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© Piper Verlag GmbH, München 2002
Erschienen im Verlagsprogramm Malik
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de
Covermotiv: Peter von Felbert (Portrait) und Reinhold Messner
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
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Günther, meinem Bergkameraden und Bruder
Günther Messner, 1970
Wo heute die Namen Nanga Parbat, Batura oder K2 stehen, da gab es in der frühen Han-Zeit »den Berg des großen Kopfwehs«, der »schlimmen Körperfieber«, der »Gliederschmerzen« und der »Umnachtung«.
Die Ursachen suchte der chinesische Forscher in der Welt der Dämonologie. Hermann Schäfer
Bergsteiger- und Trägerkolonne im Himalaja, Anmarsch
Lawine in der Diamirwand am Nanga Parbat
Der Nanga Parbat von Westen mit der Diamirflanke und dem oberen Diamirtal
Der » Nanga « von Osten mit dem Aufstiegsweg von Hermann Buhl (1953); links die Rupalwand
1856 stand Adolf Schlagintweit am Fuß der Südabstürze des Berges. An Höhe und Steilheit dürften diese Abstürze vielleicht nicht ihresgleichen auf dir Erde haben. Ich wage dies hier zu sagen, da auch Marcel Kurz, einer der besten Kenner der Hochgebirge der Erde, dieser Ansicht ist. Von der Talsohle bei Tarsching bis zum Gipfel sind es 5200 Meter Höhenunterschied. Der durchschnittliche Neigungswinkel der Südostwand beträgt 47,5 Grad, und im obersten Teil sind es sogar 68 Grad, wie Finsterwalder auf Grund der Beobachtungen, die er bei der Expedition des Jahres 1934 gemacht hat, berechnete – das sind über 100 Prozent bzw. über 175 Prozent Steigung!
Diese dunkle Bergwelt mit all ihren Drohungen ist am Ende der Quell allen Lebens.
Das Schlüsselerlebnis meines Lebens liegt lang zurück. Und alles geschah weit weg: Im Himalaja, am Nanga Parbat. Dabei erfuhr ich jenes erweiterte Dasein, das auf zwei Ebenen des Bewusstseins abläuft. Als wäre im Gehirn etwas verrückt. Ich erlebte bewusst, wie Tod und Leben zuerst geschahen, um dann – fast gleichzeitig – Teil meiner Biografie zu werden. Und dieses versetzte Geschehen ist mir als Erleben meines Sterbens in Erinnerung geblieben und gleichzeitig wie die unmögliche Geschichte meines Überlebens.
Die Überschreitung des Nanga Parbat 1970, von Süden nach Nordwesten, war also mehr für mich als ein Übergang im geografischen Sinn. Es war wie eine Grenzüberschreitung vom Diesseits zum Jenseits, vom Leben zum Tod, vom Tod zum Leben.
Ich erzähle das alles noch einmal weit ausholend nach, um auch all die anderen einzubringen, die zum Geschehen gehören, sowie die Vorgeschichte, die im Unbewussten von Anfang an Teil des Erfahrens war.
Eine Woche lang war ich damals allein gewesen. Ohne Trost, ohne Hoffnung, ohne Geschichte ging ich talwärts.
Mazeno-Kamm und Nanga Parbat von Süden. Rechts der Aufstiegsweg der Brüder Messner
Ich hatte gelitten, gefroren, war gestorben – ausgehungert bis zur nackten Seele, kam ich zurück zu den Menschen. Als ich endlich all die anderen wiedersah, diejenigen, die ich als Retter erwartet hatte, war der Nanga Parbat weit weg, ein unberührter Gipfel über den Wolken: der Nackte Berg. Auch mein Bruder war weit weg. Wo aber war ich? Ich sah mich im Industal um, fühlte Sehnsucht, Angst und Schmerzen. Also war ich noch da.
Auch heute noch, im Rückblick, sehe ich mich gleichzeitig als Betroffener und Beobachter dieser Tragödie. Als wäre ich durch mehrere Stufen meines Bewusstseins gegangen, bleibt das Überleben am Nanga Parbat in mir lebendig wie ein intimes Wechselspiel von Dabei-Sein und Weit-weg-Sein. Und genauso wie ich diese Nanga- Parbat-Expedition erlebt habe, als Wechselspiel von reiner Wahrnehmung und erlebter Geschichte, will ich sie weitererzählen: eine Tragödie, die am Anfang meiner Identität als Grenzgänger steht. Und als Schock.
Die 4000 m hohe Diamirflanke des Nanga Parbat. In der Mitte der Abstiegsweg
Im Gipfelbereich, nur noch vom Überlebenstrieb gesteuert, sah ich mich häufig von außen! Als wäre mein Geist von meinem Körper getrennt. Dann wieder erlebte ich, wie der Verstand, der die Emotionen geradezu körperlich aufarbeitete, sie mit meinem Sein verknüpfte – zu einer letztendlich unumstößlichen Gewissheit. So wurde aus Gefühlen der Ausweglosigkeit Schicksal und Teil meiner Biografie.
Ich frage mich nicht, was zur Fähigkeit dieses bewussten Erlebens führte. Mir geht es um ein Selbst, das erst durch diesen Prozess geboren wird. Ich erzähle also eine Geschichte, die weit über mein Leben hinausgeht, und ich schreibe sie so nieder, wie ich sie erlebt habe, gleichsam als beobachtender Beteiligter.
Wie aus äußeren Sinnesreizen und der Sorge ums Überleben Angst wird, wie der Mensch zwischen Durchkommen und Umkommen reagiert, ist mein Thema.
Ohne bewusst interpretieren zu wollen, wie was geschah, berichte ich von meinem Zerrissensein. Erlebte ich doch das Überleben damals als Trennung zwischen Dabei-Sein und Daneben-Stehen. Mein Gehirn registrierte alle Vorgänge sehr genau – die äußeren ebenso wie die emotionalen, die körperlichen und die mentalen – es war, als gäbe es Zwischenräume zwischen Fühlen, Erkennen und Speichern.
Obwohl am Ende nur noch auf die pure Lebenserhaltung des Organismus ausgerichtet, wirkten sich diese Sprünge im Gehirn, verlangsamt vielleicht durch die Todesnähe und gebremst durch den Sauerstoffmangel, auf mein Bewusstsein aus wie eine Schizophrenie. Wahrnehmungen und Emotionen standen sich gegenüber wie Bilder von Sonne und Mond.
Genauso wie aus äußeren Sinnesreizen Gefühle entstehen und das Erlebnis hinterher wie ein »Film im Kopf« übrig bleibt, springt mein Erzählen in der kritischen Phase von der ersten zur dritten Person.
Indem ich meinen »Film im Kopf« unterschneide mit den Emotionen des Zuschauers, versuche ich, anschaulich zu machen, wie in Todesnähe das bewusste Selbst entsteht.
Der »Nanga« im ersten Morgenlicht, von Osten her gesehen
Nanga Parbat. Dieses Massiv zwingt den Indus, seinen Lauf vom Berg Kailas aufzugeben und sich im rechten Winkel nach Süden auf seine 2000 Kilometer lange Reise in den Indischen Ozean zu begeben.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Nanga Parbat, der 8125 m hohe westliche Eckpfeiler des Himalaja, für Europa entdeckt. Der Asienforscher Schlagintweit, ein Münchner, war als Reisender bis an den Fuß des Himalaja vorgedrungen und sah den Nanga Parbat von Süden.
Wenig später wurde er in Kaschgar ermordet. Das Verhängnis am Nanga Parbat beginnt …
Die Südflanke des Nanga Parbat vom Dusai-Plateau gesehen
Als Adolf Schlagintweit die Einheimischen nach dem Namen des großen Berges fragt, sagen sie: »Diámar« und
»Nánga Parbat«. Aus der Urdu-Sprache übersetzt, bedeuten diese Namen »König der Berge« und »Nackter Berg«.
Als der Geograf und Bergsteiger Richard Finsterwalder den Achttausender 1934, 78 Jahre später, genau vermessen und von allen Seiten studieren kann, nennt er ihn wie die meisten Alpinisten nur noch »Nanga«.
Finsterwalder, damals Professor in München, ist beeindruckt: »7000 m Höhenunterschied liegen zwischen dem eisstarrenden Nanga-Gipfel und dem Indus, der am Fuße des Nanga seine trüben Fluten tosend dahinwälzt. – Wohl wenige Stellen der Erde gibt es, wo sich die Natur dem Menschen so großartig und vielseitig zeigt und ihm so viel von ihren Geheimnissen und Wundern aufschließt.« Und weiter: »Der Nanga Parbat ist stockwerkartig aufgebaut. Tiefe Täler und finstere Schluchten zersägen seinen gewaltigen Leib.«
Wie Alexander von Humboldt den Chimborazo beschrieben hat, prägen Schlagintweit, Finsterwalder und später Dyhrenfurth durch ihre Arbeiten das Bild vom Nanga Parbat. Mit ihren botanischen, geologischen und bergsteigerischen Informationen befriedigen und wecken sie die Neugierde gleichermaßen.
Günther Oskar Dyhrenfurth glaubt, dass die Nanga-Parbat-Gruppe ein geschlossenes Gneis-Massiv ist, und macht sich ebenso Gedanken über mögliche Aufstiegswege wie Finsterwalder. Dieser schwärmt geradezu vom Berg als Anblick und Ziel. »Sein Gipfel ist bedeckt von glitzerndem Firn, eisüberströmt sind seine Grate und Flanken. Darunter kommt ein Gürtel von Almen und gewaltigen Wäldern, in die von oben her die Gletscher vorstoßen. Nach unten zu hören die Wälder plötzlich auf, die Vegetation wird ärmer. Es ist dort heiß und trocken, einzelne Ortschaften mit künstlicher Bewässerung finden wir da. Noch tiefer erstirbt alles Leben in der Hitze, und ganz unten, die letzten 1500 m zum Indus hin, ist furchtbare Wüste.«
Ser im Diamirtal, wo Mummery 1895 vorbeikam und Reinhold Messner 1970 gehunfähig liegenblieb
Mazenokamm und Nanga Parbat (links): Schauplatz der Tragödien 1895 und 1970
Forschern wie Bergsteigern erscheint der Berg als ein geheimnisvolles Ziel. Abweisend und anziehend zugleich. Ein halbes Jahrhundert lang ist er für die Elite der deutschsprachigen Bergsteiger die größtmögliche Herausforderung. Er wird ihr Gral.
»Wenn deutsche Bergsteiger ins ferne Asien ziehen, um diesen Gipfel zu erobern, wären es keine deutschen Bergsteiger, wenn es ihnen genügte, auf diesem Gipfel gestanden zu haben«, suggeriert Finsterwalder. »Wenn sie nichts von den Wundern und Geheimnissen des Himalaja mit nach Hause brächten, wären alle Mühen und Gefahren auf dem Weg zum Bergsteiger-Gral also umsonst.«
1934. Himalaja. Nanga Parbat. Erstmals stoßen fünf Bergsteiger und elf Sherpas bis auf das Silberplateau vor. Über eine 1932 erkundete Route steigen sie fast bis zum Gipfel. Die Leitung dieses gefährlichen Unternehmens hat Willy Merkl. Die Stimmung ist getragen von Erwartung und Sorge. Alfred Drexel ist kurz vorher an einem Höhenlungenödem gestorben. Die Mannschaft steht unter Druck. Plötzlich kommt Nebel auf, dann Wind. Der Schneesturm dauert zwei Wochen. Der Abstieg wird zur Katastrophe. Uli Wieland, Willo Welzenbach, der Expeditionsleiter Merkl und sechs Sherpas kommen ums Leben.
Als Karl Maria Herrligkoffer, ein jüngerer Halbbruder von Merkl, von dieser Tragödie erfährt, gelobt er, »den Kampf um den Nanga Parbat« fortzuführen, als Erblast und Vermächtnis seines Bruders. Willy Merkl ist sein Vorbild, und der Heldentod der »Deutschen am Nanga Parbat« ist sein Ansporn, um ihren Idealen nachzueifern. Der ferne Gipfel im Himalaja wird zur Besessenheit.
Die Einheimischen kennen zwei Namen für ihren Berg: Nanga Parbat, »Nackter Berg«, und Diamir, »König der Berge«. Herrligkoffer sieht ihn als sein höchstpersönliches Heiligtum. Dieser unbestiegene Gipfel wird das Ziel, dem er sein ganzes Leben widmet. Nanga Parbat: Schicksalsberg.
Die Rakhiot-Flanke des Nanga Parbat mit Silbersattel und Silberplateau. Ganz rechts der Gipfel
Herrligkoffer veröffentlicht die Tagebücher von Willy Merkl und identifiziert sich mehr und mehr mit dem Lebensziel seines Bruders. Um sein stilles Gelöbnis einzulösen, will er selbst zum »Nackten Berg« aufbrechen. Er findet finanzielle Mittel und erstklassige Bergsteiger, beschafft sich eine Besteigungsgenehmigung, organisiert wie ein Besessener Ausrüstung und Reise. 1953 unternimmt er seine erste Fahrt in den Himalaja. Er führt eine Gruppe von Bergsteigern zum Nanga Parbat, dem Gral des deutschen Alpinismus. Das Unternehmen heißt Willy-Merkl-Gedächtnis-Expedition.
Hermann Buhl gelingt schließlich gegen den Willen Herrligkoffers die erste Besteigung des Berges. Er bewältigt, aufgeputscht mit der Droge Pervitin, 1300 Höhenmeter im Aufstieg. Im Alleingang erreicht Buhl am Abend des 3.7.1953 den Gipfel, überlebt eine Nacht im Freien und schafft auch den Abstieg. Mit letzter Kraft kommt er zurück ins Lager unterm Silbersattel, wo jene zwei Kameraden warten, die ihn bei seinem Gipfelsturm unterstützt haben. Herrligkoffer aber, der als Leiter der Expedition vorher vom Basislager aus den Rückzug angeordnet hatte, ist emotional gespalten. Seine Gefühle schwanken zwischen Freude am Erfolg und Enttäuschung. Er fühlt sich von den drei Ungehorsamen verraten, die entgegen seinen Anweisungen agiert haben, überflügelt von Buhl, der in Eigenregie gehandelt hat, übergangen von der Weltöffentlichkeit. Auch betrogen um das »Unbedingte«, das die Stimme seines toten Bruders von ihm fordert?
Blick vom Silberplateau zurück zum Silbersattel. Weit im Osten der Karakorum
Zurück in Europa kommen Zweifel an Buhls Gipfelgang auf. Später wird der »Gipfelsieger« sogar von Herrligkoffer verklagt. In den Augen Herrligkoffers bleibt Buhl bis zu seinem Tod der »Schänder des reinen Ideals«.
Der Mythos Nanga Parbat behält für Herrligkoffer seine magische Kraft. Zu schaffen, was eigentlich seinem Bruder zugestanden hatte, ihm aber unmöglich gewesen war, bleibt seine Bestimmung. Und immer mehr Bergsteiger pilgern mit diesem Besessenen zum »König der Berge«. Nicht der Berg braucht sie, sie brauchen ihn: für ihren Ehrgeiz, ihre Träume, ihre Hybris. Karl Maria Herrligkoffer hat den »Nackten Berg« zu einem übergeordneten Ziel stilisiert.
Trägergruppe am Abruzzen-Gletscher im Karakorum; links im Bild der Broad Peak, Buhls zweiter Achttausender
Der Gipfelgrat des Siebentausenders Chogolisa im Karakorum, Buhls letztes Ziel
In diesem Wahn bricht 1970 eine Mannschaft zur Südwand des Nanga Parbat auf, zur höchsten Steilflanke der Erde, dem Gral auch für eine junge Bergsteigergeneration, die nur mit Herrligkoffer eine Chance zur Besteigung hat.
Die Rupalflanke
Anreise (Alice von Hobe, Karl Herrligkoffer und Reinhold Messner, stehend Max von Kienlin)
Expeditionstruck in Persien
Träger in Tarsching; Basislager
Felix Kuen und Reinhold Messner verlassen Lager I in der Rupalwand. Rechts: Trägerkolonne im Abstieg von Lager II bei Neuschnee
Max von Kienlin und Hermann Kühn beim Schachspiel. Zuschauer Reinhold Messner
Am Lagerfeuer im Basislager: rechts Karl Herrligkoffer
Trägerkolonne im Abstieg von Lager II bei Neuschnee
Der obere Teil der Rupalwand: Links unter dem Gipfel die Merkl-Rinne, darunter das Merkl-Eisfeld (mit Lager IV)
Blick vom Lager IV ins Rupaltal
Günther Messner beim Schneeschaufeln in Lager III (Eisdom)
Lager II in der Rupalwand
Am Fuß der Diamirseite des Nanga Parbat (gefährliches Wandkonkav) suchte Reinhold Messner tagelang nach seinem Bruder Günther, bevor er, dem Wahnsinn nahe, talwärts ging.
Im Gletscherkessel am Fuß der Diamirwand …
… suchte Reinhold Messner nach seinem Bruder, über den toten Diamirgletscher kroch er talwärts …
… und kam im oberen Diamirtal (Blick zurück zum Nanga Parbat) zu den ersten Blumen und Menschen.
Der Nanga Parbat von Süden: Gipfelwand
Wieder kommt es zu Spannungen zwischen Expeditionsleitung und Gipfelteam, zuletzt zu einem Aufstieg im Alleingang. Reinhold Messners Bruder Günther folgt aus freien Stücken. Gemeinsam erreichen sie am 27. Juni 1970 den Gipfel. Doch Günther wird höhenkrank. Die beiden sind zum Abstieg über die Diamir-Flanke gezwungen, an deren Fuß Günther stirbt.
Einer, viele Meilen von jeder Behausung entfernt, allein geblieben und allein gelassen, schleppt sich völlig erschöpft durch das Diamir-Tal abwärts. Schizophren geworden nach Tagen ohne Nahrung und Schlaf, redet er mit sich, mit Bäumen und Steinen. Er verlässt die Rolle des Beobachters und schreit seine Einsamkeit, seine Angst und seine Verzweiflung aus sich heraus. Zuletzt beobachtet er sein eigenes Sterben. Irre geworden an seinem Verlorensein, kehrt er wie durch ein Wunder und als ein anderer in die Zivilisation zurück.
Karl Maria Herrligkoffer aber, dem es immer noch um Merkls Vermächtnis geht, erscheint Reinhold Messners Abstieg wie einst Buhls Aufstieg als Verrat.
Die Südwand des Nanga Parbat, Rupalwand genannt
Gab es auf der Erde eine Steilwand, die höher als jene sein konnte, die Schlagintweit mit der Feder festgehalten hat? Der Berg sei »nackt«, weil die Fallinie der großen Flanke fast senkrecht ist, so daß der Schnee in den Höhen kaum liegenbleiben kann.
Der erste Blick gilt immer der furchtbaren Südwand. 5000 Meter hoch, in mächtigen granitenen Pfeilern und überhängenden Eisdomen stößt sie aus den Mittagsnebeln des Rupaltals herauf und krönt sich mit dem Gipfel.
Wo in den Alpen und im Kaukasus die Berge aufhören, da fangen sie hier erst an.
Günther Messner, 1970
Die Rupalwand am Nanga Parbat war 1970 genau nach unserem Geschmack: steil, hoch und weit weg.
Als ein Journalist meinen jüngeren Bruder nach unserer Wand fragt, bekommt er zuerst keine Antwort. Günther schaut ihn nur an. Als ob er sich die Riesenwand nicht vorstellen könne. Diese Stille im Raum! Günthers Schweigen ist Teil seiner Antwort. Dann zeigt er ein Foto. »Sie ist sehr hoch.«
Nach der langen Pause und in die Stille hinein wirkt dieser eine Satz wie eine Explosion. Ja, es ist spürbar, der Berg auf dem Bild wächst ins Unendliche. Ein Berg wie im Vergrößerungsglas! Was wir dort wollen, fragt der Journalist. Günther schweigt wieder. Lange. Mein Bruder schaut den Fremden nun an. Erst im Weggehen, nach noch längerem Schweigen, sagt er ein paar Belanglosigkeiten. »Nur weg hier, auf und davon, weit weg.«
Günther, mein jüngerer Bruder, ist tot, und doch ist er lebendig, wenn ich heute von ihm träume.
Günther und ich klettern in der Nordwand der Kleinen Fermeda. In den Dolomiten. In der Geislergruppe. Wir haben gerade ein Schneefeld gequert. Ich steige in die senkrechte Gipfelwand ein. Das Hanfseil, das ich um den Bauch gebunden nachziehe, wird von Günther nachgegeben, der es über seine Schulter laufen lässt und mich so sichert.
Die Nordwand der Kleinen Fermeda war die erste Wand, die wir selbstständig kletterten. Und wir waren stolz auf unsere Selbstständigkeit.
Kleine Geislerspitzen von Norden. Rechts die Kleine Fermeda
Ich quere an brüchigem Fels nach rechts und gewinne einen Riss, der am Gipfelgrat endet. Hunderte Meter fällt die Wand steil unter mir ab. Ich treffe mit meinen groben Schuhen an einen vorstehenden Stein. Er bricht ab und stürzt krachend in die Tiefe. »Noch zehn Meter Seil«, ruft Günther.
Über dem schattigen Abgrund scheint die Sonne. Wir können Kälte und Gefahr spüren, wenn wir uns vorbeugen und in den Abgrund sehen. Ich winde mich mit ein paar katzenhaften Bewegungen nach oben und stehe am Grat in der Sonne. Rasch lege ich das Seil um einen Felskopf und lehne mich über die Wand. »Stand«, rufe ich. Günther kann nachkommen!
Als ich unsere letzte gemeinsame Tour zu schildern versuchte, waren die Eindrücke noch so frisch und das Fehlen des Bruders so schmerzvoll, dass ich mich abwechselnd in die Rolle von Akteur und Beobachter versetzen musste, um nicht wieder verrückt zu werden. Diese Schizophrenie war wie Medizin. Trotzdem: Ich wollte kein Selbstmitleid aufkommen lassen und zählte die Zeit rückwärts. Bis zum Tod von Günther. Womit alles endete und alles beginnt.
Damals wie heute, ich spüre den Stillstand der Zeit, wenn Günther neben mir ist. Wir reden dann miteinander, und alles liegt noch vor uns. Als hätte ich die späteren Jahre vergessen.
Beim Abstieg nach Günthers Verschwinden war ich so unendlich allein, dass ich dauernd Selbstgespräche führte. Es waren Tage voller Verzweiflung, und ich redete um mein Leben. Als wäre allein das Sprechen genug, um mir noch Hoffnung zu geben. Reden war überlebensnotwendig geworden. Galt es doch zu bleiben, nur diesen einen Tag noch am Leben zu bleiben.
Am Tod war nichts zu deuten, weil es dann kein Selbst mehr gibt. Aber auch als Zurückgebliebener erlebte ich das Immer-ferner-Werden als Verlassen-Werden, als eine Art Auflösung. Vielleicht weil so viel Einsamkeit ohne bleibende Schäden weder zu ertragen noch zu überleben ist.
Günther war tot. Ich musste es allein nach Hause schaffen.
Inzwischen habe ich das alles hundertmal erzählt, Einzelheiten wieder und wieder geträumt und damit auch versucht, Günther festzuhalten, und ihn gleichzeitig Stück für Stück losgelassen. Den Tod aber zu oft auf ein paar Sätze reduzieren zu müssen, tut weh. Was nicht fassbar ist, braucht Zeit. Nun aber, 30 Jahre später, werden Zusammenhänge deutlich und Hintergründe hell. Mithilfe von Tagebuchaufzeichnungen, Zitaten aus offiziellen Expeditionsberichten[1] und Briefen erzähle ich von meinem Schicksalsberg. Bruchstückhaft, Mosaiksteinchen gleich, fügt sich aus Traum und Erinnerung unsere Überschreitung des Nanga Parbat zu jenem Bild, das zeitlos ist.
Bereit, mein eigenes Selbst als Summe von Draußen und
Drinnen, von Körper und Geist zu begreifen, kann ich die schwierigsten Tage meines Lebens endlich niederschreiben: als Geschichte vom Nackten Berg.
Der Firngrat zum Silbersattel
»Krönung und letztes Ziel bergsteigerischer Sehnsucht!« nennt Willy Merkl die hohen Gipfel des Himalaja. Sein Leben war diesem Ziel entgegengereift, und ein unbegreifliches Schicksal hat ihm kurz vor dem Sieg die Krone aus der Hand genommen.
Willo Welzenbach
Willy Merkl greift den Plan seines Freundes Welzenbach auf, der schon 1930 eine Nanga-Parbat-Expedition geplant hat, aber daran gehindert worden ist.
Wir sehen ihn zum ersten Mal, ihn, den Nanga, den Berg unserer Träume! Atemberaubend ist der Anblick der Südwand; mit ihrer Höhe von 5000 Metern ist sie wohl die gewaltigste Steilwand der Erde. Wir müssen den Kopf weit zurücklegen, um über die schaurige Flucht der Flanken auf den firnverbrämten Gipfel blicken zu können. Eines wissen wir: das ist das Größte, was wir je im Leben geschaut haben. Oder umgekehrt: nie noch sind wir uns so klein vorgekommen wie vor der einmaligen Größe dieses Berges.
Es klingt wie ein Märchen. Ja, schon gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts greift am Nanga Parbat ein Mann nach den Sternen: A. F. Mummery, einer der unternehmungslustigsten englischen Alpinisten seiner Zeit. Knapp vierzig Jahre vor den Deutschen wird am Nackten Berg also der erste ernsthafte Versuch einer Besteigung unternommen. 1895 (!) ist Mummery mit seinen Landsleuten Collie und Hastings und zwei Gurkhasoldaten vom Rupaltal kommend ins obere Diamirtal eingedrungen und hat seine Zelte am Gletscherrand aufgeschlagen. Gegenüber, in der breiten Flanke, sieht er eine Reihe aufsteigender Felsrippen. Ein naturgegebener und durchaus möglicher Anstieg, denkt er. Es gelingt ihm, gemeinsam mit dem Gurkha Ragobir als Träger und einem eingeborenen Jäger, sich tatsächlich ein Stück weit über den mittleren Felssporn hinaufzuarbeiten: in Nagelschuhen, ohne Sicherungs- und Abseilhaken. Ein Zelt wird auf dem zweiten Felsriff verankert und mit Proviant versehen. Dem Lastentransport folgen ein Schlechtwettereinbruch mit Stürmen und der Rückzug. Dann ein zweiter Aufstieg. Ein zweites Proviantdepot wird in 6100 Meter eingerichtet. Als Mummery mit Ragobir über die Schneide der gratartigen, oberen Rippe hinaufklettert, löst sich ein Zyklopenblock aus den Eisbalkonen über ihnen. Zuerst Stille!
Mummery und Ragobir steigen über eine steil abfallende Felskante, als ein ohrenbetäubender Knall sie erschreckt. Sie ducken sich und sind sofort wieder auf den Beinen. Mittlerweile hat sich hoch über ihnen eine riesige Menge Eis und Schnee aufgetürmt, die wie eine immer stärker anwachsende Wolke auf sie zukommt. Sekunden später werden sie von einer brodelnden, weißen Wolke eingehüllt. Von unten, durch sein Fernglas, sieht Collie die beiden darunter verschwinden. Er hält sie für tot.
Diama-Gletscher Richtung Diama-Scharte
Auch Mummery befürchtet, dass die Staublawine sie mitreißt. Er wirbelt herum, sieht aber nichts mehr. Dann ein Krachen und Brausen, begleitet von Lichtblitzen, die für kurze Momente den Himmel erleuchten. Mummery hofft, dass sie von diesem donnernden Eis- und Schneewirbel verschont bleiben.
Ragobir ist völlig verstört. Er begreift die Zusammenhänge nicht und zittert am ganzen Leib. »Reiß dich zusammen«, schreit Mummery seinen Träger an. »Jetzt geht’s um alles.« Er sagt es auch zu sich selbst, immer wieder, er sagt es wie ein Mantra vor sich her.
Collie schaut dem herabstürzenden Wolkenknäuel lange hinterher. Dann sieht er nach oben. Der Schneestaub verflüchtigt sich. Zwei Punkte tauchen auf, bewegen sich. Sie leben! Sie steigen weiter aufwärts. Die herabschießenden Eismassen sind durch die Felsrippe wie durch einen Schutzdamm seitlich abgelenkt worden und durch eine Rinne abgegangen. Sie haben die Kletterer oben an der Kante verschont.
Blick von der Diama-Scharte ins Rakhiot-Tal
Mummery, nur kurz beeindruckt von diesem Vorfall, fühlt sich auf dem Felsrücken also sicher und steigt mit seinem Gurkha unbeirrt höher. Allerdings nicht bis in das anschließende Eisfeld. Weit unter dem letzten Eissperrriegel erkrankt Ragobir. Das Tor zur Bazhin-Mulde, einem weiten Tal links der Gipfelfelsen, ist zwar offen, aber der Gipfel ist noch lange nicht in greifbarer Nähe. Der faire britische Gentleman gibt vorerst auf, obwohl er immer noch von ungebrochenem Angriffsgeist beseelt ist. Er bringt seinen kranken Träger zurück ins Ausgangslager.
A. F. Mummery
Am Morgen und an den Tagen vorher, auf dem Weg nach oben, hat sich Mummery ständig bemüht, den optimalen Weg zu finden. Es ging darum, sich die Route auf allen Abschnitten genau einzuprägen. Immer wieder hat er deshalb nach oben geschaut. Um sich beim Abstieg nicht zu versteigen? Wie unter einem inneren Zwang hat er sich das gesamte Terrain als Puzzle gemerkt, Stück für Stück, eine Serie von Bildern, mit Eisbalkonen, Rinnen, Felsvorsprüngen. Am ersten Aufschwung, der wie ein Schiffsbug aussieht, muss er im Abstieg links vorbei. Und er bleibt am besten auf der dünnen Schneelinie, bis sie sich in den Spalten verliert. Ja, man muss sich immer ein paar Orientierungspunkte merken, um beim Auf- oder Abstieg nicht plötzlich verloren zu sein!
Mummery hat sich diese Art der Orientierung in vielen Jahren antrainiert. Und jedes Mal, wenn er aufsteigt, zwingt er sich zum Vorausvollzug des Umkehrbildes – für den Abstieg. Diese Vorsicht hat ihm oft das Leben gerettet. Auch am Nanga Parbat. Wie sonst hätte er wieder herunterfinden sollen? Im Schneetreiben oder bei Nebel ist jeder Berg ein Labyrinth.
Eine mögliche Route zum Gipfel kennt Mummery. Hätten Kraft und Ausdauer aber ausgereicht, um hinauf- und wieder hinunterzukommen? Und was, wenn er noch eine Nacht in einem Freilager hätte biwakieren müssen? Nein, er hätte auch am darauffolgenden Tag die Spitze des Nanga nicht erreicht, niemals.
Die Geschichte wird damit eine andere, eine tragische. Dauernde Schneefälle machen Mummery einen weiteren Aufstieg über seine ausgekundschaftete Gratrippe hinaus unmöglich. Er entschließt sich, aufzugeben und die Diama-Scharte im hintersten Talwinkel zu inspizieren. Will er mit seinen beiden Gurkhas den Rakhiot-Kamm überschreiten? Vielleicht. Am Nordfuß des Berges hat er sich mit Collie und Hastings verabredet, die mit dem Großteil der Expeditionsausrüstung ohne viel Risiko und über drei kleine Pässe auf der Chilas-Seite ins Rakhiot-Tal hinüberwechseln sollen. Mummery aber kommt dort nie an.
Hastings und Collie eilen zurück in das Diamirtal. Die englischen Behörden mobilisieren die Einwohner der umliegenden Täler, um nach Mummery zu suchen. Sie finden ihn nicht. Es wird vielleicht für immer ungeklärt bleiben, wo und wie dieser Pionier starb. Nur eines ist sicher, der Abstieg von der Diama-Scharte gegen Osten war 1895 nicht möglich. Ist Mummery also von einer Lawine verschüttet worden? Ist er in eine Spalte gestürzt? Oder hat er doch noch einmal nach dem Gipfel gegriffen? Über jene Nordwandrampe, die ich 105 Jahre später durchstieg. Dort jedenfalls hätte Mummery eine winzige Chance gehabt, den Nanga-Parbat-Gipfel zu erreichen.
Der Nanga Parbat von Norden gesehen, Rakhiot-Seite
Willo Welzenbach, der erfahrenste Eisspezialist der Zwischenkriegszeit, greift 1930 die Idee einer Nanga-Parbat- Expedition von Walter Schmidkunz auf. Schmidkunz, Schriftleiter des Deutschen Alpenvereins in München, der Mummerys letzte Briefe an seine Frau ins Deutsche übersetzt hat, sieht im Nanga Parbat den leichtesten Achttausender. Aber dann übernimmt Willy Merkl Welzenbachs Plan und führt 1932 eine deutsch-amerikanische Mannschaft zum »Nanga«. Er will zur Rakhiot-Seite des Achttausenders, dorthin, wohin zuletzt auch Mummery gewollt hat. Willy Merkl hält die Diamir-Seite des Berges für zu gefährlich. Dass die Südwand unbegehbar ist, weiß er von Mummery. Damit bekommt die Nanga-Parbat-Südwand, auch Rupalflanke genannt, ihr besonderes Flair. Sie gilt als das Unmögliche schlechthin. So beschreibt auch Günter Oskar Dyhrenfurth in seiner Besteigungsgeschichte des Nanga Parbat die Südost- und Südfront des Massivs als eine der höchsten Wände der Welt: »4500 Höhenmeter, die obere Hälfte von ungeheurer Steilheit, mit wilden Strebepfeilern, Wandstufen und Hängegletschern. Auch ein optimistischer und einsatzbereiter Bergsteiger muss sich rasch davon überzeugen, dass diese Riesenwand selbst für einen Versuch nicht infrage käme.«
Die deutsch-amerikanische Expedition erkundet 1932 also den Zugang zum Gipfel aus dem Rakhiot-Tal. Man kommt ziemlich weit hoch dabei, und die Mannschaft kehrt ohne Verluste ins Basislager zurück. Auf der Heimreise aber stürzt der Amerikaner Rand Herron – nachdem er den Lawinen und allen Gefahren am Nanga entgangen ist – an der Chefren Pyramide in Ägypten ab. Er ist tot. Schicksal, sagen die Nanga-Veteranen. Der
»Dämon« des Berges habe nach ihm gegriffen, unken die Einheimischen. Unbeeindruckt davon, beschreibt Merkl die Faszination des Kampfes um den Gipfel: Es gibt kein größeres Ziel!
»Hart war der Kampf, nahe der ersehnte Gipfel. Schwer ist der Verzicht, bitter die Erkenntnis, dass die Größe dieses gewaltigen Berges sich nicht unter unseren Willen hat zwingen lassen. Aber auch in der Reihe der Kämpfer zu stehen, Wegbereiter zu sein zu den höchsten Zielen, ist Glück.« Auch die Gefahren werden mystifiziert: »Worte vermögen keine Vorstellung von der Gewalt und dem Ausmaß der Eisstürze im Himalaja zu geben. Mit furchtbarem Dröhnen haben wir kilometerlange Eisbarrieren abstürzen sehen und in der unheimlichsten Verfinsterung des sich niederlegenden, dichten Eisstaubes kaum atmen können. Unheilkündend geht es von Mund zu Mund: der zornige Gott des Nanga habe nach uns geworfen. Spuken wirklich schlimme Geistergeschichten in den Köpfen der Einheimischen?« Nein, aber damit entsteht das Idealisieren eines Kampfes, der ein Titanenkampf werden soll. Auch die Vorstellung vom Berg als übergeordnete Idee.
Die Teilnehmer 1934 von links nach rechts, vordere Reihe: Schneider, Welzenbach, Aschenbrenner, Merkl, Konsul Kapp, Müllritter, Kuhn; hintere Reihe: Bernard, Wieland, Capt. Sangster, Hieronimus, Bechtold
Bergsteigen am Nanga Parbat wird zum Synonym für Werte wie bedingungslosen Einsatz, Treue bis in den Tod, Kameradschaft als Seilschaft fürs Leben. Und der Gipfel steht über allem: Gral und damit Metapher für das gemeinsame Ziel. Für Merkl fordert die Lösung der Probleme im Himalaja »andere Voraussetzungen als das Bezwingen der Berge unserer Ost- und Westalpen. Denn es ist ein Unterschied, ob man alle seelischen und körperlichen Kräfte auf Tage oder auf Monate zusammenfassen muss. Im Himalaja handelt es sich nicht so sehr um die augenblickliche Stoßkraft einer ungeheuren Willensanstrengung, wie sie oft für die schwierigsten Wände unserer Alpen ausschlaggebend ist, als vielmehr um ein stetiges Ausharrenkönnen, um ein ständiges Bereitsein zum Kampf. Was im Himalaja entscheidet, ist das Zusammenwirken gleichgesinnter Charaktere, ist die Gemeinschaftsarbeit, die nicht dem persönlichen Ehrgeiz, sondern einzig dem großen Ziele dient.«
Und noch ein Vorurteil bringt Willy Merkl von seiner ersten Nanga-Parbat-Reise wieder heim und in die zweite ein: die Mär vom leichtesten Achttausender!
»Er ist ersteigbar, und er ist auf unserem Weg ersteigbar!« ist er überzeugt.
Zwei Jahre später, 1934, geht es wieder los. Diesmal mit Willo Welzenbach in der Mannschaft. Warum aber steht wieder Merkl an der Spitze der Expedition? Aus Gewohnheit! Wie in der Politik. Es führt, wer schon geführt hat. Also Merkl. Auch, weil er begeistern kann! Und weil er so siegessicher ist!
»Glauben Sie an den Sieg?« fragt ein Journalist den Expeditionsleiter vor dem Aufbruch.
»Ja«, antwortet Merkl. »Wir müssen es unter allen Umständen schaffen.«
»Und wenn es doch nicht gelingt?«
»Dann komme ich nicht wieder heim!«
Der Berg braucht solches Heldentum nicht, Merkl aber braucht den Berg. Er sehnt sich nach »seinem Nanga« wie ein Süchtiger nach seinen Drogen. Am Ende taugt ein solcher Berg nur noch zum heldenhaften Sterben.
Schneider, Aschenbrenner, Drexel und Welzenbach sind am 6. Juni 1934 im Lager 4. Alfred Drexel, ein Bär von einem Mann, klagt über Kopfweh. Kurze Zeit später will Drexel absteigen. Er muss eiligst zum Lager 2 zurück. Seine Kopfschmerzen werden stärker.
7. Juni: Drexel kann sich nicht mehr auf den Beinen halten. Er muss sich hinlegen. Der Expeditionsarzt kommt aus dem Hauptlager. Am 8. Juni liegt Drexel besinnungslos im Zelt. Lungenentzündung diagnostiziert der Expeditionsarzt; dann Lungenbluten. Kulis mit Sauerstoffgeräten eilen zum Lager. Alles umsonst. Am 8. Juni um 9 Uhr abends stirbt Drexel im Hochlager, wahrscheinlich an einem Höhenlungenödem.
Silbersattel, Plateau und Hauptgipfel des Nanga Parbat
Als die anderen vier Wochen später Lager 7 am Fuße des Silbersattels erreichen, werden sechs der Träger aus Darjeeling bergkrank. Man ist jetzt in 7100 Meter Höhe, zu hoch, um sich zu erholen. Also müssen die Kranken zurück. Schweren Herzens trennt sich Fritz Bechtold von den Kameraden und führt die kranken Träger ins Lager 4.
Fünf Bergsteiger und ein gutes Dutzend Träger bleiben übrig für das letzte, das schwerste Stück Aufstieg, den Weg zum Gipfel. Erwin Schneider und Peter Aschenbrenner, zwei Tiroler Spitzenbergsteiger, gehen voran. Sie leisten die Spurarbeit, die anderen folgen. Der Vortrupp erreicht das große Schneeplateau hinterm Silbersattel. Sie gehen weiter. Vor ihnen liegt der Gipfel des unbezwungenen Berges. Beide sind sich sicher: Am nächsten Tag ist der Aufstieg über Plateau und Grat zu schaffen. Der Hauptgipfel scheint nur noch ein paar Stunden entfernt. Eine Kleinigkeit also. Hinauf und herunter an einem Tag, lautet ihre Strategie.
Zurück auf dem flachen Silberplateau, suchen sie einen windgeschützten Platz. Lager 8 wird in 7600 Meter Höhe errichtet. Die anderen kommen nach: drei Sahibs und mehr als ein Dutzend Sherpas. Zu viele Leute so hoch oben am Berg! Doch als sie abends beieinander sitzen, verfliegen die Ängste. Das Wetter ist gut. Es herrscht die Zuversicht, dass der Gipfel am nächsten Tag fallen wird.
Aber in der Nacht kommt Wind auf, dann Sturm. Das Wetter ist schlecht geworden. Der Schnee schlägt in die Zelte von Lager 8. Die vereisten Planen müssen von innen festgehalten werden, damit sie nicht wegfliegen. Der Schneesturm treibt mehr und mehr Nebelfahnen vor sich her und Unmengen von Schnee in die notdürftigen Behausungen. Der 7. Juli ist ein einziger Sturmtag: Keine Pause, keine Rast, keine Hoffnung. Das Sonnenlicht erstickt im Wirbel der Schneeflocken. Unheimliche Dunkelheit und Sturmbrausen bestimmen Vormittag und Nachmittag. Die Erfahrensten hocken sich zusammen, aber sie ahnen nicht, was kommt. Merkl, Aschenbrenner, Schneider, Welzenbach und Wieland sind wie gelähmt. Merkl rät zum Abwarten.
Sahibs und Träger bleiben also in den Schlafsäcken liegen. Der Orkan nimmt noch einmal zu. Kochen ist unmöglich. Auch das Schneeschmelzen haben sie aufgegeben. Die zweite Nacht, eine Nacht der sinkenden Hoffnung, dauert sehr lang. Mit ausgedörrten Kehlen liegen die Männer da, hecheln, husten, jammern. Dazwischen Merkls Stimme: »Unwetter halten sich in diesen Höhen nicht lange.« Er sagt es wie zum Trost.
Zwei Nächte halten die Männer im Lager 8 durch. Sie hoffen immer noch auf gutes Wetter für den Gang zum Gipfel. Vergeblich! Der Sturm nimmt weiter zu.
7. Juli: Wieder verhüllen Wolken den Gipfel. Und dieser Wind! Die Nerven sind aufs Äußerste angespannt. Es hilft alles nichts. Sie müssen umkehren, absteigen. Und jeder denkt, sie könnten in wenigen Tagen ja wieder aufsteigen.
Aschenbrenner, Schneider und zwei Träger gehen voran, sie sollen den Weg nach unten bahnen. Als sie aufbrechen, machen sich die anderen gerade marschbereit. Wie Schatten knien sie vor den Zelten, hantieren mit Steigeisen und Rucksäcken. Als Stunden später für Augenblicke die Wolkendecke auseinanderreißt, sehen Aschenbrenner und Schneider, wie Merkl, Wieland, Welzenbach und acht Träger ihnen hoch oben am Silbersattel folgen.
Als Schneider und Aschenbrenner endlich im Lager 4 ankommen, drehen sie sich um: nichts zu sehen. Trotzdem, die anderen können nicht weit zurück sein.
Der Voraustrupp ist in Sicherheit. Die zweite Gruppe aber wird ihren Abstieg vor Lager 7 aufgeben. Im dichten Schneetreiben sind Sahibs und Träger immer weiter auseinandergeraten. Der Erschöpfung nahe, taumeln sie tiefer. Jeder für sich, jeweils ein Stück weit. Weiter! Tiefer! Schneckengleich langsam kommen sie voran.
Seit zwei Tagen, seit ihr Versuch, zum Gipfel vorzustoßen, gescheitert ist, essen sie nicht mehr, und sie trinken viel zu wenig. Wind und Kälte sind barbarisch, ihre Kehlköpfe wund. Über einen Grat von scheinbar endloser Länge steigen sie abwärts. Links die gewaltige Schräge der Firnhänge! Rechts nur Abgrund. Je tiefer sie kommen, desto träger und abgeschlaffter fühlen sie sich. Ihre Bewegungen sind die von Zombies. Es gibt keine Erholung mehr. Sie rasten liegend, mit dem Gesicht auf dem Schnee. Die Luft ist schneidend kalt und schlägt bis in die Lungen. Trotzdem, sie heben einen Fuß, weiter, stampfen in den Schnee, atmen tief durch. Einer hebt den nächsten Fuß, setzt ihn ein paar Zentimeter tiefer.
Auch zum Leben müssen sie sich zwingen: einatmen, ausatmen! Dann wieder ein Schritt. Die Bergsteiger krabbeln wie Kinder, die alles erst noch lernen müssen. Nach jeder Bewegung sind sie völlig verausgabt, und doch rechnen alle damit, durchzukommen. Noch hoffen sie. Alle haben Erfrierungen, schlimme Hustenanfälle, und ihre Stimmen sind schwach. All diese Leiden aber nehmen sie nicht mehr bewusst wahr. Obwohl ihre Sinne registrieren, in welchem Zustand sich ihre Körper befinden und wo sie sind, läuft jetzt alles wie in Trance ab. Und die Erkrankung ihrer Atemwege schreitet fort. Die mit Eiskristallen durchsetzte Luft fährt wie mit Messern in die Luftröhren. Nein, sie können nicht schneller, wollen nicht weiter absteigen. Der Berg gegen alle, beginnen sie zu sterben. In dieser Situation denkt der Mensch nichts mehr. Zwischen dem Schmerz und dem Sterben fehlt eine Zwischenstufe: Die Selbstreflexion. Damit sind auch Überlegungen und Voraussagen über das, was kommt, ausgeschlossen. Alle üblichen Verarbeitungsprozesse, die uns normalerweise dahin führen, dass wir drohenden Gefahren dank alter Erfahrungen rechtzeitig aus dem Weg gehen, sind abhanden gekommen.
Wie ins Jenseits schlängelt sich der Grat ins Nichts: Nirgendwo Gewissheit, unermesslich das Grau, immerzu Sturm. Und diese Kälte! Alle sind dick eingepackt, aber seit ihrem Aufbruch am Morgen ist die Temperatur ihrer Körper weiter und weiter gesunken. Nirgends Deckung, und der schneidende Wind, der vom Silbersattel weht, wird ständig stärker. Im Rucksack steckt etwas Proviant, aber um ihn herauszuholen, müsste man den Rucksack abnehmen, die Handschuhe ausziehen und ihn aufschnüren. Und das alles am Steilhang im Sturm. Aus Angst, irgendetwas zu verlieren oder gar den Rucksack fallen zu lassen, warten sie, bis eine weniger steile Wand erreicht ist, bis sie halbwegs sicher stehen können. Sie mühen sich weiter, immer heftiger frierend, immer langsamer werdend, völlig apathisch.
In Wellenkämmen wirbelt der Wind Pulverschnee daher, und wie die Meeresbrandung tönen die Sturmböen, die wie Lawinen den Berg hinunterrollen. Die Kleider eisstarr, die Gläser der Gletscherbrillen schneeverkrustet, taumeln die Männer über den Firn. Immerzu bergab. Ihre Füße sind taub, die Finger wie aus Holz. Kaum Sicht. Der Weg – kein Weg, nur Hänge und Grate – scheint mit jedem Meter gefährlicher zu werden. Aber aufeinander warten und sich besprechen können sie nicht. Der Selbsterhaltungstrieb ist stärker als der Gemeinschaftssinn.
Die Ordnung nimmt ab, das Chaos zu.