Die großen internationalen Vergleichsstudien zu Schul- und Schülerleistungen vom Beginn des Jahrhunderts haben spürbare Innovationen im gesamten Bildungssystem bis hinein in die konkreten unterrichtlichen Praktiken mit sich gebracht. Auch die Forschungslandschaft rund um das Lehren und das Lernen wurde durch diese Impulse nachhaltig beeinflusst und wirkt ihrerseits weiter auf die Entwicklung von Schule und Unterricht ein.
Eine der Lehren aus diesen Studien war die Anerkennung der Notwendigkeit von Interdisziplinarität: Lehren und Lernen, wissenschaftlich betrieben, kann nur durch das Zusammenspiel pädagogischer, psychologischer, fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Theorien und Befunde befriedigend erklärt und gesteuert werden. In der pädagogischen Praxis kann keine Lerntheorie ohne Bezug auf eine konkrete Inhaltsdomäne und keine Lehrmethode ohne Curriculumsbezug und ohne Beachtung der individuellen Lernvoraussetzungen erfolgreich sein. Die je eigenen Perspektiven und Erkenntnisse der Psychologie, der Pädagogik und der beiden schulisch zentralen Fachdidaktiken Mathematik und Deutsch, vertreten in den Disziplinen der Herausgebenden, sollen in den einzelnen Bänden dieser Reihe jeweils zu einem kohärente Gesamtbild zusammengeführt werden. Neben der Interdisziplinarität liegt besonderer Wert auf einer – weit verstandenen – Empirie: Erfahrungswissenschaftlich gewonnene Erkenntnisse zum Lehren und Lernen stehen jeweils im Mittelpunkt der Darstellung. Schließlich fokussieren alle Bände der Reihe den Anwendungsbezug: Die entfalteten Themen, Diskurse und Fachgebiete sind jeweils unmittelbar bedeutend für Schule und Unterricht. Insgesamt präsentieren die Bände die wichtigsten unterrichtlich relevanten Forschungsthemen und -ergebnisse aus den unterschiedlichen Disziplinen.
Die vorliegende Reihe umfasst thematisch den Vorschul-, Grundschul- und weiterführenden Schulbereich bis etwa zur zehnten Klassenstufe. Konzipiert ist sie für (zukünftige) Lehrende, auch für PädagogInnen und PsychologInnen in weiteren Anwendungsfeldern im Bildungssystem. In „Lehren und Lernen“ werden die oben angesprochenen politisch-praktischen Veränderungen im pädagogischen und fachlichen Feld und in der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern aufgegriffen, indem die Ergebnisse der empirischen Forschung in den zentralen Bereichen des Lehrens und Lernens aus interdisziplinärer Perspektive für professionelle Anwender verständlich und kompakt dargestellt werden.
Andreas Gold, Cornelia Rosebrock, Renate Valtin & Rose Vogel
Warum werden manche Heranwachsende zu Lesern und andere nicht? Die unterschiedlichen Wege zum Lesen und Nicht-Lesen bilden den Hauptgegenstand der Lesesozialisationsforschung. In diesem Kapitel werden in einem ersten Teil anhand von zwei Fallbeispielen Einflussfaktoren der Lesesozialisation bestimmt und danach der Begriff Lesesozialisation definiert (Kap. 2.1). Im zweiten Abschnitt wird ein prototypisches Verlaufsschema der Lesesozialisation von der Kindheit bis zum jungen Erwachsenenalter vorgestellt und beide Fallbeispiele darin verortet. Dadurch lassen sich zugleich die Grenzen des Modells bestimmen (Kap. 2.2). Eine theoretische Perspektive auf den Gegenstandsbereich nimmt der letzte Teil ein, in dem zwei Modelle der Lesesozialisation beschrieben werden: das soziologische Rahmenmodell der Ko-Konstruktion und das psychologische eines Erwartungs-×-Wert-Modells (Kap. 2.3).
Wie unterschiedlich Lesesozialisation verlaufen kann, lässt sich erahnen, wenn man Selbstauskünfte von jungen Erwachsenen konsultiert. Dies geschieht in diesem Kapitel anhand von zwei Beispielen. Das erste ist eine Leseautobiografie einer Lehramtsstudentin des Faches Deutsch, die in einem Seminar ihre eigene Lesegeschichte aufgeschrieben hat. Das zweite Porträt stammt aus einem Forschungsprojekt, in dem Interviews mit ehemaligen Hauptschülerinnen und -schülern geführt wurden (Pieper, Rosebrock, Wirthwein & Volz, 2004).
Beispiel 1: Die Leseautobiografie einer 19-jährigen Studentin
„Meine ersten Kontakte mit Büchern hatte ich als Kleinkind. Mein Vater beschaute mit mir jeden Abend über eine lange Zeit ein und dasselbe Bilderbuch. Ich war immer völlig begeistert, und es war egal, dass dieses Bilderbuch nur vier Seiten hatte. Etwas später war es dann eher meine Mutter, die mir als Gutenachtgeschichten Märchen vorlas.
Sobald ich selber lesen konnte, wurde ich zu einer richtigen ‚Leseratte‘. Ich malte mir in meiner Fantasie die Geschichten bunt aus und geriet nicht selten ins Träumen. Jedes Kinderbuch, welches mir in die Hände fiel, wurde sofort von mir verschlungen. Mit besonders großer Freude las ich Bücher von Astrid Lindgren, wie zum Beispiel ‚Madita‘, ‚Michel‘ und allen voran ‚Pippi Langstrumpf‘. Ich träumte mich in die Welten der Protagonisten und schmückte die Geschichten in meiner Phantasie aus. Ich glaube, ich habe die Bücher über Pippi Langstrumpf weit über zehn Mal gelesen, weil sie mich immer wieder fesselten und nicht losließen. Das Ganze ging so weit, dass ich Pippi als Vorbild nahm. Ich wollte so stark, so frech und so gerecht wie sie sein und himmelte sie förmlich an.
Nach dieser Zeitspanne, bestimmt von Astrid-Lindgren-Literatur, kam eine Phase in der ich überwiegend Enid-Blyton-Bücher durchlas. Neben Jugendkrimis à la ‚Fünf Freunde‘ schmökerte ich mit viel Vergnügen in Internatsgeschichten wie ‚Hanni & Nanni‘ oder ‚Dolly‘. Beim Lesen bildeten sich vor meinem inneren Auge immer richtige Bilder, fast wie in einem Film! Ich war eine so begeisterte Leserin, dass ich mit viel Freude meiner kleinen Schwester vorlas, die sich ebenso mitreißen ließ. Dann kam später die Zeit, in der ich begann, Romane für Erwachsene zu lesen. Liebes- und Kriminalromane standen weit oben auf meiner Hitliste, z. B. Ken Follett.
Dann kam die Pubertät, und mit ihr ging einher, dass ich mir nur noch äußerst selten Zeit zum Lesen nahm. Es reichten völlig die Lektüren, die von der Schule aus vorgeschrieben wurden. Doch langweilten diese mich oftmals und animierten mich nicht unbedingt zum Spaß am Lesen. In der Oberstufe bekam ich Gott sei Dank einen neuen Deutschlehrer, der wirklich mal fähig war … Die Texte, die wir lasen, waren größtenteils interessant, und die Zusatzinformationen und Interpretationen nahm ich nicht mehr als unbequeme Pflicht wahr, sondern empfand Freude dabei, mich mit den tieferen Inhalten eines Textes auseinanderzusetzen. So erging es mir nicht selten wie beim Lesen von ‚Der Verwandlung‘ von Franz Kafka. Nach dem ersten Lesen sprach man mit Freunden noch lachend über das Buch: ‚Der Kafka muss doch bewusstseinserweiternde Substanzen genommen haben, von denen wir heute gar nichts mehr ahnen. Wer kommt denn bitte auf die Idee, über einen Typen zu schreiben, der aufwacht und sich plötzlich in einen Käfer verwandelt fühlt …?‘ Doch je öfter ich ‚Die Verwandlung‘ las und mich mit dem Stoff auseinandersetzte, desto genialer fand ich Kafka. So erging es mir bei vielen Lektüren später in der Schule, doch meistens reichte es mir, diese Pflichtlektüren vorzunehmen. Privat las ich weiterhin eher weniger, eigentlich nur während der Busfahrten zur Schule oder mal in den Ferien.
Und so in etwa ist auch heute noch mein Leseverhalten. Meistens habe ich keine Lust, neben Texten, die für die Uni relevant sind, noch privat zu Hause zu lesen, und so lese ich meistens nur im Zug. Dann glauben oftmals Kriminalromane oder auch witzvolle Liebesgeschichten dran, und ich kann dann wunderbar abschalten.“ (Quelle: Leseautobiografie-Korpus Philipp)
Beispiel 2: Die Lesegeschichte eines 18-jährigen ehemaligen Hauptschülers Beim Interview ist Ali 18 Jahre alt. Aufgewachsen in Marokko, lebt er seit fünf Jahren in Deutschland. Nach dem Besuch der Hauptschule in Frankfurt am Main hat er seinen externen Realschulabschluss gemacht. Zurzeit absolviert er eine vom Arbeitsamt finanzierte Berufsausbildung zum Hotelfachmann. Alis Eltern sind Analphabeten ohne Schulabschluss. Die Mutter ist Hausfrau, der Vater arbeitet als Maurer. Ali hat zwei Schwestern und einen Bruder und lebt noch zu Hause.
Ali bezeichnet sich selbst als Nicht-Leser, als Typ, der nicht gern lese. Gleichwohl nutzt er täglich die Bild-Zeitung: „Doch Zeitungen, Bildzeitungen les ich, aber halt zu Hause. Bücher mein ich, so halt Liebesdrama, das les ich nicht so. Weil, d- man liest und liest, man kapiert nix […]. Deswegen wozu soll ich lesen, aber Bildzeitung kauf ich halt jeden Tag.“ (Pieper et al. 2004, S. 80)
Ali berichtet nicht davon, dass ihm als Kind vorgelesen wurde oder Geschichten erzählt wurden, denn „in Marokko haben wir nur geschlafen, das war’s“ (ebd., S. 83). Einzig an die biografischen Erzählungen seiner Großmutter kann er sich erinnern. Dominant ist in der Kindheit die Fernsehnutzung gewesen. Das ist auch heute noch der Fall: „Ohne Fernseher kann ich halt nicht aushalten, weil man ok, es gibt ja halt Radio, aber man hört ja nur, aber beim Fernsehen hört man, sieht man. Deswegen ist viel interessanter. Und also ohne Fernseher kann ich halt auf gar keinen Fall auskommen“ (ebd., S. 80). Ali ist HipHop-Fan, daher ist Musik für ihn ebenfalls wichtig. Dasselbe gilt für das Handy. Als weiteres Medium nutzt er den Internetchat.
Alis Erinnerungen an den Deutschunterricht werden von einem speziellen Ereignis geprägt: der Lektüre von Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“. Das Erstellen einer Inhaltsangabe des Buches und einer Charakterisierung des Protagonisten als Teil einer Prüfung bereitete ihm Schwierigkeiten, die er jedoch gemeinsam mit einem Sozialpädagogen aus einem Jugendzentrum lösen konnte: „Ich hab eigentlich, ich les, hab aber gar nicht kapiert. Aber der Soyrad, der hat mir auch gelesen. Ich lese, ich hab also halt die Seite gelesen, sagt mir ok, was hast du jetzt kapiert. Ich hab halt gesagt, was ich kapiert habe. Hat er mir gesagt, ok, und was dann ist. Ich hab’s gesagt. Hat er gesagt, ok. Jetzt lesen wir noch mal die Seite zusammen. Ich hab mit ihm die Seiten noch mal zusammen gelesen. Und dann hat er’s mir erklärt“ (Rosebrock & Nix, 2008, S. 122). Nur mit der permanenten Unterstützung des Sozialpädagogen und dessen Zeit- und Arbeitsplan bewältigt Ali die Lektüre und ist stolz darauf.
Gefragt, woran er sich sonst noch aus seinem Deutschunterricht erinnern kann, entgegnet Ali: „Vorher? In Deutsch? Auf Hauptschule haben wir noch nie Buch gelesen. Das war der erste Buch, Realschulabschluss. Also halt, ich war vier Jahre auf der Schule, ich hab noch nie da ein Buch gelesen. Was wir in Deutsch gemacht haben? Weiß nicht. Deutsch halt.“ (Rosebrock & Nix, 2008, S. 123)
Vergleicht man die beiden Fälle von zwei Adoleszenten, die deutsche Schulen besucht haben und etwa zur gleichen Zeit geboren wurden, so scheinen mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zu bestehen. Beide Personen lesen – die eine Chattexte im Internet und die Bildzeitung, die andere Romane und Fachliteratur in der Ausbildung –, aber Ali bezeichnet sich als Nicht-Leser, während die Studentin diverse Zwecke der Lektüren aufzählt und wenig Zweifel aufkommen lässt, sie als Leserin zu erkennen. Die Studentin berichtet von vorlesenden Eltern, der ehemalige Hauptschüler hat hingegen keine Eltern, die ihm vorlesen könnten, da Mutter und Vater des Lesens unkundig sind. Die Phase einer lustvollen Kinderlektüre, von der die Studentin schwärmt, taucht in Alis Fall nicht auf, ebenso der Rückgang des Lesens zu Beginn der Jugend. Von Leseschwierigkeiten, die Ali anspricht, berichtet die Studentin nicht, bei ihr scheinen in der Sekundarstufe I eher motivationale Probleme vorzuliegen.
Ali erinnert sich nicht daran, in der Hauptschule je Bücher gelesen zu haben, während in der Leseautobiografie der Studentin Bücher implizit und explizit auftauchen. Trotzdem haben beide Fälle einen wichtigen Umstand gemeinsam: Ali und die Studentin thematisieren den Einfluss durch einen Pädagogen. Bei Ali ist es ein Mitarbeiter des Jugendzentrums, der ihm hilft, einen für eine Prüfung wichtigen literarischen Text zu verstehen, und ihn intensiv betreut. Bei der Studentin sorgt ein Deutschlehrer in der Oberstufe für eine Zuwendung zu schwierigen literarischen Texten und die freiwillige intensive Auseinandersetzung mit ihnen.
Das Wichtigste kurz und knapp
Abstrahiert man die Faktoren, die in den beiden Falldarstellungen bedeutsam für die Lesegeschichte sind, lassen sich das Geschlecht, die soziale Herkunft (Geburtsland, Bildung der Eltern) und nicht zuletzt Bezugspersonen wie Eltern, Pädagogen und Freundinnen und Freunde aufzählen. Wie solche individuellen und sozialen Faktoren die Wege zum Lesen formen, ist der Gegenstand der Lesesozialisationsforschung. Sie fragt nach jenen Prozessen und Dynamiken, „die auf individuell-biografischer Ebene zur Entwicklung der Fähigkeit, Motivation und Praxis führen, geschriebene Sprache im Medienangebot zu rezipieren“ (Rosebrock, 2006, S. 443). An dieser Definition fällt auf, dass es sowohl um Aspekte des Könnens, des Wollens und der Nutzung geht, Texte jedweder Art (Sach- und fiktionale Texte) in verschiedenen medialen Repräsentationsformen (gedruckt und digital) zu lesen (Hurrelmann, 1999).
Die Lesebiografie-Forschung hat aus einer Vielzahl von Leseautobiografien typische Verläufe der Lesesozialisation zu rekonstruieren versucht. Dabei muss vorweg auf einige Einschränkungen dieses Forschungsparadigmas hingewiesen werden: Es handelt sich vorwiegend um Selbstauskünfte aus der Feder von Studierenden vornehmlich des Lehramts Fach Deutsch, hauptsächlich aus den 1980er und 1990er Jahren. Unübersehbar dominant sind darin die Bücher, während andere Lesemedien randständig bleiben. Wie die schriftlichen Selbstauskünfte erhoben und vor allem ausgewertet wurden – zwei Gütekriterien bei jeder Forschung –, das bleibt in den Arbeiten von Werner Graf (1995, 2004a, 2007), dem Hauptvertreter der Lesebiografieforschung, leider ausgespart. Das Verlaufsschema der Lesesozialisation in Abbildung 2.1 ist demnach hinsichtlich seines Geltungsbereichs gleich doppelt zu relativieren. Es bildet erstens ein prototypisches Verlaufsschema einer mehrheitlich gelingenden Lesesozialisation von Personen aus bildungsnahen Elternhäusern ab, und es gilt zweitens nur zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, nämlich am Ende des 20. Jahrhunderts.

Abb. 2.1: Prototypisches Verlaufsschema einer gelingenden Lesesozialisation von Mittelschichtangehörigen (eigene Darstellung auf der Basis von Graf, 1995, 2007)
In der Abbildung sind unten die Lebensphasen und biografischen Ereignisse abgetragen und oben die besonders wichtigen Quellen, von denen starke Impulse der Lesesozialisation ausgehen (die nachstehende Paraphrase folgt Graf, 1995 und 2007). In der Phase der primären literarischen Initiation, also einer Einführung in die Welt des Literarischen, sorgen vor allem Eltern mit Vorlesen, Sprachspielen, Kinderliedern und dem Erzählen von Geschichten als Formen prä- und paraliterarischer Kommunikation dafür, dass Sprache ein für Kinder erkennbares eigenes Referenzsystem aufweist, nämlich die Welt des Literarischen. Vermutlich liegt hierin ein entscheidender Antrieb für die Kinder, dass sie bei der sich anschließenden Phase, dem Schriftspracherwerb in der Grundschule, das notwendige Maß an Motivation haben, das die kognitiv anstrengende Literalisierung erfordert. Gelingt der Schriftspracherwerb, so schließt sich idealtypisch die Phase der lustvollen Kinderlektüre an, in der Familie und Bibliotheken den Lesestoff bereitstellen, den die Kinder selbstständig lesen. Das Beispiel der Studentin aus Kapitel 2.1 passt sich nahtlos in das Schema der Grafik ein. Dies zeigt sich durch die Wiederholungslektüren und die besonders starke Identifikation mit Pippi Langstrumpf, der Welt von Hanni und Nanni, den fünf Freunden und Dolly. Schon als Kind hat sie sich auch der Erwachsenenliteratur zugewendet.
Einen Bruch in der Lesesozialisation stellt die Lesekrise zu Beginn der Jugend dar. Das bisherige literarische und Buchleseverhalten unterliegt einem starken Wandel: Es verändern sich Häufigkeit, Stoffe, Medien und nicht zuletzt die Rezeptionsweisen. Das schulische Lesen und das Freizeitmedienverhalten im Kreise der Peers dürften häufig sehr gegensätzliche Erfahrungen mit sich bringen, zwischen denen die Jugendlichen ihr eigenes Lesen wiederfinden (müssen). Wie die Lesekrise bewältigt wird, ist in der Grafik durch drei Wege dargestellt. Im Fall des oft männlichen Nicht- und Weniglesens findet keine Rückkehr zum (literarischen) Lesen statt. Als typische Lesemodi, d. h. Mischungen aus Leseabsichten, Gratifikationen und nötigem Leseverstehen, realisieren diese Jugendlichen noch am ehesten das in Ausbildungskontexten fremdbestimmte Lesen (Pflichtlektüre) und das Lesen zu Zwecken der Information (instrumentelles Lesen). Im zweiten Fall, der Ausbildung einer Sach- und Fachtextlektüre, geht es den überwiegend männlichen Jugendlichen darum, sich interessenbasiert lesend Wissen und Expertise anzueignen (Konzeptlesen), durch harte ‚Textarbeit‘ zu tieferen Einsichten zu gelangen (Lesen zur diskursiven Erkenntnis) oder Gelesenes in den Alltag zu integrieren (partizipatorisches Lesen). Ein anderer Teil der meist weiblichen Jugendlichen geht einen anderen Weg, nämlich den der Reintegration in die Gemeinschaft der literarisch Lesenden in der sekundären literarischen Initiation. Mithilfe von Lehrkräften, Freundinnen und Freunden gelingt es ihnen wie im Beispiel der Studentin aus Kapitel 2.1, sich wieder auf literarische Texte einzulassen. Drei Lesemodi weisen eine Nähe zu dem erneuten literarischen Lesen auf: das partizipatorische Lesen zur Integration des Textes in den Alltag, z. B. um sich wie die Studentin mit Freunden darüber zu unterhalten, was auch als „Anschlusskommunikation“ bezeichnet wird (Hurrelmann, 2002b), das Lesen eines Textes, um diesen als sprachliches Kunstwerk zu genießen (ästhetisches Lesen), und zu guter Letzt das dem kindlichen Lesen ähnliche, auf Genuss, Abschalten und Unterhaltung zielende intime Lesen. Im besten Fall und damit gewissermaßen als Ziel einer gelingenden Lesesozialisation werden alle sieben Lesemodi erreicht.
Versucht man nun, das Schema auf Alis Fall aus Kapitel 2.1 anzuwenden, so wird schnell offensichtlich, dass es für den 18-jährigen Marokkaner nicht greift. Weder scheint er eine wirkliche primäre literarische Initiation erlebt zu haben, noch erfährt man ausreichend darüber, ob er lustvoll Kinderliteratur gelesen hat. Weitere Phasen aus dem Schema fehlen ebenfalls, und wenn man sich den realisierten Lesemodi von Ali zuwendet, so kann man primär die Pflichtlektüre der „Neuen Leiden“ und das instrumentelle Lesen des Textes für das Verfassen der Zusammenfassung entdecken. Da nicht klar ist, wozu Ali die Bild-Zeitung liest, fällt es schwer, hierfür zuverlässig einen Lesemodus zu benennen.
Das Wichtigste kurz und knapp
Was lehren die beiden Fallbeschreibungen dieses Kapitels in Bezug auf die Genese von Lesemotivation, -verhalten und -kompetenz? Lesesozialisation ist kein für alle Heranwachsenden gleich ablaufender Prozess; sie hängt von Merkmalen wie Geschlecht, sozialer Herkunft, den Anregungen durch die Umwelt und dem Zusammenspiel dieser Faktoren ab. Selbst eine gelingende Lesesozialisation weist krisenhafte Züge auf: Eine nachlassende Leseaktivität zu Beginn der Jugend stellt den Regelfall dar. In jeder Phase der Lesesozialisation sind Anregungen von außen, d. h. von Instanzen der Lesesozialisation, nötig, die allerdings je nach Phase unterschiedlichen Charakter haben. Sie reichen von Hinführungen zum Lesen (primäre und sekundäre literarische Initiation, aber auch die Genese des Sachtextlesens) über das Versorgen mit Lesestoff (lustvolle Kinderlektüre) bis hin zum Vermitteln der kognitiven Fähigkeiten (Schriftspracherwerb).
Je nach sozial bedingter bisheriger Lesesozialisation haben Lehrkräfte es mit zum Teil sehr heterogenen Gruppen von Leserinnen und Lesern in ihren Schulklassen zu tun: Mittelschichtangehörige weisen andere Charakteristika auf als Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten oder in prekären Lagen. Entsprechend kann der Deutschunterricht an verschiedenen Schulformen an bestimmte Voraussetzungen in Leseverstehen, -motivation und -verhalten anknüpfen, die manche Heranwachsende mitbringen und andere nicht.
Lesesozialisation, das zeigt das Schema aus dem Kapitel zuvor, vollzieht sich je nach Lebensphase anders. Und sie unterliegt einem historischen Wandel. Entsprechend muss eine umfassende Theorie der Lesesozialisation drei Problemebenen umfassen. Diese Ebenen unterscheiden sich zeitlich (synchron = gleichzeitig, diachron = aufeinander folgend) und danach, ob sie Einzelpersonen tangieren oder die Verfasstheit von Gesellschaften. Die drei Ebenen betreffen
Das Verlaufsschema aus Abbildung 2.1 würde die diachron-individuelle Ebene bedienen, allerdings ohne theoretisch befriedigende Grundlage. Dieses Manko lässt sich nicht beseitigen, sodass andere theoretisch überzeugendere Modelle konsultiert werden müssen.
Eine grundsätzliche Schwierigkeit beim Thema (Lese-)Sozialisation ergibt sich daraus, dass sie sich immer im Wechselspiel von Individuen und Gesellschaft bzw. ihren Sozialisationsinstanzen Familie, Schule und Peers vollzieht (Hurrelmann, 2002c; Geulen, 2005). Das erschwert es allgemein, eine einheitliche Theorie der Lesesozialisation zu finden, und führt hier dazu, dass zwei komplementäre Theorien vorgestellt werden. Die erste stammt aus der Soziologie und beschreibt das Verhältnis zwischen den Ebenen der Lesesozialisation. Wie sie zusammenhängen, wird im Mehrebenenmodell der Ko-Konstruktion erläutert. Es ist besonders gut geeignet, diachron-historische Veränderungen zu erklären (Hurrelmann, Becker & Nickel-Bacon, 2006), allerdings lässt sie auf das synchron-systematische Handeln keine Schlüsse zu. Der aus der Psychologie stammende zweite Ansatz, aufgrund von Erwartungen über das Eintreten eines Ergebnisses und dem Wert, dem man ihm beimisst (Erwartungs-×-Wert-Modell), Handlungen zu erklären, ergänzt entsprechend das soziologische Rahmenmodell.
Ein neueres Verständnis von Lesesozialisation nimmt als Grundlage Essers „Grundmodell der soziologischen Erklärung“. Esser (1993) hatte es ursprünglich entwickelt, um gesellschaftliche Veränderungen zu erklären. Er geht dabei einen „Umweg“ und betritt eine untergeordnete Ebene, auf der Akteure wahlweise in Form sozialer Gebilde oder Einzelpersonen eine Situation wahrnehmen, kollektiv oder individuell handeln und so die bestehende Situation bestätigen oder verändern.

Abb. 2.2: Die drei Ebenen und drei Logiken der Lesesozialisation im Modell der Ko-Konstruktion (eigene Darstellung nach Groeben, 2004a, und Hurrelmann et al., 2006)
Das Modell geht davon aus, dass die Ebenen über drei sogenannte Logiken miteinander verknüpft sind. In Abbildung 2.2 wären das zum einen die Makroebene, d. h. die Gesellschaft, und die Mesoebene, worunter die Familie, die Schule und die Peers fallen, und zum anderen die Mesoebene und die Individuen auf der Mikroebene. Bei den drei Logiken handelt es sich um die 1) Logik der Situation, die 2) Logik der Selektion und die 3) Logik der Aggregation. Wie funktioniert nun das Zusammenspiel?
Auf der übergeordneten Ebene befindet sich eine soziale Situation, die in der Logik der Situation von den Akteuren der untergeordneten Ebene wahrgenommen wird. Das könnten zum Beispiel viel lesende Familienangehörige auf der Mesoebene sein, die ein Kind im Alltag immer wieder beobachtet. In der Logik der Selektion wählen Individuen aufgrund der Charakteristika der Situation, aber auch aufgrund eigener Erfahrungen aus den individuellen Handlungsalternativen diejenige, die sie ausführen. Das Spektrum der Handlung reicht von der Reduplikation über modifizierende, kombinierende oder selektive hin zu gegenläufigen Aktivitäten. Ein Kind in einer lesenden Familie kann also selbst viel lesen (Reduplikation). Es kann andere Texte als die Eltern goutieren (Modifikation), aus den vorgelebten Verhaltensweisen einzelne auswählen (Selektion), sich aus Leseangeboten einen individuellen Mix zusammenstellen (Kombination) oder aber das Lesen ablehnen und entsprechend verweigern (Negation). Je nach Art der Handlung wirken die Akteure auf die übergeordnete Ebene in der Logik der Aggregation zurück (Groeben, 2004a). Das Kind kann also mit seinem Leseverhalten das familiale Leseklima fortsetzen, aber auch verändern (zum Beispiel, indem es neue Lesestoffe in die Familie hineinträgt oder aber sein abweichendes Leseverhalten die Eltern dazu veranlasst, das Lesen stärker zu thematisieren, subtil zu fördern, Buchgeschenke zu machen etc. für eine ausführliche Beschreibung der Ko-Konstruktion in der Familie siehe Garbe, Philipp & Ohlsen, 2009, S. 60–67, 96–103).
Für die Lesesozialisation haben Groeben und Schroeder (2004) das komplexe Zusammenspiel der drei Ebenen beschrieben. Es ist bereits auf der Makroebene eine Vielfalt von drei historischen gesellschaftlichen Bildungsnormen zu attestieren. Lesen kann der Unterhaltung, dem Genusserleben und der Erlebnisorientierung dienen (Bildungsnorm der Mediengesellschaft), der Entwicklung und Verfeinerung der Persönlichkeit im Sinne einer existentiellen Persönlichkeitsbildung (Bildungsnorm der Romantik) oder aber der rationalen Selbstbestimmung durch kritisches, auf Wissenserwerb abzielendes Lesen (Bildungsnorm der Aufklärung) (Hurrelmann, 2004a). Auf der Mesoebene ko-konstruieren Familien, Lehrkräfte und Peers dann, welche lesebezogenen Aufgaben sie haben (s. Kap. 10.1). Diese Aufgaben oszillieren zwischen einer stark gesellschaftsfernen und -nahen Variante. Die Beispiele der Studentin und der Fall Ali aus Kapitel 2.1 zeigen anhand des Vorlesens der Eltern, dass je nach sozialer Herkunft der Bildungsauftrag des Vorlesens anders erkannt und umgesetzt wird.
Über die Verknüpfung von der Mesoinstanz mit der Mikroebene kommen die gesellschaftlichen Bildungsnormen bei Heranwachsenden an, die zuvor von Familien-, Schul- und Peer-Kulturen unterschiedlich interpretiert worden sind. Auf der Mikroebene besteht nun prinzipiell wieder eine Vielfalt von individuellen Handlungsalternativen. Sie reicht von der Weitervererbung des kulturellen Kapitals (Bourdieu, 1983) in Form der Übernahme der sozialen Lesekulturen ins eigene Leseverhalten bis hin zu unerwarteten, erwartungswidrigen Verhaltensweisen wie den unerwarteten (Wenig-)Lesern (Hurrelmann, Hammer & Nieß, 1995, s. Kap. 7.3) oder der literalen Resilienz, d. h. einer unerwartet hohen Lesekompetenz bei ungünstigen soziodemografischen Merkmalen (Schneider, 2009). Über die Logik der Aggregation können gerade die letztgenannten Fälle dazu führen, dass sich die Mesoinstanz verändert und bei Überschreiten einer kritischen Masse auch die Akteure der Mesoebene auf die Makroebene zurückwirken. So lassen sich beispielsweise Phänomene wie der gesamtgesellschaftliche Boom der Harry-Potter-Romane erklären, die aus sozialen und individuellen Handlungen resultieren, welche selbst sozial überformt sind. Die Stärke des Modells besteht also darin, das Geschehen als dynamisch zu beschreiben und verschiedene Ebenen zu verknüpfen. Was das Modell aber nicht befriedigend erklären kann, ist das individuelle Handeln. Dafür ist ein Erwartungs-×-Wert-Modell besser geeignet, das nun vorgestellt wird.
Ein komplexes Erwartungs-×-Wert-Modell für die motivationalen Grundlagen der Lesekompetenz haben Möller und Schiefele (2004) im Kontext der PISA-Studie vorgelegt (s. Abb. 2.3). Solche Modelle dienten ursprünglich der Vorhersage von Motivation und Verhalten in Leistungssituationen, d. h. in diesem Fall der Vorhersage der Lesekompetenz. Moderne Erwartungs-×-Wert-Theorien fokussieren jedoch nicht nur die Leistungen in schulischen Kontexten, sondern auch auf die Persistenz bei und die Wahl von Aktivitäten allgemein (Wigfield, Tonks & Klauda, 2009). Damit erscheinen sie für außerschulische und schulische Kontexte geeignet, nicht zuletzt deshalb, weil Freizeitaktivitäten von Kindern und Jugendlichen, darunter die Lesehäufigkeit, damit erklärt werden konnten (Eccles & Harold, 1991; Münz, 2008; Retelsdorf & Möller, 2008a).

Abb. 2.3: Ein rekursives Erwartungs-×-Wert-Modell zum Lesen (Quelle: Möller & Schiefele, 2004, S. 105)
Den Ausgangspunkt im Modell bildet die soziale Umwelt, also das kulturelle Milieu im weitesten Sinne. In der sozialen Umwelt können Heranwachsende zugleich das Leseverhalten wichtiger Bezugspersonen (Eltern, Geschwister, Peers) beobachten und über Modelllernen zum Lesen verführt werden. Sie machen überdies eigene Erfahrungen mit dem Lesen – auch in Form der schulischen Leistungsrückmeldungen. Die Heranwachsenden stellen also fest, ob ihnen das Lesen leicht fällt, positiv oder negativ sanktioniert wird etc., sodass ihr lesebezogenes Selbstkonzept und ihre Selbstwirksamkeit sich daraus speisen. Im Mehrebenenmodell der Ko-Konstruktion würde sich die soziale Umwelt in der „Logik der Situation“ beschreiben lassen.
Unter die subjektive Verarbeitung im Erwartungs-×-Wert-Modell fallen zum einen die Wahrnehmung der sozialen Umwelt und zum anderen die Interpretation und Attribution von Leseerfahrungen, wobei die Erfahrungen immer auch eine emotionale Qualität haben. Die Attribution beinhaltet subjektive Begründungen und Erklärungen von – meist unerwarteten oder negativen – Ereignissen oder Handlungen. Es lassen sich internale (innerhalb der eigenen Personen liegende) von externalen (außerhalb der Person liegenden) Begründungen unterscheiden, die zudem zeitlich stabil oder sporadischer Natur sein können. Negative internale und zeitstabile Attributionen sind dysfunktional für die Lesemotivation (Guthrie & Coddington, 2009), suggerieren sie Heranwachsenden doch, auf Dauer keinen eigenen Einfluss auf den Ausgang von Situationen ausüben zu können. Sie könnten also im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung eine resignative Abkehr, die Annahme künftiger Misserfolge und attributionsabhängige Emotionen wie Scham oder Hoffnungslosigkeit nach sich ziehen.
Aus subjektiv verarbeiteten Attributionen und Wahrnehmungen speisen sich die motivationalen Überzeugungen. Möller und Schiefele (2004) nennen vier Aspekte: das individuelle Interesse, die Zielorientierung, das lesebezogene Selbstkonzept und die lesebezogene Selbstwirksamkeit. Interessen und Ziele lassen sich eher der Wertkomponente zuordnen, lesebezogenes Selbstkonzept sowie Selbstwirksamkeitsüberlegungen stärker der Erwartungskomponente. Individuelle Interessen definieren Möller und Schiefele (2004, S. 108) als „relativ stabile Orientierungen hinsichtlich eines bestimmten Themas oder Gegenstandsbereichs“. Es geht hier darum, worüber jemand gern etwas liest, z. B. bestimmte Textsorten/Genres, über bestimmte (Sach-)Themen etc. Personen lassen sich zudem danach unterscheiden, welche Ziele sie in Leistungssituationen verfolgen: Auf der einen Seite gibt es Individuen mit hoher Lernzielorientierung, d. h. mit dem „Wunsch oder [der] Absicht, die eigene Kompetenz zu steigern, eine Fertigkeit zu erlernen oder Lernmaterial zu verstehen“ (Möller & Schiefele, 2004, S. 110). Die Leistungszielorientierung auf der anderen Seite ist eher extrinsisch motiviert und hat die Absicht als Antrieb, hohe Fähigkeiten zu demonstrieren bzw. niedrige zu verbergen. Lernziele dürften deutlich positivere Effekte für die Entwicklung der Lesemotivation und das -verstehen nach sich ziehen als Leistungsziele (Guthrie & Coddington, 2009).
Die Leistungskonzepte oder auch akademischen Selbstkonzepte sind „generalisierte fachspezifische Fähigkeitseinschätzungen“ (Möller & Schiefele, 2004, S. 111), die sich vor allem aus Vergleichen mit anderen ergeben. Ging es beim Selbstkonzept noch eher um die Selbstwahrnehmung, die das Lesen allgemein betrifft, kann die Selbstwirksamkeit hier „als Annahme einer Person definiert werden, wie gut sie bei einer bevorstehenden Aufgabe abschneiden wird“ (Möller & Schiefele, 2004, S. 114). Die Selbstwirksamkeitsüberzeugung ist anders als das Selbstkonzept recht unabhängig von sozialen Vergleichen, sondern speist sich stärker aus vorliegenden Erfahrungen mit ähnlichen Texten oder Aufgaben (Bong & Skaalvik, 2003). Selbstkonzepte und -wirksamkeit sind hochgradig domänenspezifisch, das heißt, dass jemand für einzelne Fähigkeiten genau einschätzen kann, wie gut er oder sie ist, diese Selbsteinschätzung mit denen aus anderen Bereichen jedoch wenig zusammenhängt (Eccles, Wigfield, Harold & Blumenfeld, 1993; Bong, 2001; Möller, Pohlmann, Köller & Marsh, 2009). In Studien lassen sich allerdings beide Konstrukte kaum voneinander trennen, vermutlich ist die Selbstwirksamkeit eine Voraussetzung des Selbstkonzepts (Bong & Skaalvik, 2003).
Die motivationalen Überzeugungen beeinflussen die lesebezogenen Wert- und Erwartungskognitionen. Die Erwartungskomponente bezeichnet die subjektive Erfolgseinschätzung, ob eine Tätigkeit bewältigt werden kann („Werde ich den Text verstehen können?“), und die Wertkomponente die individuell eingeschätzte Bedeutsamkeit des Erfolgs („Will ich den Text gerne lesen und warum?“). Beide Komponenten scheinen in einem Wechselverhältnis zu stehen; die Frage nach der Kausalität ist bislang noch unbeantwortet. Der Wert setzt sich aus vier Komponenten zusammen: dem vermuteten Vergnügen, der beigemessenen Wichtigkeit des Lesens, ob die Leseaktivität nützlich ist und welchen Aufwand bzw. welche Kosten sie mit sich bringt. Die Erwartung meint die Einschätzung, wie wahrscheinlich das Eintreten eines Ereignisses ist (Möller & Schiefele, 2004). Aus dem Zusammenspiel von Wert und Erwartung – daher auch die Bezeichnung Erwartungs-×-Wert-Modell – speisen sich die verschiedenen Formen der Lesemotivation, die in Kapitel 3.1 genauer definiert und systematisiert werden. Alle bisher vorgestellten Aspekte ließen sich im oben eingeführten Ko-Konstruktionsmodell unter der „Logik der Selektion“ subsummieren.
Je nach Grad und Art der Motivation gestaltet sich das aktuelle oder habituelle Leseverhalten, also die Häufigkeit und die Ausdauer, mit der gelesen wird, das Ausmaß der investierten Anstrengung und der Einsatz von Lesestrategien (siehe dazu Kap. 6.1). Damit fallen sehr unterschiedliche Aspekte unter den Begriff „Leseverhalten“, der theoretisch noch zu klären ist. Das Leseverhalten bildet die Brücke von der Lesemotivation zur Kompetenz, weil angenommen wird, dass häufiges Lesen mit einem besseren Textverständnis einhergeht (siehe dazu Kap. 6.2). Das könnte laut Guthrie, Wigfield, Metsala, Jamie und Cox (1999) daran liegen, dass häufiges Lesen erstens das Vorwissen und damit das Leseverstehen neuer Texte verbessert, zweitens Lesekonzept und -selbstwirksamkeit erhöht und damit die Suche nach Herausforderungen in Form schwierigerer Texte wahrscheinlicher macht und drittens hierarchieniedrige Prozesse des Lesens automatisiert und kognitive Kapazitäten freisetzt (Rosebrock & Nix, 2006). Zu guter Letzt könnten Vielleser ihre Lesemotivation vermutlich besser regulieren und so höhere Leistungen erbringen.
Im Modell von Möller und Schiefele (2004) wird ein Pfeil von der Lesekompetenz, die hier mit den drei Subskalen aus der PISA -Studie gleich gesetzt wird, zurück zur sozialen Umwelt gezogen, sodass dieser Prozess als Zyklus zu begreifen ist. Hieraus ergibt sich die Nähe zur „Logik der Aggregation“ aus dem Ko-Konstruktionsmodell. Zugleich erhält das Erwartungs-×-Wert-Modell mit der indirekten Betonung der Leseleistung als Ausgangspunkt für Reaktionen der sozialen Umwelt unfreiwillig eine schulische Konnotation. Für das Geschehen in informellen Lesesozialisationskontexten wie Familie und im Kreis der Peers erscheint es sinnvoller, bereits das Leseverhalten und seine Reaktionen darauf zu fokussieren.
Das Wichtigste kurz und knapp
Der Lesesozialisationsforschung mangelt es derzeit an einer umfassenden Metatheorie, die individuelles gegenwärtiges und sich im Lebenslauf wandelndes Lesen sowie die historische Veränderungen gleichermaßen erklären kann. Ein Mehrebenenmodell der Ko-Konstruktion stammt aus der Soziologie und wurde für die Lesesozialisation angepasst. Seine Stärke besteht darin, diverse Ebenen der Lesesozialisation in ihrem Verhältnis zueinander zu systematisieren. Seine Schwäche liegt darin, dass es die Gründe nicht ausdifferenziert, weshalb Individuen in konkreten Situationen sich auf eine bestimmte Art verhalten. Das Erwartungs-×-Wert-Modell ergänzt diese Perspektive. Es klärt außerdem, wie sich die soziale Umwelt über individuelle Wahrnehmungen und Interpretationen auf das Leseverstehen auswirkt. Als wichtiger Zwischenschritt wird eine Wirkkette von Erwartungs- und Wertkognitionen auf sich daraus ergebende Lesemotivationsformen und sich anschließendem Leseverhalten modelliert. Was beiden Modellen fehlt, ist eine dezidierte Entwicklungsperspektive (siehe dazu eine erste Skizze von Garbe, Holle & von Salisch, 2006).
Zusammenfassung
Lesesozialisation meint alle sozial und individuell bedingten Prozesse, die im Lauf des Lebens dazu führen, dass Menschen (nicht) die Fähigkeiten, die Motivation und die Praxis entwickeln, schriftsprachliche fiktionale wie nicht-fiktionale Texte sowohl in gedruckter als auch digitaler Fassung zu rezipieren. Anhand zweier Beispiele aus bildungsnahen bzw. -fernen Elternhäusern konnte angedeutet werden, wie voraussetzungsreich die Lesesozialisation ist und dass ein prototypisches Schema einer gelingenden Lesesozialisation in der Mittelschicht nicht ohne weiteres auf andere soziale Lagen angewendet werden kann. Dazu braucht es allgemeinere theoretische Modelle, von denen zwei vorgestellt wurden: das soziologische Mehrebenenmodell der Ko-Konstruktion und das aus der Psychologie stammende Erwartungs-×-Wert-Modell.
Lesesozialisation lässt sich als Teil der Bildungsbiografie begreifen, die sich inner- und außerhalb der Schule vollzieht. Das Wissen darüber, was in der Lesesozialisation geschieht, ist damit für Lehrkräfte essentiell. Es erlaubt ihnen zum einen, die Fähigkeiten und Ausprägung lesebezogener Merkmale von Schülerinnen und Schülern in bestimmten Phasen der Lesesozialisation besser einzuschätzen. Zum anderen sollte diese Kenntnis gerade an den niedrigeren Schulformen dazu führen, nicht die eigene (gelungene) Lesesozialisation bei den Schülern vorauszusetzen oder gar realistisch zu erwarten.
In den drei Kapiteln zuvor wurden die Entwicklungen der drei Bereiche Lesemotivation, -verhalten und -kompetenz aus Darstellungsgründen gesondert behandelt, in diesem Kapitel anhand einer Betrachtung der bestehenden Verbindungen untereinander zusammengeführt. So beleuchtet das erste Teilkapitel (6.1) das Verhältnis von Lesemotivation und -verhalten im Sinne der Lesefrequenz vornehmlich in der Freizeit. Der folgende Abschnitt (Kap. 6.2) fokussiert die Verbindung von Leseverhalten und -verstehen. Im letzten Teil (Kap. 6.3) geht es um die Zusammenhänge zwischen Lesemotivation und -kompetenz. Ein allgemeiner Befund, der besonders deutlich im letzten Abschnitt zutage tritt, besteht in allen drei Teilkapiteln darin, dass die Verknüpfungen zwischen den Bereichen Lesemotivation, -verhalten und -verstehen wesentlich komplexerer Natur sein dürften als vermutet.
Angesichts der theoretischen und empirischen Vielfalt an Lesemotivationsformen (Kap. 3.2) und dem vielfach erforschten Leseverhalten (Kap. 4.2) könnte man meinen, dass es auch zum Zusammenhang beider Variablen viele Studien gibt. Tatsächlich wurde das Verhältnis von Lesemotivation und -verhalten jedoch bisher überraschend wenig untersucht. Vielmehr besteht in der bisherigen deutschdidaktischen Leseforschung eine auffällige Tendenz, ohne statistische Analysen Indizes zu bilden, die sowohl Verhaltens- als auch motivationale Aspekte enthalten (z. B. Böck, 2000; Bucher, 2004; Harmgarth, 1997). Das erleichtert zwar den Umgang mit vielen einzelnen Variablen, jedoch ist mit einer solchen Aggregation immer ein Datenverlust verbunden, was selten oder gar nicht reflektiert wird. Hinzu kommt, dass solche Indizes zum Teil vereinen, was aus theoretischer Sicht zunächst besser getrennt bleibt. Ein Beispiel dafür ist der Buchleseindex von Gattermaier (2003), der aus vier Facetten besteht: dem Selbstbild als Leser, der Anzahl zuletzt gelesener Bücher, der Buchlesefrequenz sowie Buchlesedauer pro Tag. Das Selbstbild wirkt hier im Vergleich mit den anderen drei die Lesemenge quantifizierenden Variablen vergleichsweise fremd.
Entsprechend werden in diesem Teilkapitel keine solchen Indizes vorgestellt, sondern die vielen verstreuten Befunde zur Verbindung von Lesemotivation und -verhaltensvariablen versammelt, die vor allem für die Klassen 3–6 auffällig oft untersucht wurden. Die Häufigkeit des Lesens als Indikator des Leseverhaltens dominiert dabei eindeutig. Die Ergebnisse werden wegen der großen Unübersichtlichkeit in der Forschungslandschaft in drei Schritten entfaltet. Im ersten Teil geht es um die Lesemotivation und einzelne Textsorten bzw. Lesemedien. Teil zwei widmet sich den MRQ-Dimensionen der Lesemotivation und der Lesemenge bzw. -frequenz in Freizeit und Schule. Im dritten und letzten Teil werden Längsschnittbefunde präsentiert.
Ein großes Problem der Leseforschung besteht darin, dass die vielfältigen Lesemotivationsvarianten kaum zu der Frequenz der Lektüre unterschiedlicher Lesemedien in Bezug gesetzt werden. Erste Hinweise sprechen dafür, dass es für die Zuwendung zu unterschiedlichen Texten auch unterschiedliche Anreize gibt. Zum Beispiel war in der LISA-Studie unter Fünftklässlern die tätigkeitsspezifische Lesemotivation vorhersagestärker dafür, einen Roman zu lesen, während das gegenstandsspezifische Lesen enger mit dem Ausmaß zusammenhing, mit dem Kinder fünfter Klassen einen Sachtext lesen wollten (Möller & Retelsdorf, 2008). In der Studie von Moje et al. (2008) hing das Lesen zum Vergnügen stark mit dem Romanlesen (r = .52) und weniger stark mit der Häufigkeit des Lesens von Gedichten (r = .38) oder Sachbüchern (r = .35) zusammen. Mit dem Lesen digitaler Texte gab es keine Korrelation über r = .10. Ähnliche Korrelationen sind für die habituelle tätigkeitsspezifische intrinsische Lesemotivation und Printmedien unter Kindern fünfter und sechster Klassen beobachtet worden (Philipp, 2010).