SHADOWRUN:
Dunkle Resonanz
Phaedra Weldon
Pegasus Press
35011G
Redaktion:
Tobias Hamelmann
Umschlagillustration:
Victor Manuel Leza
Umschlaggestaltung und Satz:
Ralf Berszuck
Übersetzung:
Christina Brombach
Lektorat und Korrektorat:
Lars Schiele
Shadowrun ist eine eingetragene Marke von Topps, Inc.
in Deutschland und anderen Staaten.
© der deutschen Ausgabe 2019 bei Pegasus Spiele.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit vorheriger Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.
Druck via GrafikMediaProduktion.
ISBN 978-3-95789-240-9
Besuchen Sie uns im Internet: www.pegasus.de
Widmung
Ich möchte all den wundervollen Menschen bei Catalyst Game Labs für ihre harte Arbeit und ihr Engagement für das Spiel danken. Ohne sie und die Spieler gäbe es unsere Sechste Welt nicht. Außerdem möchte ich meinen engsten Freunden danken, die sich fünf Jahre lang meine Erzählungen von diesem Buch angehört haben. Ihr werdet Augen machen! Am herzlichsten möchte ich aber denen danken, die das Buch nie aufgegeben und immer daran geglaubt haben: John Helfers, Jason Hardy und Loren Coleman.
Prolog
Justin Stonewater kauerte im schmalen Schutz der zerstörten Mauer, dem letzten Überrest eines Hauses aus Ziegeln und Mörtel. Andere Gestalten drängten sich um ihn und versuchten, ihren Schmerz, ihre Furcht und ihre Einsamkeit zu teilen.
Er wusste, dass die Gefühlsregungen, die ihn umgaben – Schmerzen, Kälte, Erschöpfung, Hunger –, nicht echt waren; sie konnten nicht echt sein. Zumindest behauptete sein Unterbewusstsein das hartnäckig jeden Tag. Nacht gab es hier nicht. Keine Erlösung von der ewigen Sonne über ihren Köpfen. Kein Abflauen des scharfen, unermüdlichen Windes. Keine Rettung vor dem schimmernden Band, das sich von einem Ende des Himmels zum anderen wand. Früher einmal hatte er geglaubt, es sei sein Ausweg aus diesem Albtraum.
Jetzt funkelte es nur und verspottete ihn. Und die anderen.
Niemand wusste, wo sie waren oder wie sie hierhergekommen waren. Sie wussten nur, dass die Welt eine verkohlte Wüste war. Sein Magen sehnte sich nach Nahrung, aber hier gab es keine. Kein Essen. Kein Wasser.
Aber auch keinen Tod.
Im Zwielicht starrte er dumpf die halb geformten lebenden Personae um sich herum an. Manche von ihnen sahen noch menschlich aus oder ähnelten wenigstens ihren lebendigen Vorbildern. Die waren aber noch nicht lange hier. Diejenigen, die vor wer weiß wie langer Zeit mit hoffnungsvollen Augen hier angekommen waren, hatten sich jetzt in Embryohaltung zusammengekrümmt und lagen verteilt um die leere Hülle von etwas, das vielleicht einmal ein Ziegelgebäude gewesen war.
Justin hob seine knochige Hand, an der weder Muskeln noch Adern geblieben waren. Keine blutigen Fingernägel zum Kauen, keine Fingerspitzen, mit denen er an den harten Felsmauern hätte kratzen können, die sie gefangen hielten. Seine andere Hand war halb verfallen, ebenso wie seine Füße und ein Teil seines Rumpfs.
Er wusste, welches Schicksal ihn erwartete. Ein Dutzend seiner Gefährten war vor seinen Augen zu Staub zerfallen, als das Leben sie verließ. Immer mehr von ihnen waren jedes Mal im Sand verschwunden, nachdem der Alte Mann gekommen war und die Sonne ausgesperrt hatte. Die Routine war immer gleich. Sie existierten in dieser Hölle, bis Er sie rief.
Und dann begannen die Schmerzen. Reißende, bohrende, durchdringende Schmerzen, die seine Seele in die Finsternis rissen. Es war die einzige Erlösung, die ihnen noch geblieben war. Dieses stockdunkle, hohle Nichts.
Aber jedes Mal, wenn er hinterher wieder aufwachte, war die endlose Hölle um ihn herum immer noch da – bloß fehlten ihm weitere Stücke seines Fleischs. Irgendwann würde er gar nicht mehr aufwachen.
Justin blickte auf zu dem sich windenden Reservoir aus Energie, das er nicht berühren durfte. Ebenso wie er und die anderen nicht zu dem anderen Gebäude in ihrem Gehege gehen durften. Es war groß, aus Metall und sah aus, als hätten die gleißende Sonne und die Hitze keinerlei Auswirkungen darauf. Licht pulsierte von seinem Dach, wo die Leiter des Alten Mannes sich nach oben wand. Von Justins Sitzplatz aus sah es fast so aus, als reichte die Leiter schon bis nach oben. Wenn er auf die Leiter steigen könnte … könnte er das Band berühren.
Er rappelte sich auf streichholzdünne Beine und knochige Füße auf und stolperte durch die halb zerfressene Gruppe auf das Lagerhaus zu. Er vermutete, dass der Alte Mann nicht da war. Schließlich hatte er sich seit, oh, seit langer Zeit nicht mehr blicken lassen. Justin wusste, dass er nur die Energie berühren musste – sie hatte einen Namen, der am Rand seiner Erinnerung tanzte, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Alles, was er wusste, war, dass er endlich nach Hause gehen konnte, wenn er sie berührte.
Nach Hause … das fühlte sich an wie ein lang vergessener Traum. Ein Leben in … an einem anderen Ort … mit … seiner Familie? Seiner … Frau und seinem … Sohn?
Das Lagerhaus ragte vor ihm auf. Die anderen streckten die Hände nach ihm aus und versuchten, ihn aufzuhalten. Der unablässige Wind trug ihr Flüstern zu ihm: »Geh nicht! Du darfst da nicht rein! Wenn du da reingehst, wirst du sterben.«
Aber was war das hier? Ein Leben?
Justin zerrte an der Doppeltür des Gebäudes. Die Oberfläche des Metalls fühlte sich kalt auf seiner Haut an, fast tröstlich, und er spürte ein Summen. Etwas regte sich in ihm, das er nicht mehr gespürt hatte, seit er in diesem Albtraum erwacht war.
Er drückte stärker gegen die Türen. Eine von ihnen gab ein wenig nach. Er lehnte sich noch fester dagegen. Die anderen waren ihm gefolgt, als sie gesehen hatten, dass er nicht ausgelöscht worden war. Einige warnten davor, die Tür zu öffnen, andere versuchten, ihm zu helfen. Schließlich hatten sie es geschafft, die Tür ganz aufzuschieben, aber Justin war der Einzige, der es wagte, in die Finsternis im Inneren zu treten.
Die kalte Luft tat seinem schmerzenden Körper gut und kühlte den Schweiß auf seiner Stirn. Er ging noch ein paar Schritte hinein und die Tür schloss sich hinter ihm. Stille. Ein paar Sekunden lang konnte er nichts sehen, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Ein Licht vor ihm wurde heller und er schleppte sich darauf zu.
Draußen donnerte es und der kühle, glatte Boden bebte, während Justin sich dem Licht näherte. Ist sie das? Ist das … das untere Ende der Leiter? Es musste so sein. Je näher er kam, desto mehr Einzelheiten konnte er erkennen.
Ja! Es war die Leiter. Nur …
Dieses Mal ließ der Donner das Gebäude bis in die Grundfesten erzittern. Justin ging langsamer. Was er sah, konnte nicht wahr sein. Ja, es war eine Leiter … eine breite, schwere Leiter, die sich durch ein Loch in der Decke erstreckte.
»DU WAGST ES, DICH MIR ZU WIDERSETZEN!«, donnerte eine Stimme, so laut, dass sie die Wände des Lagerhauses zum Einstürzen brachte.
Der endlose Wind heulte in einer Bö um Justin herum, der sich duckte und dabei mit der hautlosen Hand auf den harten Boden stieß. Ohne die Wände konnte er den Rest des Geheges erkennen, die anderen, die in einem fruchtlosen Versuch, dem unentrinnbaren Schicksal zu entkommen, vor dem Alten Mann auseinanderstoben.
Ein schwarzer Tornado erfasste sie alle, auch Justin, der versuchte wegzulaufen. Er krachte in fliegende Trümmer, vielleicht die Überreste der Ruinen. Steine, Ziegel und dünne Teile der Wände und des Dachs des Lagerhauses wirbelten um ihn herum. Er schrie, als er mehrmals getroffen wurde, und sah andere Gestalten, die neben ihm vergeblich gegen den rasenden Sturm ankämpften.
Zuerst verlor er seine Beine, sauber abgetrennt von einem Stück Wand, das an ihm vorbeiraste. Als Nächstes rissen ihm vorbeifliegende Felsen die Hände von den hilflosen Gliedmaßen. Ein Ziegel traf ihn ins Gesicht und zermalmte Knochen und Muskeln, während er aus dem Tornado herausgeschleudert wurde – hinein in die Leere, in der es kein Gehege mehr gab.
Dort fiel er mit einem lautlosen Schrei, bis alles zu Ende war.
Für immer.
Kapitel 1
Vor vier Monaten
Kazuma Tetsu schnappte nach Luft, als der Host um ihn herum eine verwüstete Welt enthüllte.
Zuerst war er nicht sicher, ob er am richtigen Ort war. Hier sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Unter dem dunstigen Himmel aus goldenem und dunklem Rauch gab es keine Bäume. Zerklüftete, silberne Wandteile von Gebäuden, die er einmal gekannt hatte, ragten auf wie gebrochene Knochen durch schwarze, verschmorte Haut.
»Wow, Chummer … toller Pyjama.«
Er wandte sich um und sah eine Standardpersona von der Stange, einen Mann mit dunklem Haar, einem kantigen Kinn und einem langen, dunklen Mantel. Genau, ein generischer Privatdetektiv aus irgendeinem Spiel.
Kazuma lächelte. »Dirk. Netter Dick-Tracy-Aufzug.« Er trat über eine Pfütze aus öligem Wasser und nahm die ausgestreckte Hand des Mannes. »Interessante Wahl. Ist das hier Kunst?«
Dirk schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist eine Replika eines anderen Hosts – auf dem ein Haufen Technomancer fast gestorben wäre. Sie haben das hier gebaut, um zu zeigen, was sie beinahe umgebracht hätte. Es ist aber nur eine Abbildung. Wenn du wirklich auf dem Host wärst, würdest du dir eine tödliche Krankheit einfangen.«
»Eine Krankheit von einem Host?«
»Einem komplett verdorbenen Host, omae. Ich wollte dich hier treffen, damit du sehen kannst, was am Rand deiner Reiche herumkriecht. Schau es dir gut an, Kaz, und lass dich niemals davon einfangen. Die Künstler, die das hier gemacht haben, nennen es dunkle Resonanz. Und das trifft es ziemlich genau. Präg es dir ein und mach dir klar, dass es das wirklich gibt.« Er trat näher auf Kazuma zu. »Deine Schwester ist schon wieder verschwunden.«
»Ja, ich weiß«, antwortete Kazuma und sah sich weiter um. »Aber ich glaube nicht, dass sie dieses Mal eingetaucht ist. Ich glaube, sie hat Ärger.«
»Und ich glaube, du hast recht.« Dirk streckte die Hand aus und legte sie Kazuma auf den Arm. »Viel kann ich nicht für dich tun. Du wirst allein nach ihr suchen müssen. Aber ich kann dir ein paar Ratschläge geben, damit du schneller vorankommst.«
Damit hatte er Kazumas volle Aufmerksamkeit.
»Du hast mir gesagt, dass Hitori ein paar Wochen nach der Sache im Cup O’ Sin wieder aufgetaucht ist, aber ich habe trotzdem weiter recherchiert, weil ein Name immer wieder vorkam. Caliban.«
»So wie der in dem Stück von Shakespeare? Der Sturm?«
»Ja. Genau der. Tu zwei Dinge.« Er kam so dicht an Kazuma heran, dass dieser jede gezeichnete Zelle des Comic-Helden sehen konnte. »Du musst deinen Online-Namen von Dancer zu Soldat ändern. Verstanden, omae?«
»Soldat?«
»Genau, Soldat.«
»Okay?«
»Das ist besser als Dancer. Der Name ist Drek. Außerdem möchte ich, dass du deine Suchparameter so änderst, dass der Name Caliban darin vorkommt. Behalte Hitori, aber füge Caliban hinzu. Alles klar?«
»Ja …«
»Gut.« Dirk richtete sich wieder auf. »Das ist gut. Wenn du diese beiden Dinge tust, solltest du bald wieder mit ihr zusammen sein. Und wenn nicht, wirst du sehr interessante Gesellschaft anlocken.«
Kapitel 2
GiTm0
Willkommen zurück auf GiTm0, omae; du warst zum letzten Mal vor 13 Stunden, 9 Minuten und 22 Sekunden verbunden.
Achtung
Nur zur Erinnerung: Dieses Board bleibt nur noch weniger als sechs Stunden auf euren Kommlinks. Schickt eure Sprites vierundzwanzig Stunden danach aus, damit sie euch den neuen Link besorgen.
Hier sind ein paar neue Shadowrunner-Namen, die ihr kennen solltet: Mangle, Blackwater, blessie89 und DongleSave. Die Gesamtliste findet ihr unter [Link] [Gast], aber lest sie nicht online. Und denkt daran, diese Runner wollen nur die Nuyen. Wir sind ihnen furzegal.
Vergesst nicht, GOD sieht alles.
oNLiNE NeWs
* Zwanzig oder mehr bekannte Technomancer sind aus der Novatech-Arkologie verschwunden. Ihre Familien wollen nicht mal zugeben, dass sie weg sind. [Link]
* Hab heute früh in einem Feed gesehen, dass das neueste MMORPG von Contagion Games, TechnoHack, in den frühen Morgenstunden mal wieder einen Host zum Absturz gebracht und einen massiven Spannungsabfall in einem Matrix-Gateway in der Nähe von Seattle verursacht hat. Der Geschäftsführer Ferdinand Bellex hat eine Pressekonferenz gegeben und für den Ausfall um Verzeihung gebeten, dann hat er gleich ganz schnell die Schuld auf die wachsende Verbreitung von Decks geschoben, die sich nicht mit den Hosts synchronisieren. Er hat außerdem ein paar seltsame Kommentare über Technomancer vom Stapel gelassen, die den Mainframe angegriffen haben sollen. Aktuell verhandelt er mit Knight Errant über bessere Sicherheitsmaßnahmen, damit so eine Panne nicht wieder vorkommt. Darüber hinaus hat Bellex angekündigt, dass noch diese Woche ein neuer UV-Host geöffnet werden soll, der die Übertragungen auf ihren eigenen Host entlasten und weitere Probleme mit dem Gitter verhindern soll, sobald das System von Knight Errant sicher aufgesetzt ist. Hat jemand hier das Spiel schon mal gespielt? Wir sollten verstehen, warum Bellex uns überhaupt erwähnt hat. [Link] [Posts ansehen]
* Eine Sicherheitslücke in einer Ares-Einrichtung in Lower Los Angeles hat dafür gesorgt, dass der Pueblo-Konzernrat wegen potenzieller High-Tech-Mächte in Aufruhr ist – obwohl die lokalen Bullen versichern, dass nichts gestohlen oder beschädigt wurde. Das ist der fünfte Fehler, der die Firma plagt, seit vor zwei Tagen ein Angestellter in der Personalabteilung entlassen wurde. Zufall? [Link]
* Ähnliche Richtung: Das Cup O’ Sin-Café – vor ein paar Jahren in den Nachrichten, weil es von Hackern angegriffen wurde – macht wieder Schlagzeilen. Einen Tag, nachdem der oben erwähnte Ares-Angestellte gefeuert wurde, gab es im PAN des Cafés die gleiche Art von Pannen. Eine Espressomaschine explodierte und verletzte eine Angestellte, die einem der Stammkunden des Cafés die Schuld gab. Dieser Stammkunde wurde als die gleiche Person identifiziert, die am Tag zuvor von Ares gefeuert worden war. Als man kein Kommlink bei ihm fand, wurde er zu Tode geprügelt. Bei der Autopsie wurde ein internes Kommlink gefunden. Da draußen sieht es nicht gut für uns aus, Freunde. Achtet darauf, dass man an euch immer ein Kommlink oder Deck sieht. Wenn ihr Buchsen habt, benutzt sie gut sichtbar.
AUGEN AUF
>>>>Open Thread/Subhost221.322.1
>>>>Thread Access Restrictions: <Yes/No>
>>>>Format: <Open Post/Comment Only/Read Only>
>>>>File Attachment: <Yes/No>
>>>>Thread Descriptor: Dementi
>>>>Thread Posted By User: Shyammo
> Hey Shyammo! Danke, dass du den Artikel über die verschwundenen Novatech-Angestellten gefunden hast. Mir ist aufgefallen, dass es dazu nicht viele Kommentare gibt, bis auf einen Pieps in einer Late-Night-Vidtalkshow. Ich habe die Story nur einmal gesehen und sie wurde auch nicht von anderen Sendern aufgegriffen – ich habe mich schon gefragt, ob ich sie mir eingebildet habe.
> 404Flames
> Bin gar nicht sicher, ob sie alle Angestellte waren. Hab den Artikel gelesen. Steht drin, die meisten waren Angestellte, andere waren nur Familienangehörige von Angestellten. Was für ein rohes Stück Drek muss man sein, um abzustreiten, dass ein Angehöriger verschwunden ist?
> MoonShine
> Wir sollten uns mehr um Joint Ventures kümmern. Projekte, bei denen es um Technomancer geht und bei denen Konzerne zusammenarbeiten. Sucht nach Tags wie elektronische Magie, Hack-Recherche, Dunkle Wasser oder Caliban.
> Soldat
> Hey, Sol, wo hast du denn gesteckt? Ist schon ewig her, dass du was gepostet hast.
> HipOldGuy
> Hat das bisschen Info, das du gecheckt hast, geholfen, Soldat? Hast du sie gefunden?
> 404Flames
> Ich hab sie nicht gefunden, aber dafür etwas, das helfen könnte. Deshalb schlage ich diese Tags vor. Wir müssen auf Konzerne achten, die zusammenarbeiten. Vielleicht schmieden sie geheime Bündnisse, wenn es um Technomancer geht.
> Soldat
> Was hast du gefunden, Soldat? Du klingst, als hättest du etwas gesehen oder gelesen.
> Netcat
> Ich kümmere mich darum, Sol. Ich habe schon angefangen, Contagion Games und ihre Probleme zu untersuchen. Hat mir gar nicht gefallen, dass Baller-Bellex gemeint hat, er müsse uns in seinen Kram mit reinziehen. Wenn sein Team kein ordentliches Spiel bauen kann, soll er gefälligst die Verantwortung übernehmen, statt mit Drek zu werfen. Mal sehen, ob mir etwas auffällt.
> HipOldGuy
> Das will ich jetzt noch nicht sagen, Netcat. Silk arbeitet für mich an ein paar Sachen. Ich poste, sobald ich mehr weiß. Es ist nur … hat jemand von euch etwas Komisches bemerkt? In der AR oder den Strömen?
> Soldat
> Danke im Voraus, Hip. Mir ist es wichtig, dass ihr alle wisst, wie sehr man euch da draußen zu schätzen weiß. Ich bin froh, dass ich diese Woche keine Verschwundenen vermelden muss. Die Zahl von letzter Woche ging mir ganz schön an die Nieren.
> RoxJohn
> Hey, Hip, ich habe ein bisschen Einstufungsarbeit für Contagion gemacht. Ich schau mir das Spiel mal an. Bin selbst ein bisschen neugierig. Könnte sein, dass man da ein paar Nuyen verdienen kann, wenn sie weiter ständig die Matrix kaputt machen.
> Venerator
> Sol, was meinst du mit »komisch«? Ich frage nur, weil mir etwas Seltsames begegnet ist, als ich das letzte Mal eingetaucht bin. War nicht in den Strömen, aber es hat auf mich gewartet, als ich wieder rauskam. Und ich hatte das Gefühl, dass mich jemand beobachtet.
> Netcat
> Ja … zehn Verschwundene in einer Woche. Rox, hast du mehr über ihr Verschwinden rausfinden können? Haben sie vielleicht alle für einen Konzern gearbeitet oder hatten sie sonst eine Verbindung?
> EasterBunnyun
> So etwas Ähnliches habe ich auch gespürt, Netcat. Fast so, als wäre dort drin etwas am Rand oder als schaute es von draußen rein. Ich melde mich auf jeden Fall, wenn ich mehr weiß.
> Soldat
> Du weißt doch, dass ich solche Infos nicht auf dem Board veröffentlichen kann, Easter. Aber wenn du diesen [Link] klickst, gebe ich sie dir.
> RoxJohn
Kapitel 3
Horizon-Archivgebäude
Los Angeles
Stillgelegter DS-Host
Donnerstagabend
Kazuma Tetsus lebende Persona, ein rothaariger, schwarz gekleideter Ninja, stand in der eintönigen virtuellen Realität des Horizon-Hosts zwischen grauen Wänden und hielt sein Schwert vor sich. Ein antiker Schreibtisch, in dessen geöffneter unterster Schublade eine abgenutzte Aktentasche aus Leder zu sehen war, befand sich zwischen ihm und seinem Gegner. Kazuma hob die Waffe, auf deren Klinge sich das Icon des anderen widerspiegelte.
Das Icon, ein einfacher, zähnefletschender, sabbernder weißer Wolf, sah aus wie eine dieser Personae von der Stange, die Kazuma schon häufiger gesehen hatte, seit Decks wieder beliebter geworden waren.
Er hatte keine Zeit, mit der Persona von wem auch immer zu kämpfen. Er brauchte jetzt einen Technomancer-Taschenspielertrick. Eine Ablenkung – irgendetwas mit gerade genug Kraft, das diesen Mistkerl so lange ablenkte, dass er sich die Daten schnappen und abhauen konnte.
Das Echo des Skinlinks, das er benutzte, war ermüdend, aber nicht so sehr, dass er sich bereits Sorgen machen musste. Kazuma hatte nicht geplant zu kompilieren, da das mehr von seiner Ausdauer beanspruchen würde, als er sich leisten konnte. Säße er nicht körperlich direkt neben dem Host, sondern hätte sich aus der Ferne eingehackt, hätte er es vielleicht auf einen Kampf ankommen lassen. Aber so nicht.
Er hob das Schwert und drehte es, dann steckte er es langsam in die Scheide auf seinem Rücken. Der weiße Wolf heulte. Speichel lief ihm von den gefletschten Zähnen und er hob sein Hinterteil, während sein Oberkörper sich senkte. Drek – das bedeutete, dass er in ein paar Sekunden angreifen würde. Die Kompilierung wird schnell gehen müssen …
Kazuma streckte seine jetzt freien Hände mit den Handflächen nach oben seitlich aus und öffnete seine Sinne für das Flüstern und Summen der Matrix, das ihn umgab. Plötzlich begannen schimmernde Rauchfetzen zwischen seinen Händen herumzuwirbeln, in denen sich die Einsen und Nullen von Daten abzeichneten. Mit ausgestreckten Armen atmete Kazuma tief ein und zog die Fetzen zu sich. Er ließ seine Fantasie spielen und konzentrierte sich dabei, während er mit der Datensphäre sprach, ihr eine Bestimmung gab und sie bat, sich seinem Feind in den Weg zu stellen.
Die Matrix antwortete mit Taten: Die Rauchfetzen verbanden sich zu bunten Bändern, die sich vor ihm wanden und drehten. Die Einsen und Nullen schrieben sich selbst ins Dasein, während er die Gestalt heraufbeschwor: die eines Königstigers. Er war doppelt so groß wie der Wolfhacker und – zumindest für kurze Zeit – viel schlauer. Kazuma gab seinen Sprites gern die Freiheit der Fantasie. Dieser Decker glaubte vielleicht zu wissen, womit er es zu tun hatte, aber da irrte er sich.
Kazuma spürte, wie die Anstrengung seinen physischen Körper in Mitleidenschaft zog, und trat einen Schritt zurück, während sein frisch kompilierter Paladin-Sprite dem weißen Wolf ins Gesicht brüllte.
Der weiße Wolf reagierte mit einem Angriff. Er sprang mit ausgefahrenen Klauen in die Luft und die Stimme des Benutzers ertönte: »Ich mach dich fertig!«
Kazumas Paladin machte einen Satz und fing den Wolf ab. Beide Tiere krachten in eine Seitenwand, dann löste sich der Tiger in eine Wolke von kleinen, schimmernden, aber stahlgepanzerten Schmetterlingen auf, die direkt in das Gesicht des Wolfs flogen und Stücke aus ihm herausrissen.
Während die beiden Programme einander bekämpften, schnappte Kazuma sich die Aktentasche und sprintete davon. Der Paladin würde lange genug durchhalten, dass er Zeit hatte, sich aus dem Host auszuloggen; anschließend würde seine Essenz sich wieder im netzartigen Flüstern der Datensphäre auflösen.
Kazuma schlängelte sich durch ein endloses Labyrinth aus Korridoren und mähte mit seinem Katana die verbleibenden Geister von ehemaligen Sicherheitsprotokollen um, die zu schwach waren, um noch etwas auszurichten. Während er sich hindurchschnitt, dachte er über seine Möglichkeiten nach. Bevor das hässliche Riesensabbermaul aufgetaucht war, hatte er geplant, die Aktentasche zu öffnen und nur die Informationen daraus mitzunehmen, die mit seiner Schwester und dem Namen Caliban zu tun hatten. Er hatte nicht damit gerechnet, dass jemand anders dort sein würde – schon gar nicht jemand, der diese anscheinend ausrangierten Akten haben wollte. Jetzt hatte er keine Zeit mehr, also beschloss er, die Aktentasche so weit weg wie möglich zu bringen. Es wäre leicht, einen Kurier-Sprite zu kompilieren und ihn die Aktentasche an einen sicheren Ort in der Matrix bringen zu lassen, wo Kazuma sie später abholen könnte.
Leider war dieser Host mit keinem Gitter verbunden.
Keine Verbindung zur Matrix.
Aber in der Nähe gab es ein drahtloses Signal, das ihm den Zugriff erlaubt hatte.
Boss!
Ponsu, Kazumas registrierter Sprite, erschien in Gestalt eines großen, goldenen Origami-Schwans neben ihm. Sie war sein erster Sprite – ein Wesen, das in der Matrix geboren und aufgewachsen war. Sie enthielt Informationen, die sowohl von ihm selbst als auch den Resonanzströmen stammten, die um ihn herum pulsierten. Sie – er nannte sie eine »Sie«, weil sie ihn mit einer sanften, weiblichen Stimme ansprach, die er ihr nicht selbst gegeben hatte – war schon seit mehr als zwei Jahren bei ihm, seine ständige Begleiterin in der Matrix.
Kazuma stopfte ihr die Aktentasche in den Schnabel. Der Host war nicht mit der Matrix verbunden – aber Kazuma war es. Er hatte es zwar noch nie ausprobiert, aber es erschien ihm nur logisch, dass er als Kanal zwischen Host und Matrix fungieren konnte. »Schaff das hier raus. Versteck es einfach irgendwo in der Matrix an einem sicheren Ort. Ich hole es mir später.«
Du willst, dass ich dich allein lasse? Das kann ich nicht. Da hinten ist ein großer, hässlicher Wolf, falls du es nicht bemerkt haben solltest.
»Doch, deshalb laufe ich ja weg.« Kazuma warf einen Blick über die Schulter und spürte, dass sein Paladin sich auflöste. Er hatte nicht so lange durchgehalten, wie es Kazuma sich gewünscht hätte. Der Wolf sah vielleicht wie eine billige Kopie aus, aber seine Kraft war echt.
Er wandte sich wieder Ponsu zu. »Schaff es einfach hier raus. Ich habe diesen Kerl wütend genug gemacht, dass er uns folgen könnte.«
Aber der Sprite blickte den Korridor hinter ihnen entlang. Ich kann mich um den Kretin kümmern. Lass mich …
»Ponsu, bitte!«
Sie warf ihm einen durchdringenden Blick aus schimmernden Augen zu und verschwand.
»Gib das wieder her, du Arschloch!«, brüllte der Wolf, als er in den Gang gerannt kam.
Kazuma lief entlang seiner Fluchtroute, sprang aus der VR und hinein in die verwirrende reale Welt. Der Wolfhacker würde seinen eigenen Weg herausfinden müssen – vermutlich über ein Deck. Kazuma nahm an, dass er sich in der Nähe befand. Körperlich. Der Benutzer hinter dem Wolf musste hier im Gebäude sein und sich physisch mit dem Host verdrahtet haben, um überhaupt hineinzukommen – und er war kein Technomancer. So viel wusste Kazuma.
Bevor er diesen hirnrissigen Plan ausprobiert hatte, hatte Kazuma die beiden anderen Rechner im Gebäude zerstört, die mit dem Host in Reihe geschaltet waren, den er brauchte. Irgendwie musste dieser Mistkerl es aber geschafft haben, die Sabotage rückgängig zu machen. Kazuma hätte besser darauf achten sollen, dass die Rechner wirklich nicht zu retten waren, aber er hatte keine Aufmerksamkeit erregen wollen, falls ein anderer Fachmann einen Blick darauf geworfen hätte.
Hinterher. Immer schlauer. Verdammt.
Heiß aus der VR zu kommen war immer ein echtes Problem für Kazuma. Er brauchte ein paar Minuten, um sich zu orientieren, während er blind aus dem Bürostuhl stolperte, in dem er seinen Körper geparkt hatte. Den Paladin zu kompilieren hatte ihn etwas erschöpft, ganz zu schweigen von Ponsus Flucht in die Matrix. Der schummrige Raum wurde noch dunkler, als er die Hand von der Außenhülle des Hosts nahm und mehrmals tief durchatmete. Er musste sich selbst und sein Zeug aus dem Gebäude bringen, bevor der Volltrottel von einem Wolfhacker über irgendeinen Sicherheitsdraht stolperte, den er nicht ausgeschaltet hatte.
Das Deck steckte immer noch in seiner kleinen Tasche, aber er hatte darauf geachtet, dass sein Kommlink sichtbar war. Seine Datenbuchse saß weithin sichtbar in seiner Schläfe und er band sich die Haare zurück, damit jeder sie sehen konnte. Er würde niemandem – am wenigsten seinem Auftraggeber – verraten, dass er ein Technomancer war. Heutzutage war das eine Begabung, die man nicht offen vor sich hertrug. Eher ein Fluch, der einen das Leben kosten konnte oder dafür sorgte, dass man verschwand.
So wie all die anderen.
Er trug ein Headset von Fairlight bei sich, das erste Kommlink, das er sich je gekauft hatte. Sollte es sich allerdings jemals jemand genauer ansehen, würde er erkennen, dass das Ding noch komplett fabrikneu aussah. Genau wie das Deck. Keine Upgrades. Nicht mal eine App für die ganz gewöhnlichen Arbeiten eines KE-Technikers. Seine Partnerin, Silk, wies ihn ständig auf die Schwäche seines Bluffs hin und bläute ihm immer wieder ein, dass er sich zumindest die Upgrades leisten und sie zur Schau stellen sollte.
»Wenn du dich schon hinter einer Lüge versteckst, sollte sie wenigstens ein gutes Versteck sein«, rieb sie ihm immer zu unter die Nase.
Aber er brauchte diese Dinge nicht. Was finanziell ein Riesenvorteil war.
Kazuma trug die Kommlinkverbindung fest am Handgelenk montiert, aber sie war ausgeschaltet. Er schaffte es, zurück in den Schreibtischstuhl zu taumeln, als die Tür des Raums plötzlich aufsprang.
Er fuhr ehrlich überrascht herum und sah einen Ork in Horizon-Security-Uniform mit gezogener Waffe hereinkommen. Kazuma räusperte sich und schenkte dem Wachmann sein schönstes Lächeln. »Sir …«
»Ausweis!«, bellte der Ork.
Kazuma nickte schnell, während sein Blick auf die gelblichen Hauer fiel, die vom Kiefer des Securitymannes über seine Oberlippe ragten. Der Kiefer des Orks stand weit vor, damit er genug Platz für die gewaltigen Zähne bieten und ihr Gewicht tragen konnte. Die kleinen, spitzen Ohren des Orks zuckten und Kazuma konnte die Angst an ihm riechen. Irgendetwas lief hier im Gebäude schief. Was auch immer es war, es hatte den Wachmann gründlich verängstigt.
Verdammter Wolfhacker.
Kazuma übermittelte dem Ork seine SIN. Der Wachmann hielt seine Waffe weiter auf ihn gerichtet, als die Information in seinem AR-Fenster aufploppte. Kazuma konnte das virtuelle Fenster im PAN des Orks sehen, aber er wusste ohnehin schon, was darin stehen würde.
Morimoto Toshi, Mensch, Knight-Errant-Projektleiter, Geburtsort: Chiba, Japan. Das Bild zeigte einen älteren Menschen. Kazuma hatte seine Gesichtszüge mit Nanitencreme verändert und die Spitzen seiner Ohren unter einer buschigen, grauen Perücke versteckt.
Der Ork schien zufriedengestellt und gab ihm die Brieftasche zurück. »Tut mir leid, Mister Morimoto, aber der stille Alarm wurde ausgelöst, drüben im südlichen Teil des Gebäudes. Wir vermuten, dass ein Hacker in den Host eingedrungen ist. Zum Glück ist dieses System nicht ans Gitter angeschlossen. Unsere Leute suchen im ganzen Gebäude nach ihm.«
Verdammt. Der Hacker hatte also wirklich den Alarm ausgelöst. Baka. Kazuma nickte und koppelte sein Deck mit überdeutlichen Gesten vom Terminal ab. »Ist schon in Ordnung, Sir. Sind Sie hier, um mich in Sicherheit zu bringen?«
Der Ork war gerade im Begriff zu antworten, als die Tür aufging und ein Mensch in der gleichen Wachmannsuniform hereinkam. »Brigg«, sagte der kleinere Mann mit einem misstrauischen Blick in Kazumas Richtung, »hast du etwas gefunden?«
»Nein«, sagte der Ork namens Brigg. »Das ist Mister Morimoto. Er hat hier für KE am Sicherheitssystem gearbeitet.« Er beugte sich näher zu dem Neuankömmling und flüsterte heiser, aber gut hörbar: »Ich glaube, er war im System, als der Alarm ausgelöst wurde. Er sieht nicht besonders gut aus.«
Der Mensch schob sich an Brigg vorbei und musterte die Person, die für ihn aussah wie ein älterer Asiate, schärfer. »Brauchen Sie ein CrashCart, alter Mann?«
»Nein, nein.« Kazuma schüttelte den Kopf. »Es ist nur … Ihr Freund hat recht. Ich war nicht darauf eingestellt, dass es einen Tertiärausfall in den subsidiären Laufwerken geben würde, durch den eine Kaskade weiterer Ausfälle ausgelöst wurde, die …«
Der menschliche Wachmann hob die Hand. »Schon gut, schon gut.«
Kazuma lächelte innerlich. Es war immer besser, sie mit Geschwafel zu verwirren. Das Geheimnis daran war, zu wissen, wen man wann am besten einwickeln konnte. Wie ein nerdiger Security-Techniker zu wirken konnte entwaffnend genug sein.
»Tut mir leid, dass ich Ihnen solche Unannehmlichkeiten bereite.« Sein Lächeln war echt, als er den Rest seiner Ausrüstung in die Tasche steckte und aufstand.
Ponsu war zurück und schwebte in Kazumas eigener AR am Rande seines Blickfelds. Sie nickte ihm zu, um ihm mitzuteilen, dass die Aktentasche versteckt war. Hier gab es nichts zu sehen – und auch auf seinem Deck oder Kommlink war nichts zu finden.
Der Mensch deutete mit dem Kinn auf das Terminal. »Sind Sie fertig? Wir schätzen, dass der automatische Notruf schon ein Sicherheitsteam Ihrer Firma gerufen hat. So funktioniert das System in solchen Fällen. Wollen Sie auf sie warten?«
Nein, er wollte ihnen auf gar keinen Fall begegnen. Diese beiden zu überlisten war leicht gewesen – aber einen Knight-Errant-Beamten auszutricksen? Oder, noch schlimmer, GOD, falls Ponsu die Aufmerksamkeit der Spinnen der Grid Overwatch Division auf sich gezogen hatte? Kazuma war noch nicht bereit, seine Verstellungskünste unter so harten Bedingungen auf die Probe zu stellen. »Ja, ich möchte unbedingt hier sein, wenn sie kommen. Darf ich meine Sachen zusammensammeln und am Eingang auf sie warten?«
Doch noch während er sprach, wurde der Raum in völlige Finsternis getaucht. Der Host selbst war zwar nicht mit dem Gitter verbunden, das Sicherheitssystem des Gebäudes aber sehr wohl. Kazuma verlinkte sich unbewusst mit dem schwachen, drahtlosen Signal und bat Ponsu, sich den Stromausfall näher anzusehen. Sekunden später tauchte der Schwan in einem neuen AR-Fenster zu seiner Linken auf.
Boss, Strom ist noch da, sonst würde das Netzwerk nicht funktionieren. Die Lichter sind alle an.
Kazuma fluchte leise. Es war dunkel, aber es gab noch Strom. Im Prinzip waren auch die Lichter alle noch an – man konnte sie nur nicht sehen. Das bedeutete, dass ihre Blindheit magisch ausgelöst worden war. Es war unmöglich zu sagen, wie weit der Zauber reichte und ob der Wolfhacker dagegen immun war. Aber Kazuma war sicher, dass er immer noch im Haus war und auf ihn wartete.
Draußen, vor der Tür des finsteren, kleinen Raums, krachte ein einzelner Schuss. Kazuma brauchte nichts zu sehen, um zu wissen, dass beide Wachmänner ihre Waffen gezogen hatten.
»Sie haben uns vom Strom abgeschnitten«, sagte der Ork. Etwas klickte. »Mullens, hier ist Brigg. Wir haben Schüsse gehört.«
Eine Pause, dann statisches Rauschen, schließlich: »Ja, wir sitzen hier im Dunkeln – und ihr?«
»Ja, wir auch. Wir sind im mittleren Keller. Mister Morimoto von KE war hier bei der Arbeit. Wir werden versuchen, den Schützen ausfindig zu machen.«
»Verstanden. Wir werden über den Südring vorrücken. Ihr nehmt den nördlichen.«
»Verstanden.«
Kazuma verzog das Gesicht. Sie hatten sich über einen offenen, stimmaktivierten Kanal unterhalten. Jeder Hacker, der seine Cyberaugen wert war, hätte sich schon längst in Bus-zu-Bus-Verbindungen eingeschaltet. Somit hatten sie gerade komplett preisgegeben, wie sie den Schützen zu finden gedachten. Wenn es kein Code für etwas anderes war, aber das mochte Kazuma nicht so recht glauben.
Ein kleines Licht erschien in der Handfläche des Orks und erleuchtete den Raum grünlich. Kazuma war sich nicht sicher, ob der Ork wusste, dass er gerade Magie gegen Magie einsetzte, aber es war genug. Kazuma konnte ihre Gesichter sehen – Abdrücke aus Schatten und Smaragdgrün. »Größer kann ich es nicht machen, Chief.«
»Das genügt«, sagte Chief, der Mensch. »Mister Morimoto, Sie müssen hier bleiben. Dieser Raum hat eine Stahltür. Wenn Briggs und ich draußen sind, will ich, dass Sie sie abschließen und einfach ruhig bleiben. Ich bin sicher, die KE-Bullen sind in ein paar Sekunden da. Schaffen Sie das?«
»So ka«, sagte Kazuma.
»Haben Sie eine Waffe?«, fragte Briggs.
»Ee-ae«, log Kazuma. »Mir wird nichts passieren.«
Sobald die beiden Wachmänner gegangen waren, berührte Kazuma seine Armbanduhr. Er konnte sie im Dunkeln leuchten sehen. Die Magie betraf also nur seine Umgebung und sie hatte Schwachstellen. Wie zum Beispiel das Licht des Orks und die Beleuchtung durch ein elektronisches Gerät. Er benutzte die Uhr als Taschenlampe und fand eine Werkzeugschublade und darin eine kleine, batteriebetriebene Lampe.
Er vergrößerte ein kleines Fenster mit einer Kaugummi kauenden Blondine. <Hast du das alles mitbekommen?>
<Ja>, sagte sie und ihre Persona blinzelte. Ihr Blick schien etwas zu verfolgen, das Kazuma nicht sehen konnte. <Der Wolftyp hat einen Feueralarm im südlichen Gebäudeteil ausgelöst.>
Feueralarm? Kazuma stöhnte. <Also kommt KE nicht?>
<Oh, doch, die kommen. Ich sorge nur dafür, dass ein paar rote Ampeln lange genug rot bleiben. Dein Auto steht noch da, wo du es geparkt hast. Ich habe eine Riggerin in der Nähe gefunden – ein paar Tische neben mir. Scheint so, als hätte ich mir den richtigen Platz ausgesucht.>
<Gehört sie zum Wolfhacker?>
<Nehme ich an. Ich lenke sie ab. Ponsu kennt die Strategie. Pass auf dich auf und denk daran: GOD sieht alles.> Ihr Fenster verschwand.
Nachdem Kazuma sich noch einmal umgesehen hatte, um sicherzugehen, dass er nichts zurückgelassen hatte, was zu ihm führen konnte, öffnete er vorsichtig die Tür. Er zuckte zusammen, als sie ein Klicken von sich gab, das durch den dunklen Flur hallte. Er hängte sich die Tasche über die Schulter und beschloss, dass die Taschenlampe zu viel Aufmerksamkeit erregen würde. Da es sich um magische Finsternis handelte, sollte eine Kamera problemlos sehen können.
Im Geiste tastete er nach dem nächsten Datensphären-Flüstern und öffnete eine Hintertür im Sicherheitsnetzwerk des Gebäudes, die er selbstverständlich selbst einzubauen geholfen hatte. Ein neues Fenster erschien in seiner AR und zeigte ihm einen komplett beleuchteten Korridor in beide Richtungen. Der Blickwinkel war etwas verwirrend, denn er würde sich selbst sehen, wie er den Flur entlangkam, aber nicht das, was direkt vor ihm lag. »Ponsu – du kennst die Strategie?«
Ja, Boss.
Ein Netz aus den Gängen, Räumen und Ausgängen des Gebäudes erschien in einem Fenster zu seiner Linken. Er bemerkte den blinkenden, roten Punkt, der ihm verriet, wo er sich befand. Im Keller. Ein Stockwerk unter dem Erdgeschoss. Es gab drei mögliche Ausgänge aus dem Gebäude, aber er sah keine Fahrzeuge in der Nähe, die dem Wolfhacker gehören könnten. Leider hatte er versäumt, sich einen Notfallplan zurechtzulegen. Es war ihm einfach nicht in den Sinn gekommen, dass noch jemand anders die Daten haben wollen könnte. Dafür würde ihn Silk ebenfalls runterputzen.
Als er auf die Treppe zutrottete, fing eine der Kameras eine Bewegung nahe der Kellertür auf. Kazuma nahm an, dass es kein Wachmann war, sondern der Wolfhacker, der ihn suchte.
Er schaute erneut auf den Plan und fand einen weiteren, selten benutzten, offenen Ausweg, der oben auf der anderen Seite des Gebäudes auf eine Einbahnstraße hinausführte. Boulevard Avenue, Nordost. Auf dieser Straße fuhren für gewöhnlich keine Transporter entlang, weil auf dieser Seite die halbe Fahrbahn eingebrochen war und dort jetzt gebaut wurde. Eigentlich wurde in der halben Stadt gerade gebaut. Wenn er da draußen ein Fluchtfahrzeug fand …
Ponsu raschelte vor ihm auf allen AR-Fenstern gleichzeitig.
Als Kazuma sich der Treppe näherte, hörte er das verräterische Geräusch von Stiefeln, die sich von oben näherten. So schnell er angesichts der pulsierenden Erschöpfung hinter seinen Augäpfeln konnte, duckte er sich hinter die Treppe, von wo aus er zwischen den Stufen hindurchsehen konnte. Dann schob er alle AR-Fenster beiseite, bis auf eines, das ihm den Blick ins Treppenhaus aus der Vogelperspektive erlaubte. So wartete er darauf, dass der Hacker erschien.
Es dauerte nicht lange. Sobald ein Stiefel die entsprechende Stufe betrat, streckte Kazuma die Hand aus, packte ihn über dem Knöchel und zog den Hacker mit ganzer Kraft am Bein. Der gestiefelte Mann schrie überrascht auf, stolperte und fiel den Rest der Treppe hinunter.
Kazuma schlug einen Haken um ihn herum und beobachtete sich selbst über die Kellerkameras, wie er dem Mann auswich, der sich schon wieder aufzurappeln versuchte. Dann sprintete er die Treppe hinauf, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm, und kam genau in dem Moment oben an, als der Mann unten seine Waffe hob und feuerte.
Kapitel 4
Vor dem Horizon-Archivgebäude
Mackenzie Fenrir Schmetzer – seine Runner und alle anderen, mit denen er sich abgab, nannten ihn Mack – stand im Schatten des Lagerhauses auf der gegenüberliegenden Seite des Archivgebäudes von Horizons Niederlassung in Los Angeles. Er hatte seine Cyberaugen auf vierfache Vergrößerung eingestellt, sodass er sogar die Werkzeugspuren auf der fensterlosen Wand des Gebäudes erkennen konnte. So spät nachts gab es hier keinen Verkehr mehr, da das Archiv sich in einer der weniger guten Gegenden der Stadt befand: weit entfernt vom Glamour und den Lichtern der Hauptstraßen, mitten in einem Neubaugebiet. Der Komplex stand schon auf der Abrissliste.
Die meisten Straßenlaternen hier funktionierten nicht, weil sie schon vor langer Zeit Steinen oder Kugeln zum Opfer gefallen waren. Die Kommunalpolitiker waren der Meinung, es wäre Verschwendung, sie ständig zu ersetzen, wenn sie bei nächster Gelegenheit gleich wieder zerstört würden.
Eine Birne brannte allerdings noch nahe der Stelle, wo Mack stand. Er mochte das Licht. Ohne Licht keine Schatten. Ohne Schatten keinen Run.
Und ohne Run keine Nuyen.
Trotz der aktuellen Wirtschaftslage ging es Mack finanziell ganz gut. Er besaß zwei erfolgreiche Clubs in der Gegend von Los Angeles, eine Bar in Seattle und einige Wohnhäuser. Viel mehr war nicht über ihn bekannt, außer, dass er seine Runs immer zu Ende brachte. Nicht immer erfolgreich, aber er war fair. Solange der Johnson fair blieb.
Also nicht oft.
Mack glaubte daran, dass eine Krähe der anderen kein Auge aushackt. Oder zumindest daran, dass man einen Deal nicht bricht.
Seine Runner in Los Angeles hatten schon fast zwei Monate lang keinen guten Job gehabt, bis zu diesem Auftrag. Er sah einfach aus. So einfach, dass Mack ihn höchstpersönlich überwachte. Er wusste nicht warum, aber er hatte das Gefühl, dass etwas daran faul war.
Warum sollte ein Konzern wie Horizon zum Beispiel ein Gebäude unterhalten, das aktive Hosts beheimatete, aber nicht mit dem Gitter verbunden war? Und warum würde irgendjemand etwas Wichtiges auf einem von ihnen speichern?
Mack dachte an die schlechte Publicity, die Horizon sich in letzter Zeit eingehandelt hatte, und kam zu dem Schluss, dass das Gebäude ein perfektes Versteck für alles abgäbe, von dem der Konzern nicht wollte, dass es jemand fand. Die Sicherheitsvorkehrungen, die hier herrschten, hatten ihn beeindruckt, insbesondere die Tatsache, dass man sich Knight Errant leistete, obwohl die Pueblo-Polizei viel näher und wahrscheinlich auch viel billiger gewesen wäre. Genau das ließ bei ihm aber auch alle Alarmglocken schrillen. Fünf Wachleute für ein dreistöckiges Gebäude, das ungefähr so lang wie ein Achtel eines Häuserblocks war? »Übertrieben« war noch vorsichtig ausgedrückt.
Er wusste, dass das, was sie von diesem Host holten, wichtig war, was auch immer es sein mochte. Oder leicht vergänglich. Vielleicht war dieses Gebäude im Rückblick betrachtet doch der beste Ort, um etwas zu vertuschen, was sich in den höheren Gehaltsebenen abspielte?
Während er dieser Idee nachhing, spürte und hörte er gleichzeitig ein Krachen aus seinem Lautsprecher – ein Geräusch, das sich ihm schon Jahrzehnte zuvor in einem früheren Leben unauslöschlich eingeprägt hatte. Das Geräusch einer abgefeuerten Waffe.
»Verdammt«, schimpfte Mack und hob die Hand, sodass die Ringe an seinen Fingern seine AR aktivierten. Eine Aufrissansicht des Gebäudes erschien vor seinen Augen, ein Gitternetzmodell des Erd- und Obergeschosses, in dem die Positionen seines Teams markiert waren. Er hatte nur zwei Runner drinnen, den Hacker und seine magische Verstärkung. Cole Blackwater war der beste Mann, den man für Geld kaufen konnte, wenn es darum ging, Informationen jeder Art zu beschaffen. Seine Programme und Gerätschaften hatte er in Macks Club Worldwide gekauft. Blackwater war in Topform. Er war gut. Verdammt gut.
Aber er hatte auch ein entsprechendes Ego. Das war ein Fehler. Ein gewaltiger.
Maria Venzuella war Schamanin. Eine ihrer Spezialitäten war die Dämpfung von Sicherheitssystemen. Mack hatte beschlossen, dass er das für diesen Run gebrauchen konnte.
Es hatte auch so ausgesehen, als würde es funktionieren – aber gerade hatte jemand eine Kugel verpasst bekommen.
Mack sah sich die Markierungen mit zusammengekniffenen Augen an. Er konnte Blackwaters pulsierenden roten Stern im Zentrum des Gebäudes erkennen, aber Maria war nicht zu sehen.
Mack drehte und wendete die Karte in alle Richtungen, bevor er sie wieder schloss und eine seiner eigenen Regeln brach: Er benutzte verbale Kommunikation während eines Runs. Normalerweise war es ihm lieber, wenn alles über eines von Blackwaters Nachrichtenprotokollen abgewickelt wurde, aber er hatte keine Zeit, <Was soll die Scheiße?> zu tippen.
Stattdessen fing sein Kommlink seine leise Stimme auf: »Was zur Hölle geht da drin vor?«
Einige Sekunden vergingen, bevor Blackwater antwortete. Mack tippte ein kleines Gitter-Icon unten links in seinem Gesichtsfeld an und der Plan öffnete sich wieder. Er legte ihn über seine Außenansicht des Gebäudes. »Ich habe Gesellschaft – der Drekskerl war schon drin und hat sich die verdammte Datei geschnappt. Musste einen Sicherheitsmann umlegen.«
Mack fluchte leise. »Cole … du und Maria …«
»Bin schon dabei. Ich sehe ihn. Nehme ihm das Zeug gleich wieder ab.«
Mack fluchte erneut und wischte die Karte zur Seite. An ihrer Stelle erschien eine Tastatur in der Luft vor ihm, direkt in seine AR projiziert. Er tippte ein paar Befehlszeilen für das Sicherheitssystem des Gebäudes ein und schaffte es, sich in ein paar der Kameras einzuklinken. »Ich sehe noch gut. Nur ein paar Kameras sind aus. Warum funktioniert Marias Zauber nicht?«
Beharrliches Schweigen.
Die Härchen in Macks Nacken richteten sich auf. »Cole? Wo ist Maria?«
»Vor mir. Ich rufe dich an, wenn ich den Mistkerl habe …«
»Nein, du kommst sofort da raus«, unterbrach ihn Mack. »Wenn du etwas ausgelöst hast, haben die Wachleute mit Sicherheit schon KE gerufen – und mit denen will ich keinen Ärger.« Und wenn dann auch noch GOD auftauchte … das war mindestens eine Nummer zu groß für seinen Geschmack. Als Blackwater nicht antwortete, wechselte Mack den Kanal. »Shayla, hast du mitgehört?«
»Klar doch«, sagte sie, so munter wie immer – auch wenn sie nicht danach aussah. Shayla war ein Wechselbalg, halb zum Troll verwandelt. Und sie war die beste Riggerin, die er je angeheuert hatte. Auf Empfehlung seines besten Freundes natürlich. »Der GMC ist schon in Position. Hat die Knight-Errant-Jungs im Visier. Sie sind noch ungefähr zwei Minuten entfernt.«
»Ist GOD in Sicht?«
»Noch nicht. Vielleicht haben sie es übersehen.«
Noch nicht. Mack konzentrierte sich wieder auf die reale Welt. Er rannte los, die Straße entlang. Der GMC-Pick-up-Truck, den Shayla normalerweise für Runs benutzte, sollte direkt vor dem Ausgang stehen, damit sie einen zügigen Abgang hinlegen konnten. Er hatte die weichen Reifen drauf – kein Geräusch auf dem Asphalt.
Als Mack an der Ecke des Häuserblocks ankam, blickte er die Straße hinunter und sah den GMC, der unauffällig in der gegenüberliegenden Straße geparkt war, mitsamt legalem Parkausweis und Papieren. Alles, was er, Maria und Blackwater tun mussten, war, zum Van zu laufen und einzusteigen.
Mack atmete tief ein, sah in beide Richtungen und trottete dann lässig über die Straße. Für einen Passanten musste er aussehen wie jeder andere Mensch in den besten Jahren, der etwas für seine Gesundheit tat.
Außer, dass er mitten in der Nacht joggte – und in einem nicht gerade freundlichen Stadtviertel.
Auf halben Weg über die Kreuzung blieb Mack wie angewurzelt stehen, als die Hupe des GMC rhythmisch zu quaken begann und seine Lichter an- und ausgingen. Was zum …
»Boss!« Shaylas Stimme kam laut und unglücklich über sein Kommlink. »Jemand hat mein Fernsteuerdeck gehackt!«
Was? Mack rannte immer noch auf der Straße auf die Ecke des Gebäudes zu. »Shayla, willst du mir etwa sagen, dass du gehackt wurdest?«
»Mein Deck, ja. Jemand muss bei mir hier drin sein. Ich kann nicht … Drek! Es wird ein paar Minuten dauern, bis ich es wieder hochgefahren habe.«
»Shayla, was meinst du damit?«
»Ich meine, dass KE in weniger als zwei Minuten da sein wird und ich den GMC nicht unter Kontrolle habe.«
Mack bewegte sich von dem hupenden Van weg. Das verdammte Ding würde Aufmerksamkeit erregen. »Shayla, du musst das Ding ausschalten!«
»Ich versuche es ja, aber ich muss warten, bis das Fernsteuerdeck neu gestartet ist. Gib mir eine Minute.«
Mack stand auf halber Höhe des Gebäudes. Drek. Dann rannte er wieder los, auf den GMC zu. Wenn sie es nicht über die Fernsteuerung machen konnte, würde er es eben vor Ort erledigen.