SHADOWRUN:

SCHATTEN DOWN UNDER

JEAN RABE

Pegasus Press

35005G

Übersetzung aus dem Amerikanischen:

Christina Brombach

Redaktion:

Tobias Hamelmann

Umschlagillustration:

Laura Diaz Cubas

Umschlaggestaltung und Satz:

Ralf Berszuck

Lektorat und Korrektorat:

Lars Schiele

Umsetzung eBook:

SiMa Design

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

»Shadows Down Under« bei Catalyst Game Labs.

© 2016 Topps, Inc. Alle Rechte vorbehalten.

Shadowrun ist eine eingetragene Marke von Topps, Inc.

in Deutschland und anderen Staaten.

© der deutschen Ausgabe 2017 bei Pegasus Spiele.

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit vorheriger Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Druck via GrafikMediaProduktion.

ISBN 978-3-95789-186-0

Besuchen Sie uns im Internet: www.pegasus.de

Für Onkel Wes

und die wunderbarste Mitzi von allen

PROLOG

Der Sturm brach an einem Heiligabend vor langer Zeit kurz vor Sonnenuntergang los.

Er wurde im Outback aus einer einzigen perlmuttfarbenen Wolke geboren, die hoch am Himmel hing, milchig blau und schillernd grau, schimmernd, glänzend und wunderschön, mit einem Hauch von rosigem Pink. Die Wolke lud das erste Volkdie Aboriginesein, unter ihren pulsierenden Fäden stehen zu bleiben und sie voll ehrfürchtiger Bewunderung anzusehen.

Und dann voll Entsetzen.

Und noch später voll Verstehen.

Und schließlich wieder voll Bewunderung.

Zuerst wurde die Wolke dunkler und trübte sich, als ob sie vor gerechtem Zorn brodelte. Ein schneidender Wind erhob sich und wurde schnell so stürmisch, dass selbst das erste Volk Schutz suchen musste. Blitze zuckten herab, um diejenigen aufzuspießen, die der einst so schönen Welt Gewalt angetan hatten. Donnergrollen brachte die Erde zum Zittern und Tanzen.

Die Verwüstung war entsetzlich. Kleine Städte wurden hinweggefegt, Dutzende kamen ums Leben und Hunderte wurden verletzt. Auch auf der astralen Ebene richtete der Sturm verheerende Schäden an.

Als er sich wieder legte, beruhigte sich auch die Bevölkerung wieder und alle gingen von einem Manasturm aus, einer Laune der Natur und der Magie. Alle, bis auf das erste Volk. Die Leute machten sich daran, ihr normales Leben weiterzuführen und ihre kleinen Städte aufzubauen. Sie rissen ungläubig die Augen auf, als die schreckliche Wolke ein paar Wochen später wiederkehrte und sich noch weiter ausbreitete, als der Regen sie von der Seite traf, getrieben von Winden, wie sie das Land seit Menschengedenken nicht mehr erlebt hatte.

Dann folgte ein weiterer Sturm.

Und noch einer.

Der Abstand zwischen den sintflutartigen Regenfällen wurde kürzer, und die Winde, die auf die letzten folgten, wurden immer heftiger.

Tausende starben.

Es war, als hätte das Erwachen Australien den Krieg erklärt. Wolken wirbelten über den Inselkontinent und die Magie, die daraus herabregnete, trieb jeden außer dem ersten Volk in die Sprawls, die weitgehend verschont geblieben waren. Die Aborigines hatten sich an sichere Orte zurückgezogen und einen besseren Namen für das Wetter gefunden: madjitil boroong, Magieregen. Er hatte die Weißen zurück in die Städte gejagt, wo sie hingehörten.

Dankenswerterweise legte sich die Sintflut, die den ganzen Kontinent ertränkt hatte, irgendwann wieder. Die Manastürme, die jetzt noch ab und zu auftraten, blieben kurzvielleicht, um alle daran zu erinnern, dass sie den Outback seinen ursprünglichen Bewohnern überlassen sollten.

Nur eine große Wolke blieb dauerhaft am Himmel stehen.

Eine perlmuttfarbene Schönheit von milchigem Blau und schillerndem Grau, schimmernd, glänzend, mit einem Hauch von rosigem Pink an den Rändern. An manchen Tagen war sie Furcht einflößend, wenn sie sich zu einem riesigen Schmierfleck aus Kohle verdüsterte. An anderen versetzte sie den Betrachter in Panik, wenn sie das schwärzeste Schwarz der Welt annahm und boshafte Magie verströmte.

Diese Wolke hatte sich über Sydney gelegt und sich über die ganze Bucht ausgebreitet.

Dieser eine Sturm war geblieben.

Mehr als sechzig Jahre lang.

Kapitel 1

Ellas Klagelied

Der Raum war lang und schmal. Die Wände bestanden teilweise aus Wellblech; es fühlte sich an, als befände man sich in einem großen, antiken Eisenbahnwaggon, der am einen Ende aufgebockt worden war, sodass dieses Ende höher war als das andere und sich der ganze Raum zur Bühne hin neigte. Nebel hing unter der Deckeoder zumindest etwas, das wie Nebel aussah, von der dichten Sorte, die über dem Hafen aufzog und sich um die Pfeiler der zerstörten Brücke legte. Hier handelte es sich jedoch um einen Nebel aus Tabakrauch, denn dieser Nachtclub hatte, anders als viele Etablissements in der Stadt, keine Einschränkungen, was dieses Laster betraf.

»Willkommen, die Damen und Herren, in dieser ungewöhnlicherweise sturmlosen Nacht, drang die dröhnende Stimme des Ansagers durch die versteckten Lautsprecher. »Unser Spektakel heute Abend beginnt mit einer Dame, die selbst für ihren Donner sorgt, die einmaligedie einzigartigeMiss Ella Gance

Die Menge brach in tosenden Applaus und Beifallsrufe aus, als das Hauslicht dunkler wurde. Ein Altsaxophon heulte auf; ein guter Teil der Noten ging im Beifall unter. Dann beruhigte sich die Menge und die verführerische Melodie des Saxophons erhob sich, begleitet von einer gedämpften Posaune. Der Vorhang öffnete sich und ein einziger, heller Scheinwerferkegel fiel auf sie.

Ellas korallenrote Lippen verzogen sich zu einem anzüglichen Lächeln, und ihre perfekt manikürten Hände strichen über das rote Samtkleid, das sich um ihre Hüften schmiegte. Die schlanke Jazzsängerin wiegte sich sanft auf den mit Strasssteinen verzierten Absätzen ihrer Pumps und begann zu singen.

»Love is where you find it, find it.

And if you find it, keep it, keep it.

Keep it close to your heart, where its yours alone.

Cause if someone else finds it, theyll steal it, steal it

Ellas Stimme, die von einer teuren Frequenzerweiterung verstärkt wurde, trillerte, während sie an den Rand der Bühne trat und sich mit einem Finger eine Strähne rabenschwarzen Haars aus dem Gesicht strich. Der Blick ihrer großen, feuchten Augen wanderte über die Menge, während sie den Refrain beendete und darauf wartete, dass die nasalen Töne des Englischhorns durch die Klänge der Holzbläser schnitten. Das war echte Musik, die von echten Musikern gespielt wurde; das kleine Orchester bestand aus gut gekleideten Elfen und Menschen an vierzehn Instrumenten. Der Zwerg, der für gewöhnlich Cello spielte, war heute Abend nicht da. Manche Leute kamen nur hierher, um dieses Ensemble zu hören, eine Seltenheit in dieser Gegendgenau genommen wurde echte Musik in der ganzen Stadt zu einer Seltenheit.

Sie schickte einem älteren Ork, der links von der Bühne saß und sie mit gebannter Aufmerksamkeit anstarrte, einen Luftkuss zu und rollte die Schultern.

Cadigals Corner war heute Abend rappelvoll, und Ella wusste, dass sie der Grund dafür war. Sie war vermutlich die beliebteste Sängerin in Kings Cross, und sie zog alle möglichen Zuschauer jeden Abend aufs Neue an.

Puristen, die von der altmodischen Atmosphäre des Stadtviertels fasziniert waren, das immer noch stylisch war, aber langsam ein bisschen herunterkam.

Geschäftsleute, die in Sydney einen Zwischenstopp einlegten und aus Neugier kamen, oder vielleicht auch, weil sie eine gute Show zu schätzen wussten.

Arbeiter mit zerfurchten Gesichtern aus den umliegenden Häuserblocks, die sich kaum mehr einkriegten, wenn sie ihnen ihren sexy Schmollmund zeigte.

Hier und da saßen ein paar Frauen zwischen den Männern. Ella glaubte, dass sie sie heimlich beneideten. Sie erkannte zwei Störenfriede wieder, die manchmal Ärger machten, aber heute ruhig wirkten; in der Mitte der zweiten Reihe saß ein leicht zu erkennender Azzie; weiter hinten der Stage Manager eines Ladens in der Innenstadt. Ein paar Touristen waren außerdem da, die meisten von ihnen Amerikaner und Japaner, und größtenteils jung; sie fielen auf wie die sprichwörtlichen bunten Hunde. Es kostete Ella keine große Mühe, die Anwohner von den Fremden zu unterscheiden, oder die Stammgäste von denen, die zum ersten Mal hier waren. Neuankömmlinge erkannte man stets an ihrem Gesichtsausdruck. Sie hatten nicht mit dem gerechnet, was sie in dieser altmodischen australischen Klitsche erwartete.

Ella schwor sich, ihnen eine Show zu bieten, die sie nicht so schnell vergessen würden.

»Lover, wont you find me, find me?

Im lonely, wont you keep me, keep me?

Keep me close to your heart, Ill be yours alone.

Til another catches my eye and steals me, steals me

In der ersten Reihe zündete sich ein untersetzter Elf mit offensichtlich vercyberten Augen eine Fluppe an. Ella fuhr sich mit dem Zeigefinger von der Kehle hinunter zu ihrer Brust und starrte ihn dabei an. Als sie sah, wie seine Hand zitterte, grinste sie und ließ den Finger noch tiefer gleiten. Die Zigarette fiel ihm aus den Wurstfingern und streifte sein Hosenbein. Peinlich berührt erstickte er die Glut und sah dann wieder auf, doch die Sängerin hatte sich schon dem nächsten Opfer zugewandt.

Sie beugte sich nach vorne, schenkte einem jungen Zwerg einen dick bewimperten Augenaufschlag und strich sanft über die Spitzen seines sorgfältig gepflegten Irokesenschnitts. Der Zwerg stand neben den Rampenlichtern und gaffte sie bloß mit offenem Mund an. Neu hier, dachte sie, aber gut angezogen, und er riecht leicht nach White-CristalRasierwasser. In seinem Atem lag ein Hauch von Graypuppy, und Ella wünschte sich sehnsüchtig selbst ein wenig davon. Der kann den Jungs im Büro morgen was erzählenwenn er es nicht für eine Halluzination hält. Sie zwinkerte ihm neckisch zu, dann machte sie anmutig auf dem Absatz kehrt und begab sich zurück in die Mitte der Bühne.

»Hot passion, let it find you, find you.

let it burn inside you, ’side you.

our heart sings a melody, sings youll be mine alone.

Til another comes along and steals you, steals you.

Til another comes and steals you away…«

Ella schloss die Augen und summte die letzten paar Töne mit. Das Altsaxophon spielte ein trauriges, rührendes Riff, während ihre Stimme verklang. Der Scheinwerferkegel verengte sich und erlaubte es den Schatten auf der Bühne, sich um sie zu legen und sie zu verschlucken. Die Zuschauer reagierten enthusiastisch: Sie klatschten, johlten, pfiffen und brüllten lautstark, als sich der Vorhang schloss. Ella zog sich das Kleid bis über die Knie nach oben und schritt davon.

»Ella, Ella, Ella, meine wunderschöne Liebste!«, schwärmte Cadi Hamfyst, der riesige Troll mit dem einen Hauer, dem Cadigals Corner gehörte. »Ella, meine Schöne, meine süße Ella. Ich liebe dieses Lied

Ella drückte sich gegen die Wand, um ein Trio von Tänzerinnen und Sängerinnen durchzulassen, die in ihren Stepptanzschuhen vorbeiklapperten. Sie trugen Strumpfhosen in Blau und Silber und Federröckchen, die ihnen tief von den Hüften hingen. Sie waren neu hier, gerade erst aus Canberra angereist, und Ella war der Meinung, Cadi hätte sich ihre Vids besser anschauen sollen, bevor er sie engagierte. Sie waren allesamt Elfinnen, doch die Große in der Mitte hatte es mit ihren Brustimplantaten übertrieben und sah so oberlastig aus, dass man befürchten musste, dass sie beim kleinsten Tanzschritt umfiel. Die kleinste der drei hatte Glasfaserhaar, das nie zweimal hintereinander die gleiche Farbe hatte. Und die Dritte war schlicht unauffällig, sie sah für die Live-Bühne einfach nicht gut genug aus. Amateure.

Nachdem sie sie vorübergelassen hatte, ging Ella den Korridor voller Kleiderständer hinunter, der sich zwischen den Künstlergarderoben hindurchwand. Sie war die einzige Künstlerin im Cadigals, die über ihre eigene Garderobe gebot. Über der Tür stand Miss Ella Gance. Sie hatte Cadi gesagt, er solle auch noch einen Stern anbringen, aber das war bisher noch nicht geschehen. Vielleicht würde sie ja irgendwann woanders ihren Stern bekommenfalls sie es jemals in die besten Nachtclubs von Brisbane schaffte, zum Beispiel. Sie erging sich häufig in Tagträumen darüber, endlich diesem fast unablässigen Manasturm zu entkommen und an einen Ort zu ziehen, wo man nicht einfach vom schlecht gelaunten Schicksal und einem zufälligen Magieblitz in einen Wombat verwandelt werden konnte, wenn man nur die Straße entlangging.

Doch sie würde nie von hier entkommen. Sie würde es nie aus Kings Cross mit seinen antiquierten Stripshows, Bordellen, Kaschemmen und Kneipen herausschaffen, sondern hier sterben. Das Viertel, das nur ein paar Häuserblocks umfasste, war so etwas wie die Achselhöhle von Sydney. Das behaupteten zumindest die zivilisierten Bürger, bis hin zu den uralten Ziegeln, aus denen die Straßen und Bürgersteige bestanden, und den Metallschlüsseln, mit denen man viele der Türen hier öffnete.

Obwohl das Viertel rückständig wirkte, war Kings Cross für Ella und ihre Freunde das Herz der Stadt. Es pulsierte in einem Rhythmus, den man sonst nirgends kannte, und jeder wurde hier mit offenen Armen empfangen, ungeachtet seiner Herkunft oder seiner sexuellen Orientierung. Puristische Aborigines. Fanatische Moralapostel der RighteousRight. Großäugige Touristen. Abgestumpfte Anwohner. Fanatiker jeder Couleurvon denen, die die Gründungsjahre von Sydney als Blütezeit der Stadt betrachteten, bis zu denjenigen, denen weniger lang zurückliegende Jahre lieber waren. Selbst die Cyberjunkies, die permanent nach neuen Verbesserungen und Erweiterungen suchten und ständig von der Technologie high waren, die Sydneys Forschungszentren ausspuckte, kamen hierher. Kings Cross zog sie alle an wie ein Magnet, schlang seine Schattenarme um sie und zog sie an seine große, stürmische Brust.

Im Cross hatte sie sich vor dreißig Jahren willkommen gefühlt, als sie in einer früheren Inkarnation ihrer selbst hier eingetroffen war. Und obwohl sie davon träumte, ein Star in Brisbane zu werden, wo die Nuyen schneller flossen, das Wetter freundlicher war und das Publikum mehr Stil besaß, obwohl sie täglich darüber nachdachte, einfach ihre Siebensachen zu packen und nach Brisbane zu gehen, wusste sie doch, dass sie diesen Ort furchtbar vermissen würde, wenn sie es täte. Irgendwo anders hinzugehen würde sie umbringen. Also konnte sie zwar verfraggt noch mal davon träumen, hier wegzugehen, doch sie wusste tief in ihrem Herzen, dass sie bleiben würde.

Ella erreichte ihre Garderobe und schob die Tür auf. Sie hatte fünfundzwanzig Minuten bis zu ihrer nächsten Nummer. Jede Menge Zeit. Sie schnappte sich ihre paillettenbesetzte Handtasche und huschte zur Hintertür. Dabei sah sie sich über die Schulter um, ob Cadi in der Nähe war. Dem Troll gefiel es nicht, wenn seine Mädchen zwischen den Auftritten das Gebäude verließen. Ella vermutete, er hatte Angst, dass sie es sich in ihre hübschen Köpfchen setzen könnten, nicht wiederzukommen. Als sie sicher sein konnte, dass niemand sie beobachtete, schlüpfte sie durch die Sicherheitstür und spürte, wie die schwülwarme Nachtluft in der Gasse sie überflutete.

Sie hockte sich hin und tastete nach dem Ziegelstein, ihrer Absicherung dagegen, ausgesperrt zu werden. Die Tür hatte an der Außenseite keine Klinke. Hinter Cadigals Corner war es dunkel; die Straßenlaterne, die einen halben Block entfernt stand, war kaputtmal wieder. Solche Probleme gäbe es nicht, wenn das Stadtviertel die Hydrolampen akzeptiert hätte, die den Rest der Stadt beleuchteten. Durch die Sicherheitstür hindurch und von den Sternen herab, die durch eine der seltenen Wolkenlücken herunterblinkten, fiel jedoch genug Licht in die Gasse, dass Ella ein wenig erkennen konnte. Ihre Finger schlossen sich um eine leere Flasche Tooheys. Das würde gehen. Sie stopfte den Flaschenhals in den Türrahmen, sodass die Tür nicht ganz zufallen konnte.

Dann tastete sie sich auf die andere Seite der Gasse, setzte sich auf eine Kiste und wühlte in ihrer Handtasche, bis sie die kleine Puderdose fand, in der sie ihre Trips aufbewahrte. Im beleuchteten Spiegel der Dose konnte sie ihr Gesicht sehen, die winzigen Fältchen an den Rändern ihrer Augen. Ein Schauer überlief sie. Die müssen weg, noch eine Behandlungnoch diese Woche. Ihre Finger hatten sich heute Morgen auch ein wenig steif angefühlt. Das ließ sich ebenfalls durch eine weitere Behandlung beheben, und allzu teuer sollte es auch nicht sein. Und jetzt würde ihr ein kleiner Trip helfen, die Fältchen zu vergessen.

Nur ein Trip, ermahnte sie sich selbst, als sie ihn sich unter die Zunge legte und einen ähnlichen Kick verspürte, als hätte sie sich gerade einen Schluck teuren Whiskeys gegönnt. Sie fuhr sich mit den Fingerspitzen unter ihr goldenes Schmuckhalsband und massierte sich den Adamsapfel. Die warme Nacht und der Trip Graypuppy brachten sie zum Schwitzen. Nein, zum Strahlen, korrigierte sie sich.

Die Hitze fühlte sich gut an; sie beschwerte sich nie, wenn es heiß war.

Sie gab sich ganz dem wundervollen Gefühl hin und stellte sich dabei vor, sie stünde an einem Wasserfall, der bis in alle Ewigkeit über eine von der Tropensonne gebackene Klippe toste. Viel zu schnell war der Rausch wieder verflogen, und fast hätte sie nach einem weiteren Trip gegriffen.

»Nein«, flüsterte sie. »Viel zu einfachEs wäre zu leicht, sich noch einen zu genehmigen und sich vom Rausch mitreißen zu lassen, sich dabei völlig selbst zu verlieren und ihren nächsten Auftritt zu verpassen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ihr so etwas passierte.

Ella war sich nicht sicher, wie viel Zeit verstrichen war. Sie hatte zwar eine Uhr in der Tasche, doch ohne die Straßenlaterne konnte sie die Uhrzeit nicht erkennen. Ich gehe besser wieder hinein, um auf Nummer sicher zu gehen.

Sie stand auf, bürstete sich den Hintern ab und ging auf die Tür zu, hielt jedoch inne, als sie hörte, wie hinter dem chinesischen Restaurant zwei Türen weiter eine Mülltonne umfiel. Katzen, dachte sie und lächelte. Cadi machte oft Witze darüber, dass dieses Restaurant Siamkatzen mit zusätzlichen Rippen auf der Speisekarte haben musste. Doch dann fiel eine weitere Mülltonne um und Ella hörte, wie etwas durch die Abfälle kroch. Etwas, das sehr viel größer war als eine Katze.

Der Fremde beobachtete die Sängerin aus den Schatten. Er schnupperte und erkannte den Geruch von Rindfleisch, Lamm und Soja-Jerky, von fauligem Gemüse und Goldbarsch. Er hatte Hunger. Sein Magen knurrte, wenn er an all das weggeworfene Essen dachte. Doch er konnte auch die Sängerin wittern, und wegen der Sängerin war er hier.

Er war zufrieden: Diese hier ging langsam auf glitzernden, hohen Absätzen und war nicht einmal in der Lage, die Gasse schnell zu durchqueren. Die, die er vor fast vier Wochen getötet hatte, war eine größere Herausforderung gewesen. In ihren flachen Schuhen war sie schneller gewesen, sportlich, eine Elfin. Fast wäre sie ihm entkommen. Er war froh, dass die Sängerin keine Elfin war. In einem anderen Leben hätte er sich in sie verlieben können. Diese Stimme! Gut, dass sie ein Mensch war und keine Elfin. Er hasste Elfen. Die meisten von ihnen waren flink und beweglich.

Ihm waren leichtere Ziele lieber, und dazu gehörten Menschen. Mit denen wurde man schneller fertig.

Der Fremde streckte die Zunge heraus und leckte sich die geschwollenen Lippen, dann ging er auf sein Opfer zu.

Diese hier war ein leichtes Ziel.

Diese hier war keine Elfin.

Die Stammgäste wussten, dass die Mädchen manchmal zwischen ihren Auftritten durch den Hinterausgang hinausschlichen, um sich eine Zigarette oder ein bisschen frische Luft zu gönnen. Deshalb warteten oft Gäste hier hinten, um die horizontalen Dienstleistungen der Mädchen in Anspruch zu nehmen, die sich dadurch etwas hinzuverdienten, oder ihnen Trips zu verkaufen, obwohl sie beides normalerweise nicht direkt hier im Müll taten. Es war nur ein guter Ort, um ein anderes Treffen zu arrangieren.

Ella spähte in die Schatten und sah einen Mann mit sehr dunkler Haut, der um die zwei Meter groß sein musste.

»Tut mir Leid, Kumpel«, sagte sie. »Meine Pause ist vorbei. Keine Zeit für ein bisschen Spaß

Der Mann näherte sich und Ella vermutete, dass er entweder ein Obdachloser oder ein Schläger warim Cross gab es weiß Gott genug von beidem. Na klar, er sucht in der Gasse nach etwas zu essen.

»Probiers mal in der Mülltonne hinter Wesleys Diner. Da findest du besseres Essenaustralische KücheIhre Aussprache des Wortes »australische« klang wie die der Loyalisten, die sich immer noch verzweifelt an den ursprünglichen Dialekt des Landes klammerten. »Gegrillter Goldbarsch. Riechst du ihn? Lecker

Ella trat auf den Hintereingang von Cadigals zu, doch der Mann schlüpfte schnell an ihr vorbei. Mit einem weiteren großen Schritt hatte er sich zwischen sie und die Tür gedrängt. Könnte ein Troll sein: er war definitiv breitschultrig genug, und größer als Cadi, vielleicht sogar über zwei Meter. Ella sah zu, wie die Gestalt sich bückte und die Tooheys-Flasche entfernte. Die Tür fiel zu und der Lichtschein verschwand.

Ella rannte los, doch der große Mann war viel schneller als sie. Mit ein paar langen Schritten hatte er sie eingeholt, schoss an ihr vorbei und trat in die Mitte der Gasse, wo er ein Messer mit langer Klinge aufspringen ließ. Das Messer summte leise. Er fuhr damit ein paar Mal durch die Luft und das Summen wurde lauter. Die Schneide des Messers begann, rötlich-orange zu glühen.

Eine Heißklinge. Wie manche Ganger sie trugen. Ella wurde schwach und wäre beinahe aus ihren hohen Absätzen gekippt.

»Bitte, K-k-kumpel. Machen wir hier doch keinen ÄrgerBei diesen Worten ging sie langsam rückwärts, und der Fremde folgte ihr. »Ich bin nicht mal eine Frau. Wenn du also an Frauen interessiert bist, solltest du dich woanders umschauenElla griff sich ins Dekolleté und zog ein Stück schweißgetränkten Schaumstoff heraus. »Siehst du? Ich bin kein echtes Mädchen. Nur eine Transe. U-und auch kein Joygirl

Er kam einen Schritt auf Ella zu, und sie ging einen Schritt zurück. Der Sängerin war der Schweiß ausgebrochensowohl von der Hitze, die sie bisher nie gestört hatte, als auch vom fieberhaften Nachdenken darüber, wie sie es wohl schaffen konnte zu entkommen, ohne dass ihrem perfekten und sündhaft teuren Körper mit der Luxus-Frequenz­erweiterung ein Haar gekrümmt wurde.

»Nein!«, entfuhr es ihr, als sie mit dem Absatz im Spalt zwischen zwei Pflastersteinen hängen blieb. Sie riss ihren Fuß aus dem Schuh und kickte sich den anderen Schuh ebenfalls vom Fuß. Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie der Fremde nach vorn stieß. Die überhitzte Messerklinge glühte in der Dunkelheit.

Sie wirbelte herum und rannte die lange Gasse hinunter, vorbei an Cadigals Corner und dem chinesischen Restaurant. Dabei glitt ihr die schöne, paillettenbesetzte Handtasche aus den schweißnassen Fingern. Sie hörte, wie ihre nackten Füße auf das Pflaster klatschten, dann vernahm sie ein lauteres Geräusch, das sich ihr schnell von hinten näherte: die stampfenden Schritte des Fremden.

Ihr Herz hämmerte wie verrückt, und sie sog gierig die feuchte Luft ein. Ihre Lungen brannten und ihre Schläfen pochten, als würde ihr Kopf gleich explodieren. Dennoch zwang sie sich, noch schneller zu laufen. Wenn sie es nur auf der anderen Seite aus der Gasse herausschaffen würde, wäre sie in der Nähe des Parks. Dort waren andere Leute rund um den wiederaufgebauten El-Alamein-Brunnen, dort waren immer Leute. Die würden ihr helfen.

Ella fasste sich an die schmerzende Seite, dann merkte sie, dass sie durch die Luft flog, die Füße in ihrem langen Kleid verheddert. Der Boden bewegte sich rasend schnell auf sie zu, dann prallte sie hart dagegen.

Der Fremde bückte sich zu ihr herunter. Sein muskulöser Arm schnellte nach vorn, Finger legten sich um ihren schlanken Fußknöchel. Ella schlug wild um sich, griff nach den Spalten zwischen den Pflastersteinen und versuchte, sich auf das Ende der Gasse zuzuziehennäher zum Park und zu den Leuten, die sich dort befanden, die sich spät abends immer am Brunnen trafen, tranken und lachten und im Wasser herumwateten.

Sie spürte ihre aufgeschlagenen Knie, ihre schmerzenden Rippen, die sie sich wahrscheinlich angeknackst hatte, weil sie sich nie die Mühe gemacht hatte, sie zu verstärken; sie hatte nie geglaubt, dass das nötig wäre. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass sie langsam, aber sicher vorwärtskam. Mit aller Kraft zog sie sich die Straße entlang und schleppte den Mann hinter sich her, bis sie endlich das schwache Licht sah, das oben in die Gasse fiel. Die Straßenlaternen im Park.

»Hilfe!«, brüllte sie, als der Fremde fester zupackte. Er ist so stark. Unglaublich stark. Schmerzen schossen ihr durch das linke Bein, als ihre Fußknöchel brachen. Dann spürte sie die Hände des Fremden am anderen Bein, wo sie ebenfalls zudrückten, bis die Knochen splitterten.

Tränen rannen aus Ellas Augen, ihre Brust hob und senkte sich krampfhaft, als sie grob auf den Rücken gedreht wurde. Stechende Schmerzen pulsierten in ihren gebrochenen Beinen und sie starrte den Fremden in stummem Entsetzen an, als dieser einen schweren Fuß auf ihren mit Seide bekleideten Bauch stellte.

Ella wimmerte. Tränen liefen ihr über das perfekt geformte Gesicht. Sie spürte, wie das aufgeheizte Messer sich durch ihre Haut bohrte, hörte ihr eigenes Blut zischen. In diesem Moment stand ihr das Bild einer leeren Bühne in Brisbane vor Augen, und ihr wurde klar, dass sie niemals dort auftreten würde.