Martin Meißner
Manuel und der Waschbär
ISBN 978-3-86394-191-8 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1983 bei
Der Kinderbuchverlag Berlin
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Foto: Foto Hille
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Ein Diebstahl war entdeckt.
Als Manuel die Treppe des Kinderheims hinaufging, drang Lärm aus der Küche. Die Tür stand offen. So breiteten sich die lauten Worte über das ganze Treppenhaus bis hinauf zum Obergeschoss aus. Der Junge blieb stehen.
Frau Bohndiek hielt einen Korb in der Hand und trug ihn von einer Frau zur anderen. Fast das ganze Personal hatte sich versammelt. "Zählt sie nach", flehte sie. "Zwölf müssen es sein. Und wie viel sind es?"
Die anderen wussten es längst. Nur zehn Eier lagen in dem Korb. Aber die Erzieherin gab nicht eher Ruhe, bis jede gezählt hatte und bestätigte: Zehn Eier waren es und nicht zwölf.
"Es stiehlt einer die Hühnereier aus den Nestern", schloss Frau Bohndiek. Dann setzte sie sich wie ein Wächter vor den Korb.
Manuel ging bis zum Treppenabsatz weiter und schaute aus dem Fenster. Unten sah er den Hof mit dem Holzschuppen und dem Hühnerstall. Hinter einem hohen Zaun aus Draht schloss sich der Garten an. Rechts Gemüsebeete und Obstbäume. Links der Rasen, wo die Schaukeln, Wippen und ein Karussell standen. Auch Autoreifen, die genauso bunt angemalt waren wie das übrige Spielgerät. Weiter hinten floss die Purnitz vorbei. Das war ein Bach, der sich bescheiden hinter dichtem Gebüsch verbarg.
Am Abend konnte niemand einschlafen. Alle dachten an den Eierdieb.
"Ich habe mal einen fremden Mann gesehen, der kam aus dem Hühnerstall", erzählte Kai, der für seine erfundenen Geschichten bekannt war. "Er trug etwas unter der Jacke. Sie beulte so aus."
"Nun legen die Hühner bestimmt nicht mehr", erklärte Ricardo.
"Warum?"
"Ich weiß nicht. Ich denke mir das."
"Nein", erwiderte Kai. "Hühner legen immer. Die können gar nicht anders. Wenn sie keine Eier legen, dann sterben sie."
"Woher weiß Frau Bohndiek, dass Eier fehlen?", fragte Manuel. "Es kommen immer welche dazu."
"Sie weiß es eben", antwortete Kai. "Es müssen jeden Tag zwölf sein. Das war schon immer so. Außerdem lagen Eierschalen herum. Wenn man sie zusammensetzt, werden zwei Eier daraus."
"Es kann ein Tier gewesen sein", vermutete Ricardo.
"Ein Tier?", fragte Manuel.
"Ja. Es gibt Tiere, die nehmen gerne Nester aus."
So ging es hin und her. Die Jungen erfanden die unmöglichsten Täter. Bis die Nachtwache hereinkam und endgültig für Ruhe sorgte.
Am nächsten Morgen dachte kaum noch einer an den Eierdieb. Wie immer freitags kam Herr Lockstedt ins Kinderheim. Das war der Sprachheillehrer.
Manuel sah den Mann erst, als er den Flur bereits betreten hatte. So drückte er sich zwischen Topfpalme und Aquarium, um nicht gesehen zu werden.
Andere Kinder stürmten wie immer auf den Lehrer los. Eine ganze Traube umringte ihn.
"Lasst meine Jacke", sagte er und lachte. Er bahnte sich einen Weg in den Unterrichtsraum.
Herr Lockstedt hatte eine Glatze und einen Bart wie ein Gebüsch. Er trug gelbliche warme Schuhe, mit denen er leise wie ein Elefant ging.
Seine Brille hing schief im Gesicht und sah aus, als hätte sie ein anderer weggeworfen.
Als erster war Kai mit dem Unterricht an der Reihe. Als er herauskam, schwenkte er stolz sein Arbeitsblatt in der Hand. Darauf waren einige Tiere gestempelt. Er ging an die Küchentür und rief hinein: "Hier. Das habe ich gelernt. Lauter Tiere. Elefanten und Kamele. Ich durfte sie selber stempeln."
Kai sprach jetzt gut. Aber Herr Lockstedt unterrichtete ihn weiter, weil er eifrig bei der Sache war und solchen Spaß hatte.
Manuel hörte, wie Kai auf der Treppe sang:
"Affen, Esel, Elefanten,
diese lieben Anverwandten,
Schaf, Kamel und Känguru
und auch noch der Kai dazu."
Manuel stand in dem dunklen Gang, der zur Schneiderstube führte. Hier waren die Wäschesäcke aufgestapelt und gaben diesem Teil des Hauses das Aussehen einer Höhle.
"Willst du dich wieder verstecken?", fragte Kai.
"Ich verstecke mich nicht."
"Und warum kriechst du zwischen die Säcke? Warum guckt nur noch dein Kopf hervor?"
"Ich suche was."
"Du willst nicht zum Sprachunterricht. Das ist es. Du versteckst dich. Du kommst erst wieder hervor, wenn du das Auto von Herrn Lockstedt abfahren hörst."
Kai ging fröhlich zum Gruppenraum hinüber, um sein Arbeitsblatt herumzuzeigen.
"Affen, Esel, Elefanten...", sang er.
Nachdem Manuel über eine Stunde in seinem gemütlichen Versteck verbracht hatte, hörte er die dunkle Stimme des Sprachlehrers unten in der Küche. Herr Lockstedt aß an den Unterrichtstagen mit.
"Was gibt es denn heute?", fragte er.
"Neugierde mit Soße und Topfguckerpudding", antwortete die Köchin und stellte ihren kräftigen Rücken vor die Töpfe. So konnte der ungeduldige Gast keinen Blick hineinwerfen.
Der Lehrer trat langsam seinen Rückzug an. Er mochte die Frauen in der Küche. Er neckte sie so lange, bis sie ihn mit derben Worten aus ihrem Reich vertrieben.
"Haben Sie sich Ihr Essen schon verdient?", fragte die Köchin und verfolgte ihn auf den Flur. "Um richtig sprechen zu lernen, braucht man dazu einen solchen dicken Mann? Sie sollten lieber unseren Garten umgraben."
"Dass du immer den Lehrer beschimpfen musst, Elfriede", nahm ihn Frau Bohndiek in Schutz. "Denke mal daran, wie gut der Kai jetzt spricht. Der könnte im Fernsehen die Nachrichten ansagen. Tegucigalpa und Kuala Lumpur, diese Namen machten dem nichts aus."
"Schönen Dank, Frau Bohndiek", sagte der Lehrer lächelnd, "wenigstens eine, die mir beisteht."
"So geht es aber allen Gästen hier", schloss die Frau. "Erst müssen sie sich was anhören. Beim Essen aber kriegen sie ein Stück Fleisch, so riesengroß, dass man das andere Ende nicht sieht."
Herr Lockstedt ging langsam die Treppe hinauf. Die gackernde Lache der Köchin verfolgte ihn ein ganzes Stück.
Manuel sah, dass es der Lehrer nicht eilig hatte. Der Mann blieb am Fenster stehen und schaute auf den Hof. Dann besah er sich die Bilder an der Wand. Auf ihnen waren Begebenheiten verschiedener Märchen dargestellt.
Warum geht er denn nicht weiter, dachte Manuel.
Es gefiel ihm nicht, dass der Mann vor dem einen Bild etwas länger stehenblieb.
Es zeigte eine junge Frau mit einem schönen schillernden Tuch um den Hals.
Es störte den Jungen, dass der Lehrer das Bild so aufmerksam betrachtete. Es war, als würde dadurch etwas abgelöst.
"Na, Herr Lockstedt, alle durch?", fragte Frau Herzog. Sie kam aus ihrem Büro.
"Bis auf Manuel", sagte der Lehrer.
Die Leiterin ging mit schnellen Schritten auf die Tür des Gruppenraumes zu.
"Manuel, bitte zum Sprachunterricht!", rief sie hinein.
"Wieso nicht da?", fragte sie streng, nachdem drinnen jemand gesprochen hatte.
Nun lief Frau Herzog in alle Zimmer.
"Das gibt es doch gar nicht!", rief sie von überallher. "Nicht da. Was soll denn das heißen?"
"Der hat sich wieder versteckt", sagte Beatrix, die an die Tür gekommen war. "Der versteckt sich immer. Ob der Arzt kommt oder der Lehrer, meistens ist Manuel dann weg."
"Er sollte heute gar nicht zum Unterricht", sagte Herr Lockstedt, als Frau Herzog atemlos mit Manuel an der Hand erschien. "Er macht gute Fortschritte. Ich nehme ihn nicht mehr jedesmal dran."
Er drehte sich um und lief schnell die Treppe zum Essenraum hinunter. "Ja, du bist das nächste Mal der erste. Auf jeden Fall!", rief er Kai noch zu, der darum bangte, nicht mehr am Sprachunterricht teilnehmen zu dürfen.
Herr Lockstedt wusste gar nicht, ob Manuel Fortschritte machte. Er hatte es nur gesagt, damit Frau Herzog sich nicht über Manuel ärgerte.
"Ich habe da einen Jungen im Kinderheim", sagte er am Abend zu seiner Frau. "An den muss ich oft denken."