Erstes Kapitel – Ugh-lomi und Uya

Diese Geschichte reicht in die Zeit vor Menschengedenken zurück, in Zeiten, da man noch trockenen Fußes von Frankreich (wie wir es jetzt nennen) nach England hätte gehen können, und da die Themse breit und träge durch ihr Sumpfland floß, um Vater Rhein zu begegnen, der durch ein weites, ebenes Land strömte, das in unseren Tagen unter Wasser steht und unter dem Namen Nordsee bekannt ist. In jenen Zeiten bestand das Tal, das sich am Fuße der Downs entlang zieht, noch nicht, und den Süden von Surrey bildete eine Reihe von Hügeln, deren mittlere Hänge fichtenbewachsen und die den größten Teil des Jahres schneegekrönt waren. An den unteren Hängen der Kette, unterhalb der grasbewachsenen Plätze, wo die wilden Pferde weideten, waren Wälder von Eichen, Ulmen und Edelkastanien, und in den Dickichten und finsteren Verstecken verbargen sich der Grizzlybär und die Hyänen, und graue Affen kletterten in den Zweigen. Und noch tiefer, zwischen Sumpfland, Waldungen und offenen Wiesen, längs der Wey, spielte sich dieses kleine Drama, das ich erzählen will, vom Anfang bis zum Ende ab. Fünfzigtausend Jahre sind es her, fünfzigtausend Jahre – wenn man sich auf die Rechnung der Geologen verlassen kann.

Und der Frühling war in jenen Tagen ebenso fröhlich wie jetzt und jagte das Blut schneller um, genau so wie heute. Der Himmel war blau am Nachmittag, weiße Haufenwolken segelten über ihn, und der Südwestwind kam wie eine sanfte Liebkosung. Die jüngst heimgekehrten Schwalben strichen hin und her. Die Ufer des Flusses waren mit weißen Ranunkeln besät und die sumpfigen Stellen starrten von Wiesenkresse, und Samtpappeln leuchteten hervor, wo die Schwerter des Riedgrases es zuließen. Die nordwärts ziehenden Flußpferde, glänzend schwarze Ungeheuer, trieben plump ihr Spiel und kamen daher in einem dunkeln Gefühl der Freude, überall herumpatschend und -klatschend, und nur von dem einen klaren Gedanken besessen, das Wasser des Flusses trübe zu spritzen.

Flußaufwärts, und nicht weit von den Flußpferden, plantschten eine Menge kleine, ledergelbe Tiere im Wasser. Da gab's weder Angst noch Feindschaft zwischen ihnen und den Flußpferden. Wenn die großen Ungetüme durch das Schilf dahergetrampelt kamen und den Wasserspiegel in Silbersplitter zerschlugen, schrieen und tobten diese kleinen Geschöpfe vor Lust. Es war das sicherste Zeichen des vollen Frühlings. »Buluh!« riefen sie. »Baajah! Buluh!« Es waren die Kinder des Menschenvolks, von dessen Lagerplatze auf dem Hügel am Flußknie der Rauch aufstieg. Wildäugige Burschen waren es, mit verfilztem Haar und kleinen, breitnasigen Koboldgesichtern, die (wie manche Kinder sogar heutzutage noch) mit einem zarten Flaum kleiner Härchen bedeckt waren. Sie waren schmal in den Hüften und hatten lange Arme. Ihre Ohren hatten keine Läppchen, sondern kleine spitzige Zipfel, etwas, das auch jetzt noch manchmal vorkommt. Splitternackte, ausgelassene kleine Zigeuner, beweglich wie Affen und wie diese voll Geschnatter, obwohl es ihnen ein wenig an Worten mangelte.

Die Älteren des Stammes waren den sich wälzenden Flußpferden durch den Hügelkamm verborgen. Der Siedlungsplatz der Menschen war niedergestampfter Boden inmitten der toten braunen Zweige der Königsfarne, zwischen denen die neuen Blüten des Bischofsstabes sich in dem Lichte und der Wärme entrollten. Das Feuer war ein rauchender, kohlender Haufen, hellgrau und schwarz, den die alten Frauen von Zeit zu Zeit mit braunen Blättern neu anfachten. Die meisten Männer schliefen – sie schliefen sitzend, die Stirne auf den Knien. Sie hatten diesen Morgen auf der Jagd gute Beute gemacht, ein Wild, das von jagenden Hunden verwundet worden war, für alle genug; so gab's denn keinen Streit unter ihnen, und einige Frauen nagten noch an den Knochen, die verstreut worden waren. Andere machten aus Blättern und Ästen einen Haufen, um »Bruder Feuer« zu füttern, damit er davon groß und stark werde, wenn die Dunkelheit wiederkäme, und sie vor den wilden Tieren schütze. Und zwei stapelten Kieselsteine auf, die sie vom Ufer des Flusses, wo die Kinder spielten, herbeitrugen, einen ganzen Arm voll auf einmal.

Keiner von diesen lederhäutigen Wilden war bekleidet, aber manche trugen rohe Gürtel aus Schlangenhaut um die Hüften oder knisternde, unbearbeitete Häute, an denen kleine Beutel hingen, die aus abgerissenen Tierpfoten gemacht waren. Darin trugen sie die roh behauenen Feuersteine – die damals die Hauptwaffen und -werkzeuge der Menschen waren. Und eine Frau, die Gefährtin Uyas, des »Schlauen Mannes«, trug eine wundervolle Halskette von aufgereihten Steinen – die schon andere vor ihr getragen hatten. Neben einigen der schlafenden Männer lagen die großen Geweihe des Elches, deren Zacken an den Kanten scharf gemacht, und lange Stöcke, deren Enden mit Steinen zu scharfen Spitzen gehauen waren. Außer diesen Dingen und dem rauchenden Feuer gab es wenig, was die menschlichen Geschöpfe von den wilden Tieren unterschied, die rings das Land durchstreiften. Aber Uya der Schlaue schlief nicht; er saß da, einen Knochen in der Hand, und schabte emsig daran mit einem Feuerstein – kein Tier hätte das getan. Er war der älteste Mann des Stammes, mit buschigen Augenbrauen und dünnen, langen Armen. Er hatte einen Bart und seine Wangen waren haarig, und seine Brust und Arme waren schwarz vor dichtem Haarwuchs. Sowohl um seiner Stärke wie um seiner Schlauheit willen war er Herr des Stammes, und sein Anteil war stets der größte und der beste.

Judina hatte sich zwischen den Erlen versteckt, denn sie fürchtete sich vor Uya. Sie war noch ein Mädchen, ihre Augen waren hell, und ihr Lächeln war lieblich anzusehen. Er hatte ihr ein Stück von der Leber gegeben, ein Stück für Männer, eine gar herrliche Mahlzeit für ein Mädchen. Aber als sie es genommen hatte, sah die andere Frau, die mit der Halskette, sie mit einem bösen Blick an, und Ugh-lomi ließ einen gurgelnden Laut hören. Daraufhin hatte ihn Uya lang und fest angesehen und Ugh-lomis Blick hatte sich gesenkt. Dann hatte Uya sie angesehen. Sie hatte Angst bekommen und sich fortgestohlen, während die anderen weiter aßen und Uya sich emsig mit dem Mark eines Knochens beschäftigte. Hernach war er umhergegangen, als wollte er nach ihr sehen. Und jetzt hockte sie unter den Erlen und fragte sich immer wieder, was Uya wohl mit dem Stein und dem Knochen machen werde. Und Ugh-lomi war nicht zu sehen.

Plötzlich kam ein Eichhörnchen zwischen den Erlen dahergesprungen, und sie lag so still, daß der kleine Mann nur noch sechs Fuß von ihr entfernt war, ehe er sie sah. Da nahm er hastig einen Zweig auf und begann auf sie loszuschnattern und zu zanken: »Was machst du da, abseits von den anderen Menschentieren?« fragte er. »Still!« sagte Judina. Aber er schnatterte noch mehr, und da begann sie die kleinen schwarzen Tannenzapfen abzubrechen und nach ihm zu werfen. Er sprang kreuz und quer, um sie zu foppen, und forderte sie heraus, und das feuerte sie an; sie sprang auf, um besser werfen zu können, und da sah sie Uya, der den Hügel herunterkam. Er hatte die Bewegung ihres blassen Armes im Dickicht gesehen – er hatte sehr scharfe Augen.

Darüber vergaß sie das Eichhörnchen und machte sich davon, zwischen Erlen und Schilfrohr, so schnell sie nur konnte. Es war ihr gleichgültig, wohin sie kam, wenn sie nur Uya entging. Sie watete fast knietief durch eine sumpfige Stelle und sah vor sich einen Abhang voll Farnkräuter, – die dünner und grüner wurden, je weiter sie aus dem Licht in den Schatten der jungen Kastanienbäume kamen. Bald war sie inmitten der Bäume – sie hatte sehr flinke Beine und sie lief weiter und immer weiter, bis der Wald dicht wurde und die Täler tiefer; die Weinranken um die Stämme waren dort, wo das Licht einfiel, dick wie junge Bäume, und die Efeuranken stark und dicht. Und weiter lief sie und verdoppelte ihre Schritte immer von neuem, und endlich legte sie sich hin, zwischen einige Farne, in eine kleine Mulde neben einem Dickicht, und horchte, während das Herz ihr in den Ohren pochte.

Plötzlich hörte sie Schritte im welken Laube rascheln, weit weg, und dann starben sie wieder hin und alles war still, bis auf das Schwirren der Mücken – denn der Abend brach herein – und das unaufhörliche Wispern der Blätter. Heimlich lachte sie bei dem Gedanken, daß der schlaue Uya an ihr vorübergehen könnte. Sie hatte keine Angst. Schon manchesmal, wenn sie mit den anderen Knaben und Mädchen gespielt hatte, war sie in den Wald geflohen, allerdings niemals zuvor so weit wie jetzt. Es war lustig, versteckt und allein zu sein. –

Lange Zeit lag sie da und freute sich, daß sie entwischt war; dann setzte sie sich auf und horchte.

Es war ein schnelles Trampeln, das lauter wurde und auf sie zukam, und nach einer kleinen Weile konnte sie lautes Grunzen hören und das Knacken brechender Zweige. Es war eine Herde magerer scheußlicher Wildschweine. Sie drehte sich um, denn ein Eber ist ein übler Geselle, und es ist nicht gut, ihm allzu nah zu kommen, weil er mit seinen Hauern nach der Seite stößt, und sie machte sich davon, quer durch den Wald. Aber das Getrampel kam näher, sie fraßen nicht während des Marsches, sondern sie liefen schnell – sonst hätten sie sie nicht überholt – da erfaßte sie einen Baumast, schwang sich hinauf und lief den Stamm empor, mit einer affenähnlichen Geschicklichkeit.

Tief unten zogen die dürren, borstigen Rücken der Schweine eben vorbei, als sie hinabschaute. Und sie wußte, daß dieses kurze, abgerissene Grunzen Furcht bedeutete. Wovor fürchteten sie sich? Ein Mensch? Sie waren in zu großer Hast, als daß es nur ein Mensch hätte sein können.

Und dann – es geschah so plötzlich, daß sie sich unwillkürlich fester an den Ast klammerte – sprang ein Rehkalb in den Farnkräutern auf und lief hinter den Schweinen her. Noch etwas anderes ging vorbei, klein und grau, mit einem langen Körper; sie wußte nicht, was es war, wirklich, sie sah es nur einen Augenblick lang zwischen den jungen Blättern; und dann kam eine Pause.

Sie blieb starr und erwartungsvoll, fast so steif, als wäre sie ein Teil des Baumes, an den sie sich klammerte, und starrte hinunter.

Dann, weit weg, zwischen den Bäumen, einen Augenblick lang deutlich, dann wieder verdeckt, dann wieder erkennbar, knietief in den Farnkräutern, dann wieder verschwunden – lief ein Mann. Sie wußte, daß es der junge Ugh-lomi war, sie erkannte ihn an der hellen Farbe seiner Haare, und es war Rotes auf seinem Gesicht. Seine wahnsinnige Flucht und dieses scharlachrote Mal verursachten ihr irgend ein Gefühl des Unbehagens. Und dann kam, näher und näher, mühsam laufend und schwer atmend, ein zweiter Mann. Erst konnte sie nicht sehen und dann sah sie, verkürzt, aber deutlich für sie, Uya, laufend, mit großen Schritten und starren Augen. Er ging nicht hinter Ugh-lomi her. Sein Gesicht war weiß. Es war Uya – in Angst! Er lief vorbei, und man konnte ihn noch deutlich hören, als etwas anderes, etwas Großes mit grauem Fell, das sich mit weichen, schnellen Schritten vorbeischwang, raschelnd hinterher kam und ihn verfolgte.

Judina erstarrte plötzlich, hörte auf zu atmen und klammerte sich mit stieren Augen krampfhaft an den Stamm.

Sie hatte das Ding nie zuvor gesehen, sie sah es nicht einmal jetzt ganz deutlich, und doch erkannte sie es sofort: es war der »Schrecken des Waldesdunkels.« Sein Name war ein Märchen, die Kinder erschreckten einander damit, erschreckten einander mit dem bloßen Namen, und rannten schreiend zur Siedlung. Kein Mensch hatte jemals einen seines Stammes getötet. Sogar das mächtige Mammut fürchtete seinen Zorn. Es war der Grizzlybär, der Herr der Welt, jener Welt von damals.

Während des Laufens ließ er fortwährend ein zorniges Brummen hören. »Menschen sind mitten in meinem Lager! Kampf und Blut! Gerade am Eingang meines Lagers! Menschen, Menschen, Menschen! Kampf und Blut!« Denn er war der Herr des Waldes und der Höhlen.

Lange nachdem er vorbei war, blieb sie wie versteint und starrte hinunter durch die Zweige. Die ganze Freiheit ihrer Bewegung war geschwunden. Instinktiv klammerte sie sich mit Händen und Knien und Füßen fest. Es dauerte eine gute Weile, bevor sie denken konnte, und auch dann war ihr nur das eine klar bewußt, daß der »Schrecken« zwischen ihr und dem Stamme war – daß es unmöglich wäre, hinunterzusteigen.

Als jedoch ihre Furcht ein wenig nachließ, kletterte sie in eine bequemere Stellung, in die Gabelung eines großen Astes. Die Bäume erhoben sich rings um sie, so daß sie nichts vom Bruder Feuer sehen konnte, der bei Tag schwarz ist. Die Vögel begannen sich zu regen, und alles, was sich aus Angst vor ihren Bewegungen versteckt hatte, kroch wieder hervor ...

Nach einer Weile flammten die höchsten Zweige auf, von den Strahlen der untergehenden Sonne berührt. Hoch oben kehrten die Krähen, die weiser waren als die Menschen, krächzend zu ihren Sammelplätzen in den Ulmen heim. Wenn man hinuntersah, wurden die Dinge klarer und dunkler. Judina dachte daran, zur Siedlung zurückzugehen: sie glitt irgendwie herab, und dann kam die Angst vor dem »Schrecken des Waldesdunkels« wieder. Während sie zögerte, schrie ein Kaninchen ängstlich auf, und sie wagte es nicht, weiter hinunterzusteigen.

Die Schatten rückten zusammen und das Dunkel des Waldes begann sich zu regen. Judina kletterte wieder den Baum hinauf, um dem Lichte näher zu sein. Tief unten traten die Schatten aus ihren Verstecken hervor und wanderten herum. Über Judinas Haupt dunkelte das Blau des Himmels. Es kam eine furchtbare Stille, und dann begannen die Blätter zu flüstern.

Judina schauderte und dachte an Bruder Feuer.

Die Schatten sammelten sich nun in den Bäumen, sie saßen in den Zweigen und beobachteten sie. Zweige und Blätter nahmen beängstigende, ganz schwarze Gestalten an, die auf sie springen würden, falls sie sich regte. Dann kam die weiße Eule mit ihrem geräuschlosen Flattern geisterhaft durch die Schatten. Die Welt wurde dunkler und immer dunkler, bis die Blätter und Zweige schwarz waren gegen den Himmel und der Boden nicht mehr zu erkennen.