Gaston Leroux

Das Phantom der Oper

Gaston Leroux

Das Phantom der Oper

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Rudolf Brettschneider
EV: Ullstein, Berlin, 1912, 1928
1. Auflage, ISBN 978-3-962817-17-6

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Inhaltsverzeichnis

Edi­to­ri­sche An­mer­kun­gen

Ein­lei­tung

Ers­ter Teil – Erik

I – Ist es der Geist?

II – Eine neue Mar­ga­re­te

III – Ein ge­heim­nis­vol­ler Grund

IV – Loge Nr. 5

V – Die ver­zau­ber­te Gei­ge

VI – Ein Be­such in Loge Nr. 5

VII – Faust und die Fol­gen

VIII – Die ge­heim­nis­vol­le Kut­sche

IX – Der Mas­ken­ball

X – Das Ge­heim­nis der Stim­me

XI – Die Fall­tür

XII – Die Lei­er des Apoll

Zwei­ter Teil – Das Ge­heim­nis der Fall­tür

XIII – Ein un­er­hör­tes Er­eig­nis

XIV – Si­cher­heits­na­del

XV – »Chris­ti­ne! Chris­ti­ne! …«

XVI – Er­staun­li­che Ent­hül­lun­gen

XVII – Wie­der die Si­cher­heits­na­del

XVIII – Der Po­li­zei­kom­missar, der Vi­com­te und der Per­ser

XIX – Der Vi­com­te und der Per­ser

XX – In den Kel­lern der Oper

XXI – Die Auf­zeich­nun­gen des Per­sers

XXII – Im Zim­mer der Qua­len

XXIII – So vie­le Fäs­ser!

XXIV – Skor­pi­on oder Heuschre­cke

XXV – Das Ende

Epi­log

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
Jür­gen Schul­ze

Editorische Anmerkungen

Die­se Über­set­zung fußt auf der Er­st­über­set­zung von Ru­dolf Brett­schnei­der aus dem Jah­re 1912.

Lei­der wur­den die An­mer­kun­gen von Leroux der fran­zö­si­schen Ori­gi­nal­aus­ga­be da­mals kom­plett „ver­ges­sen“, dies habe ich nach­ge­holt.

Des wei­te­ren wur­de das Deutsch der ak­tu­el­len Recht­schrei­bung – wo nö­tig und sinn­voll – an­ge­passt.

Jür­gen Schul­ze, No­vem­ber 2019

Einleitung

in der der Au­tor die­ses ein­zig­ar­ti­gen Wer­kes dem Le­ser be­rich­tet, wie er dazu ge­bracht wur­de, zu glau­ben, dass das Phan­tom der Oper wirk­lich exis­tiert hat.

Das Phan­tom hat wirk­lich exis­tiert. Es war nicht bloß, wie man lan­ge Zeit mein­te, ein Hirn­ge­spinst der Künst­ler, ein Aber­glau­be der Di­rek­to­ren, ein Schau­er­mär­chen, das den er­reg­ten Köpf­chen der Da­men vom Bal­lett oder ih­rer Müt­ter, der Lo­gen­schlie­ße­rin­nen, der Gar­de­ro­bie­ren und der Con­cier­ge, ent­sprang.

Ja, es hat leib­haf­tig exis­tiert, ob­gleich es sich ganz und gar die Al­lü­ren ei­nes wirk­li­chen Ge­s­pens­tes zu­leg­te.

Ich war von al­lem An­fang an, da ich die Archi­ve der Aca­de­mie Na­tio­na­le de Mu­si­que nach­zu­schla­gen be­gann, ei­ner­seits durch die selt­sa­me Über­ein­stim­mung der Phä­no­me­ne, die man dem Phan­tom zu­schrieb, an­de­rer­seits über die mys­ti­schen und fan­tas­ti­schen Ein­zel­hei­ten der tra­gi­schen Er­eig­nis­se über­rascht, und so kam ich bald auf den Ge­dan­ken, dass man mög­li­cher­wei­se doch im­stan­de sein könn­te, das eine durch das an­de­re auf ver­nünf­ti­gem Weg auf­zu­klä­ren. Die Er­eig­nis­se da­tie­ren etwa drei­ßig Jah­re zu­rück, und es wür­de nicht schwer­fal­len, auch heu­te noch im Foy­er einen oder den an­de­ren al­ten Herrn zu fin­den, der sich dar­an er­in­nert, als wäre die Sa­che erst ges­tern ge­sche­hen, an die ge­heim­nis­vol­len und tra­gi­schen Um­stän­de, die die Ent­füh­rung der Chris­ti­ne Daaé be­glei­te­ten, das Ver­schwin­den des Vi­com­te de Cha­gny und den Tod sei­nes äl­te­ren Bru­ders, des Gra­fen Phil­ip­pe, des­sen Lei­che man an dem stei­len Rand des Tei­ches fand, der sich un­ter der Oper, ge­gen die Rue Scri­be zu, aus­brei­tet. Doch kei­ner die­ser Zeu­gen hat­te bis heu­te eine Ah­nung, dass die­se schau­ri­gen Er­eig­nis­se mit der fast sa­gen­haf­ten Ge­stalt des Phan­toms der Oper zu­sam­men­hin­gen. Bei ei­nem Nach­spü­ren, das sich alle Au­gen­bli­cke an Be­ge­ben­hei­ten stieß, die auf den ers­ten Blick ans Über­na­tür­li­che grenz­ten, kam ich der Wahr­heit nur lang­sam nä­her.

Ich hat­te mich vie­le Stun­den lang in die »Erin­ne­run­gen ei­nes Thea­terdi­rek­tors« ver­tieft, ein un­be­deu­ten­des Buch die­ses et­was zu skep­ti­schen Herrn Mon­char­min, dem wäh­rend sei­nes kur­z­en En­ga­ge­ments an der Oper das spuk­haf­te Trei­ben des Phan­toms ein Rät­sel blieb und der sich so schnell wie mög­lich aus der Af­fä­re zog, als er selbst das ers­te Op­fer der Finan­z­ope­ra­ti­on ge­wor­den war, die sich hin­ter den Ku­lis­sen der »Rät­sel­haf­ten Ent­füh­rung« ab­spiel­te.

Är­ger­lich ver­ließ ich die Biblio­thek, als ich den lie­bens­wür­di­gen Ver­wal­ter un­se­rer Aca­de­mie Na­tio­na­le traf, der auf ei­nem Trep­pen­ab­satz mit ei­nem klei­nen, leb­haf­ten und ko­ket­ten äl­te­ren Herrn sprach, dem er mich ver­gnügt vor­stell­te. Der Ver­wal­ter war über mei­ne Nach­for­schun­gen un­ter­rich­tet und wuss­te, mit wel­cher Un­ge­duld ich ver­geb­lich ver­sucht hat­te, das Ver­schwin­den des Un­ter­su­chungs­rich­ters der be­rühm­ten Af­fä­re Cha­gny, des Herrn Fau­re, auf­zu­klä­ren. Nie­mand hat­te eine Ah­nung, was aus ihm ge­wor­den war, ob er tot war oder sich noch am Le­ben be­fand.

Und nun, als er von Ka­na­da zu­rück­kehr­te, wo er fünf­zehn Jah­re lang ge­lebt hat­te, war sein ers­ter Weg in Pa­ris nach dem Se­kre­ta­ri­at der Oper, um sich eine Frei­kar­te zu ho­len. Die­ser klei­ne alte Herr war nie­mand an­de­rer als Herr Fau­re.

Wir ver­brach­ten meh­re­re Stun­den des Abends mit­ein­an­der, und er er­zähl­te mir alle Ein­zel­hei­ten der Af­fä­re Cha­gny, so­weit sie ihm selbst be­kannt wa­ren. Das gan­ze Be­weis­ma­te­ri­al deu­te­te auf einen ab­nor­ma­len Geis­tes­zu­stand des Vi­com­te und auf einen zu­fäl­li­gen Un­glücks­fall sei­nes äl­te­ren Bru­ders, den­noch blieb er der Über­zeu­gung, dass hier ein grau­en­haf­tes Ver­bre­chen vor­lie­ge, das sich zwi­schen den bei­den Brü­dern we­gen der Chris­ti­ne Daaé ab­ge­spielt habe. Er wuss­te mir nicht ein­mal zu sa­gen, was aus Chris­ti­ne und dem Vi­com­te ge­wor­den war. Und als ich ihm von dem Phan­tom sprach, lä­chel­te er nur iro­nisch. Auch er war von den selt­sa­men Tat­sa­chen un­ter­rich­tet, die die Exis­tenz ei­nes au­ßer­ge­wöhn­li­chen We­sens zu be­wei­sen schie­nen, das einen der ge­heim­nis­volls­ten Schlupf­win­kel der Oper zu sei­nem Wohn­sitz aus­er­wählt hat­te, und auch die »Ent­füh­rungs­ge­schich­te« war ihm be­kannt. Doch hat­te er in all dem nichts ge­se­hen, was die Auf­merk­sam­keit ei­nes Ge­richts­be­am­ten auf sich zie­hen könn­te, der mit der Auf­klä­rung der Af­fä­re Cha­gny be­traut war, und er glaub­te da­mit ge­nug ge­tan zu ha­ben, dass er ei­ni­ge Mi­nu­ten lang ei­nem Zeu­gen Ge­hör schenk­te, der sich plötz­lich ge­mel­det hat­te, um zu be­kräf­ti­gen, dass er dem Phan­tom be­geg­net sei. Die­ser Zeu­ge war ein Mann, den man in ganz Pa­ris den »Per­ser« nann­te und der al­len Abon­nen­ten der Oper wohl­be­kannt war. Der Rich­ter hat­te ihn ein­fach für einen Geis­ter­se­her ge­nom­men.

Man kann sich vor­stel­len, dass ich mich für die­sen »Per­ser« so­gleich leb­haft in­ter­es­sier­te. Ich woll­te um je­den Preis, wenn das noch mög­lich war, die­sen wert­vol­len und ori­gi­nel­len Zeu­gen wie­der­fin­den. Mein Glück be­güns­tig­te mich wie­der ein­mal, und ich ent­deck­te ihn bald in sei­ner klei­nen Woh­nung in der Rue de Ri­vo­li, die er seit je­ner Zeit noch im­mer be­wohn­te und wo er fünf Mo­na­te nach mei­nem Be­such ver­schied.

Zu­erst war ich na­tür­lich miss­trau­isch, doch als der »Per­ser« mir mit kind­li­cher Of­fen­her­zig­keit al­les er­zählt hat­te, was er selbst von dem Phan­tom wuss­te, und nach­dem er mir alle Be­wei­se, be­son­ders aber die Kor­re­spon­denz Chris­ti­ne Daaés zur Ver­fü­gung ge­stellt hat­te – Brie­fe, die vol­les Licht auf ihr ent­setz­li­ches Schick­sal war­fen –, war für mich kein Zwei­fel mehr mög­lich. Nein! Nein! Das Phan­tom war mehr als ein Mär­chen.

Ich weiß wohl, man wand­te ein, dass die gan­ze Kor­re­spon­denz viel­leicht ge­fälscht und mög­li­cher­wei­se in ih­rem gan­zen Um­fang von je­man­dem fa­bri­ziert wor­den sei, des­sen Ein­bil­dungs­kraft na­tür­lich von den ver­füh­ren­den An­ek­do­ten ge­nährt wur­de, doch es ist mir glück­li­cher­wei­se ge­lun­gen, die Hand­schrift Chris­ti­nes auch au­ßer die­sem in­ter­essan­ten Brief­bün­del auf­zu­fin­den, was mich in­stand setz­te, einen Ver­gleich an­zu­stel­len, der alle mei­ne Be­den­ken zer­streu­te.

Schließ­lich kam noch die Auf­for­de­rung ho­her Per­sön­lich­kei­ten hin­zu, die zur Af­fä­re Cha­gny in en­ge­rer oder wei­te­rer Be­zie­hung stan­den oder mit der Fa­mi­lie be­freun­det wa­ren, de­nen ich alle mei­ne Do­ku­men­te vor­ge­legt, alle mei­ne Be­weis­mit­tel ent­rollt hat­te. Ich habe von vie­len Sei­ten die herz­lichs­ten Er­mu­ti­gun­gen er­hal­ten und wer­de mir er­lau­ben, an die­ser Stel­le ei­ni­ge Zei­len wie­der­zu­ge­ben, die der Ge­ne­ral D. sei­ner­zeit an mich schrieb:

»Mein Herr!

Ich kann Ih­nen nicht leb­haft ge­nug zu­re­den, die Re­sul­ta­te Ih­rer Nach­for­schun­gen der Öf­fent­lich­keit zu über­ge­ben. Ich er­in­ne­re mich sehr wohl, dass ei­ni­ge Wo­chen vor dem Ver­schwin­den der großen Sän­ge­rin Chris­ti­ne Daaé und vor der Tra­gö­die, die im gan­zen Fau­bourg Saint-Ger­main be­trau­ert wor­den ist, im Foy­er de la Dan­se viel von dem Phan­tom ge­spro­chen wur­de, und glau­be, dass man auch nach die­ser Af­fä­re, die je­der­mann be­schäf­tig­te, viel da­von ge­spro­chen hat. Doch nun, da ich Ihren Aus­füh­run­gen ge­folgt bin, scheint es mir mög­lich, den Fall durch die Exis­tenz des Phan­toms zu er­klä­ren, und ich bit­te Sie, mein Herr, uns noch mehr, uns al­les über das Phan­tom zu ent­de­cken. So ge­heim­nis­voll die­ses zu An­fang er­schei­nen moch­te, es wird im­mer noch eher er­klär­lich sein als die­se dunkle, von übel­wol­len­den Men­schen er­fun­de­ne Ge­schich­te, die uns weis­ma­chen will, dass zwei Brü­der, die ihr gan­zes Le­ben lang ein Herz und eine See­le ge­we­sen wa­ren, plötz­lich zu er­bit­ter­ten Tod­fein­den wer­den konn­ten.

Ich zeich­ne …«

Ich durch­streif­te also aufs Neue, mein Ak­ten­ma­te­ri­al in der Hand, die wei­te Do­mä­ne des Phan­toms, den furcht­ba­ren Schau­platz, den es zu sei­nem Reich ge­macht hat­te, und al­les, was mei­ne Au­gen er­blick­ten, al­les, was mein Ver­stand ent­deck­te, be­kräf­tig­te in be­wun­de­rungs­wür­di­ger Wei­se die Do­ku­men­te des »Per­sers«, als ein höchst er­staun­li­cher Fund mei­ne Ar­bei­ten end­gül­tig krön­te.

Man er­in­nert sich, dass vor Kur­zem, als man den Un­ter­grund der Oper auf­grub, um die pho­no­gra­phi­schen Auf­nah­men der Künst­ler dort­hin zu lei­ten, die Ha­cke der Ar­bei­ter einen Leich­nam ans Licht för­der­te. Nun hat­te ich mit ei­nem Schlag den Be­weis, dass die­ser Leich­nam der des Phan­toms der Oper war!

Ich ließ die­sen Be­weis so­gleich von dem Ver­wal­ter selbst über­prü­fen, und nun ist es mir gleich­gül­tig, wenn selbst die Zei­tun­gen be­rich­ten, man habe ein Op­fer der Kom­mu­ne auf­ge­fun­den.

Die Un­glück­li­chen, die zur­zeit der Kom­mu­ne in den Kel­ler­räu­men der Oper er­schla­gen wor­den wa­ren, lie­gen kei­nes­wegs dort be­gra­ben. Es ist mir be­kannt, wo man ihre Ske­let­te fin­den kann: Weit ent­fernt von die­ser un­er­mess­li­chen Gruft, wo man wäh­rend der Be­la­ge­rung alle mög­li­chen Mund­vor­rä­te auf­ge­spei­chert hat­te. Gera­de durch die Su­che nach den Über­res­ten des Phan­toms war ich auf die­se Fähr­te ge­kom­men und hät­te sie ohne die­sen un­er­hör­ten Zu­fall der Ein­gra­bung mensch­li­cher Stim­men nie­mals ent­deckt.

Doch wir wer­den spä­ter noch auf die­sen Leich­nam zu spre­chen kom­men und auf al­les Üb­ri­ge, was mit ihm zu­sam­men­hängt. Nun aber möch­te ich die­ses Vor­wort da­mit be­en­den, dass ich mei­nen all­zu be­schei­de­nen Kom­par­sen herz­lich dan­ke, die mir eine so wert­vol­le Stüt­ze wa­ren und mit de­ren Hil­fe es mir ge­lin­gen wird, vor den Au­gen des Le­sers all die­se Stun­den der reins­ten Lie­be und des Schre­ckens bis in ihre kleins­ten De­tails wie­der­auf­le­ben zu las­sen. Und das sind vor al­lem: der Herr Po­li­zei­be­am­te Mifro­id (der sei­ner­zeit beim Ver­schwin­den der Chris­ti­ne Daaé zur ers­ten Auf­nah­me des Tat­be­stan­des ge­ru­fen wur­de), Herr Se­kre­tär Rémy, der Ver­wal­ter Mer­cier, der Ge­sangs­di­rek­tor Herr Ga­bri­el und be­son­ders auch Frau Baro­nin Cas­te­lot-Bar­be­zac, die man un­ter dem Na­men »die klei­ne Meg« kann­te (und die sich des­sen nicht schämt), der rei­zends­te Stern un­se­res aus­ge­zeich­ne­ten Bal­lett­korps, die äl­tes­te Toch­ter der eh­ren­wer­ten Frau Giry, der ehe­ma­li­gen Lo­gen­schlie­ße­rin, der auch die Loge des Phan­toms zu­ge­teilt war.1

G. L.


  1. Ich wäre un­dank­bar, wenn ich nicht zu Be­ginn die­ser schreck­li­chen und wah­ren Ge­schich­te, der ak­tu­el­len Lei­tung der Oper er­in­ner­te, die sich so freund­lich für alle mei­ne Un­ter­su­chun­gen zur Ver­fü­gung ge­stellt hat; ins­be­son­de­re Herrn Mes­sen­ger; auch dem sehr freund­li­chen Ver­wal­ter Herrn Ga­bi­on und dem sehr freund­li­chen Archi­tek­ten, der der Er­hal­tung des Denk­mals ver­pflich­tet ist und nicht zö­ger­te, mir die Wer­ke von Charles Gar­nier zu lei­hen, ob­wohl es fast si­cher sein konn­te, dass ich sie nicht zu­rück­ge­ben wür­de. Schließ­lich muss ich noch die Groß­zü­gig­keit mei­nes Freun­des und ehe­ma­li­gen Mit­ar­bei­ters M. J.-L. Cro­ze öf­fent­lich an­er­ken­nen, der es mir er­mög­lich­te, auf sei­ne be­wun­derns­wer­te Thea­ter­bi­blio­thek zu­rück­zu­grei­fen und ein­zig­ar­ti­ge Aus­ga­ben dar­aus aus­zu­lei­hen, die für ihn sehr wich­tig wa­ren.  <<<

Erster Teil

Erik

I – Ist es der Geist?

An die­sem Abend, an dem die Her­ren De­bi­enne und Po­li­gny, die de­mis­sio­nie­ren­den Di­rek­to­ren der Oper, ihre letz­te Gala­vor­stel­lung ver­an­stal­te­ten, war die Gar­de­ro­be der So­rel­li, ei­nes der leuch­tends­ten Ster­ne am Him­mel des Tan­zes, im Nu von ei­nem hal­b­en Dut­zend der Da­men vom Bal­lett über­schwemmt, die nach dem »Po­ly­euc­te« eben von der Büh­ne ab­gin­gen. Sie stürz­ten sich in größ­ter Er­regt­heit hin­ein, die einen mit et­was af­fek­tier­tem und un­na­tür­li­chem La­chen, die an­de­ren mit Aus­ru­fen des Ent­set­zens.

Die So­rel­li, die einen Au­gen­blick al­lein zu sein wünsch­te, um die Ab­schieds­wor­te noch ein­mal zu me­mo­rie­ren, die sie so­gleich im Foy­er an die Her­ren De­bi­enne und Po­li­gny rich­ten soll­te, hat­te är­ger­lich die­se wil­de Hor­de hin­ter sich her­stür­men se­hen. Sie wen­de­te sich nach ih­ren Kol­le­gin­nen um, er­schreckt von dem tu­mul­tua­ri­schen Spek­ta­kel. Die klei­ne Jam­mes – mit dem lie­ben Stumpf­näs­chen, den Ver­giss­mein­nicht-Au­gen, den Ro­sen­wan­gen und dem Li­li­ennacken – war es, die mit we­ni­gen Wor­ten, mit vor Angst zit­tern­der Stim­me den Aufruhr er­klär­te:

»Wir ha­ben das Phan­tom ge­se­hen!«

Und sie sperr­te die Tür ab. Die Gar­de­ro­be der So­rel­li war von of­fi­zi­el­ler und ba­na­ler Ele­ganz. Ein großer dreh­ba­rer Spie­gel, ein Di­wan, eine Toi­let­te und ei­ni­ge Kas­ten bil­de­ten das nö­ti­ge Mo­bi­li­ar. An den Wän­den hin­gen ei­ni­ge Sti­che, Erin­ne­run­gen ih­rer Mut­ter, die die schö­nen Tage der al­ten Oper in der Rue Le Pe­le­tier ge­kannt hat­te.

Die So­rel­li war sehr aber­gläu­bisch, und als sie die klei­ne Jam­mes vom Phan­tom spre­chen hör­te, schau­er­te sie leicht zu­sam­men und sag­te: »Gäns­chen!«

Und da sie eine der Ers­ten war, an Ge­s­pens­ter im All­ge­mei­nen und an das der Oper im Be­son­de­ren zu glau­ben, wünsch­te sie so­gleich nä­her un­ter­rich­tet zu sein.

»Ihr habt es ge­se­hen?«, frag­te sie.

»Wie ich Sie vor mir sehe«, ant­wor­te­te stöh­nend die klei­ne Jam­mes, die sich in einen Ses­sel hat­te fal­len las­sen, da ihre Bei­ne sie nicht mehr tra­gen woll­ten.

Und so­gleich füg­te die klei­ne Giry mit den Kir­schen­au­gen, dem pech­schwar­zen Haar, dem dunklen Teint und dem schmäch­ti­gen Kör­per­chen hin­zu: »Ja, er war es, er ist schau­der­haft häss­lich!«

»Ja – o ja —«, tön­te es von al­len Sei­ten. Und sie plap­per­ten alle durch­ein­an­der. Das Phan­tom war ih­nen mit dem Aus­se­hen ei­nes Herrn im Ge­sell­schafts­an­zug er­schie­nen, der plötz­lich vor ih­nen auf dem Gang auf­ge­taucht war – nie­mand wuss­te wo­her. Er hat­te so plötz­lich vor ih­nen ge­stan­den, dass man glau­ben konn­te, er sei aus der Wand her­aus­ge­tre­ten. »Ah —«, rief eine, die ihre Kalt­blü­tig­keit noch so ziem­lich bei­be­hal­ten hat­te, »— ihr seht das Phan­tom an al­len Ecken!«

Und wirk­lich bil­de­te das Phan­tom in der Oper seit ei­ni­gen Mo­na­ten das Ta­ges­ge­spräch, die­ses Ge­s­penst, das, schwarz ge­klei­det, wie ein Schat­ten das Ge­bäu­de von oben bis un­ten durch­wan­der­te, das nie­man­den an­sprach, das nie­mand an­zu­spre­chen wag­te und das üb­ri­gens, so­bald man es nur er­blick­te, ver­schwun­den war, ohne dass man ahn­te, wie oder wo­hin. Ganz ge­räusch­los schritt es da­hin, wie es ei­nem wahr­haf­ti­gen Ge­s­penst ge­ziemt. An­fangs hat­te man ge­lacht und sei­ne Spä­ße über die­sen Geist in der Klei­dung ei­nes Ele­gant oder ei­nes Lei­chen­trä­gers ge­macht, doch die Le­gen­de des Phan­toms nahm im Corps de Bal­let bald un­ge­heu­re Di­men­sio­nen an. Jede be­haup­te­te, die­sem über­na­tür­li­chen We­sen be­geg­net oder das Op­fer sei­ner Hexe­rei­en ge­wor­den zu sein.

War das Phan­tom eine Zeit lang un­sicht­bar ge­blie­ben, so zeig­te es sei­ne Ge­gen­wart oder sein Vor­bei­kom­men durch drol­li­ge oder trau­ri­ge Vor­fäl­le an, für die es der Aber­glau­be fast re­gel­mä­ßig ver­ant­wort­lich mach­te. Hat­te man einen Un­fall zu be­kla­gen, hat­te eine von den Bal­let­teu­sen der an­de­ren einen Pos­sen ge­spielt oder war eine Pu­der­quas­te in Ver­lust ge­ra­ten, – al­les wur­de dem Ge­s­penst in die Schu­he ge­scho­ben, dem Phan­tom der Oper.

Und wer hat­te es im Grun­de wirk­lich zu Ge­sicht be­kom­men? Man be­geg­ne­te so vie­len schwarz ge­klei­de­ten Her­ren in der Oper, die kei­ne Ge­s­pens­ter sind. Die­ser aber hat­te eine Ei­gen­tüm­lich­keit an sich, de­ren sich nicht je­der rüh­men konn­te: Er war ein Ske­lett.

We­nigs­tens be­haup­te­ten dies die Da­men. Und na­tür­lich hat­te er auch einen To­ten­kopf.

War dies al­les ernst zu neh­men? Tat­sa­che ist, dass die­se Vor­stel­lung ei­nes Ske­letts aus der Be­schrei­bung ent­stand, die Jo­seph Bu­quet, der Ma­schi­nen­meis­ter, der es wirk­lich ge­se­hen ha­ben woll­te, von dem Phan­tom ent­wor­fen hat­te. Er war mit der mys­te­ri­ösen Per­sön­lich­keit auf der klei­nen Trep­pe, die – hart an der Ram­pe – di­rekt zur Un­ter­büh­ne hin­ab­führ­te, buch­stäb­lich zu­sam­men­ge­prallt, und er schil­der­te je­dem, der es hö­ren woll­te, das Opern­ge­spenst mit fol­gen­den Wor­ten: »Es ist von ei­ner un­glaub­li­chen Ma­ger­keit, und sein schwar­zer An­zug hängt schlot­ternd auf ei­nem Kno­chen­ge­rüst. Sei­ne Au­gen­höh­len sind so tief, dass man die un­be­weg­li­chen Au­gäp­fel nur un­deut­lich sieht. Man sieht ei­gent­lich nicht mehr als zwei große schwar­ze Lö­cher, wie bei ei­nem To­ten­schä­del. Sei­ne Haut ist wie Per­ga­ment über die Kno­chen ge­spannt und ist nicht weiß, son­dern schmut­zig-gelb. Sei­ne Nase ist so win­zig, dass sie im Pro­fil kaum sicht­bar ist. Und das Feh­len die­ser Nase macht einen schreck­li­chen Ein­druck. Drei oder vier lan­ge Flech­ten über der Stirn und hin­ter den Ohren bil­den sei­nen gan­zen Haar­wuchs.«

Ver­geb­lich hat­te Jo­seph Bu­quet die­se fremd­ar­ti­ge Er­schei­nung ver­folgt. Sie war wie durch Zau­ber ver­schwun­den, und er war nicht im­stan­de, ihre Spur wie­der­zu­fin­den.

Der Ma­schi­nen­meis­ter war ein erns­ter, ge­setz­ter Mann mit we­nig Fan­ta­sie und durch­aus kein Trun­ken­bold. Sei­ne Wor­te rie­fen Be­stür­zung und In­ter­es­se her­vor, und so­gleich fan­den sich Leu­te, die ih­rer­seits er­zähl­ten, dass auch sie ei­nem Schwarz­ge­klei­de­ten mit ei­nem To­ten­schä­del be­geg­net sei­en.

Die ver­stän­di­gen Leu­te, de­nen die­se Ge­schich­te zu Ohren kam, be­haup­te­ten zu­erst, Jo­seph Bu­quet sei wohl das Op­fer ei­nes sei­ner Un­ter­ge­be­nen ge­wor­den. Dann aber er­eig­ne­ten sich Schlag auf Schlag so selt­sa­me und un­er­klär­li­che Be­ge­ben­hei­ten, dass selbst den ärgs­ten Spöt­tern Be­den­ken auf­stie­gen.

Ein Feu­er­wehr­leut­nant hat doch ein we­nig Cou­ra­ge, er fürch­tet sich nicht so leicht, er wird sich be­son­ders vor dem Feu­er nicht fürch­ten.

Nun hat­te der in­fra­ge ste­hen­de Leut­nant einen In­spi­zie­rungs­gang durch die Un­ter­büh­ne un­ter­nom­men und sich da­bei – wie es scheint – et­was von sei­nem ge­wöhn­li­chen Weg ent­fernt. We­ni­ge Au­gen­bli­cke spä­ter aber war er bleich, au­ßer sich, zit­ternd und mit ver­stör­tem Blick wie­der auf der Büh­ne er­schie­nen und der Mut­ter der klei­nen Jam­mes fast ohn­mäch­tig in die Arme ge­sun­ken.1 Und warum? Weil er in Haup­tes­hö­he, doch ohne Kör­per, einen feu­ri­gen Kopf auf sich los­kom­men sah. Und ich wie­der­ho­le, dass ein Feu­er­wehr­leut­nant doch – weiß Gott – das Feu­er nicht fürch­tet. Die­ser hieß Pa­pin.

Das Bal­lett­korps war au­ßer sich. In dem Au­gen­blick, da sich ein Feu­er­wehr­leut­nant nicht schäm­te, in Ohn­macht zu fal­len, konn­te man den Ko­ry­phä­en und den Bal­lett­mä­deln ihre Angst nicht ver­übeln, die sie die Flucht er­grei­fen ließ, so schnell sie nur ihre klei­nen Füß­chen tra­gen konn­ten, so­bald sie an ir­gend­ei­nem dunklen Loch in den schlecht er­leuch­te­ten Gän­gen vor­über muss­ten.

Das ging so weit, dass die So­rel­li selbst, um das so schreck­li­chen Zau­be­rei­en ver­fal­le­ne Haus nach Mög­lich­keit zu schüt­zen, am Tag nach dem Aben­teu­er des Feu­er­wehr­leut­nants, um­ge­ben von al­len Tän­ze­rin­nen und von dem gan­zen Kin­der­schwarm des Bal­letts ge­folgt, auf dem Tisch der Por­tier­lo­ge, die ne­ben dem Ad­mi­nis­tra­ti­ons­hof ge­le­gen ist, ein Huf­ei­sen an­brach­te, das je­der – au­ßer den Zuschau­ern –, der das Opern­haus be­trat, be­rüh­ren muss­te, ehe er sei­nen Fuß auf die ers­te Stu­fe der Trep­pe setz­te. Und wer sich da­von aus­schloss, dem droh­te die Ge­fahr, die Beu­te der dunklen Macht zu wer­den, die sich des Ge­bäu­des von den Kel­ler­räu­men bis zum Spei­cher be­mäch­tigt hat­te.

Die­ses Huf­ei­sen, das ich – wie ja üb­ri­gens die gan­ze Ge­schich­te – durch­aus nicht er­fun­den habe, kann man noch heu­te an dem Tisch an­ge­na­gelt se­hen, wenn man die Oper durch den Ad­mi­nis­tra­ti­ons­hof be­tritt.

Aus all dem ge­winnt man leicht ein Bild von dem See­len­zu­stand der Da­men an dem Abend, da wir mit ih­nen in die Gar­de­ro­be der So­rel­li ein­drin­gen.

»Es ist das Phan­tom!«, hat­te die klei­ne Jam­mes aus­ge­ru­fen und die Un­ru­he der Tän­ze­rin­nen da­mit nur ge­stei­gert. Ein ban­ges Schwei­gen herrsch­te nun in der Gar­de­ro­be, und man hör­te nichts als das leb­haf­te Atem­ho­len. End­lich mur­mel­te Jam­mes, die sich mit al­len Zei­chen ei­nes un­ge­heu­chel­ten Schre­ckens in die hin­ters­te Zim­me­r­e­cke ge­stürzt hat­te: »Hört doch!«

Und tat­säch­lich schi­en es al­len, als wäre hin­ter der Tür ein Ra­scheln hör­bar. Kein Schritt war zu ver­neh­men, man hät­te mei­nen kön­nen, ein leich­ter Sei­den­stoff glit­te über die Tür­fül­lung. Dann blieb es still. Die So­rel­li be­müh­te sich, we­ni­ger klein­mü­tig zu er­schei­nen als ihre Kol­le­gin­nen. Sie schritt auf die Tür zu und frag­te mit un­schul­di­ger Stim­me: »Wer ist da?«

Doch nie­mand ant­wor­te­te ihr.

Und da sie die ge­rings­ten ih­rer Ges­ten von al­ler Au­gen be­ob­ach­tet fühl­te, zwang sie sich, mu­tig zu er­schei­nen, und rief sehr laut: »Ist je­mand da hin­ter der Tür?«

»O ja, ja, ge­wiss ist je­mand hin­ter der Tür!«, wie­der­hol­te Meg Giry, die sich hel­den­haft an dem Tüll­kleid der So­rel­li fest­hielt. »Mein Gott, öff­net die Tür um al­les in der Welt nicht!«

Doch die So­rel­li, mit ei­nem Dolch be­waff­net, den sie stets bei sich trug, wag­te es, den Zim­mer­schlüs­sel um­zu­dre­hen und die Tür zu öff­nen, wäh­rend die Tän­ze­rin­nen bis in den An­klei­de­raum zu­rück­flüch­te­ten.

Die So­rel­li späh­te cou­ra­giert in den Gang hin­aus. Er war völ­lig leer; eine Schmet­ter­lings­flam­me in ih­rem Glas­be­häl­ter warf einen trü­ben, ro­ten Schein in die um­ge­ben­de Dun­kel­heit, ohne sie durch­drin­gen zu kön­nen. Und mit ei­nem tie­fen Seuf­zer schloss die Tän­ze­rin rasch die Tür. »Nein«, sag­te sie, »es ist nie­mand drau­ßen.«

»Und den­noch ha­ben wir es ge­se­hen«, be­teu­er­te Jam­mes noch ein­mal und kehr­te ängst­li­chen Schrit­tes zur So­rel­li zu­rück. »Es muss ir­gend­wo in der Nähe her­um­strei­fen. Ich ge­traue mich nicht in die Gar­de­ro­be zu­rück, um mich um­zu­klei­den. Es wäre am bes­ten, wir gin­gen so­gleich alle mit­ein­an­der ins Foy­er hin­un­ter, zur Ab­schieds­fei­er, und kehr­ten dann alle zu­sam­men zu­rück.«

Nach die­sen Wor­ten be­rühr­te das Kind an­däch­tig den Koral­len­an­hän­ger, der sie als Ta­lis­man vor al­lem Übel be­wah­ren soll­te. Und die So­rel­li zeich­ne­te ihr mit der ro­si­gen Na­gel­spit­ze ih­res rech­ten Dau­mens ein An­dre­as­kreuz auf den Holz­ring am Gold­fin­ger ih­rer lin­ken Hand.

Sie sag­te zu den klei­nen Tän­ze­rin­nen: »Kin­der, ihr müsst euch be­ru­hi­gen, das Phan­tom … nie­mand hat es viel­leicht wirk­lich ge­se­hen.«

»Doch, doch, wir ha­ben es ge­se­hen! Gera­de vor­hin ha­ben wir es ge­se­hen. Mit dem To­ten­schä­del und dem schwar­zen An­zug, wie an dem Abend, wo es Jo­seph Bu­quet er­schi­en!«

»Und auch Ga­bri­el hat es ge­se­hen!«, fiel die Jam­mes ein. »Ges­tern erst, ges­tern Nach­mit­tag – bei hell­lich­tem Tag.«

»Ga­bri­el? Der Ge­sangs­meis­ter?«

»Aber frei­lich – ha­ben Sie nicht da­von ge­hört?«

»Und er trug sei­nen Frack am hell­lich­ten Tag?«

»Wer? Ga­bri­el?«

»Aber nein – das Phan­tom!«

»Frei­lich trug er ihn!«, be­teu­er­te die Jam­mes. »Ga­bri­el selbst hat es mir ge­sagt. Gera­de dar­an hat er es ja er­kannt. Se­hen Sie, die Ge­schich­te trug sich fol­gen­der­ma­ßen zu. Ga­bri­el war im Büro des Re­gis­seurs. Plötz­lich tut sich die Tür auf, und der Per­ser kommt her­ein. Ihr wisst ja, dass der Per­ser den bö­sen Blick hat?«

»Ja – o ja —«, rie­fen die klei­nen Tän­ze­rin­nen und streck­ten, so­bald der Name des »Per­sers« ge­fal­len war, Zei­ge­fin­ger und klei­nen Fin­ger wie Hör­ner dem bö­sen Ge­schick ent­ge­gen, wäh­rend Mit­tel­fin­ger und Ring­fin­ger vom Dau­men fest­ge­hal­ten wur­den.

»Und weil nun Ga­bri­el aber­gläu­bisch ist«, fuhr die Jam­mes fort, »zu­gleich aber sehr höf­lich, so be­gnügt er sich, ganz ru­hig sei­ne Hand in die Ta­sche zu ste­cken und sei­ne Schlüs­sel zu be­rüh­ren, so­bald er den Per­ser zu Ge­sicht be­kommt … Nun gut! So­wie der Per­ser die Tür auf­macht, springt Ga­bri­el von sei­nem Fau­teuil2 auf und zum Kas­ten­schlüs­sel hin, um ir­gen­det­was Ei­ser­nes be­rüh­ren zu kön­nen! Bei die­sem Sprung zer­riss er sich den gan­zen Rock­schoß und stieß in der Eile des Hin­aus­ge­hens mit der Stirn an einen Gar­di­nen­hal­ter, wo­von er jetzt noch eine rie­si­ge Beu­le trägt. Als er dann has­tig zu­rück­fuhr, riss er sich den Arm an dem Pa­ra­vent auf, der ne­ben dem Kla­vier steht. Er woll­te sich auf das Kla­vier stüt­zen, doch un­glück­li­cher­wei­se streif­te er da­bei an den De­ckel, der ihm auf die Hand fiel und ihm die Fin­ger ein­klemm­te. Er stürz­te wie ein Wahn­sin­ni­ger aus dem Büro und eil­te die Stie­ge in sol­cher Hast hin­un­ter, dass er aus­glitt und die gan­ze Trep­pe bis zum ers­ten Stock hin­un­ter­pur­zel­te. Eben in die­sem Mo­ment kam ich mit Mama vor­bei. Wir eil­ten hin, um ihm auf­zu­hel­fen. Er war ganz zer­schun­den und hat­te das Ge­sicht so voll Blut, dass wir leb­haft er­schra­ken. Bald dar­auf aber lä­chel­te er wie­der und rief aus: ›Ich kann Gott dan­ken, dass ich so bil­lig da­von­ge­kom­men bin!‹ Und dar­auf er­zähl­te er uns sein gan­zes Miss­ge­schick, das nur aus sei­nem Ent­set­zen ent­sprang, als er hin­ter dem Per­ser das Phan­tom er­blickt hat­te, das Ge­s­penst mit dem To­ten­schä­del, wie es Jo­seph Bu­quet ge­schil­dert hat.«

Ein be­stürz­tes Ge­mur­mel folg­te die­ser selt­sa­men Er­zäh­lung, die die Jam­mes ganz au­ßer Atem ge­bracht hat­te. In sol­cher Eile hat­te sie ih­ren Be­richt her­vor­ge­spru­delt, als ob ihr das Phan­tom auf den Fer­sen sei. Die klei­ne Pau­se, die nun ein­trat und wäh­rend de­ren sich die So­rel­li sehr ner­vös die Nä­gel po­lier­te, wur­de von der klei­nen Giry mit zag­haf­ter Stim­me un­ter­bro­chen.

»Jo­seph Bu­quet täte gut dar­an, den Mund zu hal­ten«, be­merk­te sie.

»Ja, warum denn?«, frag­te man von al­len Sei­ten.

»Mei­ne Mama – hat – es – ge­sagt«, stam­mel­te die klei­ne Meg ganz lei­se, in­dem sie um sich sah, als fürch­te sie, noch von an­de­ren Ohren ge­hört zu wer­den.

»Und warum ist sie die­ser Mei­nung, dei­ne Mut­ter?«

»Pst – Mama sagt, dass das Phan­tom är­ger­lich wird, wenn man zu viel von ihm spricht.«

»Und wie kommt dei­ne Mama zu die­ser Mei­nung?«

»Weil … näm­lich … ah, nichts.«

Die­se ge­heim­nis­vol­len An­deu­tun­gen wa­ren vor­treff­lich ge­eig­net, die Neu­gier­de der Da­men aufs Äu­ßers­te zu span­nen, die sich um die klei­ne Giry dräng­ten und sie an­fleh­ten, sich deut­li­cher aus­zu­drücken. Schul­ter an Schul­ter stan­den sie um sie her­um.

»Ich habe ge­schwo­ren, nichts zu sa­gen«, flüs­ter­te Meg fast un­hör­bar. Doch sie lie­ßen ihr kei­ne Ruhe und ver­spra­chen, das Ge­heim­nis so gut zu be­wah­ren wie Meg selbst, die üb­ri­gens da­nach brann­te, ihre Weis­heit aus­zu­kra­men, und end­lich – die Au­gen auf die Tür ge­hef­tet – be­gann:

»Nun denn … we­gen der Loge!«

»Wel­cher Loge?«

»We­gen der Loge des Phan­toms.«

»Was? … Das Phan­tom hat eine Loge?«

Bei dem Ge­dan­ken, dass das Phan­tom sei­ne Loge habe, konn­ten die klei­nen Tän­ze­rin­nen die mit Ent­set­zen ge­misch­te Freu­de ih­res Er­stau­nens nicht zu­rück­hal­ten. Ein all­ge­mei­nes Stöh­nen ging durch den Raum, und sie rie­fen: »Um Got­tes wil­len, er­zäh­le, er­zäh­le!«

»Macht kei­nen sol­chen Lärm!«, be­fahl Meg. »Es ist die ers­te Rang­lo­ge Nr. 5, wisst ihr … die ers­te Pro­sze­ni­ums­lo­ge links.«

»Un­mög­lich …«

»Es ist, wie ich euch sage. Mama ist dort Lo­gen­schlie­ße­rin. Aber ihr schwört mir, dar­über zu schwei­gen!«

»Aber ja! Doch er­zäh­le nur wei­ter!«

»Nun gut. Das ist die Loge des Phan­toms. Nie­mand hat sie seit über ei­nem Mo­nat be­tre­ten als das Phan­tom, und man hat so­gar die Di­rek­ti­on be­auf­tragt, die­se Loge nie­mals mehr zu ver­mie­ten …«

»Wirk­lich? … Kommt das Phan­tom dort­hin?«

»Nun, ge­wiss.«

»Und wer ist sonst noch dort?«

»Nie­mand sonst! Das Phan­tom kommt und bleibt ganz al­lein.«

Die klei­nen Tän­ze­rin­nen sa­hen sich ge­gen­sei­tig an. Wenn das Phan­tom in die Loge kommt, so müss­te man es doch se­hen, da es einen Frack hat­te und einen To­ten­schä­del. Das woll­ten sie auch Meg be­greif­lich ma­chen, die­se aber ant­wor­te­te: »Das ist es ja ge­ra­de, das Phan­tom ist un­sicht­bar, es hat we­der einen An­zug noch einen Kopf. Al­les, was man über sei­nen To­ten­kopf er­zählt hat und über ein feu­ri­ges Haupt, ist ein­fach er­lo­gen. Es ist über­haupt nicht zu se­hen. Man hört es nur, wenn es in der Loge ist. Mama hat es nie zu Ge­sicht be­kom­men, nur ge­hört, und sie muss es wis­sen, da sie ihm alle Aben­de das Pro­gramm gibt!«

Nun aber wur­de es selbst der So­rel­li zu bunt. »Mei­ne klei­ne Giry, ich glau­be, du hältst uns zum Nar­ren!«

Da be­gann die klei­ne Giry zu wei­nen.

»Ich hät­te bes­ser ge­tan, den Mund zu hal­ten … Wenn nur Mama nichts da­von er­fährt. Jo­seph Bu­quet aber soll­te sich nicht um Din­ge küm­mern, die ihn nichts an­ge­hen … Das wird ihn noch ins Un­glück brin­gen … Mama hat es erst ges­tern wie­der ge­sagt …!«

In die­sem Au­gen­blick wur­den im Gan­ge schwe­re und ei­li­ge Schrit­te hör­bar, und eine keu­chen­de Stim­me rief: »Cé­ci­le! Cé­ci­le! Wo bist du?«

»Das ist Ma­mas Stim­me!«, sag­te die Jam­mes. »Was ist denn los?« Und sie öff­ne­te die Tür. Eine wür­di­ge Ma­tro­ne stürz­te in die Gar­de­ro­be und ließ sich äch­zend in einen Fau­teuil fal­len. Ihre Au­gen roll­ten wie bei ei­ner Irr­sin­ni­gen und fun­kel­ten Un­heil ver­kün­dend in ih­rem krebs­ro­ten Ge­sicht.

»Welch ein Un­glück!«, stöhn­te sie. »Welch ein Un­glück! …«

»Was ist ge­sche­hen … um Got­tes wil­len …? Was gibt es?«

»Jo­seph Bu­quet …«

»Nun, was ist mit Jo­seph Bu­quet …?«

»Jo­seph Bu­quet ist tot!«

Die Gar­de­ro­be wi­der­hall­te von leb­haf­ten Äu­ße­run­gen, von er­staun­ten Pro­tes­ten, von be­stürz­ten Fra­gen.

»Ja … eben fand man ihn im drit­ten Un­ter­stock er­hängt! Und das Fürch­ter­lichs­te ist«, setz­te die arme, wür­di­ge Dame – au­ßer Atem – hin­zu, »dass die Ma­schi­nis­ten, die ihn fan­den, in der Nähe des Leich­nams ein Geräusch ge­hört ha­ben wol­len – wie einen To­ten­ge­sang!«

»Das ist das Phan­tom!«, ent­fuhr es der klei­nen Giry, doch sie be­sann sich so­gleich und hielt die Hän­de vor den Mund. »Nein! Ich will nichts ge­sagt ha­ben … ich habe nichts ge­sagt!«

Rings um sie wie­der­hol­ten alle ihre Kol­le­gin­nen mit lei­ser Stim­me: »Ganz ge­wiss! … Das Phan­tom! …«

Die So­rel­li war bleich ge­wor­den. »Ich wer­de nicht im­stan­de sein, mei­ne Ab­schieds­re­de zu hal­ten!«, sag­te sie.

Jam­mes’ Mama gab ihre Mei­nung ab, in­dem sie ein klei­nes Glas Li­kör leer­te, das her­ren­los auf dem Tisch stand: »Da­hin­ter muss das Phan­tom ste­cken! …«

In Wahr­heit hat man nie­mals recht er­fah­ren, auf wel­che Wei­se Jo­seph Bu­quet ums Le­ben ge­kom­men war. Die Auf­nah­me des Tat­be­stan­des er­gab nichts an­de­res als Selbst­mord. In den »Me­moi­ren ei­nes Thea­terdi­rek­tors« er­zählt Mon­char­min, ei­ner der Nach­fol­ger der Her­ren De­bi­enne und Po­li­gny, die Ne­ben­um­stän­de des Selbst­mords fol­gen­der­ma­ßen:

»Ein pein­li­cher Un­fall hat das klei­ne Fest ge­stört, das die Her­ren De­bi­enne und Po­li­gny aus An­lass ih­res Ab­schieds ver­an­stal­te­ten. Ich be­fand mich im Di­rek­ti­ons­bü­ro, als ich plötz­lich Herrn Mer­cier – den Ad­mi­nis­tra­tor – ein­tre­ten sah. Er war ganz ver­stört und er­zähl­te mir, dass man eben im drit­ten Un­ter­stock der Büh­ne, zwi­schen ei­nem Bal­ken­ge­rüst und ei­ner De­ko­ra­ti­on des ›Roi de La­ho­re‹, den Leich­nam ei­nes Ma­schi­nis­ten ent­deckt habe. ›Ge­hen wir ihn ab­schnei­den‹, rief ich so­fort. Wäh­rend der Zeit, die ich brauch­te, um die Stie­ge hin­un­ter­zu­lau­fen und die Lei­ter des Büh­nen­ge­rüs­tes hin­un­ter­zu­stei­gen, hat­te man den Er­häng­ten be­reits ab­ge­schnit­ten, und die Schnur war ver­schwun­den.«

Man sieht also, dass Herrn Mon­char­min nicht die ge­rings­ten Zwei­fel über den Selbst­mord auf­stie­gen. Ein Mann hat sich an ei­ner Schnur er­hängt, man hat ihn ab­ge­schnit­ten, und die Schnur ist ver­schwun­den. Und Herr Mon­char­min fin­det da­für eine sehr ein­fa­che Er­klä­rung. Er schreibt: »Das gan­ze Bal­lett­korps war im Haus, und So­lis­ten und Bal­lett­mä­del hat­ten sich ver­mut­lich schnell den Ta­lis­man ge­gen den bö­sen Blick ge­teilt.«

Nichts wei­ter. Man den­ke sich das gan­ze Bal­lett­korps die Gerüst­lei­ter hin­un­ter­klet­tern und sich die Schnur ei­nes Er­häng­ten tei­len, und das al­les in ge­rin­ge­rer Zeit, als man braucht, um es nie­der­zu­schrei­ben. Ist so et­was glaub­lich? Wenn ich mir da­ge­gen den Platz, wo der Leich­nam ge­fun­den wur­de, ver­ge­gen­wär­ti­ge – im drit­ten Un­ter­stock der Büh­ne –, so steigt in mir so­gleich der Ge­dan­ke auf, dass ir­gend­wer ein In­ter­es­se dar­an ge­habt hat, die Schnur, nach­dem sie ih­ren Zweck er­füllt hat­te, schnell ver­schwin­den zu las­sen; und es wird sich noch zei­gen, ob ich da­mit un­recht hat­te.

Die Un­glücks­nach­richt hat­te sich bald im gan­zen Haus ver­brei­tet, denn Jo­seph Bu­quet war all­ge­mein be­liebt ge­we­sen. Die Gar­de­ro­be leer­te sich all­mäh­lich, und die klei­nen Tän­ze­rin­nen gin­gen, um die So­rel­li ge­schart wie ängst­li­che Schäf­chen um den Hir­ten, durch die schlecht er­leuch­te­ten Gän­ge und über die Stie­gen, so schnell sie ihre klei­nen ro­sa­far­be­nen Bein­chen tra­gen woll­ten, ins Foy­er.


  1. Ich habe die­se au­then­ti­sche An­ek­do­te, von M. Pe­dro Gail­hard selbst, dem ver­stor­be­nen Lei­ter der Oper.  <<<

  2. Lehn­stuhl, Lehn­ses­sel oder Arm­ses­sel  <<<

II – Eine neue Margarete

Auf dem ers­ten Trep­pen­ab­satz traf die So­rel­li mit dem Gra­fen Cha­gny zu­sam­men, der eben die Stie­ge hin­auf­schritt. Der Graf – sonst der ru­higs­te Mensch, den man sich den­ken konn­te – schi­en in großer Auf­re­gung zu sein.

»Ich bin auf dem Weg zu Ih­nen«, sag­te der Graf, der jun­gen Dame ga­lant die Hand küs­send. »Ach, So­rel­li, ein herr­li­cher Abend! Und Chris­ti­ne Daaé: welch ein Tri­umph!«

»Un­mög­lich!«, fiel Meg Giry ein. »Vor sechs Mo­na­ten noch sang sie wie ein Blech­topf! Doch las­sen Sie uns vor­bei, mein lie­ber Graf«, sag­te die klei­ne Bal­lett­rat­te mit schnip­pi­scher Ver­beu­gung, »wir ge­hen, Neu­ig­kei­ten über den ar­men Er­häng­ten zu er­fah­ren.«

In die­sem Au­gen­blick lief der Ad­mi­nis­tra­tor ge­schäf­tig vor­bei, blieb je­doch plötz­lich ste­hen, als er die­se Wor­te hör­te. »Wie, Fräu­lein, Sie ha­ben schon da­von ge­hört?«, sag­te er ziem­lich brüsk. »Ich bit­te Sie – spre­chen Sie nicht da­von. Und dass vor al­lem die Her­ren De­bi­enne und Po­li­gny nichts da­von er­fah­ren! An ih­rem letz­ten Abend soll ih­nen die­ser Kum­mer er­spart blei­ben.«

Und sie be­ga­ben sich alle in das Foy­er de la Dan­se, das be­reits voll war.

Der Graf Cha­gny hat­te recht. Die­ser Gala-Abend über­traf al­les Da­ge­we­se­ne. Die Be­vor­zug­ten, die ihm bei­wohn­ten, er­zäh­len noch heu­te be­geis­tert ih­ren Kin­dern und Kin­des­kin­dern da­von. Man den­ke, dass Gou­nod, Rey­er, Saint-Saëns, Mas­se­net, Gui­rand, De­li­bes nach­ein­an­der in ei­ge­ner Per­son das Di­ri­gen­ten­pult be­stie­gen und die Auf­füh­run­gen ih­rer ei­ge­nen Wer­ke lei­te­ten. Un­ter den dar­stel­len­den Künst­lern be­fan­den sich Fau­re und die Krauß, und an die­sem Abend er­ober­te sich Chris­ti­ne Daaé, de­ren mys­te­ri­öses Schick­sal ich in die­sem Buch er­zäh­len will, die Be­wun­de­rung und Be­geis­te­rung von ganz Pa­ris.

Sie brach­te zu­erst ei­ni­ge Pas­sa­gen aus »Ro­meo und Ju­lia« zum Vor­trag. Es war das ers­te Mal, dass die jun­ge Künst­le­rin die­ses Werk Gou­nods sang. Wer nie­mals Chris­ti­ne Daaé in der Rol­le der Ju­lia ge­hört hat, hat viel ver­säumt, er kennt nicht ihre kind­li­che Gra­zie, ihre En­gels­s­tim­me, er hat nie ge­fühlt, wie ihre See­le mit sei­ner ei­ge­nen ent­schwebt, über den Grä­bern der Lie­ben­den von Ve­ro­na: »Seigneur! Seigneur! Seigneur! Par­don­nez-nous!«

Doch das al­les war nichts im Ver­gleich mit den fast über­ir­di­schen Tö­nen, die wir zu hö­ren be­ka­men, als sie die Ker­ker­sze­ne und das Schluss­trio aus »Faust« sang, in Ver­tre­tung der in­dis­po­nier­ten Car­lot­ta. Nie noch hat­te man so et­was ge­hört oder ge­se­hen!

Es war eine neue Mar­ga­re­te, die uns die Daaé of­fen­bar­te, eine Mar­ga­re­te von un­ge­ahn­tem Glanz, von un­ge­ahn­ter Grö­ße. Der gan­ze Saal dröhn­te von un­er­hör­tem Bei­falls­ju­bel der be­geis­ter­ten Zu­hö­rer, wäh­rend Chris­ti­ne schluch­zend und halb ohn­mäch­tig ih­ren Kol­le­gin­nen in die Arme sank. Man muss­te sie in ihre Gar­de­ro­be brin­gen. Sie glich ei­ner To­ten.

Der Graf de Cha­gny hat­te die­sem De­li­ri­um in sei­ner Loge ste­hend bei­ge­wohnt und sich leb­haft an den Bra­vo­ru­fen be­tei­ligt.

Der Graf de Cha­gny, Phil­ip­pe-Ge­or­ges-Ma­rie, hat­te da­mals ein Al­ter von ge­nau ein­und­vier­zig Jah­ren. Er war von al­tem Adel und ein auf­fal­lend schö­ner Mann von mehr als mit­tel­großer Sta­tur und von sym­pa­thi­schem Äu­ße­ren. Trotz der har­ten Stirn und den et­was kal­ten Au­gen war er von aus­ge­such­ter Höf­lich­keit ge­gen die Da­men und ein we­nig von oben her­ab ge­gen die Män­ner, die ihm sei­ne ge­sell­schaft­li­chen Er­fol­ge nicht recht ver­zei­hen konn­ten. Er war ein gut­her­zi­ger Mensch, der viel auf sei­ne rit­ter­li­che Ehre hielt. Durch den Tod des al­ten Gra­fen Phi­li­bert war er das Ober­haupt ei­ner der be­rühm­tes­ten und äl­tes­ten Fa­mi­li­en Frank­reichs ge­wor­den, de­ren Adels­brief bis auf Louis le Hu­tin zu­rück­ging. Das Ver­mö­gen der Cha­gny war be­deu­tend, und als der alte Graf als Wit­wer starb, war es für Phil­ip­pe kei­ne klei­ne Ar­beit, ein so großes Erbe zu ver­wal­ten. Sei­ne zwei Schwes­tern und sein Bru­der Raoul woll­ten nichts von ei­ner Tei­lung wis­sen, und so leb­ten sie in Gü­ter­ge­mein­schaft und über­lie­ßen Phil­ip­pe alle Geldan­ge­le­gen­hei­ten, als hät­te das Ma­jo­rats­recht nicht zu be­ste­hen auf­ge­hört. Als sich die bei­den Schwes­tern – am glei­chen Tage – ver­hei­ra­te­ten, er­hiel­ten sie ihre An­tei­le von ih­rem Bru­der aus­be­zahlt, nicht als ihr ei­gent­li­ches Erbe, son­dern eher als eine Mit­gift, für die sie ihm ih­ren Dank aus­spra­chen.

Die Grä­fin Cha­gny, eine ge­bo­re­ne Moe­ro­gis de la Marty­miè­re, starb bei Raouls Ge­burt, der zwan­zig Jah­re nach sei­nem äl­te­ren Bru­der zur Welt kam. Er zähl­te zwölf Jah­re, als der alte Graf ver­schied. Phil­ip­pe be­schäf­tig­te sich viel mit der Er­zie­hung des Kna­ben und wur­de dar­in be­wun­derns­wert von sei­nen Schwes­tern un­ter­stützt und spä­ter von ei­ner al­ten Tan­te, der Wit­we ei­nes See­of­fi­ziers, die in Brest leb­te und in dem jun­gen Raoul die Lust nach al­lem er­weck­te, was mit dem Meer zu­sam­men­hing. Dank der Ver­mitt­lung ein­fluss­rei­cher Gön­ner wur­de er der of­fi­zi­el­len Ex­pe­di­ti­on des »Re­quin« bei­ge­ge­ben, die im Eis des Po­lar­meers die Über­le­ben­den der Ex­pe­di­ti­on des »D’Ar­tois« auf­zu­su­chen be­stimmt war, über die man seit drei Jah­ren kei­ne Nach­richt hat­te. Au­gen­blick­lich ge­noss er einen län­ge­ren Ur­laub, der noch vol­le sechs Mo­na­te dau­ern soll­te.

Die Schüch­tern­heit die­ses jun­gen See­manns – ja ich möch­te fast sa­gen: sei­ne Un­schuld – war auf­fal­lend. Er schi­en eben erst den Kin­der­schu­hen ent­wach­sen zu sein. Wirk­lich hat­te er sich, ge­hät­schelt von den bei­den Schwes­tern und sei­ner al­ten Tan­te, durch die­se aus­schließ­lich weib­li­che Er­zie­hung fast en­gel­haf­te Ma­nie­ren zu­ge­legt, einen lie­bens­wür­di­gen Ch­ar­me, den bis da­hin nichts zu trü­ben ver­moch­te. Da­mals war er et­was mehr als zwan­zig Jah­re alt und sah aus wie acht­zehn. Er trug ein blon­des Bärt­chen, hat­te schö­ne blaue Au­gen, und sein Teint war ro­sig wie der ei­nes jun­gen Mäd­chens.

Phil­ip­pe ver­zog den jün­ge­ren Bru­der sehr. Er war stolz auf ihn und sah den See­ka­det­ten am Be­ginn ei­ner glän­zen­den Lauf­bahn in der­sel­ben Ma­ri­ne, in der ei­ner ih­rer Ah­nen, der be­rühm­te Cha­gny de la Ro­che, den Rang ei­nes Ad­mi­rals ein­ge­nom­men hat­te. Er be­nutz­te den Ur­laub des jun­gen Man­nes dazu, um ihm Pa­ris zu zei­gen, das die­ser, zum Min­des­ten was lu­xu­ri­öse Ver­gnü­gun­gen und künst­le­ri­sche Genüs­se an­lang­te, so gut wie gar nicht kann­te.

Der Graf war der Mei­nung, dass in Raouls Al­ter all­zu viel Sitt­sam­keit auch nicht das Ge­eig­nets­te sei. Phil­ip­pe selbst war ein sehr aus­ge­gli­che­ner Cha­rak­ter, er wuss­te Ar­beit und Ver­gnü­gen im rich­ti­gen Maß zu ver­tei­len, ver­lor kei­ne Mi­nu­te sei­ne Hal­tung und konn­te also un­mög­lich sei­nem Bru­der ein schlech­tes Bei­spiel ge­ben. Er nahm ihn über­all mit sich. Er zeig­te ihm so­gar das Foy­er de la Dan­se. Ich weiß wohl, dass man sich er­zähl­te, der Graf stün­de mit der So­rel­li in bes­tem Ein­ver­neh­men, doch schließ­lich konn­te man es die­sem Gent­le­man, der au­ßer­dem Jung­ge­sel­le war und also, be­son­ders seit sei­ne Schwes­tern ver­hei­ra­tet wa­ren, sehr viel freie Zeit hat­te, nicht übel neh­men, wenn er nach dem Di­ner ein oder zwei Stun­den in Ge­sell­schaft ei­ner Tän­ze­rin ver­brach­te, die zwar nicht ge­ra­de eine Geis­tes­leuch­te war, ge­wiss aber die schöns­ten Au­gen der Welt hat­te.

End­lich wür­de Phil­ip­pe sei­nen Bru­der viel­leicht nicht hin­ter die Ku­lis­sen der Aca­dé­mie Na­tio­na­le de Mu­si­que ge­führt ha­ben, wenn die­ser ihn nicht mehr­fach mit sanf­ter Hart­nä­ckig­keit dar­um er­sucht hät­te, ein Um­stand, des­sen sich der Graf spä­ter er­in­nern soll­te.

Nach­dem Phil­ip­pe an die­sem Abend der Daaé Bei­fall ge­klatscht hat­te, wen­de­te er sich zu Raoul um und be­merk­te, dass die­ser so auf­fal­lend bleich ne­ben ihm saß, dass er dar­über hef­tig er­schrak. »Siehst du denn nicht«, hat­te Raoul ge­sagt, »dass die­se Frau ei­ner Ohn­macht nahe ist?!«

In der Tat muss­te man auf der Büh­ne Chris­ti­ne Daaé stüt­zen.

»Ich glau­be gar, du wirst mir ohn­mäch­tig«, sag­te der Graf und beug­te sich zu Raoul. »Was hast du denn nur?«

Doch Raoul war schon auf den Bei­nen.

»Komm«, sag­te er mit zit­tern­der Stim­me.

»Wo­hin willst du ge­hen, Raoul?«, frag­te der Graf, er­staunt über die Er­re­gung sei­nes klei­nen See­ka­det­ten.

»Komm … komm … ich habe sie noch nie so sin­gen ge­hört.«

Der Graf be­trach­te­te er­staunt sei­nen Bru­der, und ein leich­tes Lä­cheln spiel­te um sei­ne Mund­win­kel. »Bah …« Und gleich dar­auf füg­te er hin­zu: »Nun, so ge­hen wir!« Und er schi­en sehr ver­gnügt zu sein.

Sie be­fan­den sich bald am Büh­nen­ein­gang, wo sie in ein ar­ges Ge­drän­ge ka­men. Wäh­rend sie nur lang­sam ge­gen die Büh­ne vor­wärts­kom­men konn­ten, riss Raoul vor fie­ber­haf­ter Un­ru­he sei­ne Hand­schu­he in Stücke. Phil­ip­pe war zu gut­her­zig, um sich über sei­ne Un­ru­he lus­tig zu ma­chen, doch er war nun­mehr im Kla­ren, er wuss­te, warum Raoul so zer­streut war, wenn er mit ihm sprach, und warum er ein leb­haf­tes In­ter­es­se zeig­te, das Ge­spräch im­mer wie­der auf die Oper zu brin­gen.

End­lich wa­ren sie auf der Ebe­ne der Büh­ne.

Eine Un­zahl von Her­ren im Ge­sell­schafts­an­zug dräng­te sich ge­gen das Foy­er de la Dan­se und die Künstl­er­gar­de­ro­ben. In die Zu­ru­fe der Ma­schi­nis­ten misch­ten sich die lau­ten Be­feh­le der Dienst­lei­ter. Die Fi­gu­ran­ten des letz­ten Bil­des sind eben im Weg­ge­hen, die Sta­tis­tin­nen sto­ßen einen an, ein Ku­lis­sen­wa­gen zieht vor­bei, vom Schnür­bo­den wird ein Hin­ter­grund her­ab­ge­las­sen; dort wird ein prak­ti­ka­bles Por­tal mit lau­ten Ham­mer­schlä­gen be­fes­tigt, die Zu­ru­fe »Ach­tung! – Auf­pas­sen!« klin­gen un­auf­hör­lich wie die Dro­hung ei­nes neu­en Un­falls für Ihren Zy­lin­der oder Ihre Rip­pen an das Ohr – es ist das ge­wöhn­li­che Le­ben und Trei­ben des Zwi­schen­ak­tes.

An die­sem Abend nun war die Ver­wir­rung, das Durchein­an­der dop­pelt groß, Raoul aber cou­ra­gier­ter denn je. Er bahn­te sich mit kräf­ti­gen Ell­bo­gen den Weg durch das Ge­drän­ge, hör­te und sah nichts von dem, was um ihn vor­ging, und gab sich kei­ne Mühe, die Zu­ru­fe der Ma­schi­nis­ten zu ver­ste­hen. Er fühl­te nur zu gut, dass sein ar­mes, un­er­fah­re­nes Herz ihm nicht mehr ge­hör­te. An dem Tag, da er Chris­ti­ne, die er als klei­nes Kind ge­kannt hat­te, wie­der­sah, ließ er es nicht un­ver­sucht, es ge­gen sie zu ver­tei­di­gen. Eine süße Sehn­sucht war über ihn ge­kom­men bei die­sem Wie­der­se­hen, und er hat­te ge­gen sie an­ge­kämpft; hat­te er sich doch im Be­wusst­sein der Ach­tung vor sich selbst und vor sei­ner Treue zu­ge­schwo­ren, nie eine an­de­re als sei­ne zu­künf­ti­ge Gat­tin zu lie­ben, und er konn­te na­tür­lich kei­nen Au­gen­blick an eine Ver­hei­ra­tung mit ei­ner Sän­ge­rin den­ken. Doch die­ser sü­ßen Sehn­sucht war eine wil­de Lei­den­schaft ge­folgt. Ein phy­si­scher und mo­ra­li­scher Schmerz. Es war ihm, als hät­te man ihm die Brust auf­ge­ris­sen, um ihm das Herz zu neh­men.

Graf Phil­ip­pe hat­te Mühe, ihm zu fol­gen. Noch im­mer lag ein lei­ses Lä­cheln auf sei­nen Zü­gen.

Im Hin­ter­grund der Büh­ne, hin­ter der Dop­pel­tür, die nach den Trep­pen zum Foy­er und zu den links­sei­ti­gen Sou­ter­rain­gar­de­ro­ben führt, wur­de Raoul von ei­nem Dut­zend Bal­lett­rat­ten auf­ge­hal­ten, die eben aus ih­rem An­klei­de­raum ka­men und ihm den en­gen Gang ver­sperr­ten. Mehr als eine lus­ti­ge Be­mer­kung wur­de von den ge­schmink­ten Mäul­chen auf ihn ab­ge­schos­sen, doch er ach­te­te nicht dar­auf. End­lich hat­te er sich durch­ge­wun­den und eil­te nun durch einen dunklen Kor­ri­dor, der von den Bei­falls­ru­fen der en­thu­si­as­mier­ten Be­wun­de­rer dröhn­te. Ein Name über­tön­te al­len Lärm: Daaé … Daaé! Der Graf, der hin­ter Raoul da­her­schritt, dach­te bei sich: ›Der Sch­lin­gel kennt den Weg!‹ Und er frag­te sich, wo­her wohl die­se Orts­kennt­nis stam­me. Er selbst er­in­ner­te sich nicht, ihn je­mals zu Chris­ti­ne ge­führt zu ha­ben. Of­fen­bar war er al­lein – auf ei­ge­ne Faust – zu ihr ge­gan­gen, wenn der Graf wie ge­wöhn­lich plau­dernd mit der So­rel­li im Foy­er stand.

Der Graf schob sei­nen ob­li­ga­ten Be­such bei der So­rel­li für ei­ni­ge Mi­nu­ten auf und schritt die Ga­le­rie ent­lang, die zur Gar­de­ro­be der Daaé führ­te. Und er kon­sta­tier­te, dass er die­sen Kor­ri­dor noch nie­mals so be­sucht ge­se­hen hat­te wie an die­sem Abend, an dem das gan­ze Haus in Auf­re­gung war durch den fa­bel­haf­ten Er­folg der Künst­le­rin und durch ihr plötz­li­ches Un­wohl­sein. Das schö­ne Kind war näm­lich noch nicht wie­der zu sich ge­kom­men, und man hat­te nach dem Thea­ter­arzt ge­schickt, der mitt­ler­wei­le ein­traf und sich durch das Ge­drän­ge einen Weg bahn­te, ge­folgt von Raoul, der ihm im­mer auf den Fer­sen blieb.

So lang­ten der Arzt und der Ver­lieb­te gleich­zei­tig bei Chris­ti­ne an, die un­ter den Be­mü­hun­gen des einen als­bald in den Ar­men des an­de­ren die Au­gen auf­schlug. Der Graf war mit vie­len an­de­ren auf der Tür­schwel­le ste­hen ge­blie­ben, wo ein na­men­lo­ses Ge­drän­ge herrsch­te.

»Mei­nen Sie nicht, Dok­tor, dass es an­ge­zeigt wäre, wenn die­se Her­ren die Tür ein we­nig frei lie­ßen?«, frag­te Raoul mit un­be­greif­li­cher Kühn­heit. »Es ist zum Er­sti­cken heiß hier drin­nen.«

»Sie ha­ben voll­kom­men recht«, be­stä­tig­te der Arzt, und er er­such­te alle, die Gar­de­ro­be zu ver­las­sen, au­ßer Raoul und der Kam­mer­frau. Die­se be­trach­te­te Raoul mit großen Au­gen und der auf­rich­tigs­ten Ver­blüf­fung. Sie hat­te ihn noch nie­mals ge­se­hen. Den­noch ge­trau­te sie sich nicht, ihn zur Rede zu stel­len, und der Arzt war der Mei­nung, dass der jun­ge Mann wohl ein Recht zu sei­nem Be­neh­men ha­ben müs­se. So also kam es, dass der Vi­com­te in der Gar­de­ro­be blieb, als die Daaé aus ih­rer Ohn­macht er­wach­te, wäh­rend selbst die bei­den Di­rek­to­ren, die Her­ren De­bi­enne und Po­li­gny, die der Sän­ge­rin ihre Be­wun­de­rung aus­zu­drücken wünsch­ten, mit vie­len be­frack­ten Her­ren in den Gang hin­aus­ge­scho­ben wur­den. Der Graf, dem es nicht bes­ser er­gan­gen war, wand­te sich nach der Gar­de­ro­be der So­rel­li. Doch die­se kam eben mit ih­rer klei­nen, angst­be­ben­den Schar ins Foy­er her­un­ter, und der Graf be­geg­ne­te ihr auf hal­b­em Weg.

Chris­ti­ne Daaé hat­te in ih­rer Loge ein lei­ses Stöh­nen aus­ge­sto­ßen, das von ei­nem Seuf­zer be­ant­wor­tet wur­de. Sie wand­te den Kopf, sah Raoul und zit­ter­te. Sie lä­chel­te dem Arzt zu, blick­te auf die Kam­mer­frau und dann noch­mals auf Raoul. »Mein Herr«, frag­te sie die­sen mit ei­ner Stim­me, die kaum mehr als ein Hauch war, »wer sind Sie?«

»Gnä­di­ges Fräu­lein«, ant­wor­te­te der jun­ge Mann, knie­te nie­der und drück­te einen hei­ßen Kuss auf die Hand der Diva, »gnä­di­ges Fräu­lein, ich bin das klei­ne Kind, das Ihre Schär­pe aus dem Meer ret­te­te.«

Chris­ti­ne sah noch im­mer den Arzt und die Kam­mer­frau an, und alle drei be­gan­nen zu la­chen. Raoul wur­de blut­rot und er­hob sich. »Mein gnä­di­ges Fräu­­­­­­­­­­­­­­­­­­