Antje Abram & Daniela Hirzel
Fühlen erwünscht
Praxishandbuch für alle sozialen Berufe – mit 88 kreativen Übungen für verschiedene Zielgruppen und Symptomatiken

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2007

Covergestaltung/Reihenentwurf: Christian Tschepp

Coverfoto: © maigi FOTOLIA.com

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2013

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe 978-3-87387-653-8
ISBN dieses eBooks: 978-3-87387-979-9

Vorwort

„Gefühle sind Mittel des Erkennens und keine Denkhindernisse.“
Fritz Perls (Mitbegründer der Gestalttherapie)

Dieses Buch entstand ursprünglich aus unserem eigenen Bedarf heraus, ein möglichst breit gefächertes Nachschlag-Ideenbuch zu schaffen, möglichst übersichtlich, und dennoch vernetzt mit nötigen Hinweisen auf verschiedene Symptomatiken und Zielgruppen. Wie sich herausstellte, war es ein sehr komplexes Ansinnen, das in seiner Umsetzung dann auch einige Korrekturen erfahren musste.

Aus einer sehr großen Menge von Übungen, die wir in unserer Arbeit als Gestalttherapeutinnen anwenden, haben wir nur diejenigen ausgewählt, die sich mehrfach in der praktischen Arbeit gut bewährt haben.

Dieses Buch verbindet vor allem zwei wesentliche Elemente:

Erstens werden in Teil II viele praktische Übungen beschrieben, die für alle Menschen geeignet sind, die im sozialen Bereich arbeiten, oder für Menschen, die Übungen für sich selbst ausprobieren möchten. Zu Beginn jeder beschriebenen Übung wird aufgelistet, für welches Klientel die Übung genau geeignet ist, welches Material oder welche Raumbeschaffenheit benötigt wird und welchen emotionalen Tiefungsgrad die Übung voraussichtlich erreicht.

Beim Klientel wird eine Mindestalter-Empfehlung angegeben, wobei Übungen ab drei Jahren benannt sind. Weiterhin wird unterschieden zwischen Einzelpersonen, Paaren und Gruppen.

Die Benennung des Tiefungsgrades in „wenig“, „mittel“, „stark“ und „sehr stark“ erleichtert es der leitenden Person, für sich zu entscheiden, ob und zu welchem Zeitpunkt (zum Einstieg, zum Abschluss oder zum Intensivieren der Arbeit) sie die Übung durchführen möchte oder nicht.

Die Übungen sind, nach kreativen Medien geordnet, in folgende Kapitel unterteilt:

  1. Der Körper
  2. Malen, zeichnen und gestalten
  3. Ton, Salzteig, Knete – etwas formen
  4. Stühle und Personen – etwas stellen
  5. Statuenarbeit und Rollenspiel – etwas darstellen
  6. Sprache
  7. Geschichten
  8. Fantasiereisen
  9. Strukturhilfen
  10. Rituale

Bei einigen Übungen ist der genaue Wortlaut der Leiterin wiedergegeben, sodass die Anleitung auch vorgelesen werden kann.

Zweitens werden einige Symptomatiken oder Phänomene benannt, die in der sozialen Arbeit mit Menschen immer wieder auftauchen:

  1. Einstieg, Beziehungsbildung, Vertrauen herstellen
  2. Kommunikation, Vertrauen schaffen, Öffnung ermöglichen
  3. Stress, Druck, Anspannung
  4. Rückzug, Gleichgültigkeit, Widerstand
  5. Sucht und Grenzenlosigkeit
  6. Energielosigkeit, Sinnlosigkeit, Depression
  7. Angst
  8. Aggression, Wut, Zerstörung
  9. Trauer
  10. Selbstwert und Identität
  11. Scham und Tabuthemen

Diese jeweils kurz erläuterten Phänomene und Themen werden in Tabellenform mit geeigneten Übungen in Verbindung gesetzt, sodass eine Übung ausgewählt werden kann, die dem Klientel, dem Material- und Raumangebot und den Möglichkeiten der Übungsleiterin entspricht.

Selbstverständlich ist auch die umgekehrte Herangehensweise möglich: Die Übungsleiterin schaut, welches kreative Medium sie einsetzen möchte, z.B. Malen oder eine Geschichte, und sucht sich dementsprechend eine Übung heraus.

Für bestimmte Berufsgruppen sind natürlich manche Themen sehr viel mehr im Vordergrund als für andere: Ein Lehrer wird mit seiner Klasse vielleicht eher Übungen zum Umgang mit Aggressionen machen, ein Sozialarbeiter in einer Suchtklinik wird schwerpunktmäßig die Erfahrung von Grenzen für sein Klientel ermöglichen wollen, eine Ärztin oder Therapeutin in einer psychosomatischen Klinik dagegen sich mehr Ideen für die Aktivierung von depressiven Menschen wünschen.

Ganz zu Beginn dieses Buches werden einige Aspekte der Gestalttherapie angerissen, die den Hintergrund für unsere Arbeit darstellt. Wichtig ist uns vor allem, dass verschiedene Verhaltensweisen, die oft sofort in eine unumstößliche Diagnose gepackt werden, auch von anderen Seiten angeschaut und bearbeitet werden können. Ist beispielsweise einmal ein Kind als „hyperaktiv“ oder „depressiv“ oder „verhaltensgestört“ eingestuft, werden häufig entsprechende Maßnahmen ergriffen, ohne die Diagnose weiterhin oder im Laufe der Zeit zu hinterfragen. Oder die Diagnose wird vom so Diagnostizierten zum Anlass oder als Alibi genommen, weiterhin ein bestimmtes Verhalten zu zeigen.

Deshalb ist u. a. ein Ziel der Gestalttherapie, möglichst wertfrei und „phänomenologisch“ mit einem Menschen in Kontakt zu treten und seine Entwicklung zu fördern.

Wir möchten weiterhin darauf hinweisen, dass wir die aufgelisteten Übungen, auch „Arbeit mit kreativen Medien“ genannt, als ein Hilfsmittel im zwischenmenschlichen Kontakt sehen. Wesentlich ist aber die Beziehung, die sich zwischen der anleitenden Person und dem Klientel entwickelt.

Noch ein Wort zum Sprachgebrauch: Wir werden im gesamten nachfolgenden Text die Begriffe „Therapeutin“ oder „Übungsleiterin“ und „Klientin“ oder „Teilnehmerin“ verwenden.

Wir benutzen die weibliche Form der Begriffe, da wir selbst Frauen sind und oft persönliche Erfahrungen mit einfügen werden. Außerdem besteht unser Klientel zu wesentlich mehr Anteilen aus Frauen. In unseren Gruppen – und auch in Gruppen von Kolleginnen und Kollegen – haben wir durchschnittlich einen Männeranteil von nur ca. 20 % beobachtet, was wir sehr schade finden.

Wir bitten an dieser Stelle alle männlichen Leser, sich trotz der weiblichen Sprachform voll und ganz angesprochen zu fühlen.

Ebenso meint der Begriff der „Therapeutin“ oder auch „Übungsleiterin“ natürlich auch alle anderen Berufsgruppen, die unsere Übungen und Anregungen nutzen möchten.

 

An dieser Stelle möchten wir uns beim Junfermann Verlag für die freundliche und unterstützende Begleitung bei der Entstehung dieses Buches bedanken.

Außerdem gilt unser Dank unseren Eltern, die uns auf unserem nicht immer sehr geradlinigen Weg unterstützt haben. Und wir danken Marc Friedrich, dem Ehemann von Antje Abram, der am Grundkonzept mitwirkte und den Glauben an etwas nie verloren hat, wovon er als Ingenieur nicht das Geringste versteht.

Abschnitt I: Die Basis unserer Arbeit

Der Begriff „Gestalt“ stammt aus der Gestaltpsychologie, die sich mit der Wahrnehmung von Mustern, „Gestalten“ dessen, was mehr ist als die Summe seiner Teile, beschäftigt. Der Begriff „Gestalt“ umfasst sowohl die äußere Form von etwas, aber auch das Kreieren einer Form, das Gestalten. Er ist nicht festgelegt auf eine bestimmte Struktur: Wenn etwas „Gestalt annimmt“, können das sowohl eine materielle Form sein als auch ein Gedanke, eine Idee.

Aus der Gestaltpsychologie stammt auch die Erkenntnis, dass wir Wahrgenommenes auf eine für uns sinnvolle Weise strukturieren, also unsere Wahrnehmung selbst „gestalten“, um unsere komplexe Umwelt schneller einordnen und verstehen zu können. Ein Beispiel: Wenn wir einmal einen Baum als Muster definiert haben (in etwa so: „brauner Strich unten, grüne Kugel oben“), können wir auch andere Bäume, die diesem Muster unter Umständen nur noch entfernt entsprechen, als solche einordnen. In unserer Arbeit als Gestalttherapeutinnen machen wir uns gemeinsam mit unseren Klientinnen auf die Suche nach solchen Mustern, die zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben entwickelt wurden und damals auch das Überleben sicherten, aber möglicherweise heute ein Hindernis sind, weil sie nicht den momentanen Bedürfnissen und Ansprüchen entsprechen.

Dabei geht es darum, etwas ins Bewusstsein zu holen, unter dessen Wirkung wir bisher gelitten, dessen Ursprung wir aber nicht erkannt haben. Wenn dieser Ursprung, also das zugrunde liegende Muster, einmal gefunden ist, dann können wir anfangen, nach alternativen Umgehensweisen zu suchen. Das Ziel dabei ist, irgendwann dahin zu kommen, die Wahl zu haben zwischen verschiedenen möglichen Verhaltensweisen und damit frei entscheiden zu können, welche jetzt und hier angemessen erscheint.

Wie ich als Gestalttherapeutin mit meiner Klientin Wege suche, die zu solchen alternativen Umgehensweisen führen können, hängt einerseits sehr stark von meinem eigenen Hintergrund ab, da ich in meiner Arbeit alles heranziehe, was mir einen Zugang zu meiner Klientin ermöglicht. Hierzu zählen z.B. auch solche Ansätze und Übungen, wie sie in diesem Buch beschrieben sind. Zum anderen wird meine Arbeit deutlich von der inneren Haltung, dem Menschenbild oder der Philosophie der Gestalttherapie geprägt, in der es von grundlegender Bedeutung ist, dass ich mich als Therapeutin meinem Gegenüber als wirkliche Person zur Verfügung stelle und so die Begegnung zwischen uns der zentrale Inhalt wird. Bei dieser Herangehensweise kann beispielhaft erfahren werden, was uns in unseren Beziehungen im Alltag möglicherweise beeinträchtigt.

Entscheidend ist dabei die Wahrnehmung dessen, was ist. Dazu gehört das viel zitierte Konzept vom „Hier und Jetzt“, also die Vorstellung, dass die einzige Zeit, zu der wir wirklich Zugang haben, die Gegenwart ist. Zukunft und Vergangenheit sind Blickrichtungen, die wir in der Gegenwart auf Ideen, Fantasien und Erinnerungen werfen und die individuell ganz verschieden sind. Um meiner Klientin nun einen Weg zu weisen, der ihr ermöglicht zu lernen, dass sie Einfluss nehmen kann auf ihr Leben, muss ich ihr diese Sicht der Zeit vermitteln und das tue ich am Besten dadurch, dass ich mit ihr an den Dingen ansetze, die jetzt gerade sind . Es ist natürlich möglich, dass wir dabei an Bereiche geraten, die vergangen sind, aber auch da ist eben der entscheidende Punkt, dass es ja nicht die Vergangenheit ist, die wir dann ändern können, sondern die persönliche Sicht der Vergangenheit.

Um die Fülle dessen, was jetzt gerade ist, sicht- und fühlbar zu machen, muss ich als Gestalttherapeutin nicht nur die Wahrnehmungsfähigkeit meines Gegenübers für sich und seine Umgebung fördern, sondern auch meine eigene Wahrnehmung heranziehen. Und um mich darauf als ein zuverlässiges Instrument verlassen zu können, muss ich selbst immer wieder meine Wahrnehmung schulen, schärfen und überprüfen. Nur dann kann ich einigermaßen sicher sein, dass ich unterscheiden kann, was zu mir selbst und was zu meiner Klientin gehört. Und natürlich muss ich dafür meine „dunklen Ecken“ erkennen, um an Stellen, wo wir uns meinen eigenen Themen nähern, besonders achtsam zu sein, wie ich interveniere, ob ich dabei gut genug „Ihrs und Meins“ auseinanderhalte.

Deshalb ist es auch so wichtig, dass ich mir als Therapeutin meiner Verantwortung bewusst bin, mich permanent weiter in Supervision zu begeben. Dieser Prozess der Selbstbeobachtung hört in meiner Arbeit niemals auf, und ich werde immer wieder an Punkte geraten, wo es für das Gelingen meiner Arbeit mit meinen Klienten wichtig ist, dass ich jemanden habe, der darauf einen kritischen Blick als Außenstehender wirft, also eine Supervisorin oder Lehrtherapeutin.

Zum Beispiel die Arbeit mit dem „Widerstand“: Es gibt in der Gestalttherapie eine Tradition, dieses Phänomen grundsätzlich als „Beistand“, also als Muster zur Selbstunterstützung der Klientin, zu betrachten, auf jeden Fall etwas, mit dem ich arbeite und nicht dagegen. Es kann beispielsweise sein, dass ich einen Vorschlag mache, etwas auszuprobieren, oder eine andere Sicht der Dinge einbringe und mein Klient sagt ganz klar: „Das will ich nicht.“ Wenn der Widerstand weniger deutlich ist, merke ich zum Beispiel ab einer bestimmten Stelle, dass ich müde werde oder meine Aufmerksamkeit weggeht. Und wiederum nach der Überprüfung meiner eigenen Anteile (vielleicht hab ich wirklich zu wenig geschlafen oder es beschäftigt mich noch etwas, was nicht hierher gehört) kann ich erfragen, ob meine Klientin vielleicht ähnliche Symptome hat, und wir können dann gemeinsam erforschen, an welcher Stelle sie aufgetreten sind, und anschließend herausfinden, was an dieser Stelle zu vermeiden versucht wird.

Für mich als Gestalttherapeutin sind diese Erscheinungen von großer Bedeutung, denn sie zeigen mir, dass hier eine Grenze ist, die gewahrt sein will. Ganz nach Lore Perls Auffassung von „Widerstand als Beistand“ hat mein Klient hier Zugang zu einer Form des Selbstschutzes, die ernst genommen, beachtet und gewürdigt werden muss. Zum einen bedeutet die Achtung dessen eine Verstärkung der Selbstunterstützung, die mein Klient aufweist, und kann daher nur von positiver Wirkung sein. Zum anderen verschafft die Beachtung dieses Hinweises auf eine Grenze auch immer Erleichterung und Vertrauen. Ich habe in meiner Arbeit schon oft erlebt, dass jemand Tränen der Erleichterung und Rührung darüber vergossen hat, dass etwas einfach so sein durfte, wie es ist.

Die Arbeit am Phänomen

In der Gestalttherapie wird also Wert darauf legt, mit dem zu arbeiten, was die Klientin mitbringt, und nicht einem Konzept zu folgen, was abzuarbeiten wäre. Das hieße, die Vielfalt und Einzigartigkeit der Menschen zu ignorieren. Für viele ist allerdings diese Vorstellung der Absichtslosigkeit seitens der Therapeutin zuerst sehr verwirrend. Oft wird in den ersten Sitzungen einer Therapie danach gefragt, was denn die Therapeutin für einen Eindruck habe, woran man noch arbeiten müsse, als eine Art „Checkliste“. Diese Vorstellung widerspricht aber dem prozesshaften Ansatz der Gestalttherapie, bei dem eines der obersten Ziele ist, den Klientinnen wieder zu vermitteln, dass sie, und nur sie, die Spezialisten für ihre Verfassung sein können. Die Therapeutin hilft nur insoweit, als sie auf mögliche Wege hinweist, dieses Spezialistentum wieder umzusetzen. In dieser Hinsicht hat sie natürlich schon eine Vorstellung davon, was es den Klienten zu vermitteln gäbe – aber eher auf einer sehr übergeordneten Ebene, nicht in Form von abzuarbeitenden Stichpunkten.

Und hier kann die Therapeutin sich wiederum auf die Phänomenologie beziehen, also darauf, dass das, was jetzt gerade für die Klientin in ihrer Entwicklung wichtig ist, sich in irgendeiner Weise auch bemerkbar machen wird. Um das Vertrauen auf diese Prozesse wieder zu stärken, braucht die Klientin erst mal als Vorbild die Vorgehensweise der Therapeutin in ihrer gemeinsamen Arbeit. Die Therapeutin muss ihre Wahrnehmung für solche Zeichen schärfen und jede Ebene berücksichtigen, auf der sie sich zeigen können.

Da ist zum einen der Körper, der uns sehr viel mehr über unseren Zustand mitteilt, als wir ihm gewöhnlich zugestehen wollen. Für die Gestalttherapeutin ist die Wahrnehmung der Körpersymptome eines der wichtigsten Arbeitsmittel. Das kann eine kleine Geste sein oder eine minimale Veränderung der Mimik bei ihrem Gegenüber, aber auch Änderungen im Grundzustand, die Hinweis auf ein Ungleichgewicht sind. Grundsätzlich ist der Körper bestrebt, ein dynamisches Gleichgewicht im Austausch mit seiner Umwelt zu erhalten, und solange dies gelingt, ist alles im Lot. Wenn aber an einer Stelle der Austausch nicht gelingt – und das kann sich auf allen Ebenen zeigen –, dann ist es auch immer sinnvoll, nach einer möglicherweise tieferen Bedeutung zu fragen. Unabhängig davon sollten physiologische Störungen selbstverständlich immer auch auf ihre organischen Ursachen hin untersucht werden. Aber unter Umständen ist es aufschlussreich, auch den anderen Blickwinkel einmal einzunehmen und zum Beispiel nach dem möglichen Gewinn einer Krankheit zu forschen – und sei der Gedanke zuerst noch so abwegig.

Dann sind da die Wahrnehmungen des Klienten von seiner Umwelt und sich selbst. Hier spielt die Trennung von Konzepten und Gefühlen eine besondere Rolle, denn nur Letztere gehören zum Feld der Phänomenologie und können als solche die Selbstwahrnehmung fördern. Die Konzepte und Vorstellungen, die wir in uns tragen, sind zwar auch ein Teil von uns, aber sie dürfen uns nicht beherrschen, uns also automatisch zum Handeln zwingen. Sie können unter Umständen eine durchaus angemessene Reaktion beinhalten, wichtig ist aber, dass jemand zwischen den Konzepten und Ideen wählen kann und nicht blindlings einem folgen muss.

Die Rolle der Phänomenologie in der gestalttherapeutischen Diagnostik

Diagnosen zu erstellen, ist für mich als Therapeutin ein wichtiges Hilfsmittel. Wie bei jeder Kategorisierung ist es auch hier so, dass mir die Suche nach wiedererkennbaren Mustern hilft, mein Erleben zu ordnen und auch schneller und leichter zu überblicken. Aber genau darin liegt auch die Gefahr, nämlich dass ich über der Suche nach Mustern die Wahrnehmung dessen, was ist, übergehe. Und damit würde ich mich von der Basis der gestalttherapeutischen Arbeit entfernen.

Die Diagnostik in der Gestalttherapie orientiert sich an dem, was ist. Das heißt: Die Diagnosen, die Gestalttherapeuten erstellen, sind immer auf das bezogen, was sie gerade an ihrem Gegenüber wahrnehmen. Damit wird auch klar, dass es in der Gestalttherapie nur eine prozessorientierte Diagnostik geben kann. Das heißt, dass ich zwar über ein Spektrum diagnostischer Mittel verfüge, die ich in meiner Arbeit auch permanent abrufe, um bestimmte Ereignisse in der Arbeit mit meinem Klienten besser verstehen und einordnen zu können. Das erleichtert es mir übrigens auch, meine Eigenübertragung zu reduzieren, da ich besser erkenne, ob ich persönlich gemeint bin oder nicht. Und ich kann mich leichter vor einer „Ansteckung“ mit z.B. depressiven Verstimmungen schützen.

Diagnosen sollen nur Orientierungspunkte sein. Ich darf mich nicht dazu verleiten lassen, mit diesen Diagnosen mein Gegenüber auf ein bestimmtes „Krankheitsbild“ festzuschreiben. Das heißt auch, dass ich in einer einzigen Sitzung möglicherweise eine ganze Reihe verschiedener „Diagnosen“ feststelle, wenn wir darunter eine Benennung bestimmter Muster verstehen wollen, die ich bei meinem Gegenüber erkenne. Mit diesem Erkennen kann ich wiederum angemessener auf meine Klientin reagieren, was letztlich die Hauptaufgabe und meines Erachtens die einzige Berechtigung für „Diagnosen“ ist.

Meine Klientin muss von der in mir ablaufenden permanenten Überprüfung meiner Wahrnehmungen und wie ich diese dann sortiere gar nichts mitbekommen. Das bedeutet hinsichtlich der Diagnosen: Es kann sein, dass ich bei einer Klientin in einer Sitzung deutlich depressive Anteile wahrnehme. Dann geht es aber nicht darum, ihr dies mitzuteilen und sie damit in die Schublade „depressiv“ mit allen damit verbundenen Implikationen zu stecken, sondern es geht dann darum, auf diese depressiven Anteile angemessen zu reagieren, z.B. indem ich ihr eine der hier aufgeführten Übungen zu „Energielosigkeit, Sinnlosigkeit, Depression“ vorschlage.

Indem ich vermeide, meiner Klientin irgendwelche Diagnosen überzustülpen, bleiben wir beide auch offen für unseren tatsächlichen Kontakt und umgehen zumindest ein Stück weit die in der therapeutischen Situation immer innewohnende Problematik des Gefälles zwischen Heilung Suchendem und Heilendem und die Klientin wird dadurch automatisch stärker in ihre Eigenverantwortlichkeit geholt.

Wir sehen also: Die Vermeidung einer festschreibenden Diagnostik ist von elementarer Bedeutung für ein gelungenes Zurückführen unseres Gegenübers in ein selbstbestimmtes und von Kompetenz für die eigenen Bedürfnisse geprägtes Leben. Erleichtert wird diese Haltung dadurch, dass ich als Therapeutin in „Support“, also Unterstützung, denke statt in Problemen; mich darauf konzentriere, Menschen im Aufbau zu helfen, statt mich auf den Abbau zu fixieren. Wir ziehen alle Fähigkeiten und Fertigkeiten der Klienten heran und lenken damit den Blick auf die Ressourcen statt auf die Defizite.

Zum Gebrauch dieses Buches

Dieses Buch entstand, wie bereits erwähnt, aus dem Bedarf heraus, ein möglichst breit gefächertes, in den Übungsbeschreibungen detailliertes und dennoch übersichtliches Nachschlag-Ideen-Werk zu schaffen, nach dessen Gliederung der Einzelne auch leicht die eigenen Erfahrungen unterbringen und so das Basiswerk erweitern kann.

Der „theoretische“ Teil, mit den Symptomatiken, die uns in unserer Arbeit begegnen können, sollte kurz und prägnant sein. Die Idee war dabei, vor allem den Blickwinkel der Gestalttherapie auf dieses ganze Feld kurz wiederzugeben – für diejenigen, die diesen Blickwinkel noch nicht kennen, als grobe Orientierung, in welche Richtung die Gestalttherapie bei einem bestimmten Erscheinungsfeld schaut. Und für diejenigen, die damit bereits vertraut sind, noch mal als kurzer Überblick und vielleicht als „Aufhänger“ für eigene Ergänzungen mit weiterer Literatur oder auch für eigene Gedanken.

Diese kurzen Überblicke müssen sich dabei auf ein Minimum beschränken. Und auch hier haben wir uns der Einfachheit halber überwiegend darauf beschränkt, den Blickwinkel der Therapeutin in ihrer Arbeit mit Einzelklienten darzustellen. Andererseits ist unser Buch durch den umfassenden praktischen Teil für viele Berufsgruppen interessant. Und als Therapeutin arbeite ich ja noch in anderen Zusammenhängen als nur dem Einzel-Setting. In der Arbeit mit Gruppen oder Paaren gilt für das Erkennen eines Symptoms und das Anwenden bestimmter Umgehensmöglichkeiten darauf prinzipiell dasselbe wie im Einzel-Setting. Das heißt: Ob nun bei einem Einzelnen, bei einem Paar oder einer Gruppe, immer erkenne ich ein zugrunde liegendes Thema – oder auch dessen Vermeidung. Und genau darauf baut meine Intervention auf – wobei ich die Übungen dann entsprechend für Einzelne, Paare oder Gruppen auswähle.

Für den schnellen Überblick sind deshalb im ersten Teil die Übungen nicht nur nach „Symptomen“ geordnet, sondern auch noch unterteilt in: „Vor allem für die Arbeit mit Einzelklienten geeignet“ bzw. „Für Paare“ oder „Für Gruppen geeignet“.

In der Anwendung heißt das: Wenn ich mit einer Gruppe eine Einstiegsrunde gemacht habe und dabei feststelle, dass zum Beispiel das Thema „Angst“ im Raum steht, kann ich mir unter dem Stichwort einen schnellen Überblick über die für Gruppenarbeit geeigneten Übungen verschaffen und dann entscheiden, wie ich mit der Gruppe weiterarbeiten will. Dabei ist für meine Entscheidung natürlich wichtig, welche Materialien mir zur Verfügung stehen und welche Tiefung ich erreichen will, was wiederum davon abhängt, wie gut sich die Gruppe bereits kennt, wie vertraut die Teilnehmer untereinander und mit mir sind und wie tief ich arbeiten will.

Ich kann aber auch gezielt Übungen auswählen, die ein bestimmtes Thema in die Arbeit einbringen, also zum Beispiel „Tabus“ in allen Settings oder die Arbeit am „Selbstwert“, was in dieser Klarheit ja nur selten formuliert wird, letztlich aber den meisten Situationen zugrunde liegt.

Es erfordert vielleicht ein wenig Übung, die Themen in dieser Klarheit zu erkennen, aber mit Hilfe der Kurzbeschreibungen der Symptome kann ich mir schnell noch mal in Erinnerung rufen, was zum Beispiel wichtig ist im Umgang mit einem depressiven Menschen.

Oder ich habe die Möglichkeit mit einer Gruppe Interessierter einfach mit verschiedenen Medien zu arbeiten und den daraus entstehenden Themen offen zu begegnen, wozu ja die Gliederung im Praxisteil einlädt.

Deshalb soll dieses Buch auch als Arbeitsbuch oder Grundlage verstanden werden. Es ist nicht allumfassend, aber doch breit genug gefächert, dass alle, die mit Menschen arbeiten, hier Anregungen und auch detaillierte und ausführliche Anleitungen finden, um den ersten Schritt zu wagen, sich ein neues Übungsfeld zu erobern oder auch Alternativen zu den bewährten eigenen Vorgehensweisen zu finden.

Abschnitt II: Was begegnet uns in unserer Arbeit?

1. Einstieg, Beziehungsbildung, Vertrauen herstellen

Der erste Kontakt ist bekanntlich von grundlegender Bedeutung: Wie wirken wir aufeinander, „stimmt die Chemie“, können wir miteinander arbeiten? Es ist wichtig, diese erste miteinander verbrachte Zeit gut zu gestalten, sodass Vertrauen aufgebaut und Beziehungen entwickelt werden können. Hierzu eignen sich besonders die in der nachfolgenden Tabelle aufgeführten Übungen, wobei zu beachten ist, welcher Art und Tiefe ein neu aufzubauender Kontakt sein soll. Dementsprechend sollten intensivierende Einstiege nur für Settings gewählt werden, in denen die möglicherweise auftauchenden Themen auch bearbeitet werden können, sowohl vom Zeitrahmen als auch vom Arbeitsauftrag her.

Diese Herangehensweise ist nicht nur aus technischen Gründen notwendig, um den äußeren Rahmen zu schaffen, sondern auch, damit für beide Seiten das „Commitment“ (freiwillige Selbstverpflichtung) an die gemeinsame Arbeit deutlich wird und kein Raum entsteht für Spekulationen und Fantasien. Dies wiederum bewirkt, dass weniger Übertragungen in der Arbeit entstehen, weil die Grenzen gleich zu Beginn abgesteckt und benannt werden – eine vor allem in der therapeutischen Arbeit nicht zu unterschätzende Erleichterung für beide Seiten, da dadurch die Beziehung klar als Arbeitsbeziehung definiert wird. Unabhängig davon kann und soll eine tiefe Beziehung aufgebaut werden, damit entsprechend intensiv gearbeitet werden kann. Dafür ist auch wichtig, dass sich die Klientin am Schluss jeder Stunde aus dieser Beziehung wieder lösen und in ihren Alltag zurückkehren kann. Dabei wird sie durch den äußeren Rahmen, der bereits in der ersten Stunde angelegt wird, unterstützt.

Die klare Absprache, das Festlegen der Regeln zu Beginn kann dann auch als Modell dienen, wie man allgemein mit solchen Situationen der Zusammenarbeit, ob beruflich oder privat, umgehen kann. Es geht um eine gute Mischung aus Freiraum für den Einzelnen und gleichzeitigem Commitment an die gemeinsame Arbeit. Und natürlich spielt die Kommunikation in der gemeinsamen Arbeit eine ganz grundlegende Rolle als Modell für den Alltag, sowohl hinsichtlich dessen, wie die Regeln vermittelt werden, als auch wie deren Einhaltung kommuniziert wird.

In der Einzelarbeit ist es wichtig, eine klare Vereinbarung mit den Klienten zu treffen bezüglich Terminen, Absagen von Terminen, Geld, gegenseitiger Verpflichtung, Zielen die erreicht werden sollen, dem Zeitrahmen, in welchem die Ziele erreicht werden sollen. Dabei ist wichtig, dass die Therapeutin gegebenenfalls die Vorstellungen der Klienten korrigiert im Hinblick darauf, wie lang etwas dauern kann. Solche Absprachen schaffen Vertrauen und geben beiden Partnern eine Orientierung für den Ablauf der gemeinsamen Arbeit.

Dazu gehört auch, dass ich als Therapeutin immer wieder auf die Metaebene gehe, d.h. mit meiner Klientin über das Geschehen in der Sitzung spreche. Denn für die Klientin ist es oft das erste Mal im Leben, dass eine derart tief gehende Beziehung aufgebaut wird. Umso wichtiger ist es, dass nicht nur ich als Therapeutin im Auge behalte, dass die therapeutische Situation eine „künstliche“ ist, da sie überwiegend auf dem einseitigen Engagement der Therapeutin beruht, sondern dass ich auch meine Klientin immer wieder darauf hinweise Die Klientin kommt ja meistens, weil ihr Beziehungen im Alltag nicht gelingen. Um hier eine Lernmöglichkeit zu schaffen, muss ich als Therapeutin der Klientin den Weg weisen. Es herrscht also ein Ungleichgewicht, indem die Therapeutin auch die Verantwortung für die Gestaltung der Beziehung hat, und dieser Verantwortung muss sie sich durch die ganze Arbeit hindurch bewusst sein (was u.a. einer der Hauptgründe ist, weshalb jeder therapeutisch Tätige sich kontinuierlicher Supervision unterziehen sollte – um immer wieder die nötige Distanz zu finden, um die Beziehung zu gestalten).

Für den Einstieg in die Gruppenarbeit gelten im Prinzip dieselben Grundregeln: einen festen Rahmen geben, in welchem sich die einzelnen Teilnehmerinnen auch aufgehoben fühlen und der ihnen auch ermöglichen soll, sich zu öffnen und Vertrauen in die Arbeit zu entwickeln. Dafür ist es hilfreich, wenn die Therapeutin eine Atmosphäre schaffen kann, in der jede Einzelne sich erst mal grundsätzlich angenommen fühlt und in der Gruppe ankommen kann. Der nächste Schritt wäre dann, dem Bedürfnis der Teilnehmerinnen nach Austausch und Information in einem Ausmaß Raum zu geben, das dem dahinter verborgenen Wunsch nach Sicherheit Genüge tut, aber den eigentlichen Fokus der Gruppe nicht verdrängt.

Von grundlegender Bedeutung in diesem Zusammenhang ist es außerdem, den Umgang der Teilnehmer untereinander in bestimmte Bahnen zu lenken. Dabei sollte der freie Ausdruck der Einzelnen nicht zu sehr eingeschränkt werden – denn es geht ja in solchen Gruppen meist darum, neue Erfahrungen im Umgang mit anderen zu machen – und dennoch soll auch der Schutzraum für jede gewährleistet sein, sodass genügend Sicherheit da ist, um sich auf den Prozess einlassen zu können.

Hierfür kann ausreichend sein, eine einfache Regel aufzustellen, wie es der bekannte Gestalttherapeut Dan Rosenblatt zu Beginn seiner Gruppenarbeiten zu tun pflegte:

„No blood, no broken bones!“ Manchem mag das genügen, aber es kann darüber hinaus auch sinnvoll sein, zum Beispiel das Ausscheiden aus der Gruppe ebenso zu regeln, wie das bei Einzelsettings üblich ist. Also entweder: Bevor jemand wegbleibt, soll zumindest die Therapeutin davon in Kenntnis gesetzt werden. Oder: Wenn jemand ausscheiden will, soll dem Abschied zumindest ein Teil der letzten gemeinsamen Sitzung gewidmet sein, sodass die Gruppe als Ganzes sich auf die veränderte Situation einstellen kann.

Übungen zu 1: Einstieg, Beziehungsbildung, Vertrauen herstellen

(1): Mindestalter/ohne Angabe: für Erwachsene

Kapitel

Name der Übung

Einsetzbar bei

Einzel

Paare

Gruppe

Alter(1)

I.3.1.1

Bewegungsübung zum Einstieg: Durchbewegen

E

P

G

4

I.3.1.2

Bewegungsübung zum Einstieg: Kreisen

E

P

G

5

I.3.1.3

Kennenlernen mit Körperteilen

P

G

2+

I.3.1.4

Bewegungsentwicklung in der Gruppe, Übung in drei Teilen

G

6–8

I.3.1.5

Bewegungen und Kontakt im Kreis

G

4

II.3.1.1

Auf einer einsamen Insel

P

G

6

II.3.1.2

Malen und Kontakt zu zweit

(E)

P

G

4

II.3.4.4

Postkarten und Kontakt

G

8

V.3.1.1

Die Dirigentenübung

E

P

G

8

V.3.1.2

Die Zauberkiste

E

P

G

6

VI.3.1.1

Kennenlernen mit Namen und Adjektiven

G

6

VI.3.1.2

Kennenlernen der Namen mit Rhythmus

G

4

VI.3.1.3

Kennenlernen im Doppelkreis

G

6

VI.3.1.4

Kennenlernen mit Intuition und Fantasie

G

12

VII.3.2.2

Gegenstände werden zu einer Geschichte

G

10

2. Kommunikation, Vertrauen schaffen, Öffnung ermöglichen

Ganz allgemein gilt: Eine Therapie schreitet am besten fort, wenn die Klientin Zugang zu ihren Ressourcen hat. Oder in den Worten von Kristine Schneider, einer klinischen Gestaltanalytikerin und -supervisorin: „Der Therapeut muss in Support für den Klienten denken statt in Problemen; dem Menschen im Aufbau helfen, statt seinen Abbau, seine Defizite zu fokussieren.“ 

Es gibt verschiedene Formen von Ressourcen:

Ziel ist, dass Ressourcen von der Klientin gespürt und benannt werden können, sodass sie bei Bedarf darauf zugreifen kann. Gelingt das in der therapeutischen Situation, so erhöht das die Verfügbarkeit über die Ressourcen auch im Alltag. Die Klientin übt, wie sie Kontakt zu ihren Ressourcen herstellen kann (z.B. Entspannen, Kontakt zum Boden ...) und lernt so schrittweise, vom Fremdzurück zum Selbstsupport zu kommen, sodass die Therapeutin irgendwann als Katalysatorin überflüssig wird.

Dazu gehört auch, dass die Therapeutin die Klientin darin unterstützt, mit all ihren eigenen Anteilen in Kontakt zu treten und deren Beiträge schätzen zu lernen. Hier ist meines Erachtens das Bild vom inneren Team aus der Transaktionsanalyse sehr hilfreich, wobei mir als Gestalttherapeutin dabei wichtig ist, dass jedes innere Team anders aussehen kann und letztlich nur die Klientin ihre verschiedenen Anteile erkennen kann. Allerdings kann ich sie dabei unterstützen, auch Anteilen Raum zu verschaffen, die sie von sich aus vielleicht lieber nicht anerkennen würde (Arbeit mit dem Schatten, den abgelehnten Aspekten).

Kommunikationsstörungen

Störungen können überall auftreten, in der Gruppensituation zwischen den Teilnehmern oder in der Zweierkonstellation Klient – Therapeut, oder in der Übung, in welcher der Klient versucht, mit seinen verschiedenen Anteilen zu kommunizieren. Sie zeigen sich in Form von Missverständnissen, unklaren Aussagen/Anweisungen, Projektionen und auch Konfluenz (siehe auch Kapitel 4. „Rückzug, Gleichgültigkeit, Widerstand“).

Kommunikationsstörungen entstehen vor allem durch eingeschränktes Zuhören und dadurch, dass jemand „nicht im Kontakt“ ist. Um das zu vermeiden, ist wichtig, dass die Wahrnehmung für das ganze Gegenüber, mit allen Ebenen, auf denen kommuniziert wird, geschult wird. Eine Hintergrundinformation hierzu: Die Bedeutung einer verbalen Botschaft wird nur zu 7 % aus den tatsächlichen Worten gelesen und zu 93 % aus nonverbalen Signalen, z.B. Tonfall, Lautstärke, Geschwindigkeit. Der Löwenanteil entfällt mit 60 % auf die Körpersprache (Mimik, Gestik, Körperhaltung, Abstand zum andern ...).

Diese Wahrnehmung für alle Ebenen der Kommunikation beinhaltet, dass beide Kommunikationspartner sich über diese vier Ebenen, auf denen kommuniziert wird, im Klaren sind. Eine anschauliche Grundlage zum Verständnis der möglichen Fehlerquellen sind die „vier Ohren“ von Friedemann Schulz von Thun. Danach hören wir ausgesendete Botschaften unseres Gegenübers mit vier Ohren bzw. geben dieser Botschaft Bedeutung unter vier verschiedenen Aspekten. Und dieselben vier Bedeutungen werden mit der Botschaft natürlich auch mehr oder weniger offen ausgesendet.

  1. Sachinhalt → worüber informiert wird
    Was ist der konkrete sachliche Inhalt der Botschaft?
  2. Appell → wozu veranlasst werden soll
    Was soll getan, gedacht, gefühlt werden aufgrund der Botschaft?
  3. Beziehung → was voneinander gehalten wird
    Wie wird miteinander geredet, welche Vorstellung sich voneinander gemacht?
  4. Selbstoffenbarung → was über sich selbst kundgetan wird
    Was wird direkt oder indirekt durch die Botschaft über sich selbst ausgesagt?

Ein Beispiel: Ein Paar sitzt am Essenstisch:

Frage (Sender, z.B. Tochter, hat nicht gekocht, probiert das Essen): Was ist das Grüne in der Sauce?

Antwort (Empfänger, z.B. Mutter, hat gekocht): Wenn es dir bei mir nicht schmeckt, kannst du ja woanders essen gehen!

Ziel einer gelungenen Kommunikation sollte sein, dass die vier Ebenen zur positiven Gestaltung genutzt werden.

Dazu können entsprechende Kernanforderungen an die vier Ebenen formuliert werden:

Sachinhalt: VERSTÄNDLICHKEIT

Selbstkundgabe: PERSÖNLICHE TRANSPARENZ

Appell: ZIELUND LÖSUNGSORIENTIERUNG

Beziehung: WERTSCHÄTZENDE BEZIEHUNGSGESTALTUNG

Es ist hilfreich, Übungen zur Klärung dieser verschiedenen Bedeutungsbereiche zu machen, indem die Teilnehmer ihre eigenen gesendeten und empfangenen Botschaften auf diese vier Bedeutungen hin analysieren. Dadurch können sie ein Gespür für diese Vieldeutigkeit entwickeln.

Außerdem wird durch solche Übungen der direkte Kontakt mit dem Gegenüber gefördert und geübt, denn bei der Klärung der Bedeutungen bleibt natürlich die Frage nicht aus: „Hast du das denn so gemeint, oder was war deine Absicht bei dieser Aussage/Frage ...?“ Eine gelungene Kommunikation sollte also auch die folgenden Aspekte berücksichtigen:

Entscheidend ist hierbei die Erkenntnis, dass jeder sein Universum auf seine höchst eigene Art wahrnimmt und daraus in keinster Weise abgeleitet werden kann, was oder wie der andere denkt/ fühlt/ wahrnimmt. Das ist auch der Grund, weshalb wir Freundschaften mit bestimmten Menschen ausbilden: Nämlich dann, wenn unsere Sicht unserer Universen sich zumindest ähnelt.

Übungen zu 2: Kommunikation, Vertrauen schaffen, Öffnung ermöglichen

(1): Mindestalter/ohne Angabe: für Erwachsene

Kapitel

Name der Übung

Einsetzbar bei

Einzel

Paare

Gruppe

Alter(1)

I.3.1.5

Bewegungen und Kontakt im Kreis

G

4

I.3.2.1

Die Art des Wählens

G

10

I.3.2.2

Spielerische Wahl einer Partnerin

G

I.3.2.3

Mein Spiegelbild, mein Schatten

E

P

G

6

I.3.3.1

Bewegung zu dritt

G

6

I.3.4.4

Gegensätze und Bewegung

G

6

II.3.1.1

Auf einer einsamen Insel

P

G

6

II.3.1.2

Malen und Kontakt zu zweit

(E)

P

G

4

II.3.2.4

Rahmenbild

E

(G)

8

II.3.2.5

Weitere Anregungen für Einzelbilder

E

(G)

II.3.4.2

Gruppenbild mit Musik

G

6

II.3.4.4

Postkarten und Kontakt

G

8

III.3.1

Vertraut werden mit dem Material (Ton/Salzteig/Knete)

E

P

G

3

III.3.5

Ton in der Einzelarbeit mit Kindern

E

4

III.3.6

Weitere Anregungen zur Arbeit mit Ton/Salzteig/Knete

E

P

(G)

5

V.3.2.3

Statuenarbeit in der Gruppe

G

5

V.3.3.1

Geben und Nehmen

E

P

G

10

V.3.3.2

Rollenspiel mit Puppen oder Figuren

E

P

G

3

VI.3.2.1

Wahrheit und Lüge

P

G

6

VI.3.2.2

Langsamer werden

P

G

10

VI.3.3.2

Die Vielfalt von Erlebnissen

G

VII.3.1.4

Eine Geschichte mit „offenem Ende“

E

P

G

4

VII.3.2.1

Sätze finden

P

G

5

VIII.3.1

Begegnung am Meer

E

P

G

6

VIII.3.3

Das innere Kind

E

P

G

14

3. Stress, Druck, Anspannung

Der Begriff Stress kommt aus dem Englischen und bezeichnet ganz allgemein die Antwort auf Druck. Im Hinblick auf den Menschen ist Stress eine fest in uns verankerte Reaktion auf Gefahrensituationen, die uns befähigt, in Sekundenbruchteilen eine Entscheidung zu fällen, wie wir uns verhalten wollen: ob wir angreifen wollen oder flüchten. Diese Reaktion beinhaltet also ein sehr schnelles Einschätzen der Gefahrenquelle und ein ebenso schnelles Abgleichen unserer Chancen bei Angriff oder Flucht. Beim Abgleichen spielen auch Veranlagungen und bisherige persönliche Erfahrungen eine Rolle, gesteuert wird unsere Reaktion überwiegend hormonell.

Diese Reaktionskette ist wohl so alt wie die Menschheit. Zu Zeiten, als wir noch in Clangruppen gejagt haben, war es überlebensnotwendig, solche Entscheidungen entsprechend schnell zu fällen und die dazu nötigen Kraftreserven sofort abrufbar zu haben, denn es ging im Zweifelsfall darum, durch schnellen Angriff oder sofortige Flucht „den Bären zu erlegen oder ihm zu entkommen“. Das heißt, die Antwort musste sofort parat sein, die körperlichen Anstrengungen waren aber nicht von langer Dauer: Entweder man hatte den Bären besiegt, war ihm entkommen, oder man war tot. In jedem Fall konnte man sich ausruhen.

Heute wird uns diese ganz tief in uns angelegte Reaktionskette zum Verhängnis, weil sich unser Umfeld derart gewandelt hat, dass diese Muster sich als nicht mehr sinnvoll erweisen. Andererseits braucht die Evolution zur Veränderung solcher Muster sehr lange, wie ja auch deren Entstehung nicht von jetzt auf gleich passiert ist, sondern ein langsamer Prozess schrittweiser Anpassung war. Unsere Umwelt hat sich aber in den letzten Jahrhunderten derartig schnell und tief greifend verändert (und tut das ja weiterhin in einer Geschwindigkeit, mit der ein Evolutionsprozess einfach nicht mithalten kann), dass uns nur übrig bleibt, andere Wege des „Copings“, also des Anpassens, an die immer neuen Strukturen und Anforderungen zu suchen.

Ein Großteil der heutigen sogenannten Zivilisationskrankheiten wie Bluthochdruck mit allen seinen gesundheitlichen Konsequenzen oder auch die weite Verbreitung von Depressionen lassen sich auf Stressphänomene zurückführen. Ich möchte an dieser Stelle darauf nicht weiter eingehen, sondern verweise alle Interessierten an die einschlägige und umfangreiche Literatur zu diesem Themenkomplex.

Zunächst sollte man sich klarmachen, dass die meisten Stressempfindungen heutzutage nichts mehr mit dem ursprünglichen Phänomen zu tun haben: Die meisten von uns müssen heute nicht mehr ganz real gegen einen leibhaftigen Gegner ums Überleben kämpfen (oder zumindest nur noch in eher seltenen Ausnahmesituationen). Nichtsdestotrotz reagiert unser Körper noch nach dem althergebrachten Schema, wenn unsere Wahrnehmung Gefahr vermeldet. Doch die Gefahren heutzutage sind nicht mehr mit wenigen Augenblicken der Reaktion und Gegenreaktion abgehakt. Sie sind zwar meist von weniger direkt lebensbedrohlicher Qualität, für den Einzelnen jedoch unter Umständen genauso bedrohlich, als ob der Bär noch direkt vor ihm aus dem Unterholz aufgetaucht wäre. Würde ihm aber in der letztgenannten Situation der kurze Adrenalinschub die nötigen Kraftreserven zur Änderung der Situation zur Verfügung stellen, ist diese Reaktion im heutigen Alltag eher von geringer Wirksamkeit: Er kann dadurch seinen Chef nicht verschwinden lassen und muss ihm auch morgen wieder begegnen.