JAMES STAVRIDIS
ZEHN HELDENREISEN AUF DEM WEG ZU WAHREM CHARAKTER
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1. Auflage 2020
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SAILING TRUE NORTH
Copyright © James Stavridis, 2019
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Die englische Originalausgabe erschien 2019 bei Penguin Press unter dem Titel Sailing true North.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Almuth Braun
Redaktion: Karla Seedorf
Korrektorat: Anja Hilgarth
Umschlaggestaltung: in Anlehnung an das Cover der Originalausgabe Pamela Machleidt, München Umschlagabbildung: Design: Evan@EvanGaffneyDesign.com; Background/Map: Bridgeman Images: BL66817; Compass: Getty 172656415; Ship: wiki commons/File:K-9451.jpg
Abbildungen: S. 20: Ernst Wallis et al., Illustrerad Verldshistoria vol. I (Stockholm, Central Tyckeriet: 1875), Tafel 116 (Wikimedia); Seite 42: Statue von Zheng He im Quanzhou Overseas Relations Museum, Foto von jonjanego (Flickr); S. 64: Porträt von Sir Francis Drake (ca. 1540–1596) (Bonhams); S. 84: Lemuel Francis Abbott, Porträt von Rear Admiral Sir Horatio Nelson, 1799 (Wikimedia); S. 102, 122, 144, 166, 188, 216: US Navy, Naval History und Heritage Command; S. 243: US Navy; S. 249: Department of Defense, Foto von Claudette Roulo
Satz: Bernadette Grohmann, Röser MEDIA GmbH
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
eBook: ePubMATIC.com
ISBN Print 978-3-95972-322-0
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-596-5
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-597-2
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Auch von Admiral James Stavridis, USN (a. D.)
Sea Power
The Accidental Admiral
Partnership for the Americas
Destroyer Captain
Bücher in Co-Autorenschaft
Command at Sea
The Leader’s Bookshelf
Watch Officer’s Guide
Division Officer’s Guide
Für die Mitglieder des US-Marinekorps
Colonel George und Shirley Stavridis,
meine Eltern,
die meinen Charakter formten,
lange bevor ich zur See fuhr.
Vorwort
KAPITEL I
Die Kunst der Überzeugung
Themistokles
KAPITEL II
Der Marine kommandeur aus dem Reich der Mitte
Zheng He
KAPITEL III
Pirat und Patriot
Sir Francis Drake
KAPITEL IV
Brüder im Geiste
Vizeadmiral Lord Viscount Horatio Nelson
KAPITEL V
Der Einflussreiche
Konteradmiral Alfred Thayer Mahan
KAPITEL VI
Rum, Sodomie und die Knute
Admiral Lord John Arbuthnot Fisher
KAPITEL VII
Der Admiral der Admirale
Flottenadmiral Chester W. Nimitz
KAPITEL VIII
Der Meister des Zorns
Admiral Hyman Rickover
KAPITEL IX
Der Reformer
Admiral Elmo R. »Bud« Zumwalt Jr.
KAPITEL X
Nicht zu nah ans Wasser gehen!
Flottillenadmiralin Grace Hopper
KAPITEL XI
Resilienz und Admirale aus der heutigen Zeit
Schlussfolgerungen
Danksagung
Ausgewählte Bibliografie und Lektüreempfehlungen
Über den Autor
Als ich das Buch mit dem Titel Sea Power: The History and Geopolitics of the World’s Oceans schrieb, hoffte ich, die weite Welt der Ozeane aus der Perspektive eines Seemanns zu beschreiben. Bei meiner Betrachtung aller Weltmeere versuchte ich, drei Dinge miteinander zu verbinden: die faszinierende Geschichte der verschiedenen maritimen Regionen, ihre gegenwärtigen geopolitischen Herausforderungen – lokale und globale – und meine eigene vierzigjährige Erfahrung in der Seefahrt. Diese drei Aspekte sollten sich zu einem kohärenten Argument für die Bedeutung der Ozeane verbinden. Es war ein Buch über eine lange, komplizierte, aber letztlich äußerst lohnende Reise über die Ozeane dieser Welt. Auf die Frage, wie lange ich gebraucht habe, um Sea Power zu schreiben, antwortete ich stets wahrheitsgetreu »ungefähr 40 Jahre«. Dieses Buch war die Krönung meiner beruflichen Karriere, die ich zum großen Teil auf See verbracht habe.
In dem vorliegenden Buch, Segeln gen Nord, habe ich den Blick weg vom physikalischen Universum der Ozeane gelenkt und mich auf die biografischen, persönlichen, verhaltensbezogenen und psychologischen Eigenschaften von zehn Admiralen konzentriert, deren Karrieren sich über 2500 Jahre Geschichte erstrecken. Indem ich die von der Seefahrt geprägten Biografien dieser Gruppe historisch bedeutsamer, aber sehr unterschiedlicher Führungspersönlichkeiten der US Navy als eine Art Leinwand verwende, hoffe ich, dem Leser die wichtigsten Charaktereigenschaften dieser Persönlichkeiten zu verdeutlichen und zu zeigen, welchen Beitrag sie zu einer effektiven Führung geleistet haben. Außerdem argumentiere ich, dass jeder mit diesen Informationen seinen eigenen Weg vorzeichnen und beschreiten kann, um das Beste aus sich zu machen. Ein Leben auf See ist ein anspruchsvolles Unterfangen, das neben vielen anderen Qualitäten innere Stärke, Energie, Voraussicht und Intelligenz erfordert. Dabei ist die physische Reise wesentlich leichter als die innere Reise, die wir alle tagtäglich antreten. Die Entwicklung des Charakters ist bei dieser Reise der wichtigste Aspekt überhaupt.
Was mich weiterhin motiviert, ist das wachsende Gefühl, dass wir in diesen postmodernen Zeiten Zeuge eines schleichenden Charakterverlustes werden, getrieben von einer globalen Populärkultur, die sich zunehmend von klassischen Tugenden entfernt – Ehrlichkeit, Selbstverpflichtung, Belastbarkeit, Rechtschaffenheit, Mäßigung – und auf eine Welt zustrebt, die sich in atemberaubender Geschwindigkeit bewegt, ohne auch nur einen Moment innezuhalten und zu überlegen, was richtig und gerecht ist. Die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen hat sich dramatisch verringert. Nehmen wir zum Beispiel das Lesen: Einst waren wir bereit, ein mehrbändiges Werk zu lesen. Heute sind viele (zahlreichen Berichten zufolge auch der US-Präsident) nicht einmal mehr bereit, ein einziges dickes Buch zu lesen. Einige Leser vermeiden lange Zeitschriftenartikel und verlangen nach immer kürzeren Beiträgen in immer dünneren Zeitschriften. Im Internet wächst die Ungeduld über lange Blogposts, und unsere gegenwärtige Situation sieht folgendermaßen aus: eine Twitter-Welt, in der viele Beobachter vor Kurzem angaben, sie bedauerten die Heraufsetzung der Tweets-Länge von 140 auf 280 Zeichen, da es »zu lange dauert, lange Tweets zu lesen«. Eine hervorstechende Eigenschaft der zehn Admirale, die in diesem Buch porträtiert werden, ist, dass sie besonnene, intellektuell solide Menschen waren. Vielleicht haben die langen Aufenthalte auf See, die sie alle absolviert haben, etwas damit zu tun. Natürlich haben sie ganz unterschiedliche Eigenschaften gehabt, und einige waren besser und bewundernswerter als andere. Ich habe sie ausgewählt, um den Reichtum und die Vielseitigkeit des menschlichen Charakters anhand unterschiedlicher Persönlichkeitstypen in ganz unterschiedlichen Zeitaltern darzustellen. Vor allem lernen wir von diesen Admiralen, dass ein maßgeblicher Teil der Charakterbildung darin besteht, sich ausreichend Zeit zum Nachdenken und zur Introspektion zu nehmen. In unserer heutigen hektischen Welt sollten wir von ihrem kollektiven Beispiel lernen.
Zur kulturellen Anforderung an kurzfristiges, kontraintuitives und wertneutrales »Denken« kommt heute die vollkommene Transparenz. Wie ich im Verlauf dieses Buches wiederholt erwähnen werde, ist Charakter das, was man macht, wenn man sich unbeobachtet glaubt. In der heutigen Welt wird man immer von irgendjemandem beobachtet. Wir haben die Fähigkeit verloren, unseren Charakter im Privaten zu pflegen, und scheinen unser Leben von Geburt an auf einem Präsentierteller zu verbringen. Unsere ausgeprägte Selbstbesessenheit spiegelt sich in dem Bedürfnis wider, unser Image in den endlosen sozialen Netzwerken ständig aufzupolieren – ein Phänomen, mit dem keiner der zehn Admirale konfrontiert war –, und diese Eigenschaft hat uns ärmer gemacht. Wir breiten jedes Details unseres Daseins öffentlich aus, aber denken nicht darüber nach, worin der Sinn unseres individuellen Lebenswegs eigentlich besteht. Ist es eine wichtige Reise? Ist das Ziel der Reise wichtig? Wenn wir spätnachts über unser Leben nachdenken, können wir ehrlich sagen, dass der Pfad, den wir eingeschlagen haben, wichtig ist? Oder treiben wir wie Strandgut in einem Ozean der Gleichgültigkeit? Die Antwort auf diese Fragen ist unauflöslich mit dem Kern unseres Charakters verbunden.
Und schließlich haben wir einen Großteil unserer Fähigkeit eingebüßt, zu lernen und Geschichten zu erzählen, um unsere intellektuellen Bestrebungen voranzubringen. In vielfacher Hinsicht ist die Geschichte unseres Lebens wenig mehr als eine Sammlung an Geschichten, die wir gehört und uns eingeprägt haben und aus denen wir dann unsere eigene Lebensgeschichte zimmern. Die meisten wollen Teil einer Gesellschaft sein, die verlässlich, vorhersagbar und stabil ist. Allerdings entfernt sich das turbulente 21. Jahrhundert unserer eng vernetzten Welt immer weiter von dieser Wunschvorstellung – das gilt für unser Heimatland genauso wie für das internationale Umfeld. Die Geschichten, die wir hören, wirken chaotisch, unzusammenhängend und inhaltlich wertlos: Kinder, die in Schießereien an Schulen andere Kinder töten, endlose Kriege im Nahen Osten, biologische »Fortschritte«, die eine gottähnliche Macht prophezeien, bar jeder humanistischen, ethischen Perspektive; Führungspersonal, das routinemäßig lügt, betrügt und stiehlt, und Wutbürger, die Alexis de Tocquevilles trübselige Vorhersage aus dem 19. Jahrhundert erfüllen, die Tragödie der Demokratie werde darin bestehen, dass wir am Ende die Regierung wählen, die wir verdienen. Der innere Monolog ist wichtig; wir müssen lernen, uns selbst, unseren Mitmenschen und vor allem unseren Kindern Geschichten zu erzählen, die zu einer besseren Welt inspirieren.
In dieser Hinsicht wollte ich mit diesem Buch andere Geschichten erzählen als die, die wir in immer neuen Wiederholungen in den Nachrichten sehen. Ich glaube, dass man von Menschen, die vor uns durch das Leben navigiert sind, viel über Charakter und die Kernwerte dieser Männer und Frauen lernen kann. Weil ich selbst zur See gefahren bin, habe ich zehn illustre, interessante und äußerst unterschiedliche Führungspersönlichkeiten aus der Seefahrt porträtiert. Jeder von ihnen bekleidete über mehrere Jahrzehnte und in unterschiedlichen Jahrhunderten und Gegenden eine hohe Führungsposition. Ihre Geschichten unterscheiden sich voneinander und ihre Charaktere wurden in höchst unterschiedlichen Umständen geformt. Die Lektionen, die sich daraus ziehen lassen, sowohl was ihren Führungsstil betrifft, aber vor allem auch was ihren Charakter angeht, sind daher entsprechend vielfältig. Und nicht alle sind uneingeschränkt heldenhaft. Ich möchte ihre Geschichten vorstellen, weil ich glaube, dass sie zusammengenommen ein überzeugenderes Narrativ bilden als das unaufhörliche Nachrichtengewirr auf den Fernsehkanälen.
Lassen Sie uns mit dem Unterschied zwischen zwei Begriffen beginnen, die oft miteinander verwechselt werden: Führung und Charakter.
Unter Führung versteht man grob gesprochen die Fähigkeit, andere zu beeinflussen – im Allgemeinen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Führung ist ein Instrument, keine Eigenschaft, und lässt sich daher für gute und schlechte Zwecke einsetzen. Wir halten Franklin Delano Roosevelt für einen guten Führer, und das war er in der Tat. Roosevelt besaß die Fähigkeit, Menschen so zu beeinflussen, dass sie gewaltige und sehr schwierige Aufgaben übernahmen – von der Überwindung der Großen Depression bis zum Sieg im Zweiten Weltkrieg. Böse Menschen können jedoch ebenfalls sehr effektive Führer sein, allerdings bedienen sie sich der Führung, um unmoralische und grausame Zwecke zu verfolgen. Pol Pot, Anführer der Roten Khmer, der im vergangenen Jahrhundert in Kambodscha einen grauenhaften Genozid anführte, war ebenfalls ein äußerst fähiger Führer, denn es gelang ihm, in einer gewaltigen nationalen Anstrengung eine kommunistische Ideologie zu etablieren und alle Dissidenten und viele Unschuldige gnadenlos zu massakrieren – von acht Millionen Einwohnern fielen rund drei Millionen der Herrschaft der Roten Khmer unter seiner Führung zum Opfer. Schockierend? Grauenhaft? Kriminell? Absolut. Aber Pol Pots Geschichte ist auch eine Demonstration einer starken Führung, wenngleich im Dienste des Bösen. Führung hat mit Wirkung nach außen und der Fähigkeit zu tun, andere zu beeinflussen.
Charakter hat dagegen mit der inneren Wirkung und der Fähigkeit zur Selbstbeeinflussung zu tun. Der berühmte UCLA-Basketballtrainer John Wooden, der auch ein sehr guter Führer war, fasste das sehr treffend zusammen: »Achte mehr auf deinen Charakter als auf deinen Ruf, denn dein Charakter sagt, wer du bist, während dein Ruf lediglich sagt, was andere von dir denken.« Von ihm hörte ich auch zum ersten Mal den Satz, dass sich der wahre Charakter eines Menschen darin offenbart, was er tut, wenn niemand hinsieht. In seinem Kern ist Charakter die Fähigkeit, das innere Selbst zu rechtem und gerechtem Handeln anzuleiten. Er entsteht aus der Überwindung starker unmoralischer Impulse – das, was Sigmund Freud als »Es« bezeichnete – und dem Streben nach dem metaphorischen Licht der moralischen Entscheidung. Anders als Führung hat Charakter moralisches und ethisches Gewicht und lässt sich besser als gut oder schlecht beschreiben.
Seeleute haben oft die einzigartige Chance, einen guten Charakter zu entwickeln. Die See ist eine gnadenlose Umgebung, die tagtäglich große Herausforderungen bereithält, deren Überwindung von den tiefen individuellen Charakterreserven abhängt. Die Seefahrt ist harte und gefährliche Arbeit; allein die See ist eine ständige Bedrohung, von den zusätzlichen menschengemachten Gefahren wie Piraterie, feindlichen Flugzeugen oder lauernden U-Booten ganz zu schweigen. Es ist aber auch eine kontemplative Welt, in der jeder Seemann nachts über ein rollendes Deck gehen und in die Ferne starren kann, fixiert auf jenen Punkt am Horizont, an dem Himmel und See miteinander verschmelzen, und erkennt, dass wir nur der kleinste Teil eines riesigen, vielfältigen Universums sind, das sich in alle Ewigkeit bis in den Geist Gottes erstreckt und noch lange nach dem Zeitalter der Menschheit existieren wird. Diese Kombination aus Eigenschaften – die ständigen physischen und moralischen Herausforderungen des Alltags und die Vision von Ewigkeit, die sich vor unseren Augen auftut – bewirkt bei den besten Seeleuten eine profunde Charakterbildung. Meine These lautet, dass jeder von uns, ob er zur See fährt oder nicht, seinen eigenen Charakter verbessern und vertiefen kann, indem er sich mit dem Leben dieser zehn Admirale beschäftigt.
Führungsstärke und Charakter sind allerdings zwei ganz unterschiedliche Attribute, die in einem Menschen oft zusammentreffen, was ganz gewiss auf eine Reihe ranghoher Führungspersönlichkeiten der Seefahrt zutrifft, darunter auch auf die in diesem Buch porträtierten Admirale. Das ist nicht zwangsläufig der Fall, aber ein Mann oder eine Frau mit einem starken, positiven Charakter ist oft auch eine sehr effektive Führungspersönlichkeit. Das liegt daran, dass die meisten Menschen eine ausgeprägte moralische Stärke anerkennen und sich zu ihr hingezogen fühlen. Insbesondere bei vielen Führungspersönlichkeiten aus der Seefahrt, die vor dem besonderen Hintergrund der naturgewaltigen Ozeane agieren, wird der Charakter zu einem maßgeblichen Teil ihrer Führungskompetenz. Es ist daher höchst lehrreich, eine Handvoll Admirale zu untersuchen, ihre individuellen, von der Seefahrt geprägten Biografien zu verstehen und die Tiefgründigkeit ihrer Charaktere zu erforschen – alles mit der Idee, jedem Einzelnen von uns dabei zu helfen, erfolgreicher durch die inneren Gewässer zu navigieren; eine Reise, die wir alle antreten müssen.
In diesem Buch werden wir unsere Reise vor mehr als 2500 Jahren mit dem Admiral Themistokles aus der griechischen Antike beginnen, dessen Stadtstaat Athen mit einer existenziellen Gefahr konfrontiert war. Wir werden unsere lange Reise durch die Geschichte im 20. Jahrhundert mit der Admiralin Grace Hopper beschließen, die die US Navy in das Cyber-Zeitalter führte. Anschließend werden wir uns mit dem Thema Belastbarkeit beschäftigen und kurz zwei noch lebende Admirale, Michelle Howard und Bill McRaven, vorstellen. Alle porträtierten Persönlichkeiten sind ganz unterschiedliche Seeleute; die innere Charakterbildung, die jeder von ihnen durchlaufen hat, bietet jedoch breite Lektionen, die wir studieren und auf unser eigenes Leben übertragen können. Die Grundsteine der Charakterbildung sind bei allen zehn Admiralen ungefähr die gleichen: die Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit, Empathie, Kreativität, Demut, Humor, Widerstandsfähigkeit und Ausgewogenheit und die Vermeidung von Arroganz, Wut, Kleinlichkeit, Grausamkeit, Begehren, Verrat, Neid und Hass. Wir werden sehen, dass keine dieser Persönlichkeiten vollkommen war – einige waren sogar alles andere als das. Gelegentlich lässt sich aber aus Charakterschwächen mehr lernen als aus Triumphen. Die charakterliche Beschaffenheit eines Menschen wird nicht davon bestimmt, was er in einer Schönwettersituation macht oder wie er sich verhält, wenn die Entscheidung auf der Hand liegt, sondern was er macht, wenn er sich in unruhigem Fahrwasser und einem moralischen Dilemma befindet.
Was mich persönlich anbelangt, stützt sich das abschließende Kapitel dieses Buches auf meine eigene innere Reise, die ich auf meinem Lebensweg absolviert habe, den ich zu einem großen Teil auf See verbracht habe. Als Übung habe ich kürzlich meine alten Logbücher durchgesehen und alle Tage zusammengezählt, die ich auf hoher See fernab vom Festland verbracht habe. Insgesamt waren es mehr als neuneinhalb Jahre – Tag für Tag. Viel Zeit, die mit geschäftigen Verrichtungen verbracht wurde, von Schießübungen über den Abschuss von Lenkraketen bis zu den langen Wachen, während derer sich das Schiff seinen Weg durch die Ozeane bahnte, auf denen sich alle Spuren sofort verwischen. Es gab aber auch viel Zeit zum Lesen, zum Nachdenken und für innere Monologe über die Frage, was ein charakterfestes Leben lebenswert macht. Führung war für einen jungen Offizier, der in einer uralten Profession aufwuchs und von einem sehr unerfahrenen Leutnant zu dem nahezu unerreichbaren Dienstgrad eines Vier-Sterne-Admirals aufsteigen wollte, ein allgegenwärtiges Thema. Jeder Tag war eine Übung in Menschenführung. Die Herausforderungen, mit denen ich allerdings am meisten zu kämpfen hatte, waren meine inneren Hürden auf der Suche nach Orientierung und einem moralischen Kompass sowie der Wunsch, meine selbst gesetzten Standards zu erfüllen. Daran bin ich nicht nur einmal gescheitert. Die Charakterbildung ist eine lange Reise, und in meinem Fall ist sie noch nicht abgeschlossen, wenngleich ich sie nicht mehr auf See fortsetze – etwas, das ich mehr vermisse, als ich mir selbst eingestehen möchte.
Wie die hier porträtierten Admirale war ich gelegentlich erfolgreich, oft war ich es aber auch nicht. Am Ende wird unser Leben an unseren Entscheidungen gemessen, wobei die Fähigkeit, sich selbst in klarem Licht zu sehen, für die Charakterbildung unverzichtbar ist. In gewisser Hinsicht haben wir drei Leben: ein öffentliches, das von unseren beruflichen Gesprächen bis hin zu unseren Posts in sozialen Netzwerken geprägt wird; ein privates Leben, das wir nur mit unseren engsten Angehörigen und einigen ausgewählten Freunden teilen, und ein ganz persönliches Leben, das nur wir selbst kennen und das von – oft verzweifelten – Kämpfen um die richtigen Entscheidungen geprägt ist.
Man sollte nie vergessen, dass man die Messlatte, die man an sein eigenes Leben anlegt, selbst bestimmt und sie im Verlauf des Lebens immer wieder ein wenig nachjustieren wird. Hier, in dem zutiefst persönlichen Bereich, der an unserer eigenen Messlatte gemessen wird, markieren moralische Bojen die Fahrrinne, in der wir uns bewegen sollten, wenn unsere Reise in den Hafen der inneren Zufriedenheit führen soll. Wie bei jeder Seereise lauern Gefahren, und zwar sowohl durch Hindernisse, die uns die Außenwelt auferlegt, als auch durch solche, die wir uns selbst in den Weg legen. Die Reise gar nicht erst anzutreten, um schwierigen Entscheidungen aus dem Weg zu gehen, ist keine Option. Oliver Wendell Holmes (1841–1935), Richter des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten, formulierte es einst sehr zutreffend mit dem Satz: »Um einen Hafen zu erreichen, müssen wir segeln – manchmal mit dem Wind, manchmal gegen den Wind. Wir dürfen nur nicht vom Kurs abkommen oder vor Anker liegen bleiben.« Meine Hoffnung ist, dass dieses schmale Buch mit seiner kleinen Flottille an Biografien aus der Seefahrt einige Navigationsempfehlungen geben kann, einige gut markierte Seebojen und vielleicht sogar ein oder zwei Leuchttürme für all diejenigen, die sich auf die Reise der Charakterbildung begeben haben. Leinen los.
THEMISTOKLES
GEBOREN UM 524 V. CHR. IN ATHEN, GRIECHENLAND
GESTORBEN UM 459 V. CHR. IN MAGNESIA AM MÄANDER (HEUTIGE TÜRKEI)
Mit acht Jahren hörte ich zum ersten Mal von Themistokles. Meine Familie war gerade nach Athen gezogen, weil mein Vater, ein Major des Marinekorps der Vereinigten Staaten1, als stellvertretender Marineattaché der amerikanischen Botschaft nach Athen versetzt worden war. Für seine Ernennung gab es einen einfachen Grund: Er war Amerikaner griechischer Herkunft und seine Muttersprache war Griechisch. Zwar war er in den Vereinigten Staaten geboren, aber in seiner Familie wurde nur Griechisch gesprochen, und bis zu seiner Einschulung konnte er keine andere Sprache. Nach Kampfeinsätzen im Koreakrieg und einem Studium an der Purdue University, wo er seinen Master-Abschluss erwarb, wurde er nun, Mitte der 1960er-Jahre, in das Land seiner Vorväter entsandt. Meine Mutter, selbst keine Griechin, begann, Griechischunterricht zu nehmen. Mich interessierte damals nur, ob auch mein Fahrrad mit verladen worden war.
Als Teil der Umzugsvorbereitungen erzählte mir mein Vater von Griechenland. Er erzählte mir die Legenden der griechischen Mythologie und fesselte mich mit den Geschichten der Götter des Olymps. Zeus, Poseidon, Athene, Hephaistos, Ares und viele andere begannen sich in meinen Träumen zu tummeln. Nachdem wir mit den Göttern fertig waren, wechselte er zu Homer und ich lernte die Geschichten über die Trojanischen Kriege, über Odysseus und seine lange Reise zurück nach Ithaka. Schon als kleines Kind wusste ich, dass es Fabeln und Legenden waren, die wenig mit der Wahrheit zu tun hatten. Nach Homer begannen wir jedoch über die echte Geschichte der griechischen Antike zu sprechen.
Mein Vater erzählte mir von dem Albtraum der persischen Invasion in Griechenland, die ein halbes Jahrhundert dauerte, genauer gesagt von 499 bis 449 vor Christus. Er war ein fesselnder, von Natur aus begabter Geschichtenerzähler und beschrieb mir die Sage aus jenen Jahren in lebhaften, eindrucksvollen Farben. Ich erinnere mich noch immer besonders gerne an seine Schilderung der Schlacht von Marathon im Jahr 490 vor Christus und (natürlich) den heroischen Widerstand der drei Spartaner in der Schlacht bei den Thermopylen im Jahr 480 vor Christus. Ich liebte die Geschichte über das dortige Denkmal mit der Inschrift: »Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.«2 In jenen Jahren, als wir in Griechenland lebten, ließ mein Vater all diese Legenden lebendig werden, indem er mit uns zu den berühmten Schlachtfeldern der Antike fuhr.
Sosehr ich die Geschichten meines Vaters über die Spartaner liebte, mochte – und mag – ich am liebsten die von Themistokles, dem Admiral aus Athen, der – ebenfalls im Jahr 480 vor Christus – die entscheidende Schlacht bei Salamis gewann. Die Zahlen, die aus den Schlachten der Antike überliefert sind, sind naturgemäß sehr ungenau, aber den meisten Schätzungen zufolge verfügten die persischen Streitkräfte ungefähr über fünfmal so viele Trieren3 mit ihren in Dreierreihen gestaffelten Ruderern als die Griechen. Nachdem Themistokles die Perser in die Meerenge bei Salamis vor der Küste Athens gelockt hatte, führte er die freien Griechen unter seinem Kommando zu einem überwältigenden Sieg über die Rudersklaven des persischen Feindes.
Immer wieder bat ich meinen Vater, mir die Geschichte von Themistokles noch einmal zu erzählen. Damals war mir die Komplexität des Lebens und des Charakters dieses Admirals aus der Antike nicht bewusst – als Sieger einer der wichtigsten Seeschlachten, die die alten Griechen geschlagen hatten, wirkte er auf mich einfach überlebensgroß. Und obwohl ich die Schlacht mit Spielzeugschiffen auf einer handgemalten Landkarte der Bucht von Salamis oft nachstellte, war es Themistokles’ Fähigkeit, seine Männer zu inspirieren, die meine Fantasie am stärksten gefangen nahm. Ich fragte mich, welche Eigenschaft er wohl besessen hatte, die ihm ermöglichte, seine Soldaten in die Schlacht zu führen. Mein Vater versuchte mir die komplexe Mischung aus Charisma, Inspiration und Rhetorik zu erklären, derer sich Themistokles bedient hatte. Zwar überstiegen diese Begriffe mein damaliges Verständnis, aber ich habe seitdem viele Male auf sie zurückgegriffen.
Bei einer Gelegenheit suchte ich bei der Vorbereitung einer Rede für eine große Abendgesellschaft im Rahmen einer patriotischen Feier in New York City im November 2007 nach den richtigen Worten. Die Veranstaltung stand unter dem Motto »Eine Ehrenbezeugung für die Freiheit«. Nach einigem Nachdenken sprach ich schließlich über unsere heldenhaften US Navy SEALs4, indem ich die Geschichte von Themistokles und sein Gebet schilderte, das die Griechen vor 2500 Jahren so tief inspiriert hatte. In den darauffolgenden Jahren habe ich noch viele Male über die Schlacht und Themistokles’ Charakter gesprochen.
Zu dem Zeitpunkt, als ich 2007 besagte Rede hielt, war mein Vater, der als Colonel (Oberst) der US Marines in den Ruhestand ging und nach seiner Promotion in Pädagogik ein großes Community College leitete, bereits verstorben. Ich wusste allerdings, dass er sehr stolz darauf gewesen wäre, dass sein Sohn, der es inzwischen zu einem Vier-Sterne-Admiral gebracht hatte, die Geschichte von Themistokles vor einem großen Publikum in New York erzählte. Fast ein halbes Jahrhundert, nachdem er mir die zeitlosen Geschichten eines griechischen Admirals aus der Antike vermittelt hatte, gelang es mir, das Andenken an diese inspirierende Persönlichkeit wach und lebendig zu halten und viele Jahrhunderte zu überbrücken, indem ich seine Worte wiederholte, dass wir alle »für die Freiheit rudern müssen«. Das ist eine eindrucksvolle Lektion, die ich im steten Angedenken an Themistokles immer in meinem Herzen getragen habe.
Was wissen wir über diesen Admiral und was können wir von seiner Charakterreise lernen? Verschiedene Quellen aus der Antike zeichnen ein lebhaftes, aber inkonsistentes Bild von Themistokles. Anstelle einer knappen, klaren, tatsachenbasierten Erzählung bietet sich uns ein Mosaik aus eindrucksvollen kurzen Episoden seines Lebens aus der Feder zweier der frühesten griechischen Geschichtsschreiber: Herodot und Thukydides. Zwar werden sie als die ersten modernen Historiker bezeichnet, allerdings würden ihre Werke die modernen Standards nicht erfüllen. Außerdem führten ihre unterschiedlichen Ansätze und Einstellungen zu einer ganz unterschiedlichen Bewertung der Person des Themistokles. Herodot, der über die Perserkriege schrieb, die Themistokles’ Karriere prägten, hielt den Admiral für einen gierigen Schwindler. Thukydides, der Jahrzehnte später vom Peloponnesischen Krieg berichtete, sah in Themistokles einen tragischen Helden, der Griechenland rettete, nur um anschließend aus seiner eigenen Stadt verbannt zu werden. Beide sind sich jedoch einig, dass Themistokles eine äußerst einflussreiche und selbstbewusste Stimme im militärischen und politischen Leben seiner Zeit war.
Themistokles wurde ungefähr im Jahr 524 vor Christus geboren. Im Jahr 508, als er gerade zum Mann heranreifte, begann Athen mit seinem demokratischen Experiment, indem die Stadt allen freien Männern das Wahlrecht gewährte. Das war damals ein radikaler Schritt, allerdings muss man dabei bedenken, dass nur sehr wenige Einwohner der Stadt Athen dieses Privileg genossen. Nichtsdestotrotz ermöglichte es dem jungen Themistokles, der aus der soliden Mittelschicht stammte, zu gleichen Bedingungen in das politische Leben von Athen einzutreten. Er wuchs in einer Zeit radikaler Umwälzungen auf, die ebenso viele Chancen wie Herausforderungen bot, und konnte sich schnell als ernst zu nehmende Stimme im blühenden Stadtstaat etablieren. Von Kindesbeinen an war er Teil einer Gesellschaft, die einerseits die Hierarchie der griechischen Stadtstaaten anführte, aber auch unter dem Druck und den Herausforderungen der kleineren Nationen der hellenischen Welt sowie unter der Bedrohung des mächtigen Feindes im Osten, des Perserreichs, stand.
Über das Leben, das Themistokles führte, bevor er mit 31 Jahren zum Archonten, dem höchsten Beamten Athens, gewählt wurde, ist nicht viel überliefert. In dieser Rolle stach Themistokles schon früh durch seine rhetorischen Fähigkeiten heraus, auf die die athenische Demokratie großen Wert legte. Kaum im Amt, plädierte Themistokles eindringlich dafür, Athen zu einer Seemacht aufzubauen. In seiner Rolle als Archont gab er den Auftrag, bei Piräus (dem nächstgelegenen Hafen nur wenige Kilometer entfernt von Athen) einen geschützten Hafen zu bauen, der die Stadt praktisch über Nacht in eine Seemacht verwandelte und bis heute als Hafen dient. Themistokles verfolgte eine strategische Vision, die sich mit seiner praktischen Fähigkeit verband, Unterstützer zu gewinnen, in öffentlichen Diskussionen zu überzeugen und den langfristigen Wert eines Meereszugangs darzustellen. Ich bin oft von Athen nach Piräus gefahren; heute sind die beiden antiken Städte Teil einer endlosen, nahtlos ineinander übergehenden Metropole. Als Junge aus einem Athener Vorort fuhr ich in den 1960er-Jahren nach Piräus, um mit meinen Eltern eine Fähre zu einer der Inseln zu besteigen. Später, in den 1980er-Jahren, kam ich als junger Offizier der US Navy nach Piräus und verließ mein Schiff, um in die Nachtwelt des Vergnügungsviertels Plaka einzutauchen; dann als NATO-Oberbefehlshaber für Europa – in eiliger Fahrt von Polizeieskorten in gepanzerten schwarzen Limousinen begleitet, und jüngst als Mitglied der Onassis Foundation (und Reederei), um eines unserer Schiffe im Hafen zu besichtigen. Bei jeder Gelegenheit dachte ich an Themistokles’ Vision, der schon früh die Macht ahnte, die ein echter, verteidigbarer Hafen dem antiken Stadtstaat verleihen würde. Seine Fähigkeit, »um die Ecke zu denken« und einen Hafen zu bauen, trug ein Jahrzehnt nach seiner Amtszeit als Archont dazu bei, die griechische Demokratie zu retten.
Wie mehrere Jahrhunderte später der amerikanische Admiral Alfred Thayer Mahan verstand auch Themistokles den geopolitischen Kontext besser als die meisten, betrachtete Seemacht und Seehandel als natürliche Bestimmung seines Volkes und widmete die ersten Jahre in der Blüte seiner jungen Karriere dem Ziel, diese Vision zu verwirklichen. Themistokles wusste, dass die Kombination aus Athens Küstenlage, seine expandierenden Handelsinteressen sowie die wachsende Gefahr einer Ausdehnung des Perserreiches nach Osten den Aufbau einer Seestreitkraft als Bindeglied zwischen Athen und der Außenwelt und als Schutzmacht des Stadtstaates unverzichtbar machte. Er wusste auch um die Bedeutung der Koalitionsbildung, trotz aller Herausforderungen, die eine Vereinigung der für ihre Zersplitterung berühmten griechischen Städte in rudimentäre Bündnisse darstellte. Dabei demonstrierte er nicht nur Visionskraft, sondern stellte auch die Art von Charakterstärke unter Beweis, die es einem Führer ermöglicht, eine Position auszufüllen, die weder intuitiv klar noch besonders populär ist.
Als die Perser das politisch zersplitterte griechische Festland wie vorhersehbar im Jahr 490 vor Christus angriffen, gehörte Themistokles zu den Griechen, die dazu beitrugen, den verhassten Feind in der Schlacht von Marathon zurückzuschlagen. Nach diesem verzweifelten Kampf prägte sich Themistokles nicht nur auf unauslöschliche Weise die Kampferfahrung ein, anders als viele seiner athenischen Mitbürger blieb er auch stets äußerst wachsam für eine neuerliche persische Attacke. Themistokles, der ein aufmerksamer Beobachter war, sagte nicht nur eine Rückkehr der Perser voraus, sondern auch, dass sie das nächste Mal mit viel leistungsfähigeren Kriegsschiffen angreifen würden. Um einem solchen Angriff standhalten zu können, würde Athen eine eigene Seestreitkraft aufbauen müssen. Zunächst musste er seine Landsleute jedoch von der Notwendigkeit des Aufbaus einer eigenen Seeflotte überzeugen. Themistokles wiederholte im Athener Stadtstaat beharrlich seine Überzeugung, der Bau eines Hafens sei notwendig, das allein werde den Bedürfnissen des Staates jedoch nicht gerecht. Sowohl seine Vision als auch sein Charakter spielten eine große Rolle hinsichtlich der Überzeugungskraft seines Arguments, für wirkliche Sicherheit zu sorgen. Denn immerhin handelte es sich bei seinen Vorschlägen um teure Vorhaben, die zum Teil auf harsche Kritik stießen.
Um seine Landsleute von der Notwendigkeit einer schlagkräftigen Seestreitkraft zu überzeugen, bediente sich Themistokles seiner berühmten rhetorischen Fähigkeiten und verwies dabei nicht nur auf abstrakte Gefahren, sondern hob vor allem eine damals sehr reale Bedrohung hervor: die Piraterie. Als frisch ernannter Kommandeur der gerade erst entstehenden Seeflotte sprach er über die Gefahren, die Piraten für die nahe gelegene Insel Ägina bedeuteten, um den Athenern einen konkreten Grund zu liefern, dem Bau der Flotte zuzustimmen – ohne die Bedrohung durch das Perserreich direkt zu erwähnen. Zu seinem Glück erwies sich dieses Argument als zugkräftig und das Finanzierungsproblem löste sich durch unerwartete Gewinne aus einer nahe gelegenen Silbermine. In einer letzten rhetorischen Anstrengung überredete Themistokles seine Landsleute außerdem dazu, diese überschüssigen Einnahmen in den Aufbau der Flotte zu investieren, für die er so fieberhaft warb, augenscheinlich zum Schutz vor Piraten. Dabei bewies er die Fähigkeit, seine Argumentation pragmatisch an die Verfolgung eines übergeordneten Zwecks anzupassen. Wie oft sehen wir Führungskräfte, die sich in einer rhetorischen Position verhaken und nicht die Flexibilität aufbringen, ihre Argumente so anzupassen, dass sie ihr Ziel erreichen. Charakter erfordert beides, Überzeugung und Flexibilität.
Themistokles bekam seine Flotte, und das gerade noch rechtzeitig. Er musste erleben, dass sich seine Befürchtungen eines erneuten Angriffs der Perser bewahrheiteten – dieses Mal wurden die feindlichen Truppen von dem jungen, fähigen und äußerst entschlossenen Kaiser Xerxes I. angeführt. Xerxes stellte eine Eroberungsarmee aus den entlegensten Winkeln des Perserreiches zusammen und griff Griechenland vom Norden aus an. Wie Themistokles vorhergesagt hatte, brachten die Perser außerdem eine mächtige Kriegsflotte mit. So begann der Zweite Persische Krieg, der schon bald von erbitterten Gefechten zu Wasser und zu Land geprägt war. Dieser Krieg stellte eine existenzielle Bedrohung für Griechenland dar. Man kann sich nur schwer vorstellen, wie die Weltkarte heute aussehen würde, wenn die Perser damals gewonnen hätten. Wären sie weiter nach Westen vorgedrungen? Wäre ganz Kontinentaleuropa unterworfen worden? Wäre der Iran, der 2000 Jahre später das Perserreich beerbte, heute eine Supermacht? Wäre die Demokratie, der größte griechische Beitrag zur Zivilisation, damals überhaupt entstanden? Das sind Fragen, die natürlich unbeantwortet bleiben. Zweifellos wäre die Welt, wie wir sie heute kennen, jedoch ein wenig anders. Wir sind so an den Verlauf der Geschichte gewöhnt, wie wir ihn kennen, dass wir ihn für eine unumstößliche Kraft halten. Große Tore hängen allerdings an kleinen Scharnieren, und die Tatsache, dass Themistokles einen Hafen und eine Flotte gebaut hatte und es ihm gelang, die persische Flotte zu schlagen, war ein scheinbar kleines Scharnier, das das große Tor schließlich nach Westen öffnete und nicht nach Osten.
Trotz der Kapazitäten Athens war Griechenland insgesamt zunächst nicht auf den Ansturm vorbereitet. Politische Spaltung und operatives Gezänk zwischen den verbündeten Stadtstaaten verhinderten eine kohärente Reaktion. Schließlich einigte man sich auf eine zweigleisige Strategie. Um die Invasion zu Land aufzuhalten, nahmen die alliierten Kräfte Aufstellung am Thermopylenpass an der Ostküste des griechischen Festlands, wo König Leonidas und seine dreihundert Spartaner (plus eine Handvoll anderer griechischer Krieger) ihr legendäres letztes Gefecht schlugen, um Zeit zu gewinnen, damit sich die übrigen Griechen sammeln konnten. Währenddessen besetzte die Seeflotte von Athen bei Artemision (einem Seehafen auf der Insel Euböa, nördlich von Athen und in der Nähe der Thermopylen) eine Meerenge, wo sie die Perser zwar zunächst aufhalten, aber nicht zum Rückzug zwingen konnten. Die griechischen Land- und Seestreitkräfte mussten sich schließlich bis vor die Tore Athens zurückziehen, wo sie sich auf die entscheidende Schlacht gegen Xerxes und seine Invasoren vorbereiteten. Themistokles, der stets Gehör fand, plädierte beharrlich für einen Angriff der Kriegsflotte. Er erkannte korrekterweise, dass sich die Perser aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit in Sicherheit wiegten, aber logistisch von der Versorgung und Verstärkung auf See abhängig waren.
Anstatt die Einwohner des belagerten Athens zu opfern, hielt es Themistokles für besser, die Stadt als solche zu opfern, und überredete die Athener dazu, die Stadt zu verlassen. Man stelle sich die Schwierigkeit vor, dieses Argument überzeugend vorzutragen – die Einwohner einer ganzen Stadt dazu zu bewegen, alles zurückzulassen, was ihnen vertraut war, ihr gesamtes Hab und Gut aufzugeben und sich in die dichten Wälder rund um die Stadt zu flüchten. Themistokles argumentierte, man könne Athen wieder aufbauen und neu bevölkern, aber dafür müsste die Bevölkerung erst einmal überleben und die Perser müssten auf See geschlagen werden. Und so flüchteten sich die Einwohner vor dem persischen Ansturm in die bewaldeten Hügel, während Themistokles und seine Truppen die Kriegsschiffe bestiegen und in Richtung der Meerenge von Salamis segelten, um sich auf der Insel gegenüber dem Hafen von Piräus zu verschanzen. Die Bevölkerung und die Seeleute beobachteten aus ihren sicheren Verstecken, wie die persische Armee Athen niederbrannte und sich die persische Kriegsflotte vor dem Eingang der Meerenge versammelte.
Dieser Moment muss dem jungen Admiral eine außerordentliche Standfestigkeit abverlangt haben. Stellen Sie sich vor, wie er zwischen den Seeleuten umherging, die mitansehen mussten, wie alles, was ihnen bekannt und vertraut war, in Flammen aufging, und die nicht wussten, ob ihre Familien überlebt hatten. Themistokles sprach bestimmt und mit Selbstvertrauen über die Chance, dem Feind im folgenden Morgengrauen einen Schlag zu versetzen. Dabei ging er von Lagerfeuer zu Lagerfeuer und bewies seine Führungsqualitäten vor jedem einzelnen Soldaten, während er in seinem Herzen wusste, dass sie gegen eine derart übermächtige feindliche Kriegsflotte kaum eine Chance hatten. Damit bewies er Charakter.
All das war so offensichtlich – jeder einzelne seiner Seeleute konnte mühelos erkennen, dass die athenische Kriegsflotte zahlenmäßig weit unterlegen war; einige nachgeordnete griechische Kommandeure wollten sich daher weiter zurückziehen, vielleicht bis zur südlichen Peloponnes, um die Truppen zur Verteidigung der letzten Rückzugsorte der Griechen auf der Halbinsel zu sammeln. Themistokles wollte die Schlacht jedoch in der Meerenge herbeiführen, wo der zahlenmäßige Vorteil der Feinde auf natürliche Weise begrenzt war. Womöglich hätten die Perser eine größere Reserve, aber in der Meerenge würde es ihnen, anders als auf offener See, nicht ohne Weiteres gelingen, die griechischen Schiffe zu umzingeln und zu zerstören.
In der ihm eigenen selbstsicheren Art trug Themistokles nicht nur seine Argumente vor, sondern entwarf auch einen Plan, um die Perser in die Schlacht zu locken. Heimlich schickte er einen Gesandten an die feindliche Flotte, der den Persern fälschlicherweise weismachte, die griechischen Truppen planten einen Rückzug, und sie dazu drängte, sofort anzugreifen, um den Vorteil der Meinungsverschiedenheiten in den griechischen Streitkräften auszunutzen. Gleichzeitig sandte er eine weitere heimliche Botschaft an die ethnischen Griechen, die in der persischen Flotte dienten, um sie dazu zu überreden, sich in der kommenden Schlacht gegen ihre Befehlshaber zu stellen. Als Reaktion auf die falsche Nachricht setzte sich die persische Kriegsflotte rasch in Bewegung, um den Griechen den Rückweg abzuschneiden, und damit waren die Würfel gefallen. Wie Themistokles gehofft hatte, fand die entscheidende Schlacht nun in der Meerenge von Salamis statt.
Als am Morgen der Schlacht hinter den Bergen östlich der Insel Salamis der Tag anbrach, konnte man zwischen den Berghängen die rauchenden Ruinen von Athen sehen. Das Tageslicht breitete sich rasch über der Meerenge zwischen Stadt und Insel aus, vor der eine Flotte aus griechischen Trieren, mächtige Kriegsschiffe mit in Dreierreihen gestaffelten Ruderern und schweren Rammböcken am Bug, vor Anker lag und sanft in der Morgenbrise schaukelte. Als die Truppen gerade dabei waren, ihr Morgenmahl zuzubereiten, trat ihr Kommandeur in voller Kriegsmontur aus dem Zelt. Auf einen Blick registrierte Themistokles die Morgendämmerung, die vor Anker liegenden Kriegsschiffe und die ein wenig unsicheren Mienen seiner Leute – von denen zweifellos viele ihren Blick auf die See und die Meerenge richteten, in der über ihr Schicksal entschieden werden würde. In der Luft dieses Morgens lag vermutlich eine Mischung aus Angst und erwartungsvoller Anspannung. Die frühmorgendliche Windstille war ein Glücksfall – stärkere Winde hätten die persische Flotte begünstigt, die stärker von Segeln abhängig war.
Der Kampf gegen die persische Flotte würde Themistokles ein Höchstmaß an strategischer Brillanz und persönlichem Charisma abverlangen sowie eine konzertierte Anstrengung aller Männer und Ruderer der griechischen Flotte erfordern. Die persische Kriegsflotte war fünf Mal so groß wie die griechische und ihre Besatzung setzte sich aus den besten Seeleuten der Welt (einschließlich einiger griechischer Verräter) zusammen. Nachdem die Männer ihre Mahlzeit beendet hatten, löschten sie die Feuer und begaben sich zu ihren Schiffen. Themistokles war klar, dass ihnen ihre Unterlegenheit und die Folgen einer Niederlage voll bewusst waren. Er wusste auch, dass er nur eine letzte Chance hatte, sie zu einem scheinbar unmöglichen Sieg zu inspirieren. Sein gesamtes Wissen und seine Erfahrung als inspirierender Anführer kulminierten in diesem Augenblick. War er nervös? Verspürte er Selbstvertrauen? Das werden wir nie genau erfahren, doch alles, was wir über seinen Charakter und sein Temperament wissen, deutet darauf hin, dass sein stolzes Auftreten natürlich und ungezwungen wirkte. Es war einfach Teil seiner Persönlichkeit und Erfahrung und gab ihm wahrscheinlich das Gefühl, er befinde sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort für seine Nation und seinen eigenen Ruhm.
Themistokles ging vermutlich hinunter zum Wasser, um zu seinen Männern zu sprechen, die ihn erwartungsvoll anblickten. Ich bin sicher, dass er tief einatmete, die Spannung mit der eingeatmeten Luft aus seinen Lungen entweichen ließ, anschließend einen noch tieferen Atemzug tat und dann die Stimme erhob, die über den stillen Strand und die glatte Wasseroberfläche widerhallte. Was waren wohl seine Worte? Ich stelle mir vor, dass er ungefähr Folgendes sagte:
»Männer von Athen! Blickt zurück über eure rechte Schulter. Seht dort – Athen, eure Heimat, in der unsere Familien davon abhängen, dass wir sie aus der persischen Gefahr befreien. Und nun blickt über eure linke Schulter: Seht die Meerenge. Dort wartet die persische Kriegsflotte darauf, unsere Stadt verwüsten und unser Volk versklaven zu können, so wie sie selbst versklavt sind. Und nun blickt euch gegenseitig an: griechische Brüder und freie Männer – das letzte Hindernis zwischen den Persern und ihrem Ziel. Einige von euch sind gerade erst zum Mann herangereift und haben keine Kriegserfahrung. Viele von euch haben bereits in anderen Schlachten dieses langen Krieges gekämpft. Und alle von euch – alle – wissen: Wenn wir heute unterliegen, wird unsere Stadt fallen, unsere Familien werden sterben und alle, die überleben, ihre Freiheit einbüßen. Ich frage euch: Falls wir verlieren, würde dann nicht jeder Überlebende augenblicklich einem Schicksal entgegensehen, das schlimmer ist als der Tod? Stellt euch eure Mütter, Frauen und Töchter vor, verschleppt und zum Vergnügen der Perser missbraucht; eure männlichen Nachkommen zu Tausenden abgeschlachtet, eure betagten Eltern niedergemetzelt.
Männer von Athen! Freie Männer von Athen! Wenn ihr heute eure Ruder in die Hände nehmt, nehmt ihr das Schicksal unserer Stadt, unserer Familien und unserer Lebensart in die Hände. Wenn wir heute verlieren, wird mit uns die Hoffnung aller und die Hoffnung auf Freiheit für jeden sterben. Wir dürfen nicht verlieren, und wir werden nicht verlieren.
Auf die Schiffe, Männer – und an die Ruder.
Denn heute werden wir mit Leib und Seele rudern.
Wir werden für unsere Heimat rudern, für Athen …
Wir werden für unsere Kinder, unsere Frauen und unsere Eltern rudern …
Wir werden am heutigen Tag für unsere Stadt rudern …
Heute müssen wir um unser Leben rudern!
Denn heute, Männer von Athen, rudern wir für unsere Freiheit!«
Nachdem er seine Männer davon überzeugt hatte, »für die Freiheit zu rudern«, stach Themistokles mit seiner Flotte in See. Wie er sich erhofft hatte, machte die Meerenge die zahlenmäßig große Überlegenheit der persischen Kriegsschiffe zunichte, und seine motivierten Ruderer versetzten den feindlichen Schiffen, deren Ruderer Sklaven waren, einen vernichtenden Schlag – sie versenkten fast zehn Mal so viele Schiffe, wie sie selbst verloren. Auf einen Schlag fand sich die persische Armee, die gerade erst Athen niedergebrannt hatte, von jeder Versorgung abgeschnitten und war gezwungen, den eiligen Rückzug nach Persien anzutreten. Nachdem die wichtigsten feindlichen Truppen von der Peloponnes vertrieben und die Nachhut nicht lange nach Themistokles’ Sieg bei Salamis bei Platea besiegt worden war, war die persische Gefahr gebannt.
Es war ein außergewöhnlicher Sieg, der an der Marineakademie der Vereinigten Staaten (US Naval Academy) bis heute studiert wird. Er spiegelt nicht nur Themistokles’ taktische Brillanz wider, sondern auch seinen Charakter, nämlich die Fähigkeit, in einem Moment, in dem alle um ihn herum vor Angst erbebten, tief aus seinem Inneren Mut, Kraft und Entschlossenheit zu schöpfen und seine Leute auf seinen Kurs einzuschwören. Diese Kombination aus visionärer Kraft, Energie und Charisma sucht in der Geschichte der Kriegsmarine ihresgleichen. Themistokles errang einen beeindruckenden Sieg, und die Perser traten den Rückzug an, sodass die Athener – wie er vorhergesagt hatte – in ihre Heimat zurückkehren und ihre zerstörten Häuser wieder aufbauen konnten.