Das Buch

Ein kleines Mädchen wird entführt. Zwei Morde geschehen. Ein verbindender Hinweis sind Fotos in den Briefkästen der beiden Toten, auf denen sich noch andere Personen befinden. Sind auch sie bedroht?

Kommissarin Verena Irlenbusch muss für diesen harten Fall alle Kraft zusammennehmen. Denn neben der Jagd nach dem Mörder kümmert sie sich um ihre an Alzheimer erkrankte geliebte Großmutter. Da macht es die Situation nicht gerade leichter, dass sie auch noch den anstrengenden Kollegen Christoph Todt zur Seite gestellt bekommt.

Verena gibt alles und wird sich bald bewusst, dass sie einen hochintelligenten Psychopathen jagt, der ein böses Spiel mit ihr spielt. Hat sie wirklich alles richtig interpretiert, oder wird ihr ein fataler Irrtum zum Verhängnis?

Die Autorin

Elke Pistor, geboren 1967, schreibt Kriminalromane, arbeitet als Seminartrainerin und leitet Schreibworkshops. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Köln.

ELKE PISTOR

VERGESSEN

KRIMINALROMAN

ULLSTEIN

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage August 2014

© Copyright 2014 by Elke Pistor

© dieser Ausgabe by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Titelabbildung: © Dragan Todorovic/Trevillion Images


ISBN 978-3-843-70742-8


Alle Rechte vorbehalten.

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E-Book: LVD GmbH, Berlin



Der Mensch ist erst wirklich tot,

wenn niemand mehr an ihn denkt.

Bertolt Brecht

Prolog

»Das ist unfair!« Mia stemmt die Hände in die Hüften und dreht sich einmal um sich selbst. »Wir haben gesagt, nur auf dem Weg!« Sie läuft ein Stück zurück und schaut hinter die Mauer. Nichts. Die Tür zum Fahrradschuppen des Mietshauses ist nur angelehnt. Sie legt ihre Hand darauf, drückt dagegen und blinzelt durch den Spalt. Ihre Augen brauchen einen Moment, um sich an die Dunkelheit in dem kleinen Raum zu gewöhnen. Ein Gestell für die Fahrräder steht an der Seitenwand, zwei Räder sind dort angekettet. »Paula?«, fragt Mia leise und lauscht. Auf ein Atmen oder ein Kichern. Stille. Sie zuckt mit den Schultern, tritt einen Schritt zurück und verschließt die Tür zum Schuppen. »Mäusedreck!« Wenn sie zu spät nach Hause kommt, wird es Ärger geben. Nicht rumbummeln, hat Oma ihr eingeschärft, weil ich mir sonst große Sorgen mache. Nein, wir trödeln nicht, hat Mia versprochen, und es stimmt ja auch. Sie trödeln nicht rum. Sie und Paula spielen Verstecken. Trotzdem muss sie jetzt weitergehen. Aber sie kann Paula auch nicht einfach sitzenlassen. Vielleicht ist ihr ja etwas passiert, vielleicht ist sie umgeknickt? Hockt im Gebüsch und kann nicht mehr laufen? Aber dann würde sie doch um Hilfe rufen? Oder sie ist gefallen, mit dem Kopf auf einen Stein geschlagen und liegt ohnmächtig da. »Paula?«, ruft Mia, diesmal lauter, legt eine Hand an ihr Ohr und horcht wieder. Nichts. »Paula, ich muss nach Hause. Komm endlich. Auf der Stelle.« Langsam wird sie wütend. Paula kennt ihre Oma doch und weiß, wie streng sie sein kann. Es ist schon so spät, dass sie heute Nachmittag sicher nicht mehr zum Spielen raus darf. »Okay, du hast gewonnen«, schreit sie so laut, wie es geht, damit Paula sie auf jeden Fall hören kann, egal, an welchem Ende der Straße sie ist. Sie schiebt die Daumen unter die Schulterriemen ihres Ranzens. »Ich gehe jetzt, Paula!«, droht sie, geht ein paar Schritte auf dem Weg und blinzelt. Hat sich in den Sträuchern dort hinten etwas bewegt? Etwas Rotes zwischen den Blättern? Paulas Jacke ist rot. Mia kneift die Augen zusammen und versucht, mehr zu erkennen. Dann schüttelt sie den Kopf. Nein, so schnell kann ihre Freundin nicht laufen. Das Gebüsch ist zu weit weg von der Stelle, an der sie mit geschlossenen Lidern an die Hauswand gelehnt, sich die Hände über das Gesicht gehalten und bis hundert gezählt hat. Sie hat nicht geschummelt. Das tut sie nie, auch wenn sie weiß, dass die anderen es manchmal machen. Aber wenn man pfuscht und deshalb ein Spiel gewinnt, ist es ja kein echtes Gewinnen, und man kann sich nicht richtig darüber freuen. Noch einmal schaut Mia auf das Gebüsch. Der kleine rote Fleck ist verschwunden. Sie hat sich sicher getäuscht. Obwohl: Die Stelle liegt hinter der Einfahrt zu dem Haus, in dem Paula wohnt, und sie müsste an ihrem eigenen Zuhause vorbeilaufen. Das wäre ja eine ganz gemeine Art, Mia in die Irre zu führen. Ob Paula auf so eine Idee kommt? Zuzutrauen ist es ihr. Paula ist schlau. »Ha, gleich hab ich dich«, murmelt Mia, grinst bei der Vorstellung, noch schlauer zu sein, und geht weiter auf das Gebüsch zu, als ob nichts wäre. Paula soll denken, dass sie auf ihren Trick reingefallen ist. Erst im letzten Moment wird sie ­zuschlagen und sie aus ihrem Versteck ziehen. Ein paar Meter noch bis zu Paulas Einfahrt. Wieder blitzt das Rote durch die grünen Blätter. Bewegt es sich? Mias Herz klopft so laut, dass sie es in ihren eigenen Ohren hören kann. Jetzt nur nicht verraten, dass sie weiß, wo Paula sich versteckt hat. Vor Paulas Haus ist alles leer. Die beiden Sträucher sind zu klein, um sich dahinter zu bücken und unsichtbar zu machen. Sie pfeift ein Lied und lockert die Riemen ihres Ranzens. Vielleicht wird sie ihn ausziehen müssen, um schneller zu sein und Paula zu erwischen, bevor sie an der Laterne ankommt, die sie zum Anschlagen bestimmt haben. Mia hält den Atem an. Die Blätter im Gebüsch sind dicht und grün, und sie sieht das Rot nicht mehr. Es verbirgt sich vor ihr. »Ich weiß, dass du da bist«, murmelt sie und macht sich bereit. Sie springt auf das Gebüsch zu, teilt es mit beiden Händen und bleibt stehen. Eine Plastiktüte fällt von dem Zweig, an dem sie sich verfangen hat. Sie ist rot und ganz neu. »Mist!«

»Ha!« Eine Hand schlägt ihr von hinten auf die Schulter. Mia fährt herum. Paula dreht ihr eine lange Nase, wendet sich um und rennt so rasch, wie sie kann, auf den Anschlag zu. Mia reagiert blitzschnell und folgt ihrer Freundin. Kurz bevor Paula ihre Hand an der Laterne anschlagen kann, erwischt Mia sie am Arm.

»Hab dich!«, ruft Mia triumphierend und bleibt, nach Luft ringend, stehen. Lachend halten die beiden sich fest.

»Da hab ich dich aber super drangekriegt«, meint Paula. »Du hast neben mir gestanden und mich nicht bemerkt.«

»Nie im Leben!«

»Doch. Im Fahrradschuppen. Ich hab mich hinter der Tür versteckt. Und du hast nicht mitbekommen, wie ich dir nachgeschlichen bin.« Sie stößt Mia mit dem Ellbogen in die Seite. »Jetzt du!«

»Ich muss heim. Oma wartet.«

»Na los. Noch ein Mal. Ich muss auch nach Hause, aber wir sind doch gleich da.«

»Ich kriege Ärger.«

»Komm schon. So schlecht, wie du dich immer versteckst, wird es keine Minute dauern, bis ich dich gefunden habe.«

»Los. Zähl bis zwanzig. Und wehe, du schummelst!« Mia wartet, bis Paula sich zur Laterne gedreht und die Hände über die Augen gelegt hat.

»Eins«, zählt Paula laut und langsam. Mia weiß, dass sie zum Ende hin immer hastiger werden wird.

»Zwei.«

Sie schaut sich um. Sie muss schnell ein Versteck finden. Nah und trotzdem gut. Wo Paula sie schlecht sehen, aber sie Paula gut beobachten kann. Die Stelle mit den Büschen. Sie rennt los. Die Bücher in ihrem Ranzen klappern laut.

»Drei.«

Da ist eine Lücke, wie ein kleiner Eingang. Sie quetscht sich hindurch und sieht über die Schulter zurück zu Paula. Die lehnt immer noch an der Laterne. »Vier, fünf, sechs, sieben.« Mia läuft schneller. »Acht.«

»Du schummelst«, ruft sie und schlägt sich auf den Mund. Wenn sie so laut ruft, wird sie sich verraten. Sie geht in die Hocke, duckt sich. Im gleichen Moment wird sie zurückgerissen. Eine Hand greift nach ihrem Handgelenk, umklammert es und zieht sie tiefer und tiefer in das Gebüsch. Sie verschluckt sich am eigenen Schrei, während Äste ihr auf den Kopf und ihre Wangen peitschen. Dornen bohren sich in ihre Haut. Sie kneift die Augen zusammen und legt den Arm schützend über das Gesicht. Erschrocken schnappt sie nach Luft, versucht, etwas zu erkennen und sich gegen den Griff zu wehren.

»Neun.« Paula betont die Zahl sehr deutlich und holt tief und hörbar Luft, bevor sie weiterzählt. Langsamer als vorher. Viel langsamer.

Die Hand fühlt sich hart an. Der Druck um ihren Arm tut ihr weh.

»Zehn«, ruft Paula an der Laterne.

Ihr Oberkörper wird nach unten gedrückt. Mia reißt die Augen auf. Dunkle Schuhe. Wanderschuhe. Darüber Jeans. Ein roter Schal vor einem Gesicht.

»Elf.«

Der Verschluss ihres Schulranzens löst sich, die Bücher und Hefte klatschen auf den Boden.

»Zwölf.«

Sie stolpert, wird aufgefangen, hochgerissen. Der Ranzen rutscht ihr von den Schultern. Sie will schreien. Sie will sich herauswinden, befreien und sich wehren gegen den Griff, der ihren Arm festhält, gegen die dunklen Schuhe, die ihre Hefte in den Schmutz treten. Aber sie schafft es nicht.

»Dreizehn.« Paulas Stimme wird leiser, je weiter sie von der Stelle weggezerrt wird.

Sie reißt den Kopf hoch, kracht gegen einen Kiefer. Sie hört ein unterdrücktes Stöhnen. Jetzt zutreten, denkt sie und erinnert sich daran, was der Sportlehrer in dem Selbstverteidigungskurs gesagt hat. Sie hebt den Fuß, stößt mit voller Wucht nach dem Schienbein ihres Angreifers. Flüche. Aber anders als in der Sportstunde kommt sie nicht frei. Der Sportlehrer hat gelogen.

»Vierzehn.«

Ihr Herz rast vor Anstrengung, und ihr wird heiß. Schweiß läuft ihr den Rücken hinunter.

»Fünfzehn.«

Noch einmal bäumt sie sich auf, knurrt und gibt alle Kraft in diese eine Bewegung. Die andere Hand, die zu dem gehört, der ihr weh tut, drückt etwas auf ihr Gesicht. Es ist weich und riecht seltsam. Süß und trotzdem widerlich. Sie versucht, nicht zu atmen. Hält die Luft an, wie sie es in der Badewanne immer macht, wenn sie mit offenen Augen unter Wasser liegt, durch das Dachfenster in den Himmel schaut und sich vorstellt, mit einem Stern durch das Weltall zu fliegen.

»Sechzehn.«

Aber die Hände umklammern sie, reißen sie aus ihrem Himmel. Der Stern fällt und fällt und fällt, bis ihr Körper nach Luft schreit und die Dämpfe einatmet, die aus dem Tuch vor ihrem Gesicht kommen.

»Siebzehn.«

Ihre Beine geben nach, fühlen sich an wie Watte. Jetzt erst begreift sie, was da mit ihr geschieht. Der Mensch hinter ihr ist böse. Er tut ihr weh. Vielleicht will er, dass sie stirbt. Sie zittert. Ihr wird schlecht.

»Achtzehn.«

Das Süße wabert durch ihren Kopf, lässt sie müde werden. Ihr Körper zuckt, sie bäumt sich auf und erschlafft dann in dem harten Griff.

»Neunzehn.«

Sanft gleitet sie zu Boden. Unfähig, sich zu rühren. Müde. So müde.

»Zwanzig – ich komme!«

Ein Hund bellt in der Nähe. Ein Flugzeug bricht durch die Wolken.

»Mia!«, hört sie eine Stimme rufen. »Mia?« Ganz nah. Und doch so weit weg. Sie schließt die Augen.

Kapitel 1

Jeder Luftzug war eine Qual. Es fühlte sich an, als würde er auf Aluminiumfolie beißen. Werner Hedelsberg atmete durch die Nase, ängstlich darauf bedacht, seine Kiefer nicht zu bewegen. Und doch konnte er nicht verhindern, dass seine Zunge immer wieder den Weg zu dem Backenzahn suchte, tastete, berührte und eine Schmerzwelle auslöste, die mit jedem Mal langsamer abebbte. Seit er heute Morgen aufgewacht und nach nur wenigen Sekunden mit der grausamen Wucht der Wirklichkeit konfrontiert worden war, hatte sich zu dem dumpfen Druck in seinem rechten Oberkiefer noch ein Pochen gesellt. Ein Pulsieren, das bis in seine Schläfen vordrang und seine Augen tränen ließ. Weder die Zigarette, die er, im Bett liegend, geraucht, noch der Kaffee, den seine Maschine röchelnd ausgespuckt hatte, konnten daran etwas ändern.

Er hatte sich lediglich angezogen und das Haus verlassen. Nur ein Platz zum Schlafen. Mehr brauchte er nicht. Er würde der polnischen Putzfrau, deren Namen er sich nicht merken konnte und die jeden Morgen um zehn die Kneipe putzte, wie schon unzählige Male vorher den Schlüssel in die Hand drücken. Sie würde wissen, was zu tun war, und ein wenig Ordnung in sein Leben bringen. Auch wenn ihm das herzlich egal war. Für ihn bedeutete es nur, nicht endgültig im Chaos unterzugehen.

Der Geruch nach schalem Rauch schwappte ihm ent­gegen, als er die Seitentür zum »Spoon« öffnete, den Keil unterschob und einen halbherzigen Versuch unternahm, frische Luft in die Räume zu lassen. Die Frau mit dem vergessenen Namen war noch nicht da. Aschenbecher quollen über. Das Lämpchen an der Spülmaschine blinkte hektisch.

»Fuck«, murmelte Werner, zog die Klappe auf und starrte auf eingetrocknete Schaumränder an den Gläsern. Mit der flachen Hand schlug er gegen die Maschine. Das Teil musste funktionieren. Eine neue konnte er sich nicht leisten. Geld war knapp in diesen Tagen. Die fünf Männer, die jeden Abend ihre Hintern auf die abgewetzten Tresenhocker wuchteten, schweigend vor sich hin starrten und dabei abwechselnd vier Bier und vier Klare kippten, wirkten genauso übriggeblieben, wie Werner sich fühlte. Trotzdem waren sie alles, was er hatte.

Er fischte im Innenfutter seines Jacketts, das über der Theke hing, nach den Schmerztabletten. Die Verpackung knisterte.

»Verflucht!«, knurrte er und warf die leere Packung auf den Altpapierstapel. Die Falttür zum Nebenraum klapperte, als er sie zusammenschob. »Büro« stand auf dem Metallschild an der Seitenwand des Gläserregals. Bronzefarbener Rand, und die Schrift im schwarzen Negativdruck hatte ihren Glanz schon vor langem verloren. Ursprünglich als Abstellraum gedacht, diente der Raum mittlerweile als Büro, Sammelstelle und manchmal als Schlafplatz, wenn er es nach einem langen Abend nicht in sein Proforma-Zuhause schaffte, wo sowieso niemand auf ihn wartete. Vor einem Monat hatte er die Rentnernull ­erreicht. Sechzig. Na bravo! Ein einsamer alter Sack. Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn er in der Kneipe einen Herzinfarkt bekommen und schlicht verrecken würde. Das würde ihn der Gefahr entheben, in seiner Wohnung unentdeckt zu bleiben und monatelang vor sich hin zu rotten. Hier käme wenigstens die Polin.

Er quetschte sich um den Schreibtisch herum und achtete darauf, keinen der Papierstapel umzureißen. Ungeöffnete Briefe, Anschreiben von Ämtern, die ihm das Leben schwermachen wollten, Rechnungen, mehrheitlich unbezahlt. Arbeit. Unerledigte Arbeit. Er gähnte. Sofort fuhr wieder der Schmerz durch seinen Schädel. Die Müdigkeit machte die Sache nicht besser.

Das fahle Licht der Energiesparleuchte, die an einem nackten Kabel von der Decke baumelte, erschwerte es ihm, Einzelheiten zu erkennen. Er turnte an leeren Bierkästen, an der Wand hochgestapelten Pappkartons und unzäh­ligen Besenstielen vorbei, die irgendjemand in die Ecke gedrückt und dann vergessen hatte. Auf dem obersten Brett des billigen Hängeregals an der rechten Seite musste der Erste-Hilfe-Kasten stehen, wenn ihn nicht eine der Aushilfen weggeräumt hatte. Der Gedanke an die letzte Kontrolle des Ordnungsamtes blitzte auf. Die Gewissheit, dass sie ihn nicht vom Haken lassen würden und dass dieser letzten bestimmt eine nächste folgen würde, vielleicht dann die allerletzte für den Laden. Nichts hatte dem Kontrolleur gepasst. Nicht die Ordnung in seinen Vorräten, nicht die Temperatur in der Zapfanlage, und beim ­Anblick des Kühlschranks hatte er nur schweigend seinen Kugelschreiber gezückt und weitere Kreuze in die vorgedruckten Anklagen seiner Formulare gemalt. Noch ein Punkt auf der Verliererliste. Die Leute brachten kein Geld mehr unters Volk und gingen nicht mehr aus. Und wenn doch, dann kamen sie nicht zu ihm. Die Zeiten, in denen die Gäste allabendlich in Viererreihen an der Theke gestanden, sich die Biergläser über ihre Köpfe hinweg nach hinten gereicht hatten, waren vorbei. Keine progressiven Musiker mehr, die den Namen der Kneipe richtig verstanden und über Stockhausen und Rockmusik diskutierten. Keine Studenten aus musikalischen Kommunen. Vorbei. Seine E-Gitarre an der Wand diente seit Jahren nur noch der Dekoration. Das Geld hatte er ebenso wenig halten können wie seine Gäste. Es floss durch seine Hände in die gierigen Münder derjenigen, die sich wie ­Parasiten von Menschen wie ihm ernährten. Die Frauen, die ihre Schenkel öffneten, für die Nacht, die Woche oder den Monat an seiner Seite hatten mehr Interesse an seinem Geld als an ihm selber. Aber das machte ihm nichts aus, solange sie zu seiner Verfügung standen, wenn ihm der Sinn danach stand. Er hatte dieses Leben geliebt. Eine Zeitlang. Der blaue Rauch der Nächte, die Stimmen, das Gelächter. Die Gedanken. Frei und mutig. Anders als die eingefahrenen Wege durch die Trümmer seiner Nachkriegskindheit. Das vermisste er immer noch. Heute wollte niemand mehr diskutieren. Nicht mehr denken. Alle wollten Konsum. Nicht selbst denken müssen. Nicht anecken. Sie wollten einen Kaffee mit Schickimicki-Geschmack. To go. Nicht bleiben.

Werner war froh gewesen, dass der Ordnungsbeamte ihm eine Chance gelassen hatte und ihm die Besserungsvorsätze abnahm, an die er selbst nicht glaubte. Galgenfrist.

Er reckte sich und versuchte, den roten Blechkasten mit den Fingerspitzen zu erreichen. Das Metall rutschte mit einem leisen Geräusch vom Holz, entglitt seinen feuchten Händen und krachte donnernd zu Boden. Der Deckel sprang auf, und der Inhalt des Kastens verteilte sich in den Ritzen und Lücken zwischen dem Gerümpel.

»Verdammt!« Diesmal schrie er, schlug mit der Faust gegen die dünne Rigipswand und hinterließ eine kleine Delle im schmutzig gelben Putz. Dann drehte er sich um und riss im Hinausgehen einen halbleeren Kasten mit ­Limonadenflaschen um. »Scheißkaschemme!« Sollte sich doch Jan darum kümmern, wenn er seinen Dienst in zwei Stunden antrat, oder die Polin.

Er verharrte einen Augenblick, schloss die Augen und rang nach Luft. Das Puckern im Zahn riss seinen Kopf auseinander. Er musste etwas unternehmen. Werner sah auf seine Uhr. Rolex stand darauf. Kurz nach zehn. Niemand, außer dem Gerichtsvollzieher, der ihn in unregelmäßigen Abständen aufsuchte, wusste, dass diese Uhr kein Original war, und wenn es nach ihm ginge, würde das auch so bleiben. Einen letzten Rest von Würde musste er sich behalten, und sei es nur mit einer gut gemachten Fälschung.

Er öffnete eine der unteren Türen des Gläserschranks. Stapel von alten Katalogen, geöffnete und halb verbrauchte Päckchen diverser Bierdeckelsorten und nur noch aus ein paar Blättern bestehende Notizblöcke quollen ihm entgegen. Aus einem der Stapel zog er ein zerfleddertes Telefonbuch. Er schlug es auf, blätterte und fuhr mit dem Zeigefinger die Reihe der Einträge entlang, bis er fand, was er gesucht hatte. Leise murmelte er den Namen, bevor er die Nummer auf einem Bierdeckel notierte und ihn dann in die Hosentasche steckte.

»Bin da!« Die Frauenstimme aus dem Kneipenraum ließ ihn auffahren. Er hörte, wie sie ihren Mantel aufhängte, ihre Handtasche in der Schublade des Gläserregals verstaute und Wasser ins Spülbecken laufen ließ.

Er knurrte ein »Guten Morgen« in ihre Richtung.

»Geht’s Ihnen nicht gut?« Sie wandte sich zu ihm. Ihr Lächeln verschwand, als sie sein Gesicht sah. Sie drehte den Wasserhahn zu, wischte sich die Hände an ihren Jeans trocken und trat einen Schritt auf ihn zu. »Kann ich Ihnen helfen?«

Werner schüttelte den Kopf. »Danke.« Ihre Besorgnis tat ihm gut, und er stellte sich vor, wie es sein würde, wenn ihr Interesse an ihm echt wäre. Aber das durfte er sich nicht gestatten. Zu oft schon war er enttäuscht worden. Also beschloss er, dass sie höflich sein musste. Dass sie den Spielregeln zwischen Chef und Angestellter folgte. Dass sie höflich sein musste. Nicht mehr.

»Haben Sie wieder hier geschlafen? Das ist nicht gut für Sie. Ein Mann muss nach Hause gehen können«, unterbrach sie seine Überlegungen.

Wenn er ein Zuhause hat, in das er gehen kann, dachte Werner. Laut erwiderte er: »Nein, das ist es nicht.«

Die winzige Bewegung der Lachfältchen um ihre Augen, die ihr Interesse an ihm über die von ihm angenommene Höflichkeit hinaus verdeutlichte, zwang ihn zum Weitersprechen.

»Also nein, ich meinte, nein, Sie können mir nicht helfen, Frau …« Er stockte wieder.

»Szyma´nska. Anna Szyma´nska.« Sie lächelte wieder, und die Falten um ihre Augen vertieften sich. »Vielleicht können Sie sich meinen Vornamen leichter merken.«

Er nickte, und der Schmerz schnitt wieder durch seinen Schädel. Seine Vorstellung, sie würde eines Tages seine Leiche finden, gefiel ihm bei genauerer Betrachtung nun doch nicht. Sie war zu nett. Er verzog das Gesicht.

»Zahn?«

»Ja.«

»Besser, Sie gehen zu einem Arzt.« Wieder sah sie ihn an. »Soll ich Ihnen vorher noch einen Kaffee kochen?«

»Nein.« Werner nahm seinen Mantel vom Garderobenhaken und ging zum Ausgang. An der Tür blieb er kurz stehen, drehte sich um und lächelte sie an. »Nein danke.« Er öffnete die Tür und ergänzte: »Anna.«

Draußen blendete ihn die Sonne. Mit dem Handy in der Rechten suchte er mit der Linken den Bierdeckel, auf den er die Nummer der Praxis notiert hatte, in der Tasche seiner Lederjacke. Das Futter war aufgerissen, die Pappe im Inneren verschwunden. Er streifte die Jacke halb ab, um an den Bierdeckel zu gelangen, hielt aber dann mitten in der Bewegung inne. Er würde nicht anrufen, dachte er und runzelte die Stirn. Keine Vorwarnung. Sonst würde ihm noch irgendeine Ausrede einfallen, damit die fleißigen Helferbienlein ihn abwimmeln könnten. Jeder Zahnarzt musste unangekündigte Schmerzpatienten ohne Termin annehmen. Für Dr. Martin Schlendahl galt das erst recht. Aus Gründen, die sie beide kannten und die er, Werner, weder vergessen konnte noch wollte.

Die Rolex am Handgelenk des Zahnarztes war sicher keine billige Kopie. Die war echt. Zusammengerafft aus den Honoraren der Privatpatienten und den Kassenzahlungen. Werner pulte mit der Zunge in dem Loch seines Zahns, hielt dem Schmerz seine Wut entgegen und nährte sie daran. Er selbst hätte hier stehen sollen. Im weißen Kittel, mit zwei ansehnlichen Helferinnen im Empfangs­bereich seiner Edelpraxis und dem Wissen, den großen Wagen, die teure Frau und die schicken Urlaube bis in alle Ewigkeit finanzieren zu können. Er hätte. Wenn alles so gelaufen wäre, wie er es geplant hatte. Damals.

Martin Schlendahl zuckte bei Werners Anblick zusammen und blieb im Türrahmen stehen. Er hatte ihn also auf den ersten Blick erkannt, auch wenn er äußerlich nichts mehr mit dem Mann gemeinsam hatte, der er einmal gewesen war.

»Was willst du hier?«

»Was soll ich schon wollen?« Werner kam sich lächerlich vor. Mit einem unwürdigen Papierlatz um den Hals, in halb liegender Position. Zurechtgemacht und dann mit einem unpersönlich fröhlichen »Der Doktor kommt gleich zu Ihnen« allein gelassen.

Schlendahl löste sich aus seiner Starre, schloss die Tür hinter sich und trat einen Schritt auf Werner zu. Durch das trübe Glas erkannte Werner die Umrisse der Arzthelferinnen, die wie weiße Ameisen durch die Praxis eilten. Schlendahl zog den Rollhocker neben den Behandlungsstuhl, streifte mit einem Blick das Tablett mit den Instrumenten und richtete die Lampe über Werners Kopf aus.

»Ist lange her.« Er griff nach einer Kaffeetasse, die schräg hinter ihm neben dem Computer stand, trank sie in einem Zug aus, presste die Lippen zusammen, schüttelte sich.

»Nicht lange genug.«

»Warum kommst du zu mir?«

»Du bist Zahnarzt.«

»Ist nichts Neues.«

»Du musst das eine oder andere Loch stopfen.«

Schlendahl blinzelte, schob den Hocker mit den Füßen weg von Werner und schaffte Abstand zwischen ihnen. Werner sah ihn unverwandt an.

»Wir sind quitt«, knurrte Schlendahl.

»Fangen wir doch erst mal damit an, dass du mich hiervon befreist.« Werner öffnete den Mund und zeigte mit dem Finger auf den kranken Zahn.

»Und dann?«

»Sehen wir weiter. Ich brauche Geld.«

Schlendahl stand auf. »Willst du mich erpressen? Das vergiss mal ganz schnell. Du hängst auch mit drin.«

Werner schaute sich im Behandlungsraum um. Der schlichte Stil täuschte über die wahren Werte hinweg. Das Bild an der Wand kein Kunstdruck, sondern ein Original. Die Möbel, die Leuchten. Einfach, aber teuer. Auch die Patienten passten ins teure Schema. Beim Eintreten hatte er kurz mit dem Handrücken den Mantel des ­älteren Mannes gestreift, der ihm entgegenkam. Edles Stöffchen.

»Kommt drauf an, wo man steht. Kannst du dir die Wahrheit leisten?«

»Brauchen Sie mich, Herr Doktor?« Die Helferin streckte den Kopf durch die Tür.

Schlendahl räusperte sich. Dann nickte er.

»Der Patient hier hat starke Schmerzen. Ich denke, den Zahn werde ich ihm ziehen müssen.«

Die Helferin betrat den Raum. Instrumente klapperten, als sie die Schubladen aufzog, eine Spritze herausholte und ihm reichte. Schlendahl beugte sich über Werners geöffneten Mund bis nah an sein Ohr heran.

»Wag es ja nicht, mir zu drohen!«, zischte er leise, richtete sich auf und fuhr dann lauter fort: »Manchmal ist es besser, kein Risiko einzugehen, das Übel an der Wurzel zu packen und auszurotten, mein Freund.« Er setzte die Spritze an. »Das geht oft schneller, als man denkt.«

*

»Ja, wir warten noch auf die Antwort aus dem Labor.« ­Verena klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Ohr und zog den Zündschlüssel aus dem Schloss ihres Dienstwagens. »Hör zu, Leo, es wird keine Ewigkeit dauern. Dann haben wir bessere …« Sie unterbrach sich, lauschte und nickte. »Ja, ja. Ich bin in einer Dreiviertelstunde wieder in der Dienststelle. Ich muss nur eben nach ihr schauen.« Sie angelte mit einer Hand ihren Rucksack von der Rückbank. »Ach, hör auf, ich hab es mir ja nicht ausgesucht!« Sie hielt inne. »Nein, hast du nicht. Entschuldige bitte.« Pause. »Ja, danke. Bis gleich«, sagte sie und bemühte sich um einen versöhnlichen Tonfall. Es war nicht fair von ihr, Leo so anzuschnauzen. Ihre Kollegin unterstützte sie, so gut es ging, nahm Rücksicht, hatte Verständnis, hörte zu, wenn es nötig war. Leonie Ritte war mit ihrer stillen Art eine gute Polizistin und eine sehr gute Freundin.

Sie legte auf, stieg aus und ging zur Haustür des Ein­familienhauses. »Der müsste auch dringend gemäht werden«, murmelte sie mit Blick auf den hochgeschossenen Rasen, rüttelte einen Schlüssel aus ihrem Bund und öffnete die Tür. Kühle Stille empfing sie.

»Ruth?« Verena warf Schlüsselbund und Rucksack auf eine Anrichte, die an der rechten Seite des Flurs stand und auf der sich Papierstapel türmten. »Ruth? Wo bist du?« Sie lauschte. Keine Antwort. Verena stieß mit einem leisen Schnauben die Luft aus. »Ruth!« Sie ging die ersten drei Stufen der Treppe hinauf, beugte sich über das Geländer und schaute nach oben. »Hallo?« Wie zur Antwort fiel im oberen Geschoss etwas mit lautem Krachen zu Boden. Verena nahm zwei Stufen auf einmal, öffnete die Tür zum Badezimmer und blieb reglos stehen.

»Ich kann es nicht finden!« Ruth Altenrath saß auf dem geschlossenen Toilettendeckel. Ihre Haare, deren Dichte das Grau schimmern ließ, waren zu einem straffen Dutt zusammengefasst. Eine weiße Bluse vermittelte zusammen mit dem dunklen Blau der Hose den Eindruck han­seatischer Strenge. Erst auf den zweiten Blick erkannte Verena das eingetrocknete Eigelb und die Kaffeespritzer auf der Kleidung ihrer Großmutter. Ruth zog die Schultern hoch, schüttelte den Kopf und blickte hilflos zu Verena auf, kindliche Augen in einem Meer von Falten. Um sie herum lag der Inhalt mehrerer weißer Pappkartons, die sich leer in der Badewanne stapelten. »Gut, dass du da bist, Kind.«

Verena schluckte. Ihre Fingerknöchel wurden bleich, als sie sich an den Türrahmen klammerte, reglos und den Blick über das Chaos im Raum schweifend. Schon wieder. Es wurde schlimmer. Im Spiegel über dem Waschbecken sah sie eine junge Frau mit fahler Haut und strohigen braunen Haaren, am Morgen hastig zu einem Zopf ­zusammengebunden. Eine, die sich das Leben schwermachte, weil sie eine Tatsache, die unübersehbar war, nicht wahrhaben wollte, die genau dagegen und gegen das eigene Gespür auf verlorenem Posten ankämpfte.

»Was hast du denn gesucht, Ruth?« Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihre Großmutter auf die Unordnung hinzuweisen oder sie zu fragen, warum sie alles ausgekippt und verteilt hatte.

»Was habe ich denn gesucht?« Ruth Altenrath runzelte die Stirn, Anstrengung in jedem Winkel des Gesichts. Ein Lächeln eroberte langsam ihre Züge, aber sie schwieg.

»Weißt du es? Ist es dir eingefallen?«

»Ja.« Stolz schwang in ihrer Stimme mit.

»Und möchtest du es mir sagen?« Verena zupfte an ihrem Ärmel und schaute auf ihre Armbanduhr. Fünfzehn Minuten, bevor sie wieder in die Polizeidienststelle fahren musste, wenn sie Leonie nicht in Erklärungsnot gegenüber den Kollegen bringen wollte.

»Das Nudel …«, Ruth verstummte, kniff die Augen zusammen, »ach, wie heißt das doch noch gleich? Dieses, dieses Nudeldings.«

Verenas Handy meldete sich. »Leo« stand auf dem Display.

»Ja?«, fragte sie und hob gleichzeitig eine Dose mit Wattestäbchen auf.

»Es muss doch hier irgendwo sein!« Ruth nahm einen weiteren Karton, öffnete ihn und kippte den Inhalt auf den Boden, bevor Verena sie davon abhalten konnte.

»Was Wichtiges?« Sie schaltete den Lautsprecher des Handys ein und platzierte es auf dem Badewannenrand. In der Hoffnung, Ruhe in den angespannten Körper zu bringen, legte sie den Arm um Ruths Schultern und strich ihr über die Wange. Ihr Gesicht war blass trotz der sicht­lichen Aufregung.

»Eben kam ein Anruf. Innenstadt. Zwei Tote in einer Arztpraxis. Die Kollegen sind bereits vor Ort und regeln die Situation«, hörte sie Leo verzerrt aus dem Hörer.

»In Ordnung«, murmelte Verena. »Ich komme dich sofort holen.«

»Dauert zu lange. Ich mache mich allein auf den Weg. Wir treffen uns dort. Reichen dir fünfundzwanzig Minuten?«

»Ich beeile mich.«

»Kümmer dich zuerst um Ruth, und dann beeilst du dich.«

Verena schwieg, ballte die Hände zu Fäusten und schloss die Augen. Es ging so nicht. Ihre privaten Pro­bleme mussten privat bleiben, ihr Dilemma nicht andere in Mitleidenschaft ziehen. Leo ging an die Grenzen der Dienstvorschriften, um ihr zu ermöglichen, den Spagat zu schaffen. Sie würde, ohne zu zögern, auch darüber hinausgehen.

»Verena? Hast du gehört? Ich bekomme das auch fünf Minuten lang ohne dich auf die Reihe. Ich bin ja schon groß.« Leo lachte heiser in den Hörer und unterbrach ­Verenas Gedanken.

»Ich hab’s kapiert.«

»Dann ist ja gut. Bis gleich.« Es klackte in der Leitung.

»Danke«, erwiderte Verena leise, obwohl sie wusste, dass Leo es nicht mehr hörte. Das Chaos um sie herum legte sich wie eine Decke auf sie, drückte sie nieder und nahm ihr die Luft. Verursachte Enge in ihrer Brust.

»Hast du es vielleicht an einen anderen Platz geräumt, Reni?« Ruth schaute Verena streng an und bohrte ihr einen spitzen Finger in die Schulter. »«Du weißt, dass ich es überhaupt nicht mag, wenn du Dinge vor mir versteckst, Kind.«

»Ich hab nichts versteckt, Ruth. Auch nicht dein Nudel …« Sie atmete tief durch und versuchte zu ergründen, was Ruth meinen könnte. »Holz? Meinst du ein Nudelholz?«

»Nein.« Ruth stand auf. Für ihre zweiundachtzig Jahre bewegte sie sich erstaunlich geschmeidig. Jahrelanges Lauftraining und eine bewusste Lebensführung hatten ihren Körper fit gehalten. »Ich meine das Ding, wo ich die Nudeln hineingebe, wenn ich sie fertig habe.«

»Nudelsieb.« Verena sah die Erleichterung in den Augen ihrer Großmutter, als sie den richtigen Begriff nannte, und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. »Aber das findest du nicht hier im Badezimmer. Komm, wir gehen nach unten. Ich gebe es dir. Wenn ich Feierabend habe«, erklärte sie und zeigte auf die herumliegenden Sachen, »räume ich hier auf. Jetzt geht’s nicht. Du hast es ja gehört. Das war meine Kollegin Leonie. Ich muss zu einem Einsatz.«

Ruth Altenrath blieb am Treppenabsatz stehen und drehte sich um. »Ach, musst du so spät noch arbeiten?«

»Es ist erst drei, Ruth. Ich hatte Pause. Aber jetzt ist etwas geschehen, und Leo braucht meine Hilfe.«

»Hilfst du mir, mein Nudelsieb zu finden?«

Verena nickte und folgte ihr in die Küche. Es ginge schneller, wenn sie Ruth half, das Sieb zu finden, und danach zum Dienst fuhr. Es hatte keinen Sinn, Ruth die Dringlichkeit der Situation zu erklären. Ruth drehte sich um und lächelte sie an. Dann setzte sie sich und blickte erwartungsvoll auf den leeren Tisch. Verena sah auf dem Herd einen Topf, aus dem ungekochte Spaghetti ragten. Ruth hatte die Herdplatte nicht angeschaltet. Zum Glück, dachte Verena und verdrängte Bilder voller Rauch und Flammen. Sie ging zum Kühlschrank, nahm Butter und Aufschnitt, holte Brot aus dem Schrank und stellte alles auf die Ablagefläche. Rasch schmierte sie zwei Brote und entsorgte die Nudeln. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie Ruth, die am Tisch saß und ihre Bewegungen mit prüfendem Blick verfolgte, als müsste sie beurteilen, wie gut und wie schnell Verena arbeitete. Verena fiel es schwer, sich auf das, was sie tat, zu konzentrieren.

Ruths Ausfälle häuften sich. Nicht mehr nur die Wörter fielen ihr nicht ein, sie hatte zunehmend Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Sie konnte und durfte nicht mehr so viel alleine sein. Jeden Morgen kam eine Nachbarsfrau und kümmerte sich um Ruths Frühstück und ihre Morgentoilette, legte Kleidung bereit und sorgte für die Ordnung. Verena bezahlte sie selbst. Zu mehr reichten ihre Mittel nicht. Es wäre besser, wenn Ruth mehr Betreuung bekäme, jemand mehr Zeit mit ihr verbringen würde. Am liebsten wäre sie selbst dieser Jemand. Ruth war für Verena die eigentliche Mutter. Sie kannte keine andere. Ihre Eltern waren tödlich verunglückt, als sie zwei gewesen war. Aber entgegen der Prognosen war sie nicht gestört, hatte kein Trauma, keine Verlassensängste. Sie hatte noch nicht einmal in ihren vierunddreißig Jahren an den Nägeln gekaut. Ruth hatte mit der gleichen Selbstverständlichkeit die Verantwortung für die Tochter der Tochter übernommen, wie sie alles anpackte. Mit Herzblut, Liebe und der Fähigkeit, über sich und das Leben zu schmunzeln. Verena blickte die Frau vor sich an. Sie trug Ruths Gesicht und ihre Kleidung, aber nicht mehr ihr Lachen. Immer weniger Ruth. Sie streckte die Hand aus und streichelte die Finger der anderen, bis ihr klar wurde, dass sie längst auf dem Weg sein musste. Ihre Uhr mahnte fünf Minuten gestohlener Zeit. »Bis heute Abend, Ruth.«

»Musst du noch arbeiten?« Erstaunen breitete sich im Gesicht ihrer Großmutter aus.

»Ja. Es ist erst früher Nachmittag.« Diesmal schaffte sie es nicht, ihre Ungeduld zu verbergen. Ruth krauste die Stirn. Ihr Gespür für Stimmungen hatte sie nicht verloren. Mimik und Gesten ihres Gegenübers ließen sie die Dinge verstehen, die sie sich mit Worten nicht mehr erklären konnte.

»Ich habe dich das eben schon mal gefragt, stimmt’s?«

»Ja, hast du.«

Ruth senkte den Kopf. »Tut mir leid, Verena.« Sie legte das angebissene Brot vor sich auf den Teller. »Tut mir leid.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.« Verena gab ihrer Großmutter einen Kuss auf die Wange, zögerte kurz und umarmte sie dann.

»Verena?«

»Ja?«

»Ich möchte diese Krankheit nicht.«

»Ich weiß, Ruth.«

Kapitel 2

Verena liebte die ersten Augenblicke an einem Tatort. Momentaufnahmen, schockgefroren in der Sekunde des Geschehens. Ein Rätsel zersplittert in Einzelteile, bereit, von ihr zusammengesetzt zu werden. Der Ablauf der Ermittlungen, eine Choreographie, lange einstudiert, um Fehltritte so weit wie möglich auszuschließen. Sie warf die Wagentür zu und näherte sich den Absperrbändern, hinter denen die Kollegen mit den ersten Arbeiten begonnen hatten, und konzentrierte sich auf das vor ihr Liegende. Zunächst brauchte sie Informationen.

»Was für eine Sauerei!« Der Sanitäter schimpfte vor sich hin. Er schüttelte sich, bevor er sich wieder seinem Koffer zuwandte, einige Teile mit besonderer Sorgfalt gerade rückte und ihn dann schloss. »Ob die Leute sich, ehe sie springen, überlegen, wie sie aussehen, wenn sie unten angekommen sind?« Er packte den Koffer in den Wagen und sah Verena an, als bemerkte er sie jetzt erst. »Hackfleisch ist nichts dagegen«, lachte er bitter. Zynismus als Schutz – so schätzte Verena ihn ein.

»Was ist passiert?«

»Erst hat er getobt, dann ist er gesprungen.« Er trat einen Schritt zur Seite. Verena folgte dem Fingerzeig seiner Hand und dachte an Ruth, dachte daran, dass sie zu spät gekommen war und ob irgendetwas vom Geschehen zu verhindern gewesen wäre, schob den Gedanken aber von sich. Sie wusste, dass solche Gedanken Unsinn waren, aber sie konnte sie nicht verhindern. Sie trug keine Verantwortung für das, was passiert war, auch wenn ihr schlechtes Gewissen ihr das gerne vorspiegeln wollte. Die Morde geschahen nicht, weil sie in ihrer Dienstzeit zu Ruth fuhr und sich um sie kümmerte. Es gab keinen Zusammenhang. Verena holte tief Luft. Sie war hier, weil es geschehen war. Und obwohl sie das wusste, stellte sie sich diese Frage immer wieder aufs Neue. Musste es sich immer wieder deutlich vor Augen führen. Bei den Frauen, die mit einem Messer im Rücken in ihrer eigenen Küche oder mit Kugeln im Kopf auf der Straße lagen. Hingerichtet von denen, die bis vor kurzem noch die Ehemänner, Lieb­haber oder Freunde der Toten gewesen und die nicht damit klargekommen waren, dass sich das geändert hatte. Die das Verlassensein nicht ertragen konnten, weil sie sich zu schwach fühlten, ohne das jemals zugeben zu können. Für die der Tod der Liebe nur mit dem Tod der Geliebten zu ertragen war. Der Polizei waren im Vorfeld die Hände gebunden. Solange keine direkte Bedrohung bestand, solange der Angreifer nicht angriff, sondern die Gewalt nur plante, konnten sie die Frauen nur schlecht schützen.

Aber das hier war anders. Hier erwartete sie kein Geschundener, kein Ängstlicher. Keiner, der um Hilfe gerufen und sie nicht bekommen hatte.

Der Tote lag auf dem Bauch. Den rechten Arm lang gestreckt neben dem Körper, der linke über dem erhoben, was vor wenigen Stunden noch ein Kopf gewesen war, als würde er jemandem zuwinken. Die Beine gerade, und nur die unnatürliche Fußstellung verriet, dass auch an der Stelle die Knochen beim Sturz zertrümmert worden waren. Blutsprenkel überzogen den weißen Kittel. Dunkle Haare kringelten sich in seinem Nacken. Verena konnte nicht erkennen, ob es der ursprüngliche Haarton war oder ob Blut sie dunkel färbte. Knapp unter der Stelle, wo die Ohren hätten sein müssen, war die obere Hälfte des Schädelknochens weggeplatzt, Teile des Gehirns sternförmig nach vorn gespritzt. Ein Strahlenkranz aus Blut und blassem Fleisch. Verena räusperte sich, versuchte, das Würgen in ihrer Kehle in ein Husten umzuwandeln. Sie nickte der Kollegin der Spurensicherung zu, die neben einem der Gewebehäufchen eine kleine Tafel aufstellte. Es reichte ihr, sich die Lage der Leiche und die Besonderheiten nachher auf den Fotos anzusehen. Der metallische Blutgeschmack legte sich auf ihre Zunge und kroch ihr durch den Rachen bis in die Nase. Wie in einem Schlachthof. Sie öffnete ihr Blickfeld, nahm die Umgebung in sich auf. Die Straße, die Häuser, die geparkten Wagen. Fenster, hinter denen Gesichter tanzten wie Schatten. Blass im Dunkel.

Der Abstand des toten Körpers zur Wand passte zu einem Selbstmord. Die Leute sprangen nach vorn. Wer nur fiel, ob gestoßen oder durch einen Unfall, landete näher an der Wand, hatte mehr Verletzungen, die durch Kontakt mit Vorsprüngen und Erkern entstanden.

»Na, da hat sich aber einer für Superman gehalten«, meinte der Sani und grinste. Verena blickte ihn reglos an. Sie wusste, dass einige der Sanitäter die Schrecken, die sie täglich erlebten, unter Sarkasmus begruben. Aber die zynischen Bemerkungen kamen ihr jedes Mal falsch vor, und sie hoffte, selbst nie so zu werden.

»Das zu beurteilen liegt mit Sicherheit nicht in Ihrem Fachbereich«, entgegnete eine heisere Stimme scharf. Verena zuckte zusammen und blieb mit dem Blick an dem toten Körper auf dem Bürgersteig vor ihr haften, um nicht erschrocken herumzufahren. Ihr Vorgesetzter konnte die Sprüche ebenso wenig leiden wie sie und machte das bei jeder Gelegenheit sehr deutlich klar.

»Hallo, Walter«, begrüßte sie ihn, und bevor er zu einer weiteren Tirade ansetzen konnte, fügte sie hinzu: »Mach mich schlau.«

»Seit wann bist du hier?«

»Ein paar Minuten erst.«

»Wo ist Leonie?«

»Ist sie nicht hier?« Jetzt drehte sie sich doch zu ihm um. Teils vor Überraschung, teils aufgrund der Tatsache, dass der Anblick des Toten ihr Übelkeit verursachte. Die Gewöhnung an solche Bilder hielt sie für ein Gerücht.

»Dr. Martin Schlendahl, Zahnarzt. Er ist aus dem Fenster gesprungen, nachdem er zunächst einen Patienten mehr oder weniger gefoltert und dann, wie es scheint, seine Helferin, die ihn davon abhalten wollte, so gestoßen hat, dass sie gestürzt ist und sich den Hals gebrochen hat.« Rogmann ignorierte Verenas letzte Frage und hielt ihr ein Foto hin, auf dem ein Mann mit einem sehr breiten und sehr weißen Lächeln professionell in die Kamera blickte. »Zurzeit versuchen wir, die Sachlage genauer zu klären, konnten aber noch nicht ausführlich mit den Zeuginnen sprechen. Wir haben nur ihre ersten Angaben.«

»Die Arzthelferinnen?«

»Die Mädels sind völlig verstört.« Er zeigte auf die geöffnete Tür eines weiteren Rettungswagens. Im Inneren saßen drei junge Frauen mit weißen Kitteln und blassen Gesichtern.

»War eine von ihnen im Raum, als es passierte?«

Er blätterte in einem schwarzen Notizbuch. »Nein. Nur die verstorbene Helferin und der Patient.«

»Habt ihr schon mit ihm gesprochen?«

»Er liegt im Rettungswagen. Eine Ärztin ist bei ihm und bewacht ihn wie eine Löwin ihr Junges.«

»Ich kümmere mich darum.« Verena sah auf ihre Armbanduhr. Leo war immer noch nicht da. Sie runzelte die Stirn. Selbst bei dichtem Verkehr müsste sie längst hier sein. Sie zog ihr Handy aus der Tasche, wählte Leos Nummer, lauschte dem Freizeichen, bis die Mailbox ansprang. Sie zischte ein »Wo bleibst du denn?« und versuchte erfolglos, sich keine Sorgen zu machen.

»Können Sie reden?«, fragte sie in das merkwürdig verzerrte Gesicht ihres Gegenübers. Der junge Mann zitterte, nickte aber langsam.

»Ja«, nuschelte er. »Es geht schon.«

»Kannten Sie Herrn Schlendahl?«, eröffnete Verena unvermittelt das Gespräch.

»Nein. Das heißt, ja. Natürlich kannte ich ihn. Er ist ja mein Zahnarzt.« Die monotone Stimme passte zur Reglosigkeit seiner Mimik.

»Sie waren im Behandlungszimmer, als Herr Schlendahl gesprungen ist. Können Sie mir schildern, was genau geschehen ist?«

Er nickte wieder und schluckte mühsam.

Verena steckte die Hände in die Hosentaschen, wippte auf den Zehenspitzen und sah ihn erwartungsvoll an. Es dauerte einige Sekunden, bis der junge Mann sich gesammelt hatte. Als er sprach, musste sie sich vorbeugen, um ihn zu verstehen.

»Dr. Schlendahl hat mitten in der Behandlung ange­fangen, wirres Zeug zu reden. Von Schlangen, die sich durch meinen Mund winden, und von Ungeziefer, das unter meinen Zähnen lebt. Er schwankte, hielt sich fest und starrte entsetzt in meinen Mund. Zuerst habe ich gedacht, er macht einen Scherz. Bis er versuchte, die Schlange zu ­töten und das Ungeziefer zu erwischen. Alles mit dem Bohrer.«

Verena schüttelte sich und trat von einem Bein aufs ­andere. Sie hasste Zahnarztbesuche und hatte eine un­geheure Panik vor allem, was mit Bohrern, Haken und anderen blitzenden Instrumenten zu tun hatte. Die Schilderungen des jungen Mannes jagten ihr kalte Schauer über den Rücken.

»Eine Seite meines Unterkiefers war betäubt.« Er zeigte auf die schiefe Stelle in seinem Gesicht. »Deswegen hat es etwas gedauert, bis ich begriffen habe, was er da veranstaltete.«

»Haben Sie noch andere Verletzungen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Zum Glück nicht. Aber ich werde wohl schnell zu einem anderen Zahnarzt müssen, der die offenen Stellen wieder schließt.« Er verzog die Lippen, und Verena erkannte in den Schneidezähnen zwei große Löcher.

»Haben Sie ihn aus dem Fenster gestoßen?«, fragte sie und beobachtete seine Reaktion, um sicherzugehen, ob ihr Instinkt sie nicht täuschte. Hier saß ein Opfer, kein Täter.

»Was? Natürlich nicht! Ich habe keinen Grund dazu.«

»In Notwehr? Er tut Ihnen das an«, sie deutete auf seinen Mund, »und Sie stoßen ihn von sich. Dabei fällt er aus dem Fenster. Ein Unfall?«

»Nein! Ich habe ihn nicht angerührt.«

»Und was ist mit der Helferin?«

»Er hat sie wie ein lästiges Insekt weggestoßen, und sie ist rückwärts mit dem Kopf gegen die Heizung …« Er verstummte. Verena konnte sehen, wie es in ihm arbeitete. Er würde mehr als nur neue Füllungen brauchen.

»Danach ist er wieder auf Sie losgegangen?«

»Er hatte gar nicht aufgehört.«

»Wie haben Sie ihn gestoppt? Haben Sie sich nicht gewehrt?«

»Doch, natürlich. Ich habe ihn weggedrückt und mir den Arm vor den Mund gehalten.«

»Und dann?«

»Er hat versucht, meinen Arm runterzuziehen. Seine Augen sahen so seltsam aus dabei. Als würde er mich gar nicht sehen.«

»Ist es ihm gelungen?«

»Nein. Er ging wieder mit dem Bohrer auf mich los.« Der junge Mann hob die rechte Hand. Ein Loch klaffte im dicken Stoff des Ärmels. »Ich habe ihn angeschrien. Ihn angebrüllt, er solle aufhören. Versucht, ihn zu schlagen. Auf einmal schüttelte er den Kopf, so als wäre ihm klargeworden, was er da machte. Er hat aufgehört. Ich bin aufgesprungen und wollte zur Tür. Er hat den Bohrer einfach fallen lassen, ist zum Fenster hin und hat es aufgerissen.«

»Haben Sie damit gerechnet, dass er springt?«

LSD

»Wollte er es noch mal wissen auf seine alten Tage«, murmelte Christoph Todt und trommelte mit den Fingern aufs Blech. »Wobei es mich wundert, dass er während der Arbeitszeit zu dem Trip aufgebrochen ist.«

»Oder er wollte sich damit umbringen. Wir sollten seinen Hintergrund durchleuchten. Vielleicht gibt es einen Abschiedsbrief.«

»Ja. Machen Sie das, Frau Irlenbusch.« Todt schaute auf seine Armbanduhr und runzelte die Stirn. »Ich muss jetzt nach Hause.« Er drehte sich um, hob im Weggehen die Hand und winkte. »Schönen Abend noch.«

»Hoffentlich ist es nur ein Unfall eines alten Herrn auf Drogen gewesen, und ich bin dich ganz schnell wieder los«, murmelte Verena und starrte Todt hinterher.