UNTERWEGS IN VIETNAM
Mit 50 Fotos
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© 2017 by Amalthea Signum Verlag, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Elisabeth Pirker/OFFBEAT
Umschlagfotos sowie alle Fotos im Buch: © Michael Schottenberg
Herstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten
Gesetzt aus der 11,25/14,7 pt Minion Pro
Designed in Austria, printed in the EU
ISBN 978-3-99050-091-0
eISBN 978-3-903083-82-0
Flug VN 036 (Frankfurt – Hanoi, 26. August)
Bus Nr. 7 (Hanoi, 27. August)
Ein Theater im Wasser (Hanoi, 28. August)
Onkel Hos Schlaf (Hanoi, 29. August)
Die große Brücke (Hanoi, 30. August)
Der Drache (Ha-Long-Bay, 31. August)
Wieder zu Hause (Ha-Long-Bay – Hanoi, 1. September)
Der Unabhängigkeitstag (Hanoi, 2. September)
Ein Land hinter Gittern (Hanoi – Hue, 3. September)
Die Purpurstadt (Hue, 4. September)
Allein mit mir (Hue, 5. September)
Die Grabmäler der Kaiser (Hue, 6. September)
Von der Fahrt über die Wolken
(Hue – Hoi An, 7. September)
Die weiße Rose (Hoi An, 8. September)
Im Dschungel von My Son (Hoi An, 9. September)
Happiness and Beauty (Hoi An, 10. September)
Die Russen kommen!
(Hoi An – Nha Trang, 11. September)
Auch Buddhas trinken Bier
(Na Thrang, 12. September)
Onkel Hos Enkel
(Nha Trang – Saigon, 13. September)
Alle Schrecken dieser Welt (Saigon, 14. September)
Der große Regen (Saigon, 15. September)
Die Rache des Jadekaisers (Saigon, 16. September)
Das Kleine im Großen (Saigon, 17. September)
Das Shuttle-Taxi (Phu Quoc, 18. September)
Am Strand! (Phu Quoc, 19. September)
Das Lama (Phu Quoc, 20. September)
Der alte Fisch (Phu Quoc, 21. September)
Zu früh gefreut! (Phu Quoc, 22. September)
Ein Sack voller Perlen (Phu Quoc, 23. September)
Die Party (Phu Quoc, 24. September)
Der Augenblick (Phu Quoc/Saigon, 25. September)
Die Chinesenstadt (Saigon, 26. September)
Vollmond über dem Mekong
(Saigon/Can Tho, 27. September)
Von Schlangen und Fröschen
(Can Tho, 28. September)
Das letzte Kapitel (Saigon, 29. September)
Flughafen Frankfurt, Gate 8, Flug VN 036. Die Boeing 747 der Vietnam Airlines ist zum Einsteigen bereit. Wie lange habe ich auf diesen Moment gewartet. Der riesige, hellblau bemalte Vogel soll mich nach elfstündigem Flug nach Hanoi/Vietnam bringen. Der Flug wird mein Leben verändern. In diesen Tagen habe ich meinen Beruf als Direktor des Volkstheaters Wien, eines der größten deutschsprachigen Theater beendet. Knapp tausend Menschen hatten in meinem Haus Platz. Tausend Karten, die täglich zu verkaufen waren. Dazu kamen noch vier andere Bühnen, darunter ein eigenes Tourneeunternehmen. Theater war der Mittelpunkt meines Lebens. Vierzig Jahre lang habe ich daran gearbeitet, die Welt zu verändern. Die Welt ist immer noch die gleiche. Vierzig Jahre lang habe ich Geschichten erzählt. Hoffentlich haben sie Nachdenken, vielleicht sogar Lachen ausgelöst. Vierzig Jahre lang stand ich in der Öffentlichkeit und musste mich dafür, was ich tat, verantworten.
Oft meinte es mein Publikum gut mit mir, oft auch nicht. Lange, allzu lange bildeten Schauspieler und Mitarbeiter den Mittelpunkt meines Lebens. Nun ist es Zeit, an mich selbst zu denken. Mein einstmals geliebter Beruf wurde mir mit den Jahren mehr und mehr zur Belastung. Wie oft musste ich Kompromisse eingehen, um die schönste aller Nebensachen zur Hauptsache zu behaupten. Solange die Lust am Überwinden von Unwägbarkeiten überwiegt, so lange ist es gut. Ist der Enthusiasmus vorbei, verkehren sich Mühen in Schmerzen.
Ich habe mich entschlossen mein Leben neu zu ordnen. Tatsächlich habe ich mehr erreicht als ich zu Beginn meines Weges zu hoffen wagte. Nun will ich es gut sein lassen, es ist ja gut. Ich habe Sehnsucht nach einer anderen Welt – einer mir unbekannten Welt. Meine Reiselust hat mich oft schon an wunderbare Orte geführt. Aber zu vieles blieb unentdeckt. Ich fühle mich noch jung genug, um Neuland zu betreten. Mein Fernweh wurde in den letzten Jahren des Durchhaltens schmerzhaft groß. Natürlich war meine bisherige Zeit eine gute Zeit. Jetzt aber will ich all das zurücklassen. Das Reisen soll den Großteil meines künftigen Lebens ausmachen. Ich freue mich auf neue, geschenkte Jahre.
»Vermehrt Schönes!« steht auf dem Umschlag des kleinen, grauen Heftchens, das durch Zufall auf meinem Schreibtisch landete und dem ich in den nächsten Wochen meine Gedanken anvertrauen möchte. Der Abschied macht mich wehmütig. Vor einigen Stunden noch habe ich dich im Arm gehalten. Fünf Wochen lang werden wir getrennt sein, zehntausende Kilometer werden zwischen uns liegen. Vor einem Jahr hatte ich diese Reise bereits geplant. Die Zeit war noch nicht reif dafür. Ich hatte Scheu vor diesem Abschied. Nun aber ist es soweit. Nie zuvor war ich so lange alleine unterwegs. Ich freue mich darauf. Sehr. So sehr, dass ich heulen könnte vor Freude. Ich tue es auch. Verschämt blicke ich mich um. Die meisten Passagiere wurden schon aufgerufen. Da ich einen Platz in der letzten Reihe habe, bin ich erst jetzt dran. Für mich bedeuten die Schritte, die ich hier in Frankfurt durch die gläserne Röhre zum Einstieg in die riesige Maschine zurücklege, den Übergang aus meiner alten, wohlbekannten in eine neue, unbekannte Welt. Ein Gefühl von Angst überfällt mich. Rasendes Herzklopfen und die Gewissheit von Endgültigkeit. Zaghaft nehme auf 58C Platz. Die Sitze neben mir bleiben frei. Welch ein schöner Zufall, denke ich. Die beiden Plätze nehme ich als gutes Zeichen – das Schicksal gönnt mir Platz. Ich werde mich ausbreiten können während des langen Fluges. Ich werde diese Reise genießen. Schlafend, quer über drei Sitze gekuschelt fliege ich um die halbe Welt. Morgen werde ich in Hanoi erwachen.
Geschlafen habe ich keine einzige Sekunde. Unmittelbar nach dem Start wedelt mir eine alte, winzig kleine Vietnamesin zu, ob die beiden Plätze neben mir frei wären. Ich nicke geistesabwesend. Der Start in die Freiheit beginnt mit einem kapitalen Fehler. Die Alte schwingt sich auf die beiden Sitze und breitet sich der Länge nach aus. Ab nun liegt sie quasi auf meinem Schoß. An Schlaf ist nicht zu denken. Mein einziges Vergnügen während des Fluges besteht darin, meine kleine Nachbarin in regelmäßigen Abständen zu wecken, indem ich ihre Füße wie unabsichtlich abrutschen lasse. Die Taktik hat Teilerfolge. Es gelingt mir immer wieder, ihren Körper von meinem Schoß herunter zu bekommen. Der Flug selbst ist ruhig. Lange elf Stunden zwar, aber die Abläufe und Rituale der Crew sind beruhigend und die Kraft solcher riesigen Luftschiffe fasziniert mich jedes Mal aufs Neue. Das Gefühl um die Welt zu fliegen entschädigt für alles. Im Anflug auf Hanoi verabschiedet sich die Alte mit einem Lächeln, das kleine, spitze Zähnchen in einer feuerroten Mundhöhle zeigt – wie der winzige Rachen eines Geckos.
Ankunft in einem dieser überdimensionierten Flughäfen, wie sie auf der ganzen Welt stehen, samt obligater Pass- und Visumkontrolle. Kalte, humorlose Augen mustern mich, schlechtes Gewissen verbreitend. In meiner Hosentasche befinden sich noch drei Euro, das Restgeld von meinem letzten europäischen Frühstück. Der Geldautomat funktioniert nicht, der nächste erst beim zweiten Versuch. Ich taste eine astronomisch hohe Summe ein: 900 000 VND, das sind umgerechnet 37 €. Ich hatte mir vorgenommen, den öffentlichen Bus Nr. 7 ins Stadtzentrum von Hanoi zu nehmen. Ich will mir Zeit lassen. Ich möchte nicht in einem dieser klimatisierten Taxis sitzen, in denen man sofort das Gefühl hat, finanziell über den Tisch gezogen zu werden, einfach nur, um »bequem«, aber über Umwegen ins Hotel gebracht zu werden. Ich möchte von Anfang an dazugehören. Ich will mich in diesem Land fortbewegen wie alle anderen auch.
Der Bus lauert hinter dem Flughafengebäude. An einem Fensterplatz, mein Reisegepäck auf dem Nebensitz, mache ich es mir bequem. Mein vietnamesisches Abenteuer kann beginnen. Es ist knapp vor sechs Uhr morgens. Kaum zwei Stationen später füllt sich der Bus. Meine beiden Rücksäcke und ich sind verkeilt zwischen Flughafenangestellten, Frühaufstehern und einer Unzahl von Kindern in adretten Schuluniformen. Vorbei an Wasserbüffeln, Reisfeldern und Fabriken (zu denen Hunderttausende strömen) fahre ich durch die morgendliche Rush-Hour in Richtung Hanoi-City. Eine weibliche Stimme betet die Namen der Stationen herunter: blechern, überlaut. Ein hinreißender Kontrast zu dem schrulligen Gefährt, einem Relikt aus dem vergangenen Jahrtausend. Bus Nr. 7 rattert ungefedert und ohne Rücksicht auf Verluste durch den Frühverkehr. Aberwitzig viele Mopeds umringen uns wie Fischschwärme: Vornehmlich Frauen, vermummt in dicken Anoraks, mit Handschuhen und Sonnenschirmen, die sie zwischen Lenkstange und Schulter einklemmen und mit einer Hand krampfhaft gegen die Fahrtrichtung halten. Vietnamesinnen setzen ihre Haut nur ungern der Sonne aus. Im Bus ergibt sich eine erste, scheue Bekanntschaft: Nachdem ich von meinen Mitpassagieren eindringlich gemustert und als Langnase entlarvt werde, wagt sich eine junge Frau vor. Sie will mehr über mich erfahren. Ich sage ihr woher ich komme und wohin ich möchte: Zu einem Platz im Zentrum der Stadt, den ich im Netz als Endstation der Linie 7 in Erfahrung gebracht habe. Was für ein Zufall, da muss sie auch hin, sagt sie, ich kann mich ganz auf sie verlassen. Sie wird mir die Haltestelle anzeigen und den Weg zum Hotel weisen. Ihr Begleiter starrt mich unverwandt an.
Beruhigt wende ich mich wieder der vorüberfliegenden Landschaft zu. Mir kann nichts passieren, fürs erste habe ich einen verlässlichen Guide – einen hübschen noch dazu. Ich kann mich kaum noch rühren, bei jeder neuen Station wird der Bus voller. Mein Gepäck schnürt mir mehr und mehr den Atem ab. In all dem Trubel versuche ich den Blickkontakt zu meiner neuen Bekanntschaft nicht zu verlieren. Ich drehe meinen Kopf mit aller Kraft in ihre Richtung – ich kann die junge Frau nicht mehr sehen. Einige Stationen später ist es Gewissheit: Sie ist ausgestiegen. Mitsamt ihrem Begleiter. Meine erste Bekanntschaft in Vietnam war nicht von langer Dauer. Plötzlich komme ich mir einsam vor. Es fühlt sich an, als würde ich einer ziemlich ungewissen Zukunft entgegenfahren.
Wieder bin ich gefangen. Vor Kurzem erst der Geiselhaft eines alten vietnamesischen Geckos, der es sich im Flieger genüsslich auf meinem Schoß bequem gemacht hat, entkommen, verkeilt mich mein Schicksal in einem knallvollen Pendlerbus zwischen Rucksäcken und mich feindselig musternden, unausgeschlafenen Menschen (eine Tatsache, die mich immerhin mit ihnen verbindet). Mich zu bewegen ist inzwischen vollends unmöglich. Es muss ein Wunder her. Es kommt. Wie auf ein geheimes Zeichen verlassen die meisten Fahrgäste den Bus. Ich schöpfe Atem und folge ihnen. Draußen umfängt mich feucht-schwüle Morgenluft. Oder sind es die Abgase der unzähligen Mopeds, die mit mörderischer Geschwindigkeit eine vierspurige Straße entlang brausen? Eine Menschenmenge umringt mich. Ich lächle in die Runde und krame meinen Stadtplan heraus. Alle lachen und nicken mit den Köpfen. Ich versuche das Lachen zu erwidern und will mich orientieren. Aber wie? Ich kann kein Straßenschild entdecken und auf meinem Stadtplan erkenne ich genau nichts, meine Lesebrille ist in all dem Gepäckchaos unbekannten Aufenthalts untergetaucht. Ich nicke in die Runde. Hier stehe ich nun. Ich versuche den Namen meines Hotels zu buchstabieren. Allein das Wort »Hotel« ruft nur ungläubiges Lächeln hervor. Ich sitze in der Falle. Mit einem riesigen Rucksack, eingekeilt zwischen Menschen und Mopeds versuche ich mein Überleben zu organisieren. Aber wie?
Es ist inzwischen acht Uhr Früh. Meine Kleider kleben an mir wie die Frischhaltefolie an einer Weihnachtsgans. Ich habe seit mehr als achtundvierzig Stunden kein Auge zugedrückt. Ich stehe mutterseelenallein, umringt von einer Hundertschaft mir zunickender Menschen auf einer breiten Durchzugsstraße in einem dieser riesigen Moloche Südostasiens. So fühlt es sich also an, mein neues Leben. Ich bin angekommen. Ist das das Zentrum von Hanoi, einer Stadt mit geschätzten acht Millionen Einwohnern? Die Armada von Mopedfahrern beginnt mich zu bedrängen. Ich verstehe »Taxi«. Ich wehre ab. Wie in aller Welt soll ich mit meinem riesigen Gepäck auf einem dieser als Mopeds getarnten Rosthaufen, dazu noch auf einem Gepäckträger Platz nehmen? Und: Wie sollte sich einer dieser armen Teufel mit einem weißhäutigen, schwitzenden Touristen unfallfrei durch den Verkehr quälen?
Ich halte Ausschau nach einem Auto-Taxi. Versuchen Sie mal in der Nordsee aus einem Sardinenschwarm eine einzelne herauszupicken. Ich bin vollauf damit beschäftigt, hunderte Hände, die an meinem Rucksack zerren, abzuwehren. Aussichtslos. Ich ergebe mich. Das Unmögliche wird wahr. Unmittelbar darauf sitze ich auf einem dieser Alteisenhaufen, auf meinem Rücken der 40-Liter-Rucksack, vor mir mein nicht viel kleinerer Tagesrucksack, in der Hosentasche ein dickes Bündel Vietnamesischer Dong, in meiner Rechten der Fotoapparat und, am Lenker dieses Höllenfahrzeuges, ein Typ, der mächtig Gas gibt. Im Rückspiegel sehe ich sein lächelndes Gesicht, daneben mein eigenes, vor Schreck verzerrtes. Hanoi begrabe mich unter dir! Hier erfüllt sich mein Schicksal. Wiederholt scheint ein Zusammenstoß mit einem der unzähligen gegnerischen Mopeds unvermeidlich. Mein Driver stürzt sich ins Getümmel, als ob er mit seinem (und meinem) Leben Schluss machen möchte. Der Ritt nimmt kein Ende. Je länger er andauert, desto mehr Spaß gewinne ich daran. Jetzt oder nie. Mein Ende ist nah. So fühlt es sich also an: Ich werde immer schwereloser, bis ich am Ende zu schweben glaube, mit einer dicken, schwarzen Abgaswolke hinter mir. Die Ausweich- und Überholmanöver werden waghalsiger. Je entspannter ich werde, desto mehr riskiert mein Höllenritter. Eine halbe Ewigkeit sausen wir schon durch den Frühverkehr. Hanoi ist mörderisch groß. Irgendwann wendet sich mein neuer Freund zu mir um: Er lächelt immer noch. Wir sind angekommen. Seiner Meinung nach zumindest. Ich bezahle 50 000 VND (überteuert, wie ich später erfahre) und der Typ röhrt davon, indem er sein Vorderrad nach oben zieht.
Ich laufe zweimal die Straße entlang. Das Hotel ist nicht in Sicht. Entnervt betrete ich einen Laden, von dem ich annehme, dass hier Mopeds verkauft werden und erkundige mich nach dem Blue Moon Hotel. Ein freundlicher junger Mann lächelt mich an: »Welcome Mr. Schottelberg, we’re expecting you!«. Ich sehe mich um. In dem kahlen, engen Raum stehen einige gebrauchte Mopeds herum, die Fassade des Hauses ist nicht mehr als fünf Meter breit. Der freundliche, klein gewachsene Mann steht hinter einem Schreibtisch, über dem eine Tafel angebracht ist: Blu Mun Hotel. Das Zimmer ist ok, nach hinten hinaus zwar (die Aussicht nach vorne wäre kaum überzeugender), aber relativ sauber. Klimaanlage. Was braucht man mehr. Duschen und WLAN checken, beides funktioniert. Unmittelbar darauf versinke ich in einen todesähnlichen Schlaf, träume von vermummten Sardinen und von einem feuerroten Gecko, dessen Rachen mich zu verschlingen droht. Gegen dreizehn Uhr erwache ich schweißüberströmt und stürze mich in die Mit-tags-Rush-Hour von Hanoi. Ich folge dem Rat meines Lonely Planet und nehme einen Weg durch die Umgebung des Blue Moon, dem Alten Viertel. Die Stadt bewegt sich nahe am Kollaps. Millionen Menschen und Mopeds. Straßenverkäufer, Garküchenbetreiber, Bettler, Geschäftsleute, Schulkinder, Mönche – sie alle nicken und winken mir freundlich zu. Haben sie auf mich gewartet? Unsicher lächle ich zurück.
Ein Fehler. Ein junger Mann heftet sich an meine Fersen. Er verfolgt mich einige Straßen entlang. Ich beschleunige meine Schritte. In dem Labyrinth der engen Gassen taucht er immer wieder hinter mir auf, manchmal auch vor mir. Ich versuche die Orientierung zu behalten, was gar nicht einfach ist, schlage einen Haken und bleibe unvermittelt in einem Hauseingang stehen. Abgehängt. Der junge Mann lächelt mich an. Wie durch Zauberhand steht er neben mir. In seiner Hand hält er einen spitzen Gegenstand. Ich erstarre. Er deutet auf meine Füße. Es gelingt ihm mich gestenreich davon zu überzeugen, ihm meinen linken Schuh zu überlassen. Was für eine absonderliche Situation. In einem Hauseingang, mitten in einer dieser riesigen Städte Asiens ziehe ich meinen linken Schuh aus und drücke ihn einem mir völlig Unbekannten in die Hand. Tatsächlich: In Wien fand ich keine Zeit mehr, den Schuh flicken zu lassen, eine Naht war aufgegangen und ein winziges Loch hat sich in der Fersengegend aufgetan. Wie der junge Mann das bemerken konnte ist mir ein Rätsel, aber offenbar folgt der Mensch im Aufspüren scheinbarer Unzulänglichkeiten Anderer troglodytischen Eigenschaften, die ökonomisches Überleben ermöglichen und somit den Fortbestand der Artgemeinschaft garantieren. Im nächsten Moment sitze ich am Rinnstein des kleinen Gässchens, neben mir mein Flickschuster, der mitnichten den winzigen Schaden verklebt (so wie man in Wien das Übel bearbeitet hätte), sondern mittels einer Ahle, die sich als der »spitze Gegenstand« entpuppt und mit einem starken Faden kunstfertig das Schuhoberteil mit der Sohle vernäht und solcherart den kleinen Schaden behebt. Heute noch trage ich mit Stolz und besten Gedanken eben diesen Schuh und sollte er dereinst seinen letzten Moment erleben, das Flickwerk Hanoi’scher Schusterei wird keineswegs der Grund für seinen versagenden Dienst sein.
Unterwegs besorge ich eine Eintrittskarte für eine am Abend stattfindende Vorstellung des Wasserpuppentheaters, eine der großen Attraktionen hierzulande. Das muss man gesehen haben! Und noch etwas sehe ich: Hanoi rüstet für ein großes Fest. Am 2. September jährt sich der 70. Jahrestag der Wiedervereinigung Vietnams: Des Nordens mit dem Süden. Die Stadt ist dicht auf dicht beflaggt. Lichterketten, Scheinwerfer, Abschussrampen für ein Feuerwerk werden in Position gebracht. Onkel Ho, zu dessen Ehren dies alles stattfindet, würde stolz sein. Morgen muss ich ihm einen Besuch abstatten. Immerhin gilt er als Befreier Vietnams. Er hat zwar den Kommunismus ins Land gebracht, aber die lange Besatzung durch die Franzosen, Engländer und Amerikaner beendet. Onkel Ho hat seinen großen Sieg nicht mehr erlebt. Er liegt einbalsamiert in einem gläsernen Sarkophag. Morgen werde ich bei ihm vorbeischauen. Ich werde ihm vom Roten Stern erzählen, der einige Zeit in Wien das Dach eines großen Theaters schmückte, und davon, dass der Stern nie als ein rein kommunistisches Zeichen gedacht war, sondern dass seine Zacken, die fünf V’s, sowohl die fünf Spielorte des Volkstheaters symbolisieren sollten (Haupthaus, Rote Bar, Theater in den Bezirken, Empfangsraum und Schwarzer Salon), wie auch die fünf thematischen Ausrichtungen: Klassik, Volksstück, Musik, Kabarett und Diskurs. Der Stern ist nach dem Kreuz das zweitbeste Branding aller Zeiten. Für mich steht die Farbe Rot für Leben, Liebe und Leidenschaft und der Stern symbolisiert Glamour, Show und Zirkus. Dass er so nachhaltig für ausreichend Gesprächsstoff sorgte und mein Theater in aller Munde brachte, sollte mir allerdings mehr als nur recht sein. Onkel Ho wird das schon verstehen, da bin ich mir sicher.
Der Onkel muss warten. Heute hat er seinen freien Tag und will nicht besichtigt werden. Morgen aber sicher. Die Puppen des Wassertheaters waren entzückend. Die Figuren schienen wie schwerelos auf dem Wasser zu tanzen. Eine kleine Zauberwelt, begleitet von einem Orchester und zwei Frauenstimmen, die in höchsten Tönen die immer gleichen alten Geschichten kommentieren. Feuer spuckende Drachen, springende Fische, die in hohem Bogen aus dem Wasser auf- und wieder eintauchen um endlich von winzig kleinen Fischern aus dem grünen Wasser geangelt zu werden. Am Ufer: Wasserbüffel, Reisbauern, Flöte spielende Knaben, Fabelwesen. Gegen Ende der Vorstellung war ich so erschöpft, dass ich dem Spiel kaum mehr folgen konnte. Der kleine Gecko von Flug VN 036 war schuld daran.
Ein Hahnenschrei weckt mich. Mitten im Alten Viertel von Hanoi weckt mich ein krähender Hahn! Ich schrecke hoch. Den Zeitunterschied zu Europa hat das Vieh nicht nachvollzogen, er ist sechs Stunden zu spät dran. Ist er mit mir mitgeflogen? Kurz nach dem Aufstehen checke ich die nächsten Tage. Ich verlängere meinen Aufenthalt hier um einen Tag, werde zur Ha-Long-Bay reisen und dann erneut zwei Tage in Hanoi bleiben. Zu vieles gibt es in dieser unglaublichen Stadt noch zu besichtigen. Danach werde ich in die alte Kaiserstadt Hue weiterreisen. In einer der zahllosen Straßenküchen, auf einem winzigen blauen Plastikstühlchen sitzend, nehme ich meine »Pho« zu mir. Dies sollte mein Frühstücksritual werden. Pho ist eine Nudelsuppe aus Huhnoder Fleischbrühe, in der Glasnudeln gegart werden. Da ich nach vielen Asienaufenthalten an das Essen hierzulande, vor allem an dessen Schärfe gewöhnt bin und ich darüber hinaus kein »Morgen-Süßer« bin, ist mir dieses Frühstück sehr recht. Ich sitze also am Gehsteig, auf einem Kinderstühlchen, 50 cm über dem Boden, neben mir spaziert ein glückliches Huhn, das dem heutigen Kochtopf sichtlich entkommen ist und ich schlürfe Nudeln.
Ich bitte meinen Nachbarn ein Foto von mir zu schießen, zu Hause glaubt mir das sonst keiner. Danach schlendere ich, mich durch das Chaos der Mopeds kämpfend, zum Ngoc-Son-Tempel, mitten im Hoan-Kiem-Lake. Der Legende nach wird der idyllische kleine See von einer in ihm lebenden, riesigen Schildkröte bewacht. Von ihr sehe ich nichts, wohl aber das Präparat eines über zwei Meter großen Tieres. Furchtlos blickt mich das Monster mit seinen kalten Augen an. Ich denke an den Gecko im Flugzeug. Plötzlich, der Schock! Beim routinemäßigen Taschencheck bemerke ich, dass meine linke Hosentasche leer ist. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, immer wieder nach dem Schlüssel zum Zimmersafe zu tasten, doch jetzt spüre ich genau – nichts. Das Schildkrötenmonster lächelt mich verschlagen an. Ich starre zurück und schließe im Geiste mit dieser Reise ab. Im Safe liegen Pass, Kreditkarten, alles. Ich erinnere mich, dass mich das Zimmermädchen beim Verlassen des Zimmers beobachtet hat. Trotz der Hitze fühle ich kalten Angstschweiß auf meiner Stirn. Ich lehne mich an das Präparat der riesigen Kröte. Es scheint nachzugeben. Oder verliere ich das Gleichgewicht?
Ich verlasse den Kult-Ort, kämpfe mich so schnell ich kann durch den Frühverkehr über die Dinh Tien Hoang in Richtung Cau Go Road