Marcus Stöger
Auf der Suche nach dem großen Unbekannten unseres Sonnensystems
Auf der Suche nach dem großen Unbekannten unseres Sonnensystems
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Redaktion: Anne Büntig-Blietzsch
Korrektorat: Silvia Kinkel
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer
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Satz: Daniel Förster, Belgern
Druck: CPI books GmbH, Leck
eBook: ePubMATIC.com
ISBN Print 978-3-95972-311-4
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-574-3
ISBN E-Book (EPUB, Mobi 978-3-96092-575-0
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EINLEITUNG
WOZU DIESES BUCH?
KAPITEL 1
9, 10 ODER X
KAPITEL 2
WAS IST EIGENTLICH EIN PLANET?
KAPITEL 3
DIE GRAVITATION UND DER AUFBAU UNSERES SONNENSYSTEMS
KAPITEL 4
VOM METEOR BIS ZUR GROSSEN MAUER
KAPITEL 5
WAS ZÄHLT EIN PLANET AUS ZWEITER HAND?
KAPITEL 6
AUSGERECHNETE PLANETEN
KAPITEL 7
KUIPERGÜRTEL-AUSREISSER
KAPITEL 8
DASPHANTOM
KAPITEL 9
WIE MAN PLANETEN AUFSPÜRT
KAPITEL 10
DIE SUCHE NACH ZIVILISATIONEN
KAPITEL 11
PLANETEN, BEWOHNBARKEIT UND INTELLIGENZ
KAPITEL 12
PLANET NEUN ALS NUTZUNGSOBJEKT
KAPITEL 13
ERSCHEINUNGSFORMEN UND ENTDECKUNG
ANHANG
THE 2016 PAPER
Seit ein paar Jahren herrscht eine gewisse Aufregung in der verschworenen Gesellschaft der Astronomen (und erst recht in den Medien): In unserem Sonnensystem soll es einen bislang noch unbekannten Planeten geben.
Das wäre tatsächlich eine veritable Sensation. Und da die Sache nicht auf dem Mist eines Hobbysternguckers gewachsen war, sondern vielmehr auf einer Abhandlung – einem »Paper«, wie das in Wissenschaftlerkreisen genannt wird – zweier renommierter Astronomen basierte, gingen die Wogen schon kurz nach der Veröffentlichung im Februar des Jahres 2016 hoch.
Der Artikel (er ist im Anhang nachzulesen) war im Astronomical Journal abgedruckt worden, einer Monatszeitschrift, die von der American Astronomical Society herausgegeben wird und weltweit großes Ansehen genießt. Darin werden keine Hirngespinste publiziert, sondern Arbeiten ernsthafter Forscher, die hier ihre neuesten Resultate bekanntgeben, ehe diese ins sogenannte Peer-Review gehen, eine Begutachtung durch unabhängige Kollegen.
Einschlägige Magazine rund um den Globus griffen die Meldung auf. Neben vereinzelten Meldungen in der Boulevardpresse sowie dem unvermeidlichen Lärm in Internetforen waren es vor allem »seriöse« Medien, die sich der Sache annahmen. Im deutschen Sprachraum brachten etwa Die Zeit oder Der Spiegel ausführliche Artikel. Und sie bleiben bis heute am Thema dran; neue Theorien werden ebenso besprochen wie jüngste Sichtungen der Weltraumteleskope.
Der Scientific American – quasi die altehrwürdigste Zeitschrift im Bereich der Populärwissenschaft – widmete sich der Angelegenheit ebenso eingehend wie sein deutscher Ableger Spektrum der Wissenschaft, auf Papier und im virtuellen Raum des WWW. Ebendort titelte das Portal futurezone.de am 10.3.2019: »Endlich! Laut Forschern wird Planet 9 noch im kommenden Jahrzehnt entdeckt«.
So eine schöne Schlagzeile wirft beim unschuldigen Leser vermutlich ein paar Fragen auf. Zunächst: Hatten wir das nicht schon längst? Der Satz »Mein Vater Erklärt Mir Jeden Sonntag Unsere Neun Planeten« dürfte den Meisten noch in Erinnerung sein. Es war die Eselsbrücke, mit der man sich die Reihenfolge der Planeten merken konnte; die Anfangsbuchstaben entsprechen jenen der Himmelskörper, von innen (Sonnennähe) nach außen: Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun und Pluto.
Macht neun Stück.
Außerdem, sind wir nicht längst schon kreuz und quer durch unser ganzes Sonnensystem geflogen? Das hätte irgendwem doch auffallen müssen, wenn sich da noch ein unbekannter Planet herumtreibt. Tatsächlich sind im Augenblick ungefähr 25 wissenschaftliche Sonden unterwegs, über hundert davon hat der Mensch schon ins All geschickt. Sie kreisen (oder kreisten) um so gut wie jeden halbwegs interessanten Himmelskörper, von der Sonne über Planeten bis hin zu Monden und Asteroiden; auf dem Mond und dem Mars fahren automatische »Rover« herum, und selbst auf einem Kometen sind wir schon gelandet.
Die in den 1970ern gestarteten Voyager-Sonden haben inzwischen das Heimatsystem verlassen und funken jetzt aus dem interstellaren Raum. Mit schöner Regelmäßigkeit treffen zudem Meldungen über neu identifizierte, extrasolare Planeten ein; mehr als 4000 Stück davon haben Observatorien – erdgestützte Teleskope und Weltraumsatelliten – bereits aufgespürt, in gut 3000 verschiedenen Sternsystemen, manche davon über 20.000 Lichtjahre weit weg.
Wie konnte sich da bis heute vor unserer Nase ein Objekt verstecken, das angeblich zehn Mal so schwer wie die Erde ist?
Hinsichtlich seiner Beschaffenheit scheinen der Fantasie der Astronomen und jener, die sich dafür halten, keine Grenzen gesetzt zu sein – die Bandbreite reicht von einer »Supererde« über einen Braunen Zwerg, ein Doppelsystem aus zwei einander eng umkreisenden Körpern, einen Ring aus abertausenden Einzelobjekten bis hin zu einem Schwarzen Loch im Hosentaschenformat.
Auch über den künftigen Namen wird seit geraumer Zeit leidenschaftlich diskutiert. Eine kalifornische Sportreporterin sammelte 818 Unterschriften für ihre Petition, den neuen Planeten Neun nach David Bowie1 zu benennen; angeblich konnte sogar einer der beiden »Entdecker« dieser Idee etwas abgewinnen.
Grund genug also, ein wenig Ordnung in das Durcheinander zu bringen. Dieses Buch soll in allgemein verständlicher Form einen Überblick über den Stand der Dinge geben und wilde Spekulationen von ernsthaften Theorien trennen – letztere sind bei weitem interessant genug. Keine Sorge: Auch wenn zu gegebener Zeit die wissenschaftlichen Daten im Detail angeführt werden, muss man kein Physiker sein, um die folgenden Seiten zu verstehen.
Bliebe allenfalls noch die Frage: Na schön, ein neuer Himmelskörper, aber wozu die Aufregung? Können wir vielleicht dorthin übersiedeln, wenn uns das Klima auf dem Stammplaneten nicht mehr behagt, oder wenn der in ca. 900 Millionen Jahren von der Sonne sowieso geröstet wird? Nein, wahrscheinlich nicht.
Und auch wenn der Begriff »Supererde« mit schöner Regelmäßigkeit herumgeistert – mit unserem Heimatplaneten dürfte er kaum sonderliche Ähnlichkeit aufweisen.
So gesehen könnte uns die Sache also mehr oder weniger egal sein.
Aber es ist eine spannende Vorstellung, dass noch zu unseren Lebzeiten ein neuer Planet in unserem Sonnensystem entdeckt wird. Wie schon Mike Brown, einer der beiden Studienautoren, einmal sagte: Die letzten Jahrzehnte waren in dieser Hinsicht recht langweilig.
Die gute Nachricht lautet: Ja, aller Wahrscheinlichkeit nach kreist tatsächlich ein weiterer, bislang unentdeckter Planet um unseren Heimatstern. Wir wissen noch nicht, wie er aussieht oder wo genau er im Moment ist, aber er muss ein ziemlicher Brocken sein; um vieles größer beziehungsweise massereicher als die Erde.
Und, so weit hergeholt das jetzt klingen mag: Sie – ja, genau Sie, der Sie dieses Buch gerade in Händen halten – könnten ihn entdecken. Ganz ohne eigenes Teleskop. (Aber bevor Sie gleich den Champagner kalt stellen: Lesen Sie den Rest der Geschichte.)
In diesem Sinne: Viel Vergnügen!
Der Autor
Wien, 22.4.2020
(P.S. zur Datengenauigkeit: Die Zahlenangaben im folgenden Text sind oft gerundet – dort, wo zu viele Ziffern der Anschaulichkeit nicht dienlich sind.)
Gemäß jener Zählung, die wir vor 2006 Geborenen noch in der Schule gelernt haben, müsste ein neuer Planet in unserem Sonnensystem der zehnte sein. Ein »X« könnte man so gesehen als die entsprechende römische Ziffer betrachten, als mathematische Variable oder einfach als gutaussehenden Platzhalter für etwas Unbekanntes.
Dass sich die Bezeichnung Planet Neun durchgesetzt hat, hängt unmittelbar mit einem der beiden Wissenschaftler zusammen, die ihn postulieren.
Der US-amerikanische Astronom Michael (Mike) E. Brown nämlich hat seinen umstrittenen Ruf als »Plutokiller« inzwischen zu einer Art Markenzeichen gemacht. Er twittert unter diesem Namen (mit @ davor), und im Jahr 2010 erschien sein Buch How I Killed Pluto and Why it Had it Coming.1
Was war passiert?
Um die Zusammenhänge zu verstehen, muss man ein wenig in der Geschichte zurückgehen. Am 18. Februar 1930 entdeckte Browns Landsmann Clyde Tombaugh – ein Bauernsohn aus Illinois, der sich Geometrie und Trigonometrie selbst beigebracht und ein eigenes Teleskop gebaut hatte – den neunten Planeten unseres Sonnensystems. Er arbeitete am Lowell-Observatorium in Arizona, dessen Namensgeber die Sternwarte anno 1894 gegründet hatte, um damit einen von ihm als »Planet X« bezeichneten Himmelskörper aufzuspüren, welcher seiner Ansicht nach irgendwo jenseits des Neptun kreiste, des damals äußersten bekannten Planeten.
So weit, so scheinbar kompliziert; es wird später noch davon die Rede sein.
Percival Lowell erlebte den Fund nicht mehr, er verstarb 1916. Doch die Erwartungen der Astronomen waren hochgesteckt. Der Unbekannte wäre womöglich größer als Jupiter2, hieß es.
Nun, man muss den Wissenschaftlern zugute halten, dass sie die Maße der äußeren Planeten nicht genau kannten. »Damals«, also vor gerade einmal neunzig Jahren; ein Wimpernschlag in der Geschichte der Himmelsbeobachtung. Jedenfalls wurde der neu Entdeckte mit Schlagzeilen gefeiert, die sich nicht sonderlich von den Sensationsmeldungen heutiger Zeit unterscheiden.
Bei aller Begeisterung fiel aber doch auf, dass Pluto – benannt nach dem römischen Gott der Unterwelt – durch ein Teleskop betrachtet reichlich mager aussah. (Tatsächlich ist er um ein Drittel kleiner als der Erdmond.) Aber man wollte sich die Freude nicht verderben lassen; eine der fantasievollsten Theorien lautete, er bestünde aus einem Urankern3, umhüllt von einem Ozean aus flüssigem Sauerstoff. Der würde das Licht beugen und ließe den Riesen daher optisch klein wirken.
Nichts davon stimmt, aber das störte die Allgemeinheit im Endeffekt kaum. Wer macht sich schon viele Gedanken über die Zusammensetzung oder die reale Größe eines Himmelskörpers, dessen Namen er auswendig lernen muss? Um eine annähernde Vorstellung von den Relationen zu bekommen, kann man sich die Erde als Marille4 vorstellen; Jupiter hätte dann die Dimensionen eines Kürbisses, und Pluto wäre eine Erbse.
Im Laufe der Jahrzehnte fand man immer mehr Unterschiede zu den altbekannten Planeten. So ist etwa der Orbit des Pluto um 17 Grad gekippt; alle anderen kreisen mit wesentlich geringeren Abweichungen entlang ein und derselben Ebene um die Sonne. Außerdem ist die Plutobahn deutlich langgezogener (elliptischer), und kreuzt jene des Neptun: Manchmal befindet sich der Außenseiter näher am Zentralstern als unser fernster Eisriese.
2003 fand der künftige Plutokiller Mike Brown ein Objekt mit ähnlicher Masse, das ebenfalls weit draußen auf einer exzentrischen Bahn unterwegs ist. Sedna5 konnte auch auf älteren Aufnahmen identifiziert werden, wodurch sich ihr Kurs ziemlich genau bestimmen ließ. Browns partner in crime, wie er ihn selbst gern nennt, ist seitdem der Russe Konstantin Batygin; sie arbeiten beide am Caltech6 und veröffentlichten später gemeinsam den Artikel, der Planet Neun auf die Agenden der internationalen Astronomengemeinschaft brachte.
2005 folgte die nächste Entdeckung in jener Region. Das Objekt schien größer als Pluto zu sein und wurde eine Zeit lang unter den Astronomen als »Planet Zehn« gehandelt; auch hier fanden sich ältere Fotos, die sogar bis in das Jahr 1954 zurückdatierten. Passenderweise benannte man den Fund nach Eris, der griechischen Göttin des Streits.
Im August 2006 ging dann der denkwürdige Auftritt Browns anlässlich der 26. Generalversammlung der Internationalen Astronomischen Union (IAU) in Prag über die Bühne. Dieses Konsortium tritt – in unterschiedlicher Zusammensetzung; derzeit sind über 13.700 Mitglieder aus 103 Nationen beteiligt – seit 1919 alljährlich zusammen und ist unter anderem für die Benennung von Himmelskörpern in den Schulbüchern zuständig.
Dass ein Wunsch nach Neudefinition auf der Tagesordnung stand, war insofern nichts Spektakuläres, als Astronomen regelmäßig ihre Meinung ändern, um mit der Entwicklung Schritt zu halten.
Nach der Entdeckung des Uranus 1781 durch Wilhelm Herschel hatten sich im folgenden 19. Jahrhundert die Funde gehäuft. Erst kamen Ceres, Pallas, Juno, Vesta und Astraea dazu (alle im Bereich zwischen Mars und Jupiter); dann spürte Johann Gottfried Galle auch noch den Neptun auf, und die Zahl der Planeten war auf 13 gestiegen. Schließlich sah man sich zum Aufräumen gezwungen. Nur der Neptun durfte als Achter bleiben.
Bezogen auf die jüngste Zeit war auch das Anliegen des Sedna-Entdeckers nicht neu. Schon 1998 hatte der britische Astronom Brian Marsden vorgeschlagen, Pluto eine Art Doppelstatus als Planet und Asteroid zu verleihen; es war schließlich damit zu rechnen, dass mit zunehmender Präzision der Teleskope immer mehr Objekte ähnlicher Größe gefunden würden, und dann könnte die Gesamtzahl unserer Planeten erneut aus dem Ruder laufen.
War der Brite noch gescheitert, hörte man dem US-Amerikaner nun aufmerksamer zu. Vielleicht lag es auch an seiner Eloquenz – in Internetvideos kann man sich von seinem Rednertalent überzeugen. Die versammelten Gelehrten einigten sich erstaunlich rasch darauf, eine neue Kategorie namens »Zwergplanet« (dwarf planet) einzuführen.
Nur, was sollte die Kleinwüchsigen genau von ihren Kollegen unterscheiden? Der Durchmesser allein schien kein ausreichendes Argument zu sein, schließlich ist auch die Masse im Spiel, und beides lässt sich bei den sogenannten transneptunischen Objekten oft sehr lange nicht genau feststellen. Form und Neigung der Bahn wiederum hätten schwierige Definitionen erfordert: Ab wann wäre eine Abweichung vom Durchschnitt als »zu groß« zu definieren?
Bisher war für einen Kandidaten – neben der grundsätzlichen Voraussetzung, dass er um die Sonne kreist – unter anderem das hydrostatische Gleichgewicht ausschlaggebend gewesen. Der Terminus bedeutet, dass das Objekt aufgrund seiner Masse Kugelform7 angenommen hat und nicht aussieht wie eine verwachsene Kartoffel (was bei Asteroiden und Kometen üblicherweise zutrifft).
Das spitzfindige Kriterium, welches man sich daher einfallen ließ, lautet: Er muss zusätzlich seine Bahn bereinigt haben, also alle anderen Objekte entlang seines Orbits entweder akkretiert (»geschluckt«) oder via Gravitation hinausgeworfen haben.
Damit war der Pluto aus dem Rennen, weil auf seiner Bahn noch jede Menge anderer Objekte unterwegs sind, und unser Sonnensystem war um einen Planeten ärmer. Die Eselsbrücke heißt seitdem »Mein Vater Erklärt Mir Jeden Sonntag Unseren Nachthimmel«.
Die Proteste ließen nicht lange auf sich warten.
Der Senat des US-Bundesstaates Illinois – der Heimat des Pluto-Entdeckers Tombaugh – erklärte hochoffiziell, den alten Neunten weiterhin als Planeten zu betrachten. Der NASA-Administrator Jim Bridenstine schloss sich dem ebenso an wie der renommierte Planetenwissenschaftler Alan Stern. Ersterem kann man aber zu Recht astronomische Ahnungslosigkeit und politisches Kalkül unterstellen, und Stern leitet die Mission New Horizons: Die teure Raumsonde war erst ein halbes Jahr zuvor Richtung Pluto gestartet.
Gegen die Entscheidung der IAU lässt sich dennoch manches einwenden. Was heißt »Bereinigung seiner Bahn« bei einem Himmelskörper, der, wie oben erwähnt, den Neptunorbit kreuzt – wer ist denn da wofür zuständig? Außerdem klingt diese Bedingung ziemlich unfair für ein Objekt, das so weit außen kreist: Die Bahn des Pluto ist vierzig Mal so lang wie jene der Erde, er braucht fast 250 Jahre für eine Tour. Und was ist mit den sogenannten Trojanern8? Außer Merkur und Saturn hat jeder Planet solche herumschwirrenden Begleiter, ohne dass deswegen sein Status in Frage gestellt würde.
Zu guter Letzt wird seitens der Pluto-Fans argumentiert, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung (gegen Ende der Tagung) viele Wissenschaftler bereits nach Hause gefahren waren und gar nicht mit abstimmen konnten.
Die Diskussion ist noch lange nicht beendet; zahlreiche Studien und Artikel setzen sich dafür ein, Pluto zu rehabilitieren. Es könnte also sein, dass unsere Professoren irgendwann wieder die alte Lehre verkünden.
Mike Brown wird es nicht schaden, sein Buch verkauft sich bestens. Und Alan Stern kann sich ebenfalls freuen: Im Juli 2015 erreichte New Horizons den Umstrittenen und sandte großartige Bilder. So stellte sich beispielsweise heraus, dass Pluto nicht nur einen Mond hat (das wusste man schon), sondern auch eine Atmosphäre. Sehr dünn zwar, aber die Fotos im Gegenlicht der aufgehenden Sonne sind ebenso eindrucksvoll wie jene von seiner Oberfläche.
»Der Planet mit Herz!«, hieß es prompt, als man eine so ähnlich geformte Ebene entdeckte, die sich hell vor dem braunen Hintergrund der restlichen Kruste abhebt. Von der anrührenden Assoziation abgesehen ist diese mächtige Geländeformation auch wissenschaftlich interessant, weil sie auf eine geologische Aktivität hindeutet, die man dem Pluto eigentlich nicht zugetraut hätte. Das Herz erhielt den Namen Tombaugh Regio.
Den alten Neunten haben wir also nur auf dem Papier verloren. Beim Thema möglicherweise verschollener Nachbarn stellt man fest, dass sich eine erstaunliche Anzahl davon herumtreibt – jedenfalls in der menschlichen Vorstellungskraft. Die »Gegenerde« ist zum Beispiel keine Erfindung der Science-Fiction, sondern wurde bereits im fünften vorchristlichen Jahrhundert von dem griechischen Philosophen Philolaos postuliert, einem Zeitgenossen des Sokrates.
Der Pythagoreer9 lebte am italienischen Stiefel und war – ganz im Sinne seines Lehrmeisters – um himmlische Harmonie bemüht. Er nahm an, dass alle beweglichen Objekte dort oben sowie die Erde um ein »Zentralfeuer« rotierten. Dabei dachte er keineswegs an die Sonne. Das Tagesgestirn, optisch nicht größer als sein nächtliches Gegenstück, war nur Mitspieler im Reigen jener konzentrischen Sphären, welche Erde, Mond, Sonne, Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn sowie ganz außen die Fixsterne auf ihren unsichtbaren Schalen kreisen ließen.
Nun dachte man sich die wandernden Erscheinungen am Firmament sämtlich als ätherische Objekte, luftig und leicht. Unsere massive Erde passte offenkundig nicht in diese Kategorie. Die ganze Anordnung wäre – so Philolaos’ Schlussfolgerung – unwuchtig, wenn nicht ein ebenso schweres Pendant genau gegenüber die Balance hielte. Die Lösung lag schon deshalb auf der Hand, weil erst Zehn eine »perfekte« Zahl ist. So war Antichthon erfunden, von antí = gegen und chthón = Erde. Dass man dieses Objekt genauso wenig sehen konnte wie das Zentralfeuer, lag ganz einfach daran, dass die Erde flach war; ihre Scheibe verbarg die beiden vor unseren Blicken.
Aristoteles hielt übrigens gar nichts von der Theorie. Weil er meinte, die Erde stünde im Mittelpunkt.
Heutige SF-Autoren gehen im Allgemeinen davon aus, dass sich die Planeten um die Sonne drehen, auch wenn sie mit der Physik ansonsten viel Schindluder treiben. In diesem Genre hat man die Gegenerde längst als verlockende Bühne entdeckt. Sie verschanzt sich nun auf der genau gegenüberliegenden Seite der Sonne: Eine perfekte Szenerie, die man mit allerlei Zivilisationen besiedeln kann; vorzugsweise solchen, in denen schwertschwingende Damen zu Felde ziehen, deren Rüstung hauptsächlich aus einem Metallbikini besteht.
Tatsächlich gibt es hinter unserem Zentralstern einen Ort, an welchem sich ein Zwilling der Erde halten könnte: den Lagrange-Punkt L3.
Der 1736 in Turin als Giuseppe Lodovico Lagrangia geborene Mathematiker – er französisierte seinen Namen später zu Joseph-Louis Lagrange – hatte errechnet, dass es bei zwei einander im freien Raum umkreisenden Körpern stets fünf Punkte gibt, an welchen die jeweiligen Gravitationskräfte einander aufheben. Wer oder was immer sich dort aufhält, schwebt in einem labilen Gleichgewicht; die beiden anderen Massen sind exakt so weit entfernt, dass sich ihre Anziehung ausgleicht. Beim demnächst an den Start gehenden James-Webb-Weltraumteleskop (engl. Abkürzung JWST) macht man sich das zunutze, um es treibstoffsparend an Ort und Stelle zu halten.10
Es wäre also theoretisch möglich, dass seit Jahrmilliarden ein Planet auf der Erdumlaufbahn mit uns Verstecken spielt. Allerdings hätte er sich spätestens beim Absetzen der Raumsonden Richtung Mars oder Venus bemerkbar gemacht – die wären dann nie an ihr Ziel gelangt, weil er ihren penibel austarierten Kurs gestört hätte. »Gor«11 und Konsorten bleiben somit dem Fabelland vorbehalten.
Abhandengekommene Welten erfreuen sich trotzdem nachhaltigen Interesses. Anno 1766, als man sich sogar im christlichen Abendland allmählich an das heliozentrische Weltbild gewöhnt hatte, erstellte der deutsche Gelehrte Johann Titius die heute als Titius-Bode-Reihe12 bekannte Formel für die Bahnabstandsverhältnisse der Planeten.
Er fand heraus, dass die Rechnung erst dann richtig aufging, wenn man zwischen Mars und Jupiter noch ein Objekt einschob. Da es weit und breit nicht zu sehen war, musste es wohl zerstört worden sein, weshalb man ihm später den Namen Phaeton gab – nach dem Heliossohn13, der den Wagen seines Vaters lenken wollte und einen letalen Unfall baute.14
So ganz falsch lag Titius gar nicht. Die im Jahre 1800 beim zweiten europäischen Astronomenkongress gegründete »Himmelspolizey«, bestehend aus Vertretern diverser Sternwarten, machte sich auf die Suche – und fand prompt Ceres, die erste Vertreterin des damals noch unbekannten Asteroidengürtels zwischen Mars und Jupiter. Der Ring besteht zwar, wie man inzwischen sagen kann, nicht aus den Trümmern eines einzelnen Planeten, aber immerhin.
Zweihundert Jahre darauf meinte der englische Astronom John Murray, dass sich die merkwürdigen Kurse einiger langperiodischer15 Kometen am ehesten mit der Anwesenheit eines Planeten erklären ließen, der ein halbes Lichtjahr entfernt seine Bahn zog und sechs Millionen Jahre für einen Umlauf brauchte. Murrays amerikanischer Kollege John Matese war zur gleichen Zeit auf eine ähnliche Idee gekommen. Der unbekannte Himmelskörper bekam den Namen Tyche; nach der antiken Schicksalsgöttin, und um sich von der Nemesis-Hypothese16 zu distanzieren.
Die Tyche-Theorie ist noch nicht völlig vom Tisch. Eigentlich hätte ihn das WISE-Teleskop17 finden müssen, da war aber nichts. Bei der postulierten Entfernung wären theoretisch noch Überraschungen möglich.
Der Planet Theia18 wiederum bewegt sich, wie es aussieht, auf der gleichen Bahn wie die Erde um die Sonne. Sogar ziemlich exakt. Wo er ist? Wenn die Annahmen der Wissenschaftler stimmen, gehen wir darauf spazieren. Teilweise. Und gleichzeitig darunter.
Die Geschichte geht so: Von allen Planeten im Sonnensystem hat unser Globus den größten Mond – relativ betrachtet, also im Verhältnis zur Eigenmasse. Nur der Plutotrabant Charon sticht ihn aus, aber der Planet-mit-Herz gilt ja nicht mehr. Nach allem, was man über die Entstehungsgeschichte von Welten und ihren Monden weiß, fällt unser Nachtgestirn ziemlich aus dem Rahmen.
Es fängt schon damit an, dass die anderen Gesteinsplaneten entweder überhaupt keine Trabanten haben (Merkur, Venus), oder kleinwüchsige »Kartoffeln« (Mars). Der Jupitermond Ganymed wiederum ist zwar mit gut 5000 Kilometern Durchmesser der größte im ganzen System, bringt es in Relation zu seinem Herrn aber nur auf ein Verhältnis von 1:26. Mit 1:18 liegt der Zweitplatzierte, der Neptunmond Triton, da klar vorn. Unsere Selene19 ist mit ihren 3500 Kilometern aber um gut ein Viertel größer als die Erde (Verhältnis 1:3,7).
Das wäre in der Frühzeit des Systems, vor rund vier Milliarden Jahren, ein stattlicher Protoplanet20 gewesen; höchst unwahrscheinlich, dass sich die beiden friedlich nebeneinander formierten. Man geht daher davon aus, dass sich damals auf der gleichen Orbitspur eine zweite Welt gebildet hatte – und es kam, wie es kommen musste: Theia krachte irgendwann frontal mit dem Vorläufer unseres heutigen Heimatplaneten zusammen. Um ein Haar hätten sie einander in Einzelteile zerlegt. Die Aufprallgeschwindigkeit war gerade noch niedrig genug, um die Kontrahenten stattdessen miteinander »verschmelzen« zu lassen. Der im Englischen für derlei Vorgänge gebräuchliche Begriff merge untertreibt hier ein bisschen. Die Trümmer flogen nur so in alle Richtungen.
Aber sie verblieben größtenteils im Gravitationsfeld des neuen Kombinationsplaneten, fanden im Laufe der Zeit zueinander und formten schließlich den Mond. Die Erde und ihr seltsam überdimensionierter Begleiter bestehen daher weitgehend aus den gleichen Materialien, wie die Untersuchung von Mondgestein bestätigte.
Theia hätten wir also. Anders sieht es mit Amphitrite aus – einem weiteren als Nummer Neun gehandelten Objekt.
Es war unter anderem Neptuns Triton, der die Astronomen Steve Desch und Simon Porter von der Arizona State University 2010 umtrieb. Dieser Trabant ist nämlich nicht nur der relativ größte Gasplanetenmond; er fällt auch wegen diverser Eigenwilligkeiten auf. So beschreibt er etwa eine retrograde Bahn, das heißt, er kreist in die Gegenrichtung – relativ zu der sonst bei uns üblichen Orientierung, die sich aus der Drehbewegung des Systems ergeben hat, und der fast alle anderen größeren Objekte brav folgen.
Außerdem ist er ungewöhnlich dicht dran am Neptun, und die Bahn liegt ziemlich schief. All das deutet entschieden darauf hin, dass er dort nicht zur Familie gehört, sondern irgendwann unfreiwillig adoptiert wurde. Wahrscheinlich kam er aus dem Kuipergürtel.21 So ganz allein hätte er aber schon einen recht speziellen Kurs halten müssen, um sich derart bei dem Eisriesen einzufädeln, meinten Desch/Porter und sahen sich jene Frühzeit an, als Neptun und Uranus noch spazieren gingen (»Planetenmigration«, mehr dazu im nächsten Kapitel).
Sie entwickelten die Hypothese, dass Triton ursprünglich Teil eines kleinen Doppelsystems war. Keine weit hergeholte Vorstellung; selbst Asteroiden können Monde haben. Wäre Triton allein unterwegs gewesen, hätte ihm seine Masse so viel Bewegungsenergie verliehen (vulgo »Schwung«), dass ihn schon zum genau passenden Zeitpunkt ein anderer Himmelskörper hätte treffen – also umdirigieren – müssen, damit er sich vom Gravitationsfeld des Neptun einfangen ließ.
Das Alternativszenario der Forscher passte besser zu den Computermodellen, obwohl es in der Beschreibung komplizierter klingt. Uranus und Neptun waren also auf Wanderschaft und eben dabei, ihre Plätze zu tauschen, als Amphitrite22 zügig des Weges kam: doppelt so schwer wie die Erde, und in Begleitung eines Trabanten. Viel Anziehungskraft auf wenig Raum … Laut griechischer Mythologie vermählte sich die schöne Okeanide mit Poseidon, auf Römisch: Neptun. Laut prosaischerer Berechnungen kollidierte der hypothetische Planet mit einem der beiden Eisriesen, und der nun verlassene Mond trudelte Hals über Kopf in jenen Orbit, wo er heute noch zu finden ist.
Über die Reihenfolge wird noch diskutiert. Falls Amphitrite direkt in den Neptun krachte, ist alles klar. Andererseits könnte sie dessen Attraktivität gerade noch ausgewichen sein; in diesem Fall musste sie Triton zurücklassen – nur, um kurz darauf im Uranus zu enden.
Eine unnötig mühsame Idee? Nicht, wenn man nach einer Erklärung dafür sucht, weshalb Uranus als einziger der heimischen Planeten völlig aus dem Lot geraten ist. Seine Rotationsachse ist nämlich um 98 Grad gekippt, er wälzt sich auf seiner Sonnenumlaufbahn quasi seitlich dahin; er rollt sogar »verkehrtherum«, weil der ursprüngliche Nordpol nun 8 Grad südlich der Ekliptik23 liegt. Irgendetwas muss ihm einen gewaltigen Schlag verpasst haben. Ein Himmelskörper mit doppelter Erdmasse wäre da wohl Hauptverdächtiger.
Bliebe zu guter Letzt noch Planet V zu erwähnen, wobei mit dem Zusatz hier definitiv kein Buchstabe, sondern die römische Ziffer gemeint ist.
Fünf? Nach üblicher Zählung wäre das der Jupiter. Gemeint ist aber ein fünfter Gesteinsplanet, der in der Frühzeit des Sonnensystems zwischen Mars und Asteroidengürtel seine Runden drehte. Er wurde 2002 von den NASA-Wissenschaftlern John Chambers und Jack Lissauer vorgestellt. Sie hatten verschiedenste Computersimulationen durchlaufen lassen, um anhand von Vorgängen im jungen System dessen heutiges Erscheinungsbild zu erklären.
In ihrem Fall ergab die Hinzufügung eines kleinen Objekts – ein Viertel Marsmasse, halb so schwer wie Merkur – einen Sinn. Nach ein paar hundert Millionen Jahren kam dieser Planet V dann vom Kurs ab und stürzte entweder in die Sonne oder verabschiedete sich aus ihrem Gravitationsfeld, um als »Rogue Planet«24 fürderhin seine eigenen Wege zu gehen.
Als Kandidat für Planet Neun kommt er leider nicht in Frage; er wäre sozusagen gewogen und für zu klein befunden25, um die von Batygin/Brown untersuchten Merkwürdigkeiten jenseits der Neptunbahn zu verursachen.
Der dafür benötigte Himmelskörper muss nach Ansicht der Studienautoren mindestens doppelt so groß und fünf Mal so schwer wie die Erde sein. Auf seiner stark gestreckten Umlaufbahn26 soll er sich selbst am sonnennächsten Punkt noch in über zehn Milliarden Kilometer Entfernung befinden. Vor allem aber ist er lange unterwegs: Für eine Umrundung des Zentralsterns nimmt er sich zehn- bis zwanzigtausend Jahre Zeit.
Das würde auch ganz gut zu der Tatsache passen, dass er der Aufmerksamkeit von Himmelsbeobachtern bislang anscheinend entgangen ist.
Pluto ist derzeit keiner, die vermutete neue Nummer Neun dagegen schon. Spätestens jetzt stellt sich die Frage, was denn ein solcherart betitelter Himmelskörper im kosmologischen Sinne überhaupt sein soll.
Galaxie – Sonne – Planet – Mond: Soweit vermag man den Größenordnungen noch zu folgen. Und alles, was kleiner ist, heißt dann Asteroid oder Komet. Die astrophysikalische Nomenklatur ist jedoch weitaus differenzierter und umfasst alles Mögliche, von dem wir irgendwann auch schon einmal gehört haben: Meteoriten und Pulsare, Braune Zwerge und Schwarze Löcher … Zeit, ein wenig Ordnung zu schaffen.
Vorab vielleicht der Hinweis: Die Natur trifft keine Einteilungen; Einteilungen trifft nur der Mensch.
Weil er die ihn umgebende Welt in Begriffe fassen möchte, um sie zu verstehen. Zum Beispiel seine Herkunft, was in maximalem Rahmen die Herkunft des Universums mit einschließt. Diesbezüglich scheint die Sache geklärt zu sein: Vor 13,8 Milliarden Jahren ereignete sich der Urknall, und seitdem haben wir unser Weltall.
Dummerweise gibt es schon hier das erste Problem: Wie »alles« plötzlich aus einem unendlich kleinen Punkt (einer sogenannten Singularität) entstand, können Wissenschaftler zwar beschreiben, aber nicht schlüssig erklären – in den »ersten Sekunden« des Weltraums sind nämlich die meisten ihrer elaborierten Gesetze ungültig. Oder, wie es ein Spötter ausdrückte: »Genehmigt uns ein Wunder, und wir erklären den Rest.«1
Der Grund ist einfach. Wir können in Bezug auf die Vergangenheit nur aus dem, was wir sehen, Rückschlüsse ziehen. Die beobachtbaren Objekte des Universums bewegen sich auf eine Art und Weise, die nahelegt, dass alles einst von einem »Punkt« ausging. Nehmen wir den mysteriösen Urknall also als gegeben an – eine bessere Theorie haben wir derzeit nicht.
Das All bläht sich daraufhin mit zigfacher Überlichtgeschwindigkeit auf. Das darf es, weil die Beschränkung (für ausnahmslos jede Bewegung, jedes Signal) auf 299.792.458 Meter pro Sekunde2 nur innerhalb gilt. 380.000 Jahre lang wabert jetzt ein schwer definierbares Gemisch herum; es entstehen die ersten Gebilde, die wir als Teilchen bezeichnen. Warum die »Suppe« nicht homogen blieb oder sich wenigstens symmetrisch – Stichwort Teilchen/Antiteilchen – verteilte, ist Gegenstand anhaltender Forschung. Sicher scheint nur, dass sie zum oben genannten Zeitpunkt ca. 3000 Grad heiß war.
Die Abkühlung seit der anfänglichen Urexplosion verlief parallel zur anhaltenden Ausdehnung, die Temperatur verteilte sich sozusagen. Nun hatte sich die Energie ausreichend zu Masse verklumpt, um den Photonen freie Bahn zu geben: Es ward Licht, wie es so schön heißt. Tatsächlich war das Universum bis dahin in unserem Sinne stockfinster gewesen.
Jener Moment ist insofern maßgeblich, als das »erste Licht« wesentliche Informationen über den damaligen Zustand liefert. Es ist heute noch messbar. Man bezeichnet es als den kosmischen Mikrowellenhintergrund (Cosmic Microwave Background, CMB). Er wurde 1964 zufällig entdeckt, als zwei US-amerikanische Forscher eine Art gigantisches Hörrohr bauten, das als Antenne für Satellitensignale dienen sollte. Das störende Hintergrundbrummen brachte Arno Penzias und Robert Wilson vierzehn Jahre später den Nobelpreis ein.
Apropos Zustand: Die erwähnte Verklumpung ist die Basis all dessen, was wir heute im Weltall als Himmelskörper kennen.
Deren Entstehung scheint nicht auf der Hand zu liegen. In einschlägigen Artikeln ist immer von »Gas und Staub« die Rede, die ziellos im Raum herumfliegen. Warum sollten daraus Sterne und Planeten entstehen?
Physiker bemühen zur Erklärung Begriffe wie Akkretion3 und Verklebung, Gravitation und Zusammenballung, Koagulation4 und Oberflächenhaftung. Um sich die Sache etwas leichter vorstellen zu können: Wohl jeder hat schon einmal Staubteilchen in der Luft tanzen sehen, wenn das Licht im richtigen Winkel beim Fenster hereinfiel. Irgendwie schaffen es diese scheinbar schwerelosen Winzlinge trotzdem, sich binnen weniger Wochen unter dem Bett als »Mäuse« oder »Lurch« zu manifestieren.
Man muss, so prosaisch es klingt, nur die Dimensionen entsprechend verschieben – Jahrmilliarden statt Wochen, Weltraum statt Schlafzimmer – um bei Sonnen und Galaxien zu landen. (Wie gesagt, als Gleichnis; eine Physikprüfung an der Universität wird man damit nicht bestehen.)
Vorläufig gab es aber nur Gas. Das erste Atom, das entstand, war der Wasserstoff: Die einfachste mögliche Verbindung, bestehend aus einem Proton und einem Elektron. Dann kam Helium, mit je zwei Protonen, Neutronen und Elektronen.
Um hier keinen Ausflug in die schier unendlichen Weiten des Teilchenzoos zu machen, den vor allem theoretische Physiker allenthalben um Exoten erweitern, die noch nie jemand gesehen hat, nur so viel: Protonen und Neutronen sind die massetragenden Partikel5, und die Elektronen schwirren als Hülle rundherum. Das funktioniert unter anderem deswegen, weil Protonen elektrisch positiv und Elektronen negativ geladen sind; Neutronen verhalten sich, wie die Bezeichnung nahelegt, diesbezüglich unparteiisch.
Anhand des CMB lässt sich ablesen, wie die Materie 380.000 Jahre nach dem Urknall im Universum verteilt war. Zuletzt hat das Planck-Weltraumteleskop6 eine detaillierte Karte davon angefertigt. Im Abgleich mit den heutigen Sternkonstellationen kann man sehr schön sehen, wo die Regionen der ersten großen Zusammenballungen schon angelegt waren.
Nun kam, von der Ausdehnung des Gesamtraumes ganz abgesehen, intern Bewegung in die Sache, denn Massen – wie klein sie auch immer sein mögen – ziehen einander an. Es vergingen hundert Millionen Jahre. Noch immer war von Staub weit und breit nichts zu sehen. Doch in dieser Zeit hatten sich Wasserstoff und Helium an vielen Stellen derart zahlreich versammelt, dass etwas völlig Neues passierte.
Der enorm angestiegene gravitative Druck führte dort dazu, dass die Kerne der innersten Atome aneinandergepresst wurden, so sehr die jeweiligen Protonen sich auch dagegen wehrten – elektrisch gleiche Ladungen stoßen einander bekanntlich ab. Das Energieniveau überschritt auch in Form von Wärme einen kritischen Punkt.
Umgangssprachlich gesagt: Und dann knallte es. Wissenschaftlich bezeichnet man diesen Prozess als exotherme Fusionsreaktion. Er sorgt bis heute unter anderem dafür, dass für uns am Firmament die Sterne funkeln.
Dass wir überhaupt existieren, liegt an einer Folge dieser Kernverschmelzung: Es entstanden reihenweise völlig neue Elemente. Sie bevölkern derzeit unser Periodensystem. Ohne sie gäbe es keinen Staub, keine zu nummerierenden Planeten und keine Lebewesen. Etwas fehlte aber noch für diese Entwicklung, nämlich die Verteilung der frischgebackenen Zutaten im Weltraum.
Nachdem die Kernfusion im Inneren gezündet hat, ist es eine Frage der ursprünglichen Gesamtmasse, welcher Zukunft ein Stern entgegensieht. Im Falle der ersten großen Sonnen war sie – kosmologisch gesehen – relativ kurz. Sie verbrannten ihren »Treibstoff« binnen weniger Jahrmillionen. Im Zentrum hatten sich immer schwerere Elemente angesammelt, die Reaktionen verlagerten sich nach außen, und irgendwann wurde der Druck im Inneren zu schwach, um der Gravitation der restlichen Masse standzuhalten.
Was dann folgt, kennen wir als Supernovaexplosion. Die äußeren Schichten stürzen einwärts, wobei ihre Stoßrichtung eine Druckwelle auslöst, die den Stern in seine Bestandteile zerreißt. Manche Bruchstücke erreichen dabei teilweise Lichtgeschwindigkeit … und so verteilten sich die Grundbausteine unserer Chemie im Universum.
Vorgänge dieser Art ereignen sich bis heute – »pausenlos«, kann man sagen, wenn man sich auf unseren Zeitbegriff und das gesamte Weltall bezieht. Die Finger des Autors an der Tastatur und die Augen des Lesers, sie alle bestehen aus Elementen, die einst im Herzen eines Sterns geboren wurden.
Nun gab es also auch Staub. Wie ging die Geschichte weiter? Nehmen wir als Beispiel etwas Naheliegendes: unser Sonnensystem. Vor fünf Milliarden Jahren war hier die Zusammenballung einer Molekülwolke schon recht fortgeschritten. Der wesentliche Punkt dabei ist, dass die langsam – anfänglich sehr langsam – zu einander strömenden, winzigen Komponenten nicht einfach geradlinig Richtung Zentrum wandern. Irgendwo gibt es immer eine kleine Unwucht, völlig gleichmäßig sind die Partikel nie verteilt.
Die Folge davon kennt jeder, der schon einmal dem Wasser in der Badewanne beim Abfließen zugeschaut hat: Es bildet sich ein Strudel. So komplex das Ergebnis ausfallen mag, die zugrundeliegenden Kraftvektoren, wie sie etwa in der Strömungsmechanik beschrieben werden, finden sich schon bei Newton; auch zur Erklärung eines Kreisels braucht man im Grunde nur das Verhalten von Masse und ihrer Trägheit.
Da ein kosmischer Abfluss buchstäblich frei im Raum schwebt, also in drei Raumdimensionen agieren kann, entsteht nicht nur eine Drehbewegung, sondern sie orientiert sich auch entlang einer Achse, und zwar im 90-Grad-Winkel dazu. Die Materie konzentriert sich allmählich in einer Scheibe. Wir kennen ihre Lage hier als Ekliptik.
Das ist der Grund, warum die (derzeit anerkannten) Planeten mit geringen Abweichungen alle auf einer Ebene unterwegs sind. Und es ist eine der Erklärungen dafür, dass wir Planet Neun noch nicht zu Gesicht bekommen haben – seine Bahn liegt schief.
Zurück zum lokalen Versuchslabor, 400 Millionen Jahre später. Druck und Temperatur im Zentrum haben den kritischen Wert überschritten, der Stern zündet. Schon zuvor hatte der Protostern7