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Nicht genug bekommen?

Leseprobe aus »Phantomliebe« von Tanja Voosen

Ich war kurz davor einen Mord zu begehen.

Vierundzwanzig Stunden zuvor hatte ich noch geglaubt, dass alles in bester Ordnung sei, aber dann hatte ich den Anruf von Stella bekommen. Sofort wurde eine freundschaftliche Krisensitzung einberufen. »Ich kann nicht glauben, dass er das gesagt hat!«

Stella war in Tränen aufgelöst und schluchzte.

Mit DAS meinte sie, dass ihr Freund Rory Redford gerade dabei war sie zu erpressen. Stella hatte ihm vor ein paar Wochen ein ziemlich pikantes Bild von sich geschickt und als die beiden gestern aneinander geraten waren und Schluss gemacht hatten (dieses Mal war es wohl wirklich ernst), war Rory mit dem folgenden Spruch auf den Lippen abgegangen: Du bekommst, was du verdienst. Dabei war es wieder einmal um Rorys Eifersucht gegangen. Sein aggressives Temperament. Seine nicht gerechtfertigten Vorwürfe. Kurz gesagt: Rory war ein Scheißfreund und Stella hatte es endlich begriffen.

Besonders, als sie vor weniger als einer halben Stunde das Bild auf ihrem Handy erhalten hatte, mit dem Rory sie nun erpresste. Sie sollte sich entschuldigen und die Erde anbeten, auf der er ging, oder er würde es noch an diesem Wochenende an seinen Freund von der Schülerzeitung weiterreichen und dann gäbe es eine Sonderausgabe. Absolut liebenswert, dieser Rory.

Aus genau diesem Grund würde ich heute Abend einen auf Nancy Drew machen. Ich – Fairley Petaillon würde den Spieß umdrehen, mich in das Anwesen der Redfords schleichen und Rorys Laptop an mich nehmen.

Aus verlässlicher Quelle wussten Stella und ich nämlich, dass Rory dort all seine Geheimnisse ablegte.

Wir würden es Mr. Arschloch heimzahlen!

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als Stella mit einem nervösen Zittern in der Stimme das Wort ergriff. »Du musst das wirklich nicht machen.« Unruhig zwirbelte Stella eine ihrer dunklen Haarsträhnen durch ihre Finger. »Das kann alles ganz furchtbar schiefgehen und am Ende landest du noch auf dem Polizeirevier. «

»Ich habe dir bereits gesagt, dass ich den Plan durchziehe«, erwiderte ich. Wir saßen in ihrem Wagen. Vorsichtshalber hatte sie einen Block vom Anwesen der Redfords entfernt geparkt, damit man das Auto nicht erkannte. Etwas nervös war ich allerdings schon.

»Wir gehen wie abgesprochen vor. Ich schleiche mich auf die Party und rufe dich an, sobald ich wieder draußen bin. Dann kommst du mich sofort holen. Ende.«

»Ich sollte das machen. Ich«, beharrte sie. Stella schien jedoch wenig von sich überzeugt zu sein.

»Du würdest das nicht schaffen«, erwiderte ich sanft und meinte es nicht böse. Das wusste Stella auch. Sie war im Gegensatz zu mir ein netter und zurückhaltender Mensch. Ich konnte skrupellos und egoistisch sein. Ohne sie als Anker wäre ich wahrscheinlich genauso dran wie meine Mitschüler: ein weiterer reicher Teenager, der die Realität aus den Augen verlor. Stella war nicht in derselben Welt aufgewachsen wie ich. Ihre Mom hatte mit einer ihrer Studien über Mikrobiologie einen weltweiten Bestseller geschrieben und innerhalb kürzester Zeit war die Familie in eine andere Klasse aufgestiegen. Seitdem jettete Stellas Mom durch die Weltgeschichte, hielt Seminare und Vorlesungen auf verschiedenen Kontinenten ab und Stella bekam sie kaum noch zu Gesicht. Während sie deshalb sehr oft frustriert war, beschäftigte sich ihr Dad lieber mit einer seiner zahlreichen Affären und gab das Geld, das ihm nicht wirklich gehörte, nach Lust und Laune aus. Als Stella an unsere Schule gewechselt war, hatte ich mich in einer ziemlich düsteren Phase meines Lebens befunden. Ihre Freundschaft hatte mir aus dem dunklen Loch herausgeholfen. Wir waren Verbündete und ich würde alles für meine einzige und beste Freundin tun.

»Vertrau mir, ich schaffe das schon.«

Stella nickte langsam. Ich lächelte zuversichtlich.

Möge die Mission beginnen!

***

Halloween war in meiner Gegend schon immer ein Event gewesen, das mit offenen Armen empfangen wurde. Für die meisten war es die Chance auf eine abgefahrene Party und anscheinend fuhren die Leute drauf ab sich eine Runde zu gruseln. Ich hatte noch nie verstanden, wieso ausgerechnet dieser Tag im Jahr etwas Besonderes war. Das ganze Theater drumherum nervte mich einfach nur. Sich extra ein Kostüm zu kaufen oder sogar zu nähen wäre für mich niemals in Frage gekommen. So etwas hatte ich nicht einmal als Kind gerne getan und ich begriff wirklich nicht, wieso viele meiner Mitschüler ganz scharf auf Halloween waren. Das Schlimme war, dass man sich kaum gegen den Halloween-Sog wehren konnte. Während ich meinen Weg fortsetzte, wurde mir irgendein seltsames Zeug in die Haare gesprüht, ein paar Süßigkeiten flogen gegen meinen Kopf und ständig kamen Hände aus dem Nichts, die mir an den Hintern gingen. Ninja-Reflexe mal beiseite – es war unmöglich unbeschadet durchzukommen. Wie auf einem Minenfeld lief man bei jedem Schritt Gefahr auf etwas Unangenehmes zu treffen. Rorys ach so legendäre Party nervte gehörig!

Aufs Anwesen zu gelangen war einfach gewesen. Ich hatte Stellas Namen benutzt, der natürlich auf der Gästeliste stand, und schwupps konnte ich den Security-Mann passieren. Der Kampf die Auffahrt hinauf stellte sich als Gang durch ein Gruselkabinett heraus. Hier waren wirklich alle Register gezogen worden. Ein Labyrinth dekoriert mit Spinnweben, Kürbissen, Kunstblut und allerlei anderem Zeugs sollte den Spaß wohl anheizen. Das Einzige, was mir eine Gänsehaut bescherte, war das Pärchen, das in einem Haufen abgehackter Körperteile eine wilde Rummach-Orgie gestartet hatte.

Kaum einen Schritt im Inneren des Hauses angelangt war mir klar, dass ich es hier nicht lange aushalten würde. Die Musik war grauenhaft, die Luft stickig und die Anzahl der Gäste bombastisch (was bedeutete: unangenehm viel). Es war ein Drängeln und Schubsen, Zerren und Ziehen. Als ich die Treppe zum ersten Stock erreicht hatte, hielt ich schon den dritten Becher in der Hand, den mir irgendjemand zugesteckt hatte. Ich würde daraus sicher nicht trinken, also ließ ich sie alle einfach achtlos fallen. Nach wenigen Minuten bereute ich es meine Schuluniform angezogen zu haben. Ich hatte geglaubt damit weniger aufzufallen, weil die Mädchen sich an Halloween normalerweise freizügiger anzogen, aber irgendwie schien mein nettes Aussehen mehr Blicke auf sich zu lenken, als mir lieb war. Ich hätte das Bärenkostüm wählen sollen, dann hätte man mich bestimmt in Ruhe gelassen.

Sich im ersten Stock (oder allgemein bei der Größe des Anwesens) zu orientieren war eine echte Herausforderung. Stella hatte mir zwar beschrieben, wo genau Rorys Zimmer lag, aber die Flure hier sahen sich alle sehr ähnlich. Lang, pompös dekoriert und überall diese Portraits, die einen mit den Augen zu verfolgen schienen.

Ich begegnete nur vereinzelt Leuten, weil das Herz der Party im Erdgeschoss lag. Irgendwann beschloss ich einfach jede Tür, die vor mir auftauchte, zu öffnen. Irgendwo hier oben musste Rorys Zimmer schließlich sein. Einige der Überraschungen hinter den Türen hätte ich meinen Augen lieber erspart. Mein Glück, dass ich gut im Verdrängen war. Ich konnte nur hoffen, dass nichts davon dauerhaft meine Netzhaut schädigen würde.

Dann fand ich den Raum, nach dem ich gesucht hatte. Ich wusste, dass es der richtige war, weil ein fettes Schild Rorys Zimmer – Draußen bleiben! verkündete. Angetrunkenen Leuten zu sagen, dass sie irgendwo draußen bleiben sollten, war auf einer Party eine richtige Einladung. Clever wie immer, dieser Rory! Natürlich war die Tür verschlossen, aber das war kein Hindernis für mich. Meine Mom hatte früher alle möglichen Türen in unserem Anwesen verschlossen und meine Neugier hatte mich dazu gebracht wissen zu wollen, was sie versteckte. Die Türen bei uns waren allerdings nur geschlossen und nicht verschlossen gewesen und darin lag ein riesiger Unterschied. Wenn ich Rorys Tür richtig einschätzte, dann war sie ähnlich einer Haustür konzipiert – sie ging von innen auf und von außen brauchte man immer einen Schlüssel, um sie zu öffnen. Das bedeutete, dass der Schließmechanismus auf der anderen Seite saß. Für diesen Fall hatte ich mir bereits eine meiner abgelaufenen Kreditkarten in die Hosentasche gesteckt. Ich musste die Karte nur noch zwischen Tür und Rahmen schieben und den Schließmechanismus erwischen. Das Ganze klang leichter, als es war, und ich brauchte eine halbe Ewigkeit, bis ich es schaffte die Tür zu öffnen.

Erleichtert steckte ich die Kreditkarte weg. Ich hatte absolut keinen Plan B gehabt und meine Mission wäre sofort gescheitert. Abgeschlossene Türen aufzubrechen war eine Liga, die ich lieber Ocean's Eleven überließ.

Ich war kein ordentlicher Mensch, aber dieses Zimmer glich einer Müllhalde. Alte Pizzakartons stapelten sich neben dem Bett und überall lagen leere Getränkedosen herum. Dazu kamen getragene Kleidung, Zeitschriften, Schulbücher und eine Menge anderes Zeugs, mit dem Rory seinen Boden dekoriert hatte. Weil Rorys Fenster zum Garten und somit zur Auffahrt hinausging, verkniff ich es mir das Licht einzuschalten und benutzte stattdessen die Taschenlampen-App meines Smartphones. Ich hatte zu viel Angst, dass jemand von draußen sehen würde, dass irgendwer hier oben war und seine eigene Party feierte. Als ich eintrat, schlug mir ein seltsamer Geruch entgegen und ich verzog das Gesicht. Vielleicht verweste irgendwo in der Ecke langsam Rorys Stolz. Ich war froh, dass meine Taschenlampen-App den Raum nur schummrig beleuchtete und ich nicht noch mehr von dem Chaos sehen musste.

Laptop – komm raus, komm raus, wo immer du bist!

Natürlich war nicht auszuschließen, dass es auf anderen Datenträgern Sicherungen des Bildes gab – die Handynachricht an Stella war der Beweis –, aber ich setzte darauf, dass Rory sein Laptop so viel bedeutete, dass er sich zurückhielt. Außerdem hoffte ich, dass wir nach dem Durchforsten des Laptops vielleicht etwas Peinliches gegen ihn in der Hand hatten. Rory war nicht das hellste Köpfchen und irgendwie konnten wir ihn sicher austricksen, wenn wir ein Druckmittel besaßen.

Angewidert von meiner Umgebung und dem komischen Geruch begann ich dort zu suchen, wo ich etwas Wertvolles wie einen Laptop vermutete: im Schreibtisch, unter dem Bett oder in einem der Schränke. Die erfolglose Suche ließ mich schnell verzweifeln. Dann wurde die Tür geöffnet, zuerst nur einen Spalt, aber als ich den dünnen Lichtstrahl sah, huschte ich sofort in das erstbeste Versteck – eine kleine Nische zwischen Schrank und Schreibtisch. Ausgerechnet von dieser Position aus fiel mein Blick auf den Laptop. Er lag halb unter einem Football-Trikot begraben mitten im Raum.

Eine Taschenlampe blitzte auf und jemand trat ein. Wegen des Flurlichts im Rücken erkannte ich an seiner Statur und Silhouette, dass es sich eindeutig um einen Jungen handelte. Kurz war ich irritiert, aber dann wurde mir klar, dass er auch hier sein musste, um etwas zu suchen. Etwas zu stehlen. Wieso sonst das vorsichtige Auftreten und die Taschenlampe?

Mein Herzschlag beruhigte sich wieder einigermaßen und ich fasste den Mut aus meinem notdürftigen Versteck zu treten. Wenn wir beide auf einer Seite standen, dann würde er mich kaum verraten. Meine Augen huschten zum Laptop und im Geiste plante ich schon meine Flucht.

»Auf der Suche nach etwas Bestimmtem?«, fragte ich lässig. »Du gibst nicht gerade den leisesten Dieb ab.«

Das war natürlich gelogen. Er bewegte sich verdammt leise, jeder Schritt geschmeidig wie der einer Katze.

»Das Einzige, was laut ist, ist dein Atmen«, erwiderte er ruhig. »Du willst ja regelrecht gefunden werden.«

Seine Stimme klang tief und dunkel. Ich hatte ihn nicht im Geringsten aus der Fassung gebracht und das beunruhigte mich. Tat er so etwas öfter? Einbrechen und Leute beklauen? Naja, wenn man es genau nahm, war ich eingebrochen, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr.

Der Unbekannte hörte nicht auf, Rorys Sachen zu durchwühlen, und er tat es mit weitaus weniger Zurückhaltung als ich. Achtlos warf er ein paar Dinge durcheinander. Der hatte wirklich die Ruhe weg. Na schön! Was ging es mich schon an, wenn er ähnliche Motive wie ich verfolgte? Laptop schnappen – abhauen – zu Stella gehen! Hastig wiederholte ich das Mantra, um neuen Mut zu fassen.

Gerade als ich den Laptop packen wollte, kam mir allerdings die Hand des fremden Jungen zuvor. Das fehlte gerade noch – er war auch hinter dem Laptop her!

»Lass die Finger davon!«, zischte ich energisch. Ehe er nach dem Laptop greifen konnte, bekam ich seinen Ärmel zu fassen und zerrte so heftig daran, dass seine Taschenlampe zu Boden fiel und das Glas zersplitterte.

»Willst du mich etwa davon abhalten?«, fragte er, die Stimme noch immer ruhig und fast ausdruckslos.

Einen Augenblick lang starrte ich ihm einfach nur ins Gesicht. Er war auf seine ganz eigene Weise attraktiv, aber da war dieser unbestimmte Blick in seinen Augen, der mich völlig verunsicherte und sich nicht deuten ließ. Er hatte keines dieser Gesichter, die man anziehend fand oder die einem gleich sympathisch waren. Er hatte einen bestimmten, kalten Ausdruck in den Augen, der mir einen Schauer den Rücken hinunter jagte.

Sein Haar war noch dunkler als meines, wie Finsternis in einer sternenlosen Nacht. Die Augen bildeten einen krassen Kontrast dazu. Bernsteinfarben, fast golden, mit einem hellen Schimmer darin, der mich an die Farbe von Mondlicht erinnerte. Seine Züge waren hart und kantig und verliehen ihm die Aura einer Person, die bedrohlich war. Während er so im Schein des Flurlichts stand und ich ihn ansah, kam mir unweigerlich die Frage in den Sinn, ob er sich bewusst war, wie gefährlich und abweisend er auf mich wirkte. Ich hatte nicht direkt Angst vor ihm, aber mein Herzschlag hatte sich wieder beschleunigt. Hastig ließ ich seinen Ärmel los. Ich sog scharf die Luft ein, als er einen Schritt näher trat.

»Dieser Laptop gehört mir«, sagte ich reichlich spät, aber immerhin klang ich dabei tollkühner, als ich mich fühlte. Als sein Blick erneut auf mir ruhte, erschien er mir nicht mehr ganz so kühl und ablehnend.

»Soweit ich weiß, gehört er Rory.«

»Dieses Zimmer gehört auch Rory und das hat mich nicht daran gehindert die Tür aufzubrechen«, erwiderte ich schnippisch. »Also Finger weg vom Laptop.«

Er besaß doch tatsächlich die Frechheit mich anzugrinsen. Plötzlich wirkte er gar nicht mehr bedrohlich. Hatte meine Fantasie mir da eben einen Streich gespielt? Nein, ganz sicher nicht. Vielleicht war er irre und wechselte seine Persönlichkeit je nach Bedarf.

»Was hältst du davon, wenn wir uns den Laptop schnappen, abhauen und weiter diskutieren, wenn wir vom Grundstück der Redfords runter sind?«, schlug er vor und klang dabei gleich viel zugänglicher als zuvor.

»Solange ich den Laptop trage«, sagte ich.

»Schön«, sagte er knapp und unfreundlicher.

»Ich nehme den Laptop«, meinte ich hartnäckig.

Wir lieferten uns ein langes Blickduell und griffen fast zeitgleich nach dem Laptop, als wir den Blick vom jeweils anderen lösten. Jeder von uns hielt ein Ende des Geräts fest und wollte nicht nachgeben. Bis zu dem Zeitpunkt, als die Schritte zu hören waren. Schritte und mehrere Stimmen. Ein Lachen folgte und ich hörte eine mir bekannte Person heraus: Cayla Redford, Rorys Cousine. Eigentlich kannte ich Cayla nur vom Sehen her. Sie ging auf meine Schule, aber Stella hatte mir genug erzählt, damit ich mir ein Bild von ihr machen konnte. Wenn sie uns hier erwischte, würde sie augenblicklich die Polizei rufen und uns beide einbuchten lassen.

»Ich glaube, wir sitzen in der Klemme.«

»Kommt da der Teufel höchstpersönlich den Flur entlang?«, fragte der Junge. »Dagegen hätte ich nämlich eine richtig gute Abwehrmethode. Allerdings wäre es ziemlich unvorteilhaft, wenn mich jemand der Redfords hier sieht. Unsere Familien sind nämlich – «, er unterbrach sich selbst, als wäre ihm bewusst geworden, dass er mir eine private Information zukommen ließ. »Der Teufel wäre mir wirklich lieber«, murmelte er.

In diesem Moment schaltete mein Gehirn auf Durchzug. Normalerweise war ich sehr impulsiv und spontan, aber als unerfahrene Diebin kam mir nur in den Sinn davonzulaufen, und das war wohl das Verdächtigste, was man tun konnte. Da konnte ich doch gleich Rorys Laptop über meinen Kopf halten und meine Absichten hinausschreien.

Die Stimmen und Schritte wurden lauter. Es war nicht abzuschätzen, ob die Neuankömmlinge schon im Flur waren und uns beim Verlassen des Zimmers sehen würden. Gesprächsfetzen drangen an unsere Ohren.

»Das Zimmer meines Cousins ist sicher frei!«

Ich räusperte mich. »Wie wäre es mit einer Akrobatiknummer aus dem Fenster? Ich wollte schon immer mal wissen, wie Spiderman sich fühlt, wenn er eine Wand hinunterläuft«, sagte ich mit mulmigem Gefühl im Bauch.

»Das klingt wirklich verlockend, aber ich passe«, erwiderte mein Gegenüber und ließ den Laptop los. »Irgendwelche anderen spontanen Einfälle?«

Aufgrund des Gewichts des Gerätes ließ ich die Arme sinken. Meine Miene musste meine Antwort besser verraten haben, als Worte es konnten. Erheitert lächelte er. Ein schief hängendes, falsch wirkendes Lächeln, das aussah wie eine Grimasse. Wir würden jeden Moment auflaufen. Denk, Fen, denk nach! Irgendetwas mussten wir tun!

Und dann kam mir eine absolut bescheuerte Idee.

»Die Party!«, sagte ich aufgeregt.

»Du Blitzmerkerin«, kommentierte er.

»Ich meine, wir sind auf einer Party. Du weißt schon … was machen Leute, wenn sie sich auf einer Party absetzen? Mal abgesehen davon, dass Laptops stehlen nicht unter die Top drei kommt«, sagte ich, um ihm auf die Sprünge zu helfen. »Spaß haben, ganz viel Spaß!«

»Du meinst … ?«, fragte er unsicher.

Langsam ließ ich den Laptop zu Boden gleiten. Mit flinken Fingern knöpfte ich die Bluse meiner Uniform auf und zog sie ganz aus. Darunter trug ich ein schwarzes Top und kurz überlegte ich es ebenfalls auszuziehen, aber meine Hemmschwelle war doch zu groß. Ich hatte schon öfter jemanden auf einer Party geküsst, aber ich war nie weiter gegangen als das und wollte es auch gar nicht. Hastig wuschelte ich mir durch meine langen schwarzen Haare und brachte sie wild durcheinander.

»Küss mich«, forderte ich ihn auf.

»Ich soll dich küssen?«, fragte er skeptisch.

»Glaub mir, ich kann mir auch Schöneres vorstellen, als irgendeinen x-beliebigen Jungen auf der Scheißparty von Rory Redford zu küssen, aber etwas Besseres fällt mir gerade nicht ein und da du noch weniger ein kreatives Genie zu sein scheinst als ich – küss mich.«

»Mir gefällt die Art, wie du denkst«, sagte er und nickte anerkennend. »Ich küsse zwar auch nicht gerne x-beliebige Mädchen, aber das Ganze könnte aufgehen.«

Und dann blieb uns keine Zeit mehr zu lange nachzudenken. Er packte mein Handgelenk und zog mich nach vorne. Ehe ich beschlossen hatte, wohin ich meine Hände legen sollte, war seine freie Hand schon meine Wirbelsäule hinaufgefahren und legte sich in meinen Nacken. Wahrscheinlich fühlte es sich genauso an, wenn man Schauspielerin war und jemand für einen Film küsste. Absolut merkwürdig und aufregend und beängstigend zugleich. Wie ein einziges Risiko, weil man vorher nicht wusste, ob die Chemie stimmte oder das Ganze einfach nur peinlich sein würde. Aber als er mich küsste, traten all diese Gedanken in den Hintergrund. In meinem Kopf wirbelte nur dieses eine Wort herum: Heiß. Gott, war dieser Kuss heiß. Ich hatte noch nie erlebt, dass ein Kuss dermaßen aus dem Ruder laufen konnte. Da wusste jemand, was er tat. Das nannte man dann wohl um den Verstand küssen, denn alles andere verschwamm um mich herum. Die Berührung seiner Finger, die komischerweise eisig waren, mischte sich mit der Hitze des Moments. Plötzlich bereute ich es, nicht mehr Jungs einfach aus Spaß an der Sache geküsst zu haben.

»Meine Güte, fahrt in ein Hotel, ihr Freaks!«, hörte ich jemanden zischen. »Ich gebe euch fünf Minuten, um von hier zu verschwinden! Wenn ich die Tür ein zweites Mal öffne, habt ihr euch in Luft aufgelöst!«

Die Tür wurde mit einem lauten Rums zugeschlagen. Eingehüllt in völlige Dunkelheit unterbrachen wir beide das wilde Herumgeknutsche. Mit schnell wummerndem Herzen und etwas wackligen Beinen nahm ich Abstand von meinem neu gewonnenen Kuss-Freund. Etwas atemlos seufzte ich.

»Es hat tatsächlich funktioniert!«

Ich bückte mich, um nach meiner Bluse und dem Laptop zu fassen, und war froh beides auf Anhieb in die Finger zu bekommen. »Lass uns jetzt so schnell wie möglich verschwinden.«

Er musste das Gleiche gedacht haben, denn innerhalb weniger Sekunden hatte er die Tür geöffnet und ich folgte ihm in den Flur hinaus. Er warf einen Blick über die Schulter und betrachtete mürrisch den Laptop.

»Du willst den immer noch mitgehen lassen?«

»Deshalb bin ich hergekommen«, erklärte ich widerwillig. »Aber … wenn du ihn wirklich unbedingt brauchst, dann kannst du ihn nach mir haben. Nach dem Wochenende, wenn die Es-geht-um-Leben-und-Tod-Situation überstanden ist. Das wäre doch kein schlechter Deal, oder?«

Kurz vor dem Absatz der Treppe blieb er stehen.

»Wie heißt du?«, fragte er mich unerwartet. »Was denn – ist es jetzt schon ein Verbrechen nach dem Namen des Mädchens zu fragen, mit dem man wild herumgeknutscht hat? Ich denke, so viel schulden wir einander.«

»Jetzt sag bloß, du fandest die Szene eben so unheimlich romantisch, dass du mich nie mehr vergisst.«

»Im Geiste plane ich schon die Hochzeit«, meinte er belustigt und hielt mir dann feierlich eine Hand hin. »Mein Name ist Sage, freut mich dich geküsst zu haben.«

Aufgrund des Laptops in meinen Armen hatte ich keine Hand mehr frei, um seine zu schütteln und bei diesem Spiel mitzumachen. Er wirkte auf mich noch immer wie jemand, der schwer einzuordnen war, aber ich wusste die nette Geste durchaus zu schätzen. Erwartungsvoll sah er mich an und wieder musste ich daran denken, wie seine hellen Augen sich deutlich von seinem düsteren Aussehen abhoben, als seien sie das einzig Warme an Sage.

»Ich heiße Fen«, antwortete ich betreten.

»Ist das eine Abkürzung für irgendetwas?«

»Für Fairley, aber Fen gefällt mir besser.«

Es gab einen kurzen Moment, in dem keiner von uns etwas sagte und wir einander nur ansahen. Und dann nahm die Geschichte eine neue Wende, als jemand die Treppe herauf kam, den ich nur allzu gut kannte: Cliff Sanderson, auch bekannt als der Junge, auf den ich seit letztem Jahr heimlich stand. Und jetzt sah er mich auf einer wilden Party mit Diebesgut im Arm, zerwühlten Haaren und ohne Bluse in Gesellschaft eines Jungen.

»Fairley?«, fragte Cliff verwundert. Dann wanderten seine Augen zu meinem Begleiter und wurden noch größer. »Sage?«, fügte er maßlos geschockt hinzu.

Ich blinzelte mehrmals. Sekunde Mal – hatte Cliff Sage gerade beim Namen genannt? O mein Gott!

»Ihr kennt euch?«, fragte ich panisch.

Neiiiiiiiiiiiiiiin!

»Ich dachte, du kommst erst morgen zurück und ich soll dich vom Flughafen abholen«, sagte Cliff fassungslos, meine Frage ignorierend, an Sage gewandt. Cliffs Augen wanderten zurück zu mir und man konnte ihm deutlich ansehen, dass er eins und eins zusammenzählte. »Ihr beide seid zusammen hier?«

Starr vor Panik bekam ich kein Wort heraus.

Sage schüttelte den Kopf. »Sieht so aus, als hättest du mal wieder irgendetwas falsch verstanden, kleiner Bruder.« Er stieß ein spöttisches Lachen aus.

Was zur Hölle hatte er da gerade gesagt? Brüder! Sage und Cliff waren Brüder? War ich irgendwie durch einen Spalt in der Realität in eine Episode von The Vampire Diaries gerutscht oder so? Die Realität traf mich wie eine saftige Ohrfeige ins Gesicht. Meine Gedanken ratterten so heftig durcheinander, dass ich glaubte jeden Moment einfach umzukippen. Ich hatte Cliffs Bruder geküsst! Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir, dass der Boden sich auftun und mich verdammt noch mal einfach verschlucken würde.

***

»Ich muss jetzt wirklich gehen«, sagte ich stocksteif und musste mir die Worte förmlich herauspressen. Cliff und Sage waren Brüder, verdammt! Was, wenn Sage jeden Moment irgendeine komische Bemerkung machte? Fieberhaft überlegte ich mir schon passende Antworten. Vielleicht so etwas wie Geküsst? Nein, ich bin auf Sages Mund drauf gefallen. Es war ein Unfall oder doch eher Ich musste doch an einer Person üben, die mir nichts bedeutet, damit ich dich mit meinen Kuss-Künsten beeindrucken kann. Genau, eigentlich stehe ich auf dich! – Nein, die Ausreden waren beide nicht der Hammer.

Cliff schien den Faden verloren zu haben. Noch immer irritiert sah er seinen Bruder an. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Plan anders aussah, Sage.«

Pläne? Pfff, wer brauchte die schon? Niemand!

Sage schien dasselbe gedacht zu haben, denn er zuckte nur locker mit den Achseln. »Pläne ändern sich.«

»Was machst du denn bitte hier?«, fragte Cliff vorwurfsvoll. »Du weißt genau, dass du nicht hier sein solltest. Kaum einen Tag zurück und schon auf Ärger aus. Du solltest es wirklich besser wissen, Sage.«

Sage verschränkte die Arme vor der Brust. »Vielleicht vergisst du, dass ich der Ältere von uns beiden bin.«

»Dann benimm dich auch so«, erwiderte Cliff kühl. Seine Augen huschten zurück zu mir. »Fairley, was machst du eigentlich hier? Und wieso kennst du – «

»Wir kennen uns nicht!«, rief ich ihm entschlossen dazwischen. »Ich hab mich verlaufen. Ich wollte aufs Klo. Du weißt schon … zu viel getrunken und alles. Da geht man für gewöhnlich aufs Klo. Nicht, dass ich viel Zeit auf dem Klo verbringe. Das hier ist eine Party. Ich bin gerne auf Partys. Wegen dem Spaß-Faktor!«

Zum Abschluss dieser bescheuerten Aussage verzog ich den Mund auch noch zu einem dämlichen Lächeln. Es war wie verhext, als hätte ich keine Kontrolle mehr über meinen Verstand oder Körper. Peinlicher ging es nicht.

»Du wolltest mit einem Laptop aufs Klo?« Cliff zog skeptisch eine Augenbraue hoch. »Ist alles okay?«

Verflixt! Wieso konnte ich nicht besser lügen? Und überhaupt, wo war meine Schlagfertigkeit hin, wenn ich sie brauchte? Nervös biss ich mir auf die Unterlippe. Ich war weitaus besser im Cliff-aus-der-Ferne-anstarren als im Small-Talk, das stand fest. Am besten sagte ich gar nichts mehr und ging. Cliff wartete noch immer auf eine Antwort, aber ich schob mich einfach an ihm vorbei und lief die Treppe hinunter. Weit kam ich allerdings nicht, denn Sage kam mir hinterher und packte mich an der Schulter, ehe ich im Erdgeschoss angekommen war. Ich versuchte weiterzugehen, aber es war, als kämpfe ich gegen Treibsand an, so fest war sein Griff. Ich kam keinen Zentimeter voran.

»Lass mich los, Sage«, zischte ich ihm zu.

»Du hast wohl vergessen, dass ich diesen Laptop auch will. Ich hab keine Ahnung, wer du bist oder wo du wohnst, wie soll ich ihn da abholen kommen?«

Unentschlossen drehte ich mich zu Sage um. Cliff hatte sich inzwischen neben seinen Bruder gestellt und ihn gezwungen mich loszulassen. Wieder sah er mit diesem analytischen Ausdruck in den Augen zwischen uns hin und her, als könnte er dadurch unsere Gedanken lesen.

»Ich weiß echt nicht, was hier gespielt wird, aber es ist auch egal. Wenn Fairley gehen will, lass sie gehen, Sage«, sagte Cliff bestimmt. »Du solltest nicht hier sein und wir fahren jetzt nach Hause und reden über deine spontane Heimkehr, alles klar?« Cliff stieg eine weitere Stufe hinab und sah mich besorgt an. »Ist denn wirklich alles okay?«, fragte er sanft.

Warum musste Cliff nur so nett sein? Ich bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Ich hatte in den letzten Wochen vielleicht eine flüchtige Begrüßung mit Cliff getauscht und jetzt stand er direkt vor mir und ich wollte nichts anderes tun, als abzuhauen. Er sah seinem Bruder überhaupt nicht ähnlich. Zwar war auch sein Haar dunkel und die Augen in diesem wunderbaren Nussbraun viel heller als der Rest seines Gesichts, aber seine Züge hatten etwas von dem klassischen hübschen Kerl, den sich jedes Mädchen an ihrer Seite wünschte.

Als Kinder waren wir in dieselbe Middle School gegangen und eine Zeit sogar richtig gute Freunde gewesen. Zusammen mit ein paar anderen Leuten, die auch heute noch auf dieselbe Highschool wie wir gingen. Ich hatte so viele tolle Erinnerungen an damals. Wie wir Tag für Tag zusammen Lunch gegessen, Witze gerissen und die Schularbeiten untereinander aufgeteilt hatten. Und dann hatte es plötzlich diesen Riss in unserer Gruppe gegeben. Die Middle School ging zu Ende und es war der Sommer, bevor ich als Freshman an der Highschool anfangen sollte – genau wie er. Nur dass Cliff nach den Ferien nicht mehr da war. Seine Familie war angeblich aufgrund des Jobs seines Dads ins Ausland gezogen. Niemand konnte sich erklären, wieso die Sandersons plötzlich verschwunden waren. Ohne Nachricht, ohne Vorwarnung. Während der Ferien war ich einige Wochen unglaublich wütend auf ihn, aber mit der Zeit ging das Leben weiter. Das Freshman Year an der Highschool brachte neue Herausforderungen mit sich und ich fand neue Freunde, darunter auch Stella. Ein Jahr später war Cliff wieder da, aber er hatte sich verändert – wie wir alle. Die Bindung zwischen uns war gekappt und ich war glücklich mit meinem neuen Leben und neuen Freunden. Die Freundschaft zu Cliff war eine ferne Erinnerung, als habe ich ihn nie wirklich gekannt. Bis zu dem Tag, an dem ich im Sommer letzten Jahres siebzehn wurde und Cliff auf meiner Party auftauchte. Von dem Moment an kehrten irgendwelche alten Gefühle zurück und ich ertappte mich dabei, wie ich ihn in der Schule beobachtete und mich nach den Zeiten unserer Freundschaft zurücksehnte.

Aber wir lebten noch immer in verschiedenen Welten.

Und jetzt stand er vor mir und ich hätte alles Erdenkliche zu ihm sagen können, wo er so vertraut mit mir sprach, als habe auch er sich Gedanken über uns gemacht – und stattdessen nagte die Tatsache an mir, dass ich wirklich nichts über ihn wusste. Ein Bruder war etwas, das man nicht verstecken konnte, oder? Vielleicht stimmte es, vielleicht hatte ich wirklich niemals wirklich gewusst, wer Cliff Sanderson in Wahrheit war.

Trotzdem schlich sich in diesem Augenblick wieder dieses warme, fluffige Gefühl in mein Herz, wie eine innere Stimme, die mir sagte, dass ich ihn mochte. Ich war wirklich nicht besser als all die anderen, die ihn anhimmelten oder für ihn schwärmten. Ein weiteres Highschool-Mädchen, das Cliffs Ehrgeiz und Elan bewunderte und ihm für seine Freundlichkeit Zuneigung schenkte.

»Es ist alles bestens«, sagte ich schwach. »Danke, aber ich muss jetzt wirklich, wirklich gehen.«

»Komm sicher nach Hause, Fairley.«

Ich nickte mechanisch.

»Das ist alles?«, fragte Sage missmutig. »Du lässt sie einfach gehen und ich bekomme eine Standpauke?«

»Sie hat schließlich nichts verbrochen.«

Sage warf mir einen Blick zu, der eindeutig war, aber er widersprach seinem Bruder nicht, was meine kriminellen Absichten anging. Vielleicht, weil er dann hätte zugeben müssen, dass er dabei gewesen war ebenfalls etwas zu klauen. Gott, war das alles verwirrend. Und war Sage nicht herausgerutscht, dass die Redfords und Sandersons irgendein Problem miteinander hatten? Müsste Cliff dann nicht auch auf der Most-Wanted-Liste stehen?

Wahrscheinlich hatte Sage mich angelogen, damit er mich eine Runde abschlabbern konnte. So ein Widerling!

Ich holte mit dem Laptop aus und schlug ihn Sage gegen das Schienbein. Er stand ein paar Stufen über mir und etwas anderes hatte sich gerade nicht angeboten.

»Das war für … einfach alles!«

Dann stolzierte ich so würdevoll, wie das mit der Bluse unterm Arm, Vogelnest-Frisur und meinem Diebesgut eben ging, davon. Ich gönnte mir erst einen Moment Pause, als ich durch das Labyrinth gelangt war und auf dem Rasen stand, fernab von betrunkenen und grölenden Leuten. Ich zog mir meine Bluse über und kämmte mir mit den Fingern das Haar, dann überlegte ich, wie ich am schnellsten vom Grundstück kam. Am Security-Mann würde ich mit dem Laptop jedenfalls nicht vorbeikommen. Das Grundstück der Redfords wurde, wie viele in der Gegend, von einer Mauer umgeben. An einigen Stellen wuchs dichtes Rankengewächs. Das beflügelte meine Fantasie so weit, dass ich mich entschloss daran hochzuklettern.

Realistisch betrachtet würde ein Mädchen, das versuchte sich am Efeu hochzuziehen, aber doch mehr Aufmerksamkeit auf sich lenken, als jemand, der durchs Haupttor huschte. Rasch schob ich mir den Laptop unter das Top und die Bluse und hoffte, dass sich das Gerät nicht allzu sehr darunter abzeichnete. Ich wartete, bis sich eine kleine Gruppe von Gästen Richtung Haupttor in Bewegung setzte und schloss mich ihnen an.

»Wer bist denn du?«, fragte mich ein Junge mit blonden Locken, der als Pirat verkleidet war. Eigentlich lallte er eher als zu sprechen und seine Fahne allein reichte aus, um mich fast auszuknocken. Ich machte gute Miene zum bösen Spiel und lächelte euphorisch.

»Deine Schwester, du Dummerchen«, sagte ich strahlend. »Betsy. Wir sind zusammen hergekommen.«

»Ja, genau!«, sagte er und legte sich bei dem Versuch einen Arm um mich zu legen fast auf die Nase. Lachend verdrehte er die Augen. »Ups! Los, Beeettt-syyyyyyy.«

Seine Freunde schienen ebenfalls zu dicht zu sein, um zu bemerken, dass sie eine neue Freundin namens Betsy an Bord hatten. Heute Abend würden eine Menge Taxis im Einsatz sein, aber vermutlich war es das Taxi-Unternehmen schon gewohnt, in Party-Nächten eine Stange Geld an betrunkenen, reichen Kids zu verdienen. Etwas nervös wurde ich schon, als wir uns dem Tor näherten. Ich malte mir kurz aus, wie es wohl wäre, wenn plötzlich ein Scheinwerfer auf mich fiel und ein Alarm losging – Indizien, die mich als Diebin vor allen bloßstellen würden. So etwas passierte wohl nur in Filmen, denn ich wurde nicht aufgehalten und atmete erleichtert auf.

»Betsy, schwing deinen Hintern her!«, brüllte der Betrunkene, der anscheinend darauf wartete, dass seine Fake-Schwester endlich auf die andere Straßenseite kam. Die Situation wäre schon fast komisch gewesen, wäre nicht in exakt diesem Moment der Blick von Rory Redford höchstpersönlich auf mich gefallen. Er lehnte an der Mauer neben dem Tor und zog an einer Zigarette. Wieso musste der Kerl denn auch bei seiner eigenen Party draußen herum stehen! Gab es etwas Ungerechteres? Er starrte mich an und ich verharrte einige Sekunden. Dann huschte Erkenntnis über seine Züge. Rory hob den Finger und deutete auf mich. »Fen«, sagte er zornig. »Du stehst nicht auf der Liste! Was zur Hölle machst du hier?«

Rorys Blick scannte die Umgebung. Vielleicht erwartete er Stella, wie sie ihm jeden Moment um den Hals fiel und ihre unsterbliche Liebe für ihn verkündete.

Ich nutzte die Chance, um so schnell zu rennen, wie ich nur konnte. Dabei drückte das Gewicht des Geräts ziemlich auf meine Geschwindigkeit. Ich hechtete um eine Straßenecke. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.

Als ich so außer Atem war, dass ich das Brennen in meinen Lungen nicht mehr ertragen konnte, stoppte ich und lehnte mich atemlos gegen einen Laternenpfahl. Mein Top klebte mir verschwitzt am Rücken und in meinen Schläfen pochte es unangenehm vor Anstrengung. Ich drückte die Hände gegen meinen Bauch, um den Laptop daran zu hindern nach unten zu rutschen. Ich hatte es geschafft! Stella war gerettet!

Es dauerte eine Weile, bis ich wieder durchatmen konnte. Meine Kondition war echt im Arsch. Plötzlich fiel mir auf, dass mein Atem kleine Wolken bildete, dabei war mir überhaupt nicht kalt. Klar, es war Oktober, aber so ein rapider Temperaturabfall war seltsam.

Es war unheimlich still. Kein Windrauschen, keine Fahrzeuge in der Nähe oder leise Geräusche, die durch Fenster drangen, weil die Bewohner noch wach waren. Eine Gänsehaut lief mir über die Arme und unweigerlich begann ich wegen der unheimlichen Atmosphäre doch zu frösteln. Hastig zog ich mein Handy aus meiner Rocktasche und wählte Stellas Nummer. Es setzte nicht einmal der Wahlrufton ein, weil ich keinen einzigen Balken Empfang hatte. Ich lief unschlüssig weiter, bis ich zur nächsten Kreuzung kam, und störte mich nicht daran, dass die Ampel rot war. Ein statisches Knistern erfüllte die Luft und abrupt schaltete sich mein Handy aus. Verwundert starrte ich das tote Display an. Ich hämmerte auf den On-Knopf. Da sich nichts tat, steckte ich es wieder weg. Dann würde ich wohl oder übel zu Fuß gehen müssen. Nach ein paar Minuten hielt ich wieder an.

Ich war mir verdammt sicher, gerade eben an der Westside Avenue vorbeigegangen zu sein. Ein paar Schritte weiter stand ich wieder an derselben Ampel. Sie war immer noch rot. Ich blickte zu beiden Seiten die Straße hinunter. Leer. Völlig ausgestorben.

»Du solltest nicht hier sein.« Erschrocken drehte ich mich um. »Hier?«, fragte ich. Trotz meines Misstrauens war ich froh einem leibhaftigen Menschen zu begegnen. Allmählich wurde das Ganze ziemlich verrückt. Ein Mädchen in meinem Alter sah mich verbissen an.

»In meinem Bannkreis«, sagte sie mit hohler Stimme, ohne jegliches Gefühl. Ihr helles Haar waberte um ihren Kopf herum, obwohl es vollkommen windstill war. Mein Blick glitt an ihrem dunklen Sommerkleid hinunter. Ich keuchte benommen auf. Blut. Ihr Kleid war voller Blut. Es war so viel, dass ich keine Wunde erkennen konnte, sondern nur noch rot sah. Es tropfte vom Saum ihres Kleides auf den Asphalt und bildete kleine Lachen.

»Wir müssen dich sofort in ein Krankenhaus bringen!«, sagte ich panisch. »Wer hat dir das angetan? Ist der Angreifer noch in der Nähe? Oh mein Gott, ich … «

Sie lächelte mich seelenruhig an.

»Du solltest nicht hier sein.«

Ich wäre auch lieber zu Hause in meinem Bett, das konnte sie mir glauben. Der Anblick von all dem Blut pumpte das Adrenalin nur so durch meinen Körper. Kurz war ich wie erstarrt und konnte mich gar nicht mehr bewegen. Irgendetwas stimmte hier ganz gewaltig nicht. Mein Instinkt riet mir zur sofortigen Flucht, aber ich konnte sie doch nicht einfach verbluten lassen. Wie konnte sie überhaupt noch stehen?

Sie machte einen Schritt auf mich zu und ich automatisch einen nach hinten. Meine Angst war in diesem Moment größer als das Bedürfnis zu helfen. Dann bemerkte ich, dass ihre Hände nicht leer waren. Mein Herz musste aufgehört haben zu schlagen, als sie die schwarze Pistole auf mich richtete. Ich konnte nicht einmal mehr blinzeln, als sie die Waffe abfeuerte und der Treffer mich nach hinten warf. Ich knallte mit dem Kopf auf den Boden, spürte starke Schmerzen in Schulter und Magen. Mir wurde speiübel. Ich bekam keine Luft mehr, weil meine Panik mir die Kehle zuschnürte. Kurz war ich zu benommen, um irgendetwas zu denken, zu tun, mich zu regen. Ich wusste nicht recht, wie ich es schaffte mich wieder aufzurichten. Etwas Warmes lief mir den Nacken hinunter, aber ich fuhr nur mit den Fingern über die Stelle, an der in meiner Uniform ein klaffendes Loch die Einschussstelle markierte.

Rorys Laptop war total zerschmettert worden. Eine lange Kugel steckte im Gehäuse. Das Ding hatte mir das Leben gerettet. Ich sprang blitzschnell auf, aber ein erneuter Anflug von Schmerz traf mich mit voller Wucht. Ich stürzte auf die Knie und war nah dran mich zu übergeben. Mein ganzer Körper zitterte. Klick. Mir entfuhr ein Wimmern, als das Geräusch direkt neben meinem Ohr ertönte. Ich zwang mich nach vorne zu kriechen, weil ich meinen Beinen nicht traute. In was für einen Albtraum war ich hier hineingeraten?

»Du solltest nicht hier sein.«

Ich musste davonlaufen. Sie hatte zwar eine Waffe, aber ich konnte es schaffen. Ich musste nur bis zur nächsten Haustür kommen. Ich stemmte mich hoch. Eine Kugel zischte knapp neben meinem Kopf vorbei und schlug wenige Meter vor mir in eine Mauer ein.

»FEUER!«, brüllte ich, so laut ich konnte. Ich hatte einmal gehört, dass dieses Wort mehr brachte als ein Schrei um Hilfe, dass die Leute dann viel eher reagierten. Nichts tat sich. Still. Es war so fürchterlich still. Ich lief zu einem Gartentor, aber niemand reagierte auf mein stürmisches Klingeln oder Klopfen. Bannkreis. Das hatte sie gesagt. War ich in irgendeiner Parallelwelt gefangen? Wurde in irgendeinen Kreis gebannt? Verflucht! Die Umrisse eines Schattens tauchten neben mir auf. Ich schnellte herum. Das Mädchen stand mir wieder gegenüber. Wie konnte sie nur so verdammt schnell sein? Noch immer lief ihr Blut die Beine hinunter. Sie zog eine Spur hinter sich her, egal wohin sie ging. Und wieso war es nur so verdammt still?

»STOPP!«, schrie ich heftig und angsterfüllt.

Sie hielt tatsächlich inne. Beäugte mich ausgiebig.

»Du solltest nicht hier sein nicht hier sein solltest nicht hier sein du solltest nicht –«

Was sich dann ereignete, war noch bizarrer als alles zuvor Geschehene. Ich sog scharf die Luft ein und wollte mein Gesicht mit den Händen abschirmen, um mich zu schützen, aber das Mädchen kam nicht mehr dazu erneut zu schießen. Ein großer weißer Wolf sprang aus dem Nichts und stürzte sich auf sie. Riss sie zu Boden und verbiss sich in ihrem Kopf. Die Waffe schleifte über den Boden, aber als ich sie packen wollte, glitt sie durch meine Finger hindurch, als würde sie nicht existieren. Ich war anscheinend vollkommen irre geworden. Halluzinierte vor lauter Angst und Panik, oder?

Mechanisch drehte ich den Kopf herum und starrte fassungslos den Wolf an. Ein Wolf in unserer Stadt! Das Tier knurrte. Sein Fell stellte sich auf. Es riss den Kiefer auseinander und bleckte scharfe Reißzähne. Das Mädchen unter ihm rührte sich kaum noch. Als der Wolf in einer hastigen Geste das Maul senkte, entwich meiner Kehle ein Schrei und automatisch wandte ich den Blick ab. Ich schloss die Augen und kauerte mich zusammen.

Weglaufen, Fen! Du musst weglaufen!

Aber wie sollte ich weglaufen, wenn mir kein einziger Muskel in meinem Körper gehorchte? Ich war verloren. Ich schaffte es nicht einmal mehr das Bild meiner Eltern oder Stella heraufzubeschwören, weil ich ein totales Gedankenblackout hatte. Ich wartete auf einen Angriff, Schmerzen, irgendetwas, aber nichts geschah. Mich bewegen und nachschauen, was der Wolf tat, konnte ich trotzdem nicht. Ich fühlte mich wie in einer Blase aus Angst und Stille gefangen. Mein Herz dröhnte mir in den Ohren und Tränen stiegen mir in die Augen. Ich zuckte heftig zusammen, als jemand meinen Arm berührte.

»Es ist alles in Ordnung. Du musst keine Angst mehr haben, Fairley. Du bist jetzt in Sicherheit.«

Ich kannte diese Stimme. Hektisch riss ich die Augen auf und mein Atem ging panisch schneller. Cliff!

»Mach dir nicht die Mühe«, sagte Sage, der direkt hinter ihm stand und mich musterte. »So blass wie sie ist, fällt sie sicher jeden Moment in Ohnmacht.«

Jetzt kamen mir wirklich die Tränen. Die Sanderson-Brüder waren tatsächlich hier. Das war keine Einbildung. Cliff hockte sich neben mich und berührte erneut sanft meinen Arm. »Fairley, kannst du mich hören?« Seine Stimme klang besorgt, freundlich, wie Cliff immer klang, wenn er mit anderen sprach. Seine Finger drückten sich fester in meinen Arm. »Es wird alles gut.«

»Sie steht unter Schock«, mischte Sage sich grob ein. »Da hilft auch dein sensibles Geflüster nichts. Du kannst dir dein Alles-wird-gut-Gesülze also sparen.«

Sage stand neben dem übergroßen Wolf und tätschelte ihm den Kopf. Er versperrte mir mit seinem Körper größtenteils die Sicht, aber ich sah eine kalkweiße blutüberströmte Hand, die krampfhaft zuckte, und wusste, dass das Mädchen noch lebte. Plötzlich hielt Sage ein Schwert in der rechten Hand – ein verdammtes Schwert – und hob es an, um – Oh mein Gott!

»Sieh nicht hin«, flüsterte Cliff eindringlich. Er legte mir eine Hand in den Nacken und zwang mich das Gesicht an seiner Brust zu vergraben. Ich hörte ein ohrenbetäubendes Kreischen. Ein qualvolles Stöhnen. Hatte das Gefühl überall Blut riechen zu können. Meine Lider begannen zu flattern. Die Kälte der Umgebung schien in jede meiner Poren gesickert zu sein. Alles fühlte sich taub an. Wie ein Echo hallten Bilder und Geräusche des Erlebten in meinem Kopf wider und wider.

»Es tut mir leid, Fairley«, sagte Cliff ernst. »Das alles ist – « Leider erfuhr ich nicht mehr, was ihm leid tat, aber Sage behielt Recht: Schlagartig driftete ich in eine Ohnmacht ab.

Dunkelheit riss all meine Sinne in die Tiefe.

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Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH
© der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2015
Text © Stefanie Hasse, 2015
Lektorat: Elisabeth Mahler
Umschlagbild: shutterstock.com / © Kjetil Kolbjornsrud / © Nikiparonak / © d13
Umschlaggestaltung: formlabor
Gestaltung E-Book-Template: Gunta Lauck
Schrift: Alegreya, gestaltet von Juan Pablo del Peral
Satz und E-Book-Umsetzung: readbox publishing, Dortmund
ISBN 978-3-646-60181-7
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Autor

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Stefanie Hasse lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen im Süden Deutschlands. Als Buchbloggerin taucht sie stets in fremde Welten ein und lässt ihrer eigenen Kreativität in ihren Romanen freien Lauf. Ihre zwei fantasybegeisterten Kinder machen ihr immer wieder aufs Neue deutlich, wie viel Magie es doch im Alltag gibt und dass mit einem kleinen Zauber so vieles einfacher geht.

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