin. »Wo ist denn das Wasser?«
Der einäugige Alte verschwand und kam sofort mit einer Flasche Wasser und zwei Gläsern wieder.
»Versuchen Sie doch«, sagte mir Polutykin, »ich habe hier ein ausgezeichnetes Quellwasser.«
Wir tranken je ein Glas, während der Alte sich vor uns tief verbeugte.
»Nun, jetzt können wir, glaube ich, fahren«, versetzte mein neuer Freund. »In diesem Kontor habe ich dem Kaufmann Allilyjew vier Deßjatinen Wald um einen guten Preis verkauft.«
Wir setzten uns in den Wagen und fuhren schon nach einer halben Stunde in den Hof des Herrenhauses ein.
»Sagen Sie mir bitte«, fragte ich Polutykin beim Abendessen, »warum wohnt Ihr Chorj getrennt von den anderen Bauern?«
»Sehen Sie, er ist ein gescheiter Kerl. Vor fünfundzwanzig Jahren ist ihm sein Haus abgebrannt; da kam er zu meinem seligen Vater und sagte: ›Erlauben Sie mir, Nikolai Kusmitsch, mich in Ihrem Wald auf dem Sumpfgrund anzusiedeln. Ich werde Ihnen einen guten Zins zahlen!‹ – ›Warum willst du dich denn auf dem Sumpfgrund ansiedeln?‹ – ›Ich möchte es halt; aber bitte, Väterchen Nikolai Kusmitsch, verwenden Sie mich zu keiner anderen Arbeit mehr, legen Sie mir nur einen Zins auf, so hoch Sie wollen.‹ – ›Fünfzig Rubel im Jahr!‹ – ›Gut.‹ – ›Aber daß du pünktlich zahlst, paß auf!‹ – ›Natürlich pünktlich . . .‹ – So siedelte er sich auf dem Sumpfboden an. Seitdem nennt man ihn Chorj.«
»Und da wurde er reich?« fragte ich.
»Ja, er wurde reich. Jetzt zahlt er mir ganze hundert Rubel Zins, und ich werde ihn vielleicht noch steigern. Ich habe ihm schon mehr als einmal gesagt: ›Chorj, kaufe dich los . . .!‹ Aber der Gauner behauptet, er hätte kein Geld . . . Ja, wer’s glaubt . . .!«
Am nächsten Tag begaben wir uns gleich nach dem Morgentee wieder auf die Jagd. Als wir durchs Dorf fuhren, ließ Herr Polutykin seinen Kutscher vor einem niederen Hause halten und rief laut: »Kalinytsch, Kalinytsch!«
»Sofort, Väterchen, sofort«, erklang es vom Hof her; »ich binde mir nur den Bastschuh fest.«
Wir fuhren im Schritt weiter; hinter dem Dorf holte uns ein etwa vierzigjähriger, großgewachsener, hagerer Mann mit einem kleinen, in den Nacken geworfenen Kopf ein. Es war Kalinytsch. Sein gutmütiges, bräunliches, hier und da pockennarbiges Gesicht gefiel mir auf den ersten Blick. Kalinytsch ging (wie ich später erfuhr) jeden Tag mit seinem Herrn auf die Jagd, trug ihm die Tasche, manchmal auch das Gewehr, paßte auf, wo sich das Wild niedersetzte, brachte Wasser, sammelte Erdbeeren, baute Jagdhütten und lief den Jagdwagen holen; ohne ihn tat Herr Polutykin keinen Schritt. Kalinytsch war ein Mann vom heitersten und sanftesten Charakter, summte stets mit halber Stimme vor sich hin, blickte sorglos nach allen Seiten, sprach etwas durch die Nase, kniff beim Lächeln seine hellblauen Augen zusammen und packte oft mit der Hand seinen dünnen, keilförmigen Bart. Er ging nicht schnell, aber mit großen Schritten, und stützte sich dabei auf einen langen, dünnen Stecken. Im Laufe des ganzen Tages sprach er mich kein einziges Mal an, bediente mich ohne Unterwürfigkeit, gab aber auf seinen Herrn acht wie auf ein kleines Kind. Als die unerträgliche Mittagsglut uns zwang, Schutz zu suchen, führte er uns in seinen Bienengarten tief im Waldesdickicht. Kalinytsch sperrte uns die kleine Hütte auf, in der überall Bündel trockener, wohlriechender Gräser hingen, bettete uns in das frische Heu, zog sich eine Art Sack mit einem Netz vorne über den Kopf, nahm ein Messer, einen Topf und eine glimmende Kohle und begab sich in seinen Bienengarten, um uns eine Honigwabe zu schneiden. Wir tranken zu dem durchsichtigen, warmen Honig Quellwasser und schliefen beim eintönigen Summen der Bienen und dem geschwätzigen Rauschen der Blätter ein.
Ein leichter Windstoß weckte mich . . . Ich schlug die Augen auf und erblickte Kalinytsch; er saß auf der Schwelle der halbgeöffneten Tür und schnitzte sich mit dem Messer einen Holzlöffel. Ich bewunderte lange sein Gesicht, das so mild und heiter war wie der Abendhimmel. Auch Herr Polutykin erwachte. Wir standen nicht sogleich auf. Es war so angenehm, nach dem langen Marsch und dem tiefen Schlaf unbeweglich im Heu zu liegen: Der Körper ist so wonnig ermattet, das Gesicht atmet eine leichte Hitze, und eine süße Trägheit schließt die Augen. Endlich standen wir auf und trieben uns wieder bis zum Abendessen umher. Beim Abendessen brachte ich wieder die Rede auf Chorj und Kalinytsch.
»Kalinytsch ist ein guter Bauer«, sagte mir Herr Polutykin, »ein eifriger und dienstfertiger Mann; aber er kann seine Wirtschaft nicht in Ordnung halten, ich reiße ihn immer heraus. Jeden Tag geht er mit mir auf die Jagd . . . Wie soll er da seine Wirtschaft versehen können, urteilen Sie doch selbst.«
Ich stimmte ihm zu, und wir legten uns schlafen.
Am anderen Tag mußte Herr Polutykin wegen eines Prozesses mit seinem Nachbar Pitschukow in die Stadt. Der Nachbar Pitschukow hatte ihm ein Stück Land weggepflügt und auf dieser Stelle auch noch eines von Polutykins Bauernweibern mit Ruten züchtigen lassen. So begab ich mich allein auf die Jagd und kehrte gegen Abend bei Chorj ein. An der Schwelle des Hauses empfing mich ein kahlköpfiger, kleingewachsener, breitschultriger und stämmiger Alter – es war Chorj selbst. Ich sah diesen Chorj mit Neugierde an. Seine Gesichtszüge erinnerten an Sokrates: die gleiche hohe Stirne voller Beulen, die gleichen kleinen Äuglein und die gleiche Stumpfnase. Wir traten zusammen in die Stube. Der gleiche Fedja brachte mir Milch und Schwarzbrot. Chorj setzte sich auf die Bank, strich sich seinen krausen Bart und begann ein Gespräch mit mir. Er schien sich seiner Würde bewußt zu sein, sprach und bewegte sich langsam und lächelte manchmal unter seinem langen Schnurrbart hervor.
Wir sprachen über die Aussaat, über die Ernte, über das ganze Bauernleben. Er tat so, als ob er mir zustimmte, aber ich fühlte mich nachher irgendwie geniert, und ich merkte, daß ich nicht das Richtige sprach . . . Es kam so sonderbar heraus. Chorj drückte sich zuweilen, wohl aus Vorsicht, schwer verständlich aus . . . Hier ist eine Probe unseres Gesprächs:
»Hör mal, Chorj«, sagte ich ihm, »warum kaufst du dich nicht von deinem Herrn frei?«
»Warum soll ich mich freikaufen? Jetzt kenne ich meinen Herrn und weiß, was ich ihm zu zahlen habe . . . Wir haben einen guten Herrn.«
»Aber die Freiheit ist doch besser«, bemerkte ich.
Chorj sah mich von der Seite an.
»Gewiß«, versetzte er.
»Warum kaufst du dich dann nicht frei?«
Chorj schüttelte den Kopf.
»Womit soll ich mich freikaufen, Väterchen?«
»Tu doch nicht so, Alter . . .«
»Kommt Chorj unter die freien Leute«, fuhr er halblaut, wie vor sich hin, fort, »so ist jeder, der keinen Bart trägt, ein Herr über Chorj.«
»Nimm dir doch auch den Bart ab.«
»Was ist der Bart? Der Bart ist Gras, man kann ihn abmähen.«
»Also was denn?«
»Chorj wird wohl gleich unter die Kaufleute kommen; die Kaufleute haben ja ein gutes Leben, auch tragen sie Bärte.«
»Sag, du treibst doch auch Handel?« fragte ich ihn.
»Wir handeln wohl ein wenig mit Öl und auch mit Teer . . . Nun, Väterchen, soll ich dir das Wägelchen anspannen?«
Du verstehst deine Zunge im Zaume zu halten und bist wohl gar nicht so dumm, dachte ich mir.
»Nein«, sagte ich laut, »ich brauche kein Wägelchen; ich will morgen hier in der Nähe jagen und bleibe, wenn du erlaubst, in deinem Heuschuppen über Nacht.«
»Bitte sehr. Wirst du es aber im Schuppen bequem haben? Ich will den Weibern sagen, daß sie dir ein Laken und ein Kissen hinlegen. – He, Weiber!« rief er aufstehend. »Weiber, hierher . . .! Und du, Fedja, geh mit ihnen mit: Die Weiber sind doch ein dummes Volk.«
Eine Viertelstunde später geleitete mich Fedja mit einer Laterne zum Schuppen. Ich warf mich auf das duftende Heu; der Hund rollte sich zu meinen Füßen zusammen; Fedja wünschte mir gute Nacht, die Tür knarrte und fiel ins Schloß. Ich konnte recht lange nicht einschlafen. Eine Kuh trat vor die Tür und schnarchte zweimal laut; mein Hund knurrte sie mit Würde an; ein Schwein ging, nachdenklich grunzend, vorbei; irgendwo in der Nähe fing ein Pferd an, Heu zu kauen und zu schnauben . . . endlich schlummerte ich ein.
Fedja weckte mich beim Sonnenaufgang. Dieser lustige, aufgeweckte Bursche gefiel mir sehr gut; soviel ich merken konnte, war er auch ein Liebling des alten Chorj. Sie neckten sich beide in der freundschaftlichsten Weise. Der Alte kam mir entgegen. Kam es daher, weil ich die Nacht unter seinem Dach verbracht hatte, oder aus einem anderen Grund, jedenfalls behandelte er mich diesmal viel freundlicher als am Abend vorher.
»Der Samowar ist für dich bereit«, sagte er mir mit einem Lächeln. »Komm Tee trinken.«
Wir setzten uns an den Tisch. Ein kräftiges Frauenzimmer, eine seiner Schwiegertöchter, brachte einen Topf Milch. Seine Söhne kamen einer nach dem andern in die Stube.
»Was hast du für riesengroße Kerle!« bemerkte ich dem Alten.
»Ja«, versetzte er, indem er ein winziges Stück Zucker abbiß. »Über mich und meine Alte haben sie sich wohl nicht zu beklagen.«
»Und leben alle bei dir?«
»Alle. Sie wollen es selbst so.«
»Sind alle verheiratet?«
»Nur ein Schlingel will nicht heiraten«, antwortete er, auf Fedja zeigend, der wie früher an der Tür lehnte. »Waßja ist jung, der kann noch warten.«
»Warum soll ich heiraten?« entgegnete Fedja. »Ich hab’s auch so gut. Was brauche ich ein Weib? Vielleicht um mich mit ihr herumzuzanken?«
»Ach, du . . .! Ich kenne dich schon! Silberne Ringe trägst du . . . Hast nur die Hausmädchen im Sinn . . . ›Hören Sie auf, Sie Unverschämter!‹« fuhr der Alte fort, ein Stubenmädchen nachäffend. »Ich kenne dich schon, du Müßiggänger!«
»Was taugt denn ein Weib?«
»Das Weib ist eine Arbeiterin«, versetzte Chorj mit Würde. »Das Weib ist des Mannes Dienerin.«
»Was brauche ich aber eine Dienerin?«
»Das ist es eben, du liebst mit fremden Händen die Glut zusammenzuscharren. Wir kennen euch.«
»Nun, so verheirate mich. Wie? Was? Was schweigst du jetzt?«
»Hör auf, Spaßvogel. Du siehst doch, wir langweilen den Herrn. Ich werde dich schon verheiraten . . . Nimm’s nicht übel, Väterchen, du siehst doch, er ist noch ein dummes Kind, hat noch nicht Zeit gehabt, zu Verstand zu kommen.«
Fedja schüttelte den Kopf . . .
»Ist Chorj daheim?« erklang hinter der Tür eine mir bekannte Stimme, und in die Stube trat Kalinytsch mit einem Büschel Walderdbeeren in der Hand, die er für seinen Freund gepflückt hatte. Der Alte begrüßte ihn herzlich. Ich sah Kalinytsch erstaunt an: Offen gestanden, ich hätte von einem Bauern eine solche zarte Aufmerksamkeit nicht erwartet.
An diesem Tag ging ich vier Stunden später als gewöhnlich auf die Jagd und verbrachte die folgenden drei Tage bei Chorj. Meine neuen Bekannten interessierten mich. Ich weiß nicht, wodurch ich ihr Vertrauen gewonnen hatte, aber sie sprachen mit mir ganz ungezwungen. Es machte mir Vergnügen, ihnen zuzuhören und sie zu beobachten. Die beiden Freunde sahen einander gar nicht ähnlich. Chorj war ein positiver Mensch, ein praktischer, administrativer Kopf und ein Rationalist; Kalinytsch dagegen gehörte zu den Idealisten, Romantikern, begeisterten und träumerischen Naturen. Chorj hatte Verständnis für die Wirklichkeit, das heißt, er hatte sich ein Haus gebaut und etwas Geld gespart und kam mit dem Herrn und den anderen Obrigkeiten gut aus; Kalinytsch trug Bastschuhe und schlug sich mit knapper Not durch. Chorj hatte eine große Familie, die einträchtig lebte und ihm gehorsam war; Kalinytsch hatte einmal eine Frau gehabt, die er fürchtete, Kinder hatte er aber keine. Chorj durchschaute den Herrn Polutykin; Kalinytsch vergötterte seinen Herrn. Chorj liebte Kalinytsch und protegierte ihn; Kalinytsch liebte und verehrte Chorj. Chorj sprach wenig, lächelte spöttisch und wußte, was er wollte; Kalinytsch sprach immer mit großem Feuer, obwohl er auch nicht verstand, gleich manchem durchtriebenem Fabrikarbeiter, ›wie eine Nachtigall zu singen . . .‹ Aber Kalinytsch hatte Vorzüge, die sogar Chorj anerkannte; er verstand zum Beispiel das Blut, den Schreck und die Tollwut zu besprechen und die Würmer abzutreiben; die Bienen gediehen bei ihm gut, er hatte, was man so nennt, eine leichte Hand. Chorj bat ihn in meiner Gegenwart, er möchte sein neugekauftes Pferd zuerst in den Stall führen, und Kalinytsch erfüllte die Bitte des alten Skeptikers mit gewissenhafter Würde. Kalinytsch stand der Natur näher, Chorj dagegen den Menschen und der Gesellschaft; Kalinytsch liebte nicht zu räsonieren und glaubte alles blind; Chorj erhob sich sogar zu einer ironischen Lebensauffassung. Er hatte viel gesehen, wußte viel, und ich lernte von ihm eine Menge Dinge. So erfuhr ich zum Beispiel, daß jeden Sommer vor der Ernte in den Dörfern ein kleines Wägelchen von besonderem Aussehen erscheint. In diesem Wägelchen sitzt ein Mann im Kaftan und verkauft Sensen. Bei Barzahlung kostet die Sense von einundeinviertel bis einundeinhalb Rubel in Assignaten, auf Kredit aber drei Papier- und einen Silberrubel. Alle Bauern nehmen die Sensen natürlich auf Kredit. Nach zwei oder drei Wochen kommt er wieder und verlangt sein Geld. Der Bauer hat seinen Hafer eben gemäht und ist also bei Geld; er geht mit dem Händler in die Schenke und rechnet dort mit ihm ab. Einige Gutsbesitzer kamen auf den Gedanken, die Sensen selbst für bares Geld zu kaufen und an die Bauern zum Selbstkostenpreis auf Kredit abzugeben; die Bauern waren aber damit unzufrieden und grämten sich sogar: Man nahm ihnen das Vergnügen, die Sense mit den Fingern zu beklopfen, zu hören, wie sie klingt, sie in den Händen hin und her zu wenden und an die zwanzigmal den schlauen Händler zu fragen: »Was meinst du, Bursch, ist die Sense auch nicht zu . . . du weißt wohl, was ich meine?« Dasselbe wiederholt sich auch beim Ankauf von Sicheln, bloß mit dem Unterschied, daß sich hier auch die Weiber hineinmischen und den Händler oft sogar in die Notwendigkeit versetzen, sie zu ihrem eigenen Nutzen zu prügeln. Am meisten haben aber die Weiber bei folgender Gelegenheit zu leiden. Die Lieferanten des Materials für die Papierfabriken beauftragen mit dem Ankauf der Hadern eigene Personen, die man in manchen Landkreisen ›Adler‹ nennt. So ein ›Adler‹ bekommt vom Geschäftsmann etwa zweihundert Rubel in Assignaten und zieht damit auf Beute aus. Aber im Gegensatz zu dem edlen Vogel, von dem er seinen Namen hat, überfällt er seine Opfer nicht offen und kühn; im Gegenteil: der ›Adler‹ wendet List und Schlauheit an. Er läßt sein Wägelchen irgendwo im Gesträuch hinter dem Dorf stehen und begibt sich zu Fuß hintenherum ins Dorf wie ein zufälliger Wanderer oder ein müßiger Spaziergänger. Die Weiber wittern sein Nahen und schleichen ihm entgegen. Das Geschäft wird in der größten Eile abgeschlossen. So ein Bauernweib gibt dem ›Adler‹ für einige Kupfermünzen nicht nur alle ihre unnützen Lumpen her, sondern oft sogar das Hemd des Mannes und den eigenen Rock. In der letzten Zeit haben es die Weiber vorteilhaft gefunden, sich selbst den Hanf zu stehlen und auf diese Weise zu‹ verkaufen, besonders den Sommerhanf – das ist eine wichtige Erweiterung und Vervollkommnung der ›Adler‹-Industrie! Dafür sind nun auch die Bauern ihrerseits schon gewitzigt und greifen beim leisesten Verdacht oder beim bloßen Gerücht, daß ein ›Adler‹ in der Nähe sei, zu Korrektions- und Vorbeugungsmaßregeln. Und in der Tat, das ist doch kränkend! Der Hanfverkauf ist ihre Sache, und sie verkaufen ihn wirklich, doch nicht denen in der Stadt – in die Stadt müßten sie sich doch selbst schleppen –, sondern durchfahrenden Aufkäufern, welche in Ermangelung einer Waage das Pud zu vierzig Handvoll rechnen – aber man weiß doch, was für eine Handfläche der Russe hat und was bei ihm ›eine Handvoll‹ bedeutet, besonders wenn er sich Mühe gibt!
Ich, der ich unerfahren war und nur wenig auf dem Lande gelebt hatte, bekam viele solche Erzählungen zu hören. Chorj erzählte aber nicht nur, sondern fragte auch mich über vieles aus. Als er erfuhr, daß ich im Ausland gewesen war, entbrannte seine Neugierde . . . Kalinytsch blieb hinter ihm nicht zurück; aber ihn rührten mehr Beschreibungen der Natur, der Berge und Wasserfälle, der ungewöhnlichen Gebäude und der großen Städte; Chorj interessierte sich mehr für administrative und politische Fragen. Er nahm alles der Reihe nach durch: »Haben die es dort wie wir oder anders . . .? Sag doch, Väterchen, wie ist es nun . . .?«
»Ach, Herr,, dein Wille geschehe!« rief Kalinytsch während meiner Erzählungen.
Chorj schwieg, zog seine buschigen Augenbrauen zusammen und ließ nur ab und zu die Bemerkung fallen: »Das würde bei uns nicht gehen, das aber ist gut, das ist Ordnung.«
Alle seine Fragen kann ich nicht wiedergeben, und es hat auch keinen Zweck; aber aus unseren Gesprächen gewann ich eine Überzeugung, die meine Leser wohl nicht erwarten – die Überzeugung, daß Peter der Große im Grunde genommen ein echter Russe gewesen ist, Russe gerade in seinem Reformwerk. Der Russe ist so sehr von seiner eigenen Kraft und Stärke überzeugt, daß er bei Gelegenheit nicht abgeneigt ist, sich selbst Gewalt anzutun: Er interessiert sich wenig für seine Vergangenheit und blickt kühn in die Zukunft. Was gut ist, das gefällt ihm, was vernünftig ist, das will er haben, woher es aber kommt, ist ihm vollkommen gleich. Sein gesunder Menschenverstand macht sich gern über die trockene Vernunft des Deutschen lustig; aber die Deutschen sind, nach den Worten Chorjs, ein interessantes Völkchen, bei dem er sogar manches lernen möchte. Infolge seiner besonderen Stellung und seiner faktischen Unabhängigkeit sprach Chorj mit mir über vieles, was man aus einem anderen – wie sich die Bauern noch ausdrücken – mit keinem Hebel herausbringen oder mit keinem Mühlstein herausmahlen könnte. Er hatte für seine Stellung volles Verständnis. In meinen Gesprächen mit Chorj hörte ich zum ersten mal die einfache, kluge Rede des russischen Bauern. Seine Kenntnisse waren in ihrer Art sehr umfassend, aber lesen konnte er nicht; Kalinytsch konnte wohl lesen. »Dieser Gauner hat es gelernt«, bemerkte Chorj. »Ihm sind auch niemals Bienen eingegangen.«
»Hast du deinen Kindern das Lesen beibringen lassen?«
Chorj schwieg eine Weile. »Fedja kann es.«
»Und die anderen?«
»Die anderen nicht.«
»Warum?«