Kim Scheider
Der rote Feuerstein
und das Geheimnis von Atlantis
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Helgoland 1947
Helgoland 2007
Prinzessin Vicki XII.
Eine Nacht wie ein Traum
Das Thema des Tages
Aufbruch ins Unbekannte
Atlantis 2005
Das doppelte Tor
Im Wald der Verweser
Atlantis 2006
Dunkelheim
Der Tidenhub
Die Hinrichtung
Atlantis 2007
Der Fudnoff und die Liebe
Flucht aus Dunkelheim
Das große Beben
Eine böse Überraschung
Flit
Falk, der Hexenmeister
Die Tücken der Technik
Hoffnung und Verzweiflung
Die Rückkehr der Todesjäger
Dornröschen
Danksagung
Impressum neobooks
Für Nils, auch wenn du inzwischen fast schon erwachsen bist! Und aus Liebe zu „meiner“ Insel...
Vicki flog, was die Flügel hergaben.
Das war das einzige, was sie noch tun konnte, um sich zu retten. Seit Ewigkeiten hatte sie immer wieder mal hier gelebt, als einzige ihrer Art - zumindest in der Welt der Menschen.
Die kleine Fee schlug mit den Flügeln, dass sie jedem Kolibri hätte Konkurrenz machen können. Sie flog durch die verschachtelten Gänge des unterirdischen Labyrinths, das den roten Felsen der Insel durchzog.
Fast wären die Menschen, die auf dem kleinen Eiland mitten in der Nordsee lebten, Vickis Geheimnis auf die Spur gekommen. Das war vor ein paar Jahren, als sie die Gänge der Bunkeranlage in den Felsen trieben. Beinahe hätten sie ihn entdeckt, den Zugang zu ihrer Welt. Und jetzt lief die kleine Fee Gefahr, ihn nicht rechtzeitig zu erreichen, bevor die große Detonation den Felsen erschüttern würde.
Den „Big Bang” würden sie es einst nennen. Die größte nichtatomare Explosion der Geschichte. Und sie sollte Vicki zum Verhängnis werden.
Ein Beben durchlief den mächtigen Felsen. Ohrenbetäubender Lärm ließ Vicki angstvoll aufschreien. Staub und umherfliegende Trümmer nahmen ihr die Orientierung.
Verzweifelt ließ sie sich in einer kleinen Felsspalte nieder und versuchte, sich zu beruhigen.
Und als das Beben nachließ, der Staub sich gelegt hatte und Vicki sich endlich traute weiterzufliegen, sah sie mit Entsetzen, dass sie festsaß. Der Weg in ihre uralte Welt war versperrt.
Paul rannte.
Seine Lungen brannten, die Beine schmerzten und in seinem Kopf tobten die wirrsten Gedanken.
Das konnte nicht sein. Das, was er gerade erlebt hatte, war einfach unmöglich. So etwas gab es nicht, konnte und durfte es nicht geben! Aus dem Alter war er raus, selbst an den Weihnachtsmann glaubte er schon seit Jahren nicht mehr, geschweige denn an das Wesen, das ihm gerade begegnet war.
Auf dem „Friedhof der Namenlosen” war er gewesen.
Wie jedes Jahr.
Schon dutzende Male war er hier gewesen und nie war ihm derartiges passiert. Die Hochseeinsel Helgoland und die dazugehörige Düne waren schon fast wie ein zweites Zuhause für ihn geworden. Hier fühlte er sich wohl und - zumindest bis gerade – sicher. Das unangenehmste, was ihm hier bislang passiert war, war die Tatsache, dass er noch nicht einmal weit draußen in der Nordsee sicher vor seiner nervigen Nachbarin war. Kaum auf der Düne angekommen, war er ihr erst einmal in die Arme gelaufen und hatte sich gefragt, ob die Frau mit der Motorradhelmfrisur wohl geklont war. Frau Piel war wirklich immer und überall, einfach unglaublich. Aber noch lange nicht so unglaublich, wie das, was er gerade erlebt hatte.
Paul rannte noch immer. Der Weg zum Hafen war eigentlich gar nicht so weit, doch heute kam er ihm vor wie eine unüberwindbare, niemals enden wollende Strecke.
Vom Friedhof aus, der eher eine Gedenkstätte für die zahlreichen namenlosen Ertrunkenen der Nordsee war als ein Friedhof im eigentlichen Sinne, war er auf kürzestem Wege durch die Dünen gerannt, vorbei am Spielplatz und dem neu errichteten Bungalowdorf, immer weiter Richtung Anleger. Endlich kam der Hafen in Sicht und, wie hätte es auch anders sein sollen - die Dünenfähre hatte natürlich gerade abgelegt. Für die nächste halbe Stunde würde er erst mal festsitzen.
„Mist! Verdammter Mist!“, fluchte er vor sich hin.
Er wollte nur noch weg von der Düne, rüber zur knapp zwei Kilometer entfernten Hauptinsel, wo seine Eltern sicher schon auf ihn warteten und ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen würden.
Keuchend setzte er sich hin, mitten auf den Anlegesteg und versuchte das Chaos in seinem Kopf zu sortieren. Das konnte einfach nicht wahr sein, was ihm da Minuten vorher passiert war.
Aber sie war da gewesen, hatte sogar mit ihm gesprochen.
„Hallo! Ich bin Vicki und wer bist du?“, hatte sie ihn gefragt. War dabei aufgeregt mit den Flügeln schlagend vor ihm hin und her geflogen und hatte ihm dann die verrückteste Geschichte erzählt, die er jemals gehört hatte.
Sprachlos hatte er das kleine flatternde Wesen angestarrt, das da unter der alten Schiffsglocke auf dem Friedhof hervor geschossen kam und ihn einfach angesprochen hatte. Nicht nur, dass es sie eigentlich gar nicht hätte geben dürfen, nein, sie sprach auch noch zu ihm!
Ich hätte gestern doch nicht von Mutterns Eiergrog probieren dürfen, dachte Paul und konnte noch immer nicht fassen, was er da sah. Er hatte zwar nur ein mal an dem, wie der Name schon sagt, vorwiegend aus Grog und Eiern bestehenden „Nationalgetränk“ der Helgoländer genippt, aber anscheinend hatte dies bereits eine durchschlagende Wirkung!
„Hallo, redest du nicht mit jedem?”, fragte ihn die Fee - oder war es eine Elfe? „Ich versuch’s noch mal”, sagte sie mit einem frechen Grinsen im Gesicht. „Ich bin Vicki und wer bist du?”
„Ich... Paul ... Das gibt’s doch nicht! Ich, ich bin Paul”, stammelte er vor sich hin.
„So - ein Junge bist du? Ich dachte, du wärst ein Mädchen. Wegen den langen Haaren und so.” Keck lächelte sie ihn an.
Schon wieder dieser Spruch! Wie oft hatte er ihn schon in unzähligen Variationen zu hören bekommen?
„Umso besser”, hatte sie dann gemeint. „Jungen sind angeblich mutiger, soweit ich in Erinnerung habe. Auch wenn du mir nicht gerade diesen Eindruck machst.”
Nach wie vor sprachlos und auch ein wenig beleidigt hatte Paul den Flug des kleinen Wesens verfolgt, das ununterbrochen vor seinem Kopf hin und her flog. Vielleicht war es auch ein Insekt? Dagegen sprachen allerdings das rosa Kleid, das im Wind vor seiner Nase flatterte und die lange blonde Powermähne, die ihn beim Vorbeifliegen jetzt schon mehrmals an der Nase gekitzelt hatte.
„Was willst du von mir?”
Nur mühsam hatte er die Worte hervor gebracht. Eigentlich hatte er fragen wollen, wo sie herkäme - denn eine Sie war es eindeutig -, wieso es sie gab, warum er sie verstehen konnte und überhaupt. Aber da sein Verstand sich nach wie vor weigerte zu glauben, was sich gerade abspielte, war ihm keine bessere Frage über die Lippen gekommen.
Das muss ein Scherz sein. Oder ein Trick. Oder was auch immer, hatte Paul gedacht und noch einmal gefragt: „Was willst du von mir?”
„Deine Hilfe!”, sagte Vicki frei heraus.
Und dann hatte sie ihm ihre schier unglaubliche Geschichte erzählt.
„Setz dich und hör einfach nur zu”, hatte sie den etwas verstörten Jungen aufgefordert, der sich unbeholfen auf einer der Bänke neben ihr nieder ließ.
Sie berichtete ihm von längst vergangenen Zeiten, in denen sie, doch eine Fee, wie sie inzwischen klargestellt hatte, unbeschwert zwischen zwei Welten pendelte; der Insel Helgoland und - und das war das Unglaubliche an ihrer Geschichte - der Insel Atlantis .
Ja, nee, is’ klar, dachte Paul und wollte schon wieder aufstehen und gehen. Der Zwölfjährige war durch und durch Realist. Er las zwar gerne Fantasieromane, aber nur, weil er die Vorstellung von solchen Welten spannend fand. An Fabelwesen oder Engel und übersinnliche Fähigkeiten glaubte er in keiner Weise. Garantiert gab es eine ganz logische Erklärung für derartige Phänomene.
Ja, so musste es sein!
Andererseits flog diese kleine Fee hier vor ihm herum, ließ sich sogar gerade auf seinem Knie nieder und redete mit ihm. Warum also nicht auch Atlantis?
Sicherheitshalber kniff Paul sich an verschiedenen Stellen kräftig ins eigene Fleisch, aber da es doch mächtig weh tat, musste er wohl davon ausgehen, sich nicht etwa in einem Traum zu befinden, sondern tatsächlich im Hier und Jetzt. Aber alles wurde nur noch viel unglaublicher.
Von einem geheimen Zugang im Inneren des Felsens berichtete die Fee ihm, von Piraten, Vampiren, Göttern und Prinzessinnen, von Magiern und weiteren Fabelwesen und davon, wie sie vor nahezu genau sechzig Jahren auf einmal im Felsinneren gefangen war und nicht mehr zurück nach Atlantis kam, weil die große Explosion ihr den Rückweg versperrt hatte.
Natürlich hatte Paul bei den vielen Besuchen auf der Insel Helgoland auch vom „Big Bang” gehört. Jener Explosion, die man nach dem Krieg auf dem evakuierten Felsen ausgelöst hatten, um die militärischen Anlagen dort zu vernichten.
Große Teile des gerade mal knapp einen Quadratkilometer großen Eilandes waren dabei zerstört worden und nur der eiserne Wille der Helgoländer und einiger Friedensaktivisten hatten es ermöglicht, dass Helgoland überhaupt wieder besiedelt werden konnte. Mehrmals hatte Paul auch mit seinen Eltern an einer Bunkerführung teilgenommen, bei denen einem ein Fremdenführer die Vergangenheit der Insel während eines Marsches durch die wenigen erhaltenen Stollen näher gebracht hatte.
Auch die Legenden, die teilweise heute noch verbreitet wurden, Atlantis sei einst in Sichtweite von Helgoland untergegangen, hatte er gehört und - natürlich - als Märchen abgetan.
Und nun saß hier eine kleine geflügelte Fee auf seinem Knie, lächelte ihn nach wie vor freudig an und erweckte alte Sagen zum Leben. Für den Jungen brach ein Weltbild zusammen.
Nach dem langen Aufenthalt fern ihrer magischen Heimat sei sie, Prinzessin Vicki XII., nun ihrer Zauberkraft beraubt.
Natürlich, eine zaubernde Prinzessin war sie selbstverständlich auch noch! Und benötige ausgerechnet seine Hilfe, um den geheimen Zugang nach Atlantis wieder zu öffnen.
Paul betrachtete das seltsame Wesen, das unermüdlich freundlich lächelte, genauer. Die Fee hatte ein sehr hübsches, wenn auch puppenhaftes Gesicht und so ziemlich alles an ihr, einschließlich der zarten Flügel auf ihrem Rücken, war rosa, wenn auch in unterschiedlichen Abstufungen. Ein feines, unaufdringliches Leuchten umgab ihren winzigen Körper, was ihr zusätzlich einen geheimnisvollen Anstrich verlieh. Die Nachbarstochter wäre sicher entzückt gewesen. Paul hingegen war zunächst einmal schockiert, einem Fabelwesen wie ihr tatsächlich zu begegnen, das obendrein auch noch etwas von ihm wollte.
„Warum? Also, ich meine, warum ICH?”
Vicki sah ihm in die Augen und machte plötzlich ein sehr ernstes und trauriges Gesicht.
„Du besitzt etwas, das ich brauche”, war ihre Antwort. Mit bebendem Finger deutete sie auf seine Brust.
„Was? Meine Feuersteinkette?” Pauls Gedanken überschlugen sich förmlich. Was hatte denn seine Kette mit all dem zu tun? Er hatte den Feuersteinanhänger bei einer jener Bunkerführungen unter einer der Bänke gefunden, auf denen die Helgoländer während der Bombenangriffe im Krieg gesessen und gewartet hatten, bis das Schlimmste vorbei war. Den Fremdenführer, offenbar einen Zeitzeugen, hatte es geschüttelt, bei den Erinnerungen an die ängstigende und beklemmende Atmosphäre, die damals herrschte.
Der kunstvoll geschliffene rote Feuerstein jedoch hatte Paul sofort gefallen und, kaum zurück in der Ferienwohnung, wurde er mit Hilfe eines Lederbändchens zur Kette umfunktioniert. Seitdem trug er die Kette beinahe ununterbrochen, seit nunmehr anderthalb Jahren. Er war sehr stolz auf dieses besonders schöne Stück roten Feuersteins, den es weltweit angeblich nur auf der Helgoländer Düne gab und der somit auch in gewisser Weise wertvoll war. Und ausgerechnet dieser Stein sollte nun etwas mit der kleinen Fee zu tun haben, die noch immer auf seinem Bein saß und ihn erwartungsvoll ansah?
Als könne sie seine Gedanken lesen, erklärte sie plötzlich: „Das ist der Schlüsselstein. Der Schlüssel für den geheimen Zugang nach Atlantis.”
„Meiner Heimat”, fügte sie nach einer kurzen Pause traurig hinzu. „Der Schlüssel öffnet alle Tore auf dem Weg von hier nach Atlantis. Ohne ihn komme ich nicht zurück.”
Sie ließ ihre Worte kurz wirken, dann fuhr sie fort.
„Ich habe dich beobachtet, als du den Stein entdeckt hast. Ich hatte ihn selber erst kurz vorher gefunden. Ein Wunder, dass er nach all der Zeit noch dort lag und kein anderer ihn mitgenommen hat. Leider habe ich meine Zauberkräfte über die lange Zeit eingebüßt. Ich konnte ihn nicht aus eigener Kraft fortbewegen. Und dann kamst du. Ein Tourist! Und hast ihn mitgenommen.”
Paul sah ihr an, was sie empfunden hatte, als ihr klar geworden war, dass der Stein - und somit jede Hoffnung jemals nach Hause zurückzukehren - mit ihm um die nächste Ecke entschwunden war.
„Ich war verzweifelt, völlig von der Rolle. Alle Hoffnung war dahin.” Sie lächelte ihn schüchtern mit Tränen in den Augen an und erzählte weiter. „Dann kamst du wieder. Letztes Jahr im Sommer. Weißt du noch?”
Natürlich wusste er es noch. Und erinnerte sich plötzlich an ein paar merkwürdige Situationen, die ihm damals gar nicht so bewusst geworden waren. In jeder spielte ein kleines summendes Etwas die Hauptrolle, das er für ein besonders lästiges Insekt gehalten und genervt mit der Hand weggescheucht hatte. „Das warst du?”
„Jedes mal!”
Nachdenklich ließ Paul sich das alles durch den Kopf gehen.
Sollte er etwa wirklich schon seit Monaten, ohne es zu wissen, einen Schlüsselstein besitzen, der einem den Weg nach Atlantis öffnen würde? Das musste doch eine Verwechslung sein. Er sah an sich hinunter zu dem roten Stein an seiner Kette und wollte gerade seine Verwechslungstheorie zum Besten geben, als die Fee mit ihren Erzählungen fortfuhr.
„Deine Eltern hingen wie Kletten an dir. Ich hatte keine Gelegenheit, dich mal alleine zu erwischen. Dann warst du wieder weg. Aber dieses Mal war es nicht ganz so schlimm. Inzwischen wusste ich ja, dass du immer wiederkommen würdest.”
Ein fragender Ausdruck machte sich auf Pauls Gesicht breit.
„Okay, ich habe euch ein bisschen belauscht”, gab sie zu. „Musste doch wissen, mit wem ich es zu tun habe.” Eine kurze Pause trat ein, in der jeder der beiden seinen eigenen Gedanken nachhing.
„Seit wieviel Jahren kommt ihr eigentlich schon hier her?”
„Solange ich zurück denken kann”, antwortete Paul. „Und laut meinen Eltern noch länger.”
„Tja, und jetzt bist du zum Glück wieder hier. Und sogar alleine. Lassen dich deine Eltern jetzt endlich von der Leine, was?”, fragte die Fee.
Da war es wieder, das freche Grinsen in ihrem puppenhaften Gesicht. Paul musste auch lächeln.
„Ja, inzwischen darf ich auch alleine losziehen.”
Und prompt passiert mir so was, fügte er in Gedanken hinzu und schüttelte sich fröstelnd. Es war zwar erst April, dafür jedoch schon recht warm in den letzten Tagen. Doch schlagartig schien es um einige Grad kälter geworden zu sein. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in Paul aus und weckte in ihm ein heftiges Verlangen, diesen Ort zu verlassen.
Auch Vicki wirkte auf einmal ziemlich nervös.
„Ein Rochusmensch”, hauchte sie ängstlich und ihr geheimnisvolles Leuchten erlosch mit einem Schlag. „Ein Rochusmensch...”
„Lauf!”, schrie sie Paul unvermittelt an. „Lauf so schnell du kannst. Ich lenke ihn ab.”
Paul starrte sie verständnislos an. Ein Rochusmensch? Was sollte das denn nun wieder bedeuten?
„Verschwinde endlich!”, brüllte Vicki ihn mit sich überschlagender Stimme an. „Nun hau schon ab!”
Und dann sah er ihn.
Ein Rochusmensch? Das, was da über ihren Köpfen am Himmel tobte, das war kein Mensch, das war ein Ungeheuer. Ein Monstrum. Ein Alptraum. Nie zuvor hatte er ein solches Geschöpf gesehen, außer vielleicht auf den Titelbildern der Gruselromane, die seine Mutter ab und an las.
Das Wesen über ihm verdunkelte nahezu sein ganzes Sichtfeld. Es war unerhört groß, hatte nur entfernt menschenähnliche Formen vorzuweisen und erinnerte mehr an eine Mischung aus einem Golem und einem Riesen. Seine giftgrünen Augen strahlten eine Boshaftigkeit aus, wie Paul sie noch nie gefühlt hatte. Zudem bestand das Untier aus einer undefinierbaren Materie, wobei Paul noch nicht einmal genau hätte sagen können, ob es überhaupt aus einem festen Material bestand oder gar feinstofflich war. Es wirkte irgendwie holografisch, an den Rändern seltsam verzerrt, als würde etwas aus ihm herauslaufen. Obendrein konnte es nicht nur ohne Flügel fliegen, sondern tat dies, trotz der ungeheuren Größe, auch noch mit einer Geschwindigkeit und Wendigkeit, die der eines Insektes in nichts nachstand.
Mit einem letzten „Lauf endlich!”, flatterte Vicki hoch und ließ Paul aus seiner Erstarrung erwachen.
Ohne weiter nachzufragen, begann Paul zu rennen. Rannte, bis ihm die Lungen brannten und er kaum noch Luft bekam. Er wagte nicht einmal, sich umzudrehen, um zu sehen, was sich hinter ihm wohl inzwischen abspielte.
Und nun saß er hier am Anlegesteg, wartete bibbernd auf die Dünenfähre und wollte noch immer nicht glauben, was er mit eigenen Augen gesehen hatte.
Endlich, die Dünenfähre!
In Gedanken versunken hatte Paul noch eine Weile an seinem Feuerstein herumgespielt und sich dann doch noch getraut, sich in Richtung „Friedhof der Namenlosen“ umzudrehen. Und da er nichts Ungewöhnliches hatte erkennen können, war er zu dem Schluss gekommen, es müsse doch an den Nachwirkungen seiner ersten Exkursion in die Welt der alkoholischen Getränke gelegen haben. Kaum hatte die Dünenfähre angelegt und die schnatternde Schar Touristen sowie einige Vogelkundler auf die Düne entlassen, da kam er sich fast schon etwas albern vor, überhaupt in Erwägung gezogen zu haben, Prinzessin Vicki XII. und der Rochusmensch seien Realität gewesen.
Und doch war ihm alles so echt vorgekommen.
Was, wenn...?
„Aber nein, Feierabend jetzt!", ermahnte Paul sich selber. „Schluss mit dem Theater! Ich fahre jetzt rüber, esse was und dann wird sich schon alles aufklären!"
Er bestieg die Dünenfähre und stellte fest, dass zumindest die Schmerzen in seinen Oberschenkeln Realität waren. Gerannt war er also tatsächlich.
Kaum hatte das kleine Boot abgelegt, wanderte seine Hand doch wieder in Richtung Kette und er befühlte noch einmal den Stein. Er fühlte sich ganz warm an, als sei er durch die Begegnung mit der Fee irgendwie „aktiviert” worden. Auch ein ganz leichter, fließender Schimmer schien von dem Material auszugehen. Dem Leuchten der kleinen Fee nicht unähnlich...
„Schluss jetzt mit dem Theater”, rief Paul noch einmal, als könne er so die unerwünschten Gedanken verscheuchen. „Ich habe einfach zu viele Geschichten gelesen!”
Da er der einzige Fahrgast war und der Motor des kleinen Bootes kräftig röhrte, bemerkte niemand sein Selbstgespräch.
Aber trotz der Absicht, das Ganze einfach zu vergessen, nahm er sich gleich erstmal vor, sich mit entsprechender Lektüre über Atlantis einzudecken.
Rein interesse halber selbstverständlich.
Ein wenig zögernd betrat Paul kurz darauf das Ferienappartement. Er stellte sich mit trotziger Miene vor den Garderobenspiegel, als wolle er klarstellen, dass er das sehen möchte, was er morgens noch gesehen hatte: einen mittelgroßen, sportlichen Zwölfjährigen mit sehr langen, blonden Haaren, die ihm nicht erst heute Spott und Hohn eingebracht hatten. Aber daran war er gewöhnt. Er trug die Haare so seit seinem fünften Lebensjahr und sie gehörten einfach zu ihm, wie seine braunen Augen und die Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen.
Freundlicherweise zeigte ihm der Spiegel auch all dies. Er war weder um Jahre gealtert, noch rollten seine Augen wie im Wahn umher, wie er insgeheim befürchtet hatte. Nein, er war immer noch er, ganz so, wie er sein sollte, nur ein wenig blass um die Nase vielleicht, was ihm jedoch in Anbetracht der Umstände auch vollkommen gerechtfertigt erschien.
Er atmete noch einmal tief durch, dann betrat er die angrenzende Wohnküche, in der er seine Eltern vermutete. Paul nannte sie immer Ältern, um sie zu ärgern, aber mittlerweile war das mehr schon eine lieb gewonnene Angewohnheit als ein Ärgernis. Doch als er den Raum betrat, stellte er fest, dass seine Mutter alleine war. Sie begrüßte ihn lächelnd und natürlich, wie immer, mit einem Buch in der Hand.
„Na, mein Schatz, noch alle Namenlosen da?” Pauls Mutter war eine etwas rundliche und gemütliche Frau Ende dreißig, mit langen, schon leicht ergrauten Haaren und immer guter Laune.
„Ja, ja, alle angetreten zum Rapport”, grinste Paul schwächlich zurück.
Besorgt musterte seine Mutter ihn. „Was ist los mit dir, du bist so blass? Ist dir die Überfahrt nicht bekommen?”
Musst du gerade sagen, dachte Paul entrüstet. Wer ist denn jedes Mal schon bei Windstärke zwei seekrank? Das bist doch wohl du! Aber er war auch dankbar für die mundgerechte Ausrede, also brummte er irgendeine unverständliche Zustimmung.
Nur zur Sicherheit natürlich, schloss er gleich mal unauffällig alle Fenster. Nur für den Fall, dass es doch kleine Feen gab und nur für den Fall, dass diese noch mal versuchen könnten, Kontakt zu ihm aufzunehmen.
„Möchtest du etwas essen? Oder einen Tee?”
„Tee wäre gut.” Gedankenverloren goss er sich eine Tasse ein, nippte daran, verbrühte sich prompt und zog leise fluchend von dannen. Sein Blick fiel auf das Bücherregal, das, wie in jeder Ferienwohnung, die sie bisher bewohnt hatten, mit einschlägiger Helgoland-Literatur bestückt war und las die Titel.
„Verwehte Spuren” von Benno Krebs, „Auf Helgoland ist alles anders” von H.P. Rickmers, Fotobände von Franz Schensky, Tatsachenberichte, Mythen und Sagen... Die hatte er, genau wie seine Mutter, schon längst alle verschlungen.
Die einzige deutsche Hochseeinsel hatte schließlich eine interessante Geschichte zu bieten. Etwa sechzig Kilometer von der deutschen Küste entfernt, trotzte der rote Bundsandsteinfelsen seit tausenden Jahren den Stürmen der Nordsee und war im Laufe der Zeit auf ein Geringes seiner ursprünglichen Größe zusammengeschrumpft. Auch die einstige Verbindung zwischen der Hauptinsel und der vorgelagerten Düne war schon seit Jahrhunderten gebrochen und mittlerweile trennte die beiden eine breite Fahrrinne, in der die Seebäderschiffe im Sommer vor Anker lagen, während die Gäste das letzte Stück zur Insel mit dem “Inseltaxi”, den traditionellen Börtebooten, transportiert wurden.
Im Laufe der Zeit gehörte die Insel mal den Dänen, mal den Engländern, bis hin zu den Deutschen. Unter deren Zugehörigkeit hatte die Insel in den beiden Weltkriegen einiges zu erdulden und war sogar zweimal vollständig evakuiert worden. Der „Big Bang” war dann trauriger Höhepunkt dieser Ereignisse und erst mit dem Wiederaufbau in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts konnte die Insel wieder besiedelt werden. Inzwischen war sie ein modernes Hochseebad geworden und bot unzähligen Urlaubern eine grandiose, einmalige Landschaft mit vielen seltenen Pflanzen und Tieren.
All dies wusste Paul bereits über die Insel und ihm kamen auch wieder die Geschichten über Atlantis und Helgoland in den Sinn. Sollte die Insel tatsächlich sogar über einen Zugang zu diesem sagenumwobenen Ort verfügen? Was wusste er eigentlich über Atlantis?
Die unterschiedlichsten Theorien hatte er schon gehört. Manche hielten es für die „Wiege der Menschheit”, von der alles Leben auf Erden ausgegangen sein soll. Andere waren davon überzeugt, die Menschen seien ein Experiment von Außerirdischen und deren Basisstation sei Atlantis gewesen. Filme hatte Paul gesehen, in denen das verschollene Eiland als mythischer Ort dargestellt wurde, wo Menschen und Meerjungfrauen zwischen altgriechisch anmutenden Gebäuden friedlich miteinander lebten und vom Meereskönig regiert wurden. Auch, dass es die verschiedensten Vorstellungen davon gab, wo Atlantis gelegen haben könnte, hatte er gehört. Eine davon war natürlich auch jene Sage, laut der das Eiland ganz in der Nähe von Helgoland gelegen haben soll. Gerade diese Theorie war ihm immer am unwahrscheinlichsten vorgekommen. Wie oft war er schon hier gewesen und hatte außer den Mythen nie etwas entdeckt, was wie eine Verbindung zwischen den beiden Inseln aussah. Und er hatte wahrlich jeden erreichbaren Winkel der Insel erkundet.
Im Berginneren solle der Zugang liegen, hatte die Fee berichtet. Irgendwie wünschte er sich die kleine Fabelgestalt jetzt doch herbei. Hatte er doch mindestens tausend Fragen an sie. Zwar klammerte er sich noch immer an der Hoffnung fest, sich das alles nur eingebildet zu haben und vielleicht war er ja auch einfach nur kurz auf der Bank eingenickt, eingeschläfert von der beruhigenden Geräuschkulisse des ihn umgebenden Meeres und hatte geträumt.
Bestimmt sogar.
Aber seine Neugier war geweckt. Wieder befingerte er seine merkwürdig erwärmte Feuersteinkette und schaute durch das Fenster hinüber zur Düne. Und glaubte plötzlich, sein Herz bliebe stehen! Das dunkle, schwarze Etwas, das da über den Hügeln der Düne tobte, diese Mischung aus Ungeheuer, Dämon und Ausgeburt eines Alptraumes, das war mit Sicherheit kein Wolkenfetzen oder dergleichen.
Es war, wie Vicki es angstvoll genannt hatte - und in Ermangelung eines passenderen Wortes nannte er es auch so - ein Rochusmensch.
Paul rieb sich kräftig über die Augen und starrte noch einmal hin, doch der Anblick hatte sich nicht verändert. Mal abgesehen von den Sternchen, die er jetzt zusätzlich noch vom Reiben der Augen aufblitzen sah. Trotz der sicheren Entfernung zur Düne beschlich ihn sofort wieder die gleiche Angst vor dem grausigen Wesen, das ihn auch schon auf der Düne befallen hatte. Er war zwar weder ein Held noch ein besonders ängstlicher Typ, aber dieses Geschöpf war eindeutig einem Alptraum entsprungen und ganz und gar nicht geraten, Fröhlichkeit zu verbreiten.
Er schaute zu seiner Mutter hinüber, die den uralten Rocksong, der gerade im Radio lief, mitträllerte, blickte zur Düne, sah den Rochusmenschen und sah wieder zu seiner Mutter. Auch sie hatte kurz aus dem Fenster gesehen, schien aber nicht wahrzunehmen, was sich da drüben abspielte. Vielleicht hielt sie es auch einfach für eine Laune der Natur. Dennoch bemerkte sie seinen fiebrigen Blick und wirkte etwas bestürzt.
„Was ist denn nur los mit dir, mein Schatz? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen!”
Sollte er ihr etwa sagen, dass genau das sein Problem war? Kurz war er geneigt, ihr alles zu erzählen, von Prinzessin Vicki XII., von dem geheimen Zugang nach Atlantis und von dem Rochusmenschen. Doch eben dieser war nun verschwunden, wie Paul mit einem erneuten Blick zur Düne hinüber feststellen musste. Er schluckte einmal kräftig, bevor er antworten konnte. „Nee, nee, alles in Ordnung. Mir ist nur noch ein bisschen übel. Du weißt ja, die Überfahrt gerade.”
„Ruh’ dich noch was aus und trink endlich deinen Tee, dann geht es dir bestimmt bald besser.”
Sie lächelte Paul aufmunternd zu und ließ sich mit dem Buch in der Hand auf dem Sofa nieder.
Sie hätte es mir sowieso nicht geglaubt, dachte Paul betrübt. Sie hätte mir nur wieder wohlwollend die Hand auf die Stirn gelegt, um meinen Fieberpegel zu testen und hätte mir gesagt, mit ein bisschen Bettruhe wäre alles wieder in Ordnung.
Aber konnte er es ihr verübeln? Wer sollte ihm die Geschichte überhaupt glauben? Er war sich sicher, dass nicht einmal sein bester Freund Aman ihm das abgekauft hätte.
„Wo ist eigentlich Papa?”, fragte Paul.
„Auch zur Düne, Bernstein suchen.”
Vor Schreck prustete Paul den halben Tee auf die Fensterscheibe, als ihm klar wurde, was seine Mutter da gerade gesagt hatte.
„Paul!! Pass doch auf!”
„T’schuldigung, war noch zu heiß”, beeilte er sich zu sagen und starrte gebannt rüber zur Düne, während er unbeholfen mit dem Ärmel den Tee auf der Scheibe verteilte.
Entrüstet hielt seine Mutter ihm ein Wischtuch unter die Nase. „Kannst du bitte einen Lappen nehmen?”
„T’schuldigung, t’schuldigung”, stammelte er vor sich hin und entfernte endlich die schmierigen Streifen von dem Fenster.
„Was ist denn nur los mit dir? Du wirst doch nicht etwa krank?”
Oh nein, jetzt tat sie es doch.
Ehe Paul sich versah, hatte sie auch schon ihre Hand auf seine Stirn gelegt und mit wissendem Blick kurz innegehalten. Dann strich sie ihm über das Haar, zuckte ratlos mit den Schultern und stellte mit Kennermiene fest, dass er aber kein Fieber habe.
Eilig wandte Paul sich in Richtung Ausgang. „Ich geh’ noch kurz was an die Luft, vielleicht geht es dann besser.” In Windeseile zog er sich an und flüchtete regelrecht aus der Wohnung. Wieder rasten die Gedanken durch seinen Kopf, der allmählich zu platzen schien.
So viel zum Thema Urlaub und entspannen, dachte er genervt und humpelte, so schnell es sein monströser Muskelkater erlaubte, Richtung Nord-Ost-Gelände, wo die Dünenfähre im Moment immer an- und ablegte.
Mein Vater ist auf der Düne. Der Rochusmensch ist auf der Düne. Womöglich ist Vicki auch noch drüben. Vicki!, dachte Paul. Was ist das eigentlich für ein komischer Name für eine Fee?
Er nahm sich vor, sie danach zu fragen, wenn er sie das nächste Mal sähe. Denn, dass er sie wiedersähe, daran zweifelte er mittlerweile nicht mehr. Der scheinbar vor Wut rasende Rochusmensch, den er noch vor Minuten gesehen hatte, zeigte ihm deutlich, dass er wohl doch keine Tagträume oder Halluzinationen hatte. Und so, wie das Monstrum getobt hatte, war es ihm wohl noch nicht gelungen, die kleine Fee zu schnappen.
Was auch immer es mit ihr vorhatte.
Da er im Moment sowieso nichts tun konnte und das unheimliche Wesen nicht mehr zu sehen war, beschloss Paul zunächst einmal die Helgoländer Bücherei aufzusuchen, neben der er quasi sowieso gerade stand. Die freundliche Frau darin hatte ihm schon häufig gute Bücher empfohlen. Sie wüsste sicherlich auch, wo er etwas über Atlantis finden konnte, sei es nun in Form von wissenschaftlichen Berichten oder Sagen und Mythen. Außerdem hatte die Bücherei auch Fenster mit Dünenblick, so dass er gleichzeitig noch unauffällig das Geschehen dort drüben im Auge behalten konnte.
Eine Stunde und unzählige Blicke aus dem Fenster später, sah Paul die letzte Dünenfähre anschippern. Er wankte mit einem gefährlich hohen Stapel Büchern aus dem Gebäude neben dem Anlegesteg und lief seinem offenbar wohlbehaltenen Vater in die Arme. Auch er ging stramm auf die Vierzig zu, war jedoch, ähnlich wie Paul, eher schlank und sportlich.
„Und, was gefunden?”, fragte Paul und kämpfte unter der Last der Bücher mit dem Gleichgewicht.
„Nö, wie immer”, gab sein Vater resigniert zurück. Seit Jahren schon suchte und wühlte er nach Stürmen im angeschwemmten Tang nach Bernstein, aber gefunden hatte er, trotz zahlreicher Tipps von erfahrenen Helgoländern, bislang noch nichts. „Aber um so besser, so habe ich wenigstens die Hände frei, um dir mit deinen Büchern zu helfen. Was hast du denn mit all dem Kram vor? Du weißt, dass wir nur noch drei Tage hier sind? Wann willst du denn das alles noch lesen?”
So viele Fragen.
„Och”, druckste Paul herum. „Wollte nur was rumstöbern. Ein bisschen was über Atlantis lesen und so.”
„Atlantis?” Ungläubig starrte sein Vater ihn an, während Paul ihm dankbar gut die Hälfte der Bücher in den Arm drückte. „Wie kommst du denn auf Atlantis?”
„Nun ja, es heißt doch, Atlantis sei damals in der Nähe von Helgoland untergegangen und jetzt bin ich halt neugierig, ob da was dran ist.”
„Über Helgoland weiß ich doch schon alles”, fügte er hinzu. „Und wenn nicht, haben wir doch noch ein wandelndes Lexikon zu Hause rumlaufen.”
„In der Tat!”, meinte sein Vater grinsend. „Es gibt wohl kein noch so unbedeutendes Ereignis, das auch nur im entferntesten mit diesem wunderbaren Eiland zu tun hat, zu dem deine Mutter dir nicht sofort eine Doktorarbeit abliefern kann.”
„Dabei bin ich doch sonst immer der Klugscheißer”, lachte Paul, froh über den Themenwechsel.
„Nicht war, Justus Jonas?”, setzte sein Vater noch eins drauf. Paul neigte etwas dazu, seiner Umwelt mit seiner Besserwisserei auf den Nerv zu gehen, was ihm den Spitznamen eingebracht hatte. Auch der erste Detektiv der „Drei ???” war bekannt dafür, alles zu wissen und das vor allem besser als andere.
Lachend betrat Paul mit seinem Vater die Wohnung, in der es bereits nach Abendessen duftete.
„Na, geht’s wieder besser?”, erkundigte Pauls Mutter sich sogleich. Erstaunt sah sein Vater zu ihm hinüber. „Wieso, was war denn los?”
Nicht noch einer, dachte Paul und rückte vorsorglich schon mal etwas auf Abstand, bevor sein Vater auch noch auf die Idee käme, seine Stirn nach Spuren von Fieber zu untersuchen.
„Nix, alles in Butter”, gab er zurück und bemühte sich, einen möglichst gesunden Eindruck zu machen.
Eine halbe Stunde später saßen alle drei gesättigt und zufrieden im Wohnzimmer, und während seine Eltern die Nachrichten sahen, schaute Paul noch einmal verstohlen aus dem Fenster. Mittlerweile war es allerdings so dunkel geworden, dass er selbst eine ganze Armee von den monströsen Rochusmenschen nicht mehr hätte erkennen können. Daher entschied er, sich erst einmal seiner Lektüre aus der Bücherei zu widmen, schnappte sich das erstbeste Buch und begann eifrig zu blättern.
Doch es dauerte nicht lange, da musste er feststellen, dass zwar scheinbar jeder Schriftsteller, der etwas auf sich hielt, seine Theorie zum Thema auf Papier gebracht hatte, doch der Inhalt war eigentlich immer das Gleiche: Wiege der Menschheit, Basis für Außerirdische und deren Experimente, mythischer Ort, usw. Nichts Neues jedenfalls. Einer hatte sogar versucht, gleich alle Theorien miteinander zu verknüpfen, aber Paul merkte schnell, dass einer nur beim anderen abgeschrieben zu haben schien. Am glaubwürdigsten erschien ihm da fast noch eine These, die Wissenschaftler seit einiger Zeit verfolgten und die besagte, Atlantis könne auch ein Synonym für Troja sein.
Das brachte ihn jedenfalls alles nicht weiter. Nichts von dem erklärte, warum hier auf einmal Feen und Dämonen auftauchten. Ärgerlich pfefferte er das Buch zurück neben den Stapel und griff nach dem nächsten. Darin ging es zwar nicht konkret um Helgoland, sondern eigentlich um die germanische Mythologie, aber der Name Fosite sagte ihm als Helgolandexperten natürlich etwas und so blätterte er interessiert darin herum.
Fosite war den germanischen Sagen zufolge ein friesischer Friedensgott, den die Helgoländer bis zur Einführung des christlichen Glaubens lange Zeit verehrten. Nicht umsonst las man in alten Schriften über die Insel auch von Fositesland und Heiligland, bevor der Name Helgoland überhaupt auftaucht.
Fosite, der Enkel des Göttervaters Odin, hielt sich demnach oft auf dem roten Felsen auf, wenn er auf Erden wandelte. Ja, er hatte die Insel sogar erst rot gefärbt, so dass es an seine Heimstatt Glanzheim im Himmel, der Asgard genannt wurde, erinnern sollte. Laut Pauls Lektüre ging sogar die Sage um, Fosite habe auch die vielen Vögel erschaffen, die man noch heute auf Helgoland beobachten konnte.
Auch von den anderen Göttern war dort Interessantes zu lesen. Von der ewigen Feindschaft Odins mit dem listenreichen Loki, durch dessen Intrigen es letztlich zur sogenannten Götterdämmerung, dem alles umfassenden Weltenbrand gekommen sei. Loki, der mit der Riesin Angurboda drei Kinder gezeugt haben soll, war demnach die Totengöttin Hel, die Mitgardschlange und der Wolf Fenrir zu verdanken, die bis in heutige Zeit in vielen Geschichten auftauchen. Nur Atlantis tauchte in diesem Buch gar nicht auf.
Noch einmal glitt Pauls Blick über das reich bestückte Bücherregal des Appartements. Im ersten Moment dachte er, seine Augen würden ihm einen Streich spielen. Nachdem er so viel über die sagenhafte Insel gelesen hatte, sah er überall nur noch diesen Begriff vor Augen: „Atlantis!"
Aber das kleine blaue Bändchen, das da zwischen den Büchern steckte, trug tatsächlich den Titel „Atlantis’ Untergang - Der griechische Philosoph Plato und Nordfriesland."
Rasch zog er das nur wenige Seiten umfassende Heft hervor und begann zu lesen. Das war genau das, wonach er gesucht hatte. Da stapelten sich hunderte Seiten dicke Bücher, die ihm nicht hatten helfen können und jetzt lag die Antwort auf seine Fragen womöglich in diesem unscheinbaren Büchlein.
Es handelte von dem griechischen Philosophen Plato und seiner Theorie, nach der die Insel infolge einer Naturkatastrophe binnen einer Nacht im Meer versunken sei und der Ansicht anderer Denker, Plato habe Atlantis als Bild für eine fiktive, seiner Meinung nach perfekte Gesellschaft genutzt, die später einfach als Tatsache ausgelegt wurde.
Außerdem listete der Autor, ein gewisser Albert Panten, zahlreiche Beweise auf, warum Atlantis, wenn es denn tatsächlich existiert habe, ganz bestimmt nicht in der Nordsee - und damit in der Nähe Helgolands gelegen habe.
Das war nun nicht das, was Paul sich von der Lektüre dieses viel versprechenden Heftchens erhofft hatte!
Auch „Atlantis’ Untergang” landete, etwas unvorsichtiger, als es sonst Pauls Art war, auf dem Bücherturm. Er beschloss, dass es für’s Erste genug wäre und stellte fest, dass das Papiergeraschel offenbar eine einschläfernde Wirkung auf seine Eltern gehabt haben musste. Seine Mutter lag friedlich schlummernd auf dem Sofa und sein Vater schnarchte ausgiebigst im Sessel.
Tja, Seeluft macht eben müde, dachte er und musste selber herzhaft gähnen. Du meine Güte, schon halb zwölf?
Erschrocken blickte Paul auf die Uhr. Die letzten Stunden waren einfach nur verflogen, während er in den Wälzern gestöbert hatte.
Vorsichtig legte er das Buch, das seiner Mutter aus der Hand gefallen war, - natürlich ein Buch über Helgoland -, auf den Tisch und pustete die Kerzen aus. Auf Zehenspitzen schlich er sich aus dem Zimmer und legte sich in sein Bett. Er starrte die Decke über sich an und ließ noch einmal den Tag Revue passieren.
Kaum bin ich mal alleine unterwegs ...
Dann war er auch schon eingeschlafen.
Die Sonne schien, die Möwen und Basstölpel schrien aufgeregt durcheinander und Paul saß auf einer Bank am Lummenfelsen, der Hauptbrutstätte für die vielen Vögel, die Helgoland während der Brutzeit bevölkerten. Er war gerade an der “Langen Anna” vorbei gekommen, dem letzten freistehenden Felsturm und Wahrzeichen der Insel, war Frau Piel, der geklonten Frau, ungefähr zum hundertsten Mal an diesem Tag begegnet und gönnte sich nun erstmal eine kleine Pause.
Konnte es etwas Schöneres geben als hier oben zu sitzen, auf dem knapp 60 Meter hohen roten Felsen? Egal, in welche Richtung man sah, nur die endlose Weite der Nordsee vor Augen und die herrliche Stille der autofreien Insel genießend? Nur die Westküste bei Sturm war schöner. Diese Liebe hatte er eindeutig schon von seinen Eltern mit in die Wiege gelegt bekommen.
In meinem nächsten Leben werde ich ein Baßtölpel, beschloss Paul, als er den eleganten Flug der hübschen Vögel mit dem gelb gefiederten Kopf beobachtete.
Langsam stand er auf, streckte sich kräftig und beschloss zur Wohnung zurück zu gehen, bevor die ganzen Tagesgäste und Schnäppchenjäger die Insel um die Mittagszeit wieder überrennen würden. Da hielt man es als Dauergast ähnlich wie die Insulaner. Wenn die Schiffe mit den Tagestouristen kamen, verzog sich jeder, der die Möglichkeit dazu hatte, nach Hause oder auf die Düne. Nach ein paar Stunden hatte man die Insel wieder für sich.
Es war das erste Mal, dass sie das Eiland um diese Jahreszeit besuchten, aber der Winter, mit seinen Stürmen und meterhohen Wellen war ihnen immer am liebsten gewesen. Selbst seiner Mutter, die das Schiff nach der Überfahrt vom Festland immer mehr tot als lebendig verließ.
„Das nehme ich gerne in Kauf”, pflegte sie dann immer zu sagen und verschwand wieder auf der Toilette.
Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen und er unwillkürlich etwas grinsen musste, machte er sich auf den Heimweg.
Nach ein paar Metern flatterte ihm ein rosa schillernder Falter um die Ohren.
Ein verdammt hartnäckiger Falter.
Der gar kein Falter war, sondern eine kleine geflügelte Fee mit langen, blonden Haaren, einem puppenhaften, schönen Gesicht und dem merkwürdigen Namen Prinzessin Vicki XII.!
Wie angewurzelt blieb Paul stehen, als er dies feststellte.
„Hilf mir! Bitte hilf mir!”, piepste das zarte Stimmchen. „Hilf mir, ich schaffe es nicht alleine. Der Rochusmensch...”
Und kaum hatte sie dies ausgesprochen, verdunkelte sich auch schon der Himmel über ihnen und drohte, sie mit in die endlose Schwärze zu reißen. Die Fee versteckte sich in der Jackentasche des fassungslosen Jungen und piepste ängstlich vor sich hin. Paul konnte sie durch den Stoff der Jacke spüren, fühlte, wie der kleine Körper vor Angst bebte.
„Verdammt, was soll ich denn jetzt machen?”, schrie Paul, der nicht minder ängstlich war.
Weglaufen brachte nichts, so viel war klar. Er versuchte es trotzdem, aber seine Beine waren wie auf dem Boden festgetackert. Er bekam seine Füße nicht einen Millimeter angehoben, geschweige denn, dass er hätte laufen können. Mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit stürzte das Untier auf sie nieder und riss sie mit sich.
Eine kaum zu ertragende Kälte umgab sie und Paul merkte, wie ihm die Lebensgeister allmählich schwanden. So schnell hatte es dann doch nicht gehen sollen, das mit dem nächsten Leben!
Doch plötzlich fluteten massenhaft Bilder durch Pauls Kopf. Bilder von Orten und Personen, die er aus den vielen Büchern und Geschichten kannte, die er so begierig verschlungen hatte. Da waren Bartimäus, der Dschinn aus den Büchern von Jonathan Strout, Boromir aus „Herr der Ringe” von Tolkien, der Hirbel von Peter Härtling, Jim Knopf, Wickie, die sieben Zwerge,... Die Bilderflut nahm kein Ende. Vermutlich jede Figur, aus jedem Buch, das er mal gelesen hatte, rauschte an ihm vorbei und auch einige, die er gar nicht kannte, die ihm aber trotzdem irgendwie vertraut vorkamen.
Und wieder diese piepsende Stimme.
„Hilfe! Hilfe! Paul, wach auf. Ich brauche deine Hilfe!”
Schweißgebadet wachte Paul auf und saß sofort senkrecht im Bett. Ihm gegenüber saß, umgeben von einem sanften Schimmer und mit lässig übereinander geschlagenen Beinen, Vicki die Fee und grinste ihn frech an.
„Na, schlecht geschlafen?”
Noch ganz benommen von den Eindrücken und Bildern aus seinem Traum, dauerte es eine Weile, bis Paul begriff, dass er in Sicherheit war. Allmählich beruhigte sich sein Atem wieder und er schaute vorsichtig zum Bett seiner Eltern hinüber, doch die schienen noch im Wohnzimmer zu schlafen.
„Wie kommst du denn hier rein?”, fuhr er die kleine Fee wohl etwas zu barsch an.
„Oh, was für eine freundliche Begrüßung!” Pikiert drehte sie sich zur Seite. „Wie wär’s erstmal mit „Hallo Vicki, meine Güte, bin ich froh, dass es dir gut geht! Wie hast du es bloß geschafft, diesem Monster zu entkommen“?”
Beschämt schlug Paul die Augen nieder. „Entschuldige bitte! Natürlich freue ich mich, dich gesund wieder zu sehen und ich möchte selbstverständlich auch wissen, wie du es geschafft hast, gegen dieses - Ding. Aber trotzdem, wie bist du hier rein gekommen?”
„In der Jackentasche von deinem Dad.”
Sie sagte dies, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, sich in fremden Taschen durch die Gegend tragen zu lassen.
„Bei meinem Vater in der -
Du meine Güte, wenn er dich entdeckt hätte!”
„Keine Sorge, ich verstehe es durchaus, mich zu tarnen, wenn es sein muss. Ohne diese Fähigkeit wäre ich gar nicht hier. Dieser verflixte Rochusmensch!”
„Was wollte der von uns? Und wie bist du ihm entkommen? Und wo ist der jetzt? Kann der auch hier rein kommen? Was ist das eigentlich für ein Ding? Gibt’s noch mehr davon...?”
Atemlos hielt Paul inne.
Das kleine geflügelte Wesen verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen streng an. „Sonst noch irgendwelche Fragen?”
„Oh, ja, tausende, wenn nicht noch mehr. Aber am wichtigsten ist...” Verlegen hielt Paul inne. Dass ihm der Gedanke ausgerechnet jetzt kam, - aber egal!
„Warum heißt du Vicki?”
„Ich meine”, fuhr er eilig fort, als sie ihn nur verständnislos ansah. „Was ist das für ein komischer Name für eine Fee? Die heißen doch sonst immer „gute Fee” und „böse Fee” oder so. Aber Vicki? Wer kommt denn auf so was?”
Dass er bei Vicki eher an den kleinen Wickinger aus Flake dachte als an eine Fee, erwähnte er lieber nicht, zumal ihr Gesichtsausdruck ihm deutlich zeigte, dass er direkt in den nächsten Fettnapf getreten war.
„Na, schönen Dank auch! Taktgefühl ist nicht gerade deine Stärke, was?” Demonstrativ beleidigt sah Vicki wieder zur Seite. „Pöh!”
Paul hätte nie gedacht, dass ein Fabelwesen, das sich einem Monstrum wie diesem Rochusmenschen entgegenstellte, derart empfindlich sein konnte.
„Tut mir leid“, murmelte er zerknirscht. „War nicht so gemeint. Vicki ist ja auch ein schöner Name, nur halt etwas ungewohnt für eine Fee. Finde ich.”
Ich glaub, ich stell heute noch meinen persönlichen Rekord im Entschuldigen auf, dachte er. Aber es schien zu wirken. Als Vicki sich zu ihm umdrehte, wirkte sie schon wieder recht versöhnlich.
„Na ja, schon gut. Entschuldigung angenommen“, sagte sie und machte es sich bequem. „So, und jetzt eins nach dem anderen. Also, Vicki heiße ich, weil ich so heißen möchte! Wir Feen können uns unseren Namen selber aussuchen und ihn auch im Laufe der Zeit mal ändern, wenn uns der alte nicht mehr so gefällt.”
Täuschte er sich, oder leuchtete ihr Gesicht gerade zartrosa auf?
„Wie du schon so richtig bemerkt hast, sind die Menschen in der Regel nicht sehr erfindungsreich, wenn es um Namen für Feen geht. Gute Fee und böse Fee höchstens noch Zahnfee oder Todesfee, das ist dann aber auch schon alles, was sie sich so einfallen lassen zu dem Thema. Damit sich auf Atlantis nicht zweitausend „gute Feen” gleichzeitig angesprochen fühlen, wenn mal jemand nach einer ruft, haben wir halt angefangen, uns selber Namen zu geben. Einfach welche, die wir schön finden. Und Vicki fand ich nun mal ausgesprochen schön. Soviel dazu!”
Vicki sah Paul wohl an, dass er direkt zur nächsten Frage ansetzte, deshalb fuhr sie hastig fort. „Nun zum Thema Monster und Ungeheuer. Auch davon gibt es auf Atlantis vermutlich tausende.”
Entsetzt keuchte Paul auf. Tausende? Wie konnte jemand überhaupt auch nur auf die Idee kommen, nach Atlantis zu wollen, wenn es dort so viele von diesen Ungeheuern gab?
„Es gibt alleine schon bestimmt tausend verschiedene Arten von Monstern: durchsichtige, feinstoffliche, feste, gute, böse, niedliche... Aber das würde jetzt zu weit führen. Von den Rochusmenschen jedenfalls gibt es nur ganze drei Exemplare, plus ihren Herrn, aber der...egal, später! Die drei reichen jedenfalls voll und ganz!”
„Das will ich glauben”, stöhnte Paul und schauderte in Erinnerung an das Ungetüm, das er auf der Düne erlebt hatte.
„Diese drei verkörpern alles, was es an negativen Eigenschaften gibt. Sie sind tückisch wie Nebel, grausam und gnadenlos. Und noch dazu dumm wie Brot. Aber das kann für uns nur von Vorteil sein.”
Soweit Paul im Halbdunkel erkennen konnte, lächelte sie ihn kurz an.
„Was genau der Rochusmensch von uns wollte, kann ich dir auch nicht erklären. Aber ich habe Vermutungen. Wahrscheinlich wollte er verhindern, dass ich rechtzeitig nach Atlantis zurückkehre.
Zur Krönungszeremonie.
Meiner Krönung.
Zur Königin von Atlantis!”
So, jetzt war es raus.
„Du?
Königin von Atlantis?
Demnächst?”
Dazu fiel dem Jungen nun wirklich gar nichts Gehaltvolles mehr ein. Das wurde ja immer besser.
Herausfordernd stemmte die Fee die Arme in die Hüften und suchte seinen Blick. „Nun frag schon!”
„Was?”
„Warum ausgerechnet ich Königin von Atlantis werden soll natürlich!”
Das war tatsächlich genau die Frage, die Paul gerade durch den Kopf gegangen war. „Ja genau! Warum sollst ausgerechnet du Königin von Atlantis werden?”
„Das ist eine längere Geschichte”, antwortete Vicki ausweichend, aber Paul konnte spüren, dass sie förmlich darauf brannte, sie endlich loszuwerden.
„Macht nichts, erzähl schon!”
Ungeduldig rutschte Paul in seinem Bett hin und her. Zwischendurch warf er immer mal wieder nervöse Blicke in Richtung Wohnzimmer. Hoffentlich würden seine Eltern noch ein Weilchen weiterschlafen. Dem ausgiebigen Schnarchen seines Vaters nach zu urteilen war jedenfalls alles noch in bester Ordnung. Erleichtert widmete er seine Aufmerksamkeit wieder der nächtlichen Besucherin.
Die Fee atmete tief durch, als müsse sie sich für das, was nun kommen sollte, erst noch stärken. „In Atlantis leben unvorstellbar viele Wesen, manche sogar mehrmals”, begann sie schließlich und sofort braute sich ein überdimensionales Fragezeichen über Pauls Kopf zusammen. Doch Vicki ließ ihm keine Zeit, dazwischenzufragen.
„Frag nicht, es ist halt so. Den Rest muss ich dir ein andermal in Ruhe erzählen, dafür ist jetzt nicht auch noch Zeit. Also, wie gesagt, unvorstellbar viele und manche sogar mehrfach. Nur ein kleines Beispiel: Merlin läuft bei uns bestimmt dreihundertfünfzigmal herum und jeder sieht ein bisschen anders aus und hat teilweise auch andere Charaktereigenschaften.”
„Aber wie kann das sein?”, unterbrach Paul sie dann doch.
„Ein andermal, ja? Jetzt lass mich erstmal weiter erzählen!" Wieder musste sie sich erst kurz sammeln. „Jedenfalls, wo so viele unterschiedliche Wesen zusammenleben, gibt es strenge Regeln und Gebote. Und es gibt natürlich auch immer einen König oder eine Königin, die dafür zu sorgen haben, dass diese Gesetze auch eingehalten werden.”
„Und wie wird man König von Atlantis? Wird das vererbt? Bist du deshalb eine Prinzessin?”
Die Fee stöhnte, wie unter einer großen Last. „Nein, das wird ausgelost.”
„Wie bitte?” Ungläubig starrte Paul sie an. Es war für ihn unvorstellbar, dass über eine so wichtige Entscheidung der bloß