Einigen wir uns bei dieser Geschichte darauf, dass sie wohl nicht in allen Punkten einleuchtend sei. Aber Utopie, Hirngespinst? Vermutlich nicht! Nur, wer weiß das schon?

Könnte es denn nicht sogar im Bekanntenkreis, bei Nachbarn, engen Freunden, jemanden geben, der sein Leben wiederholt? Geheimnisvoll, nur eben rückwärts? Wir sollten ab sofort die Menschen, denen wir begegnen, etwas genauer beobachten. Es wäre doch möglich, dass im Büro „da ganz oben“ die Auswertung über unseren Protagonisten verschlampt wurde. Also muss der Test wiederholt werden, mit einer anderen Person!

Als Autor aber kann ich dem geschätzten Leser versprechen, dass ich das alles nicht selbst erlebt habe. Ich schwöre, ich war nicht dieser wunderliche Alte und auch nicht der pubertierende Jungspund! Aber darf ich etwas verraten? Vielleicht wäre ich ganz gerne dieser ominöse Jakob Jakobowsky gewesen.

Audienz „ganz oben“

Mit ungeheurer Geschwindigkeit beförderte man Jakob Jakobowsky in Richtung Erdball zurück. Trotz des hohen Tempos schien es ihm, als wolle der Weg kein Ende nehmen.

Beim Hinflug war’s dem Jakob wesentlich flotter vorgekommen, in kürzester Zeit nämlich war er im Reich des Allmächtigen eingetroffen. Petrus nahm ihn in Empfang, musterte kritisch sein Äußeres und ließ ihn danach von einer himmlischen Schreibkraft befragen und ordnungsgemäß registrieren.

„Vorname ‚Jakob’, wahrscheinlich mit ‚k’, oder?“, sie sah ihn dabei belustigt an. „Oder schreiben wir uns mit einem einfachen ‚c’?“

Jakobowsky kramte in seiner Hosentasche und beförderte einen alten Schülerausweis hervor.

„Hier haben Sie alles, brauchen es nur noch abzuschreiben.“

„Kannst ruhig ‚du’ zu mir sagen. Mit dem albernen ‚Sie’ wie auf eurem Erdball reden wir uns hier oben nicht an. Also, Jakob mit ‚k’ und Jakobowsky alles in allem mit zwei ‚k’. Huch, wenn man bei dir am Ende den ‚owsky’ weglässt, wäre ja dein Name Jakob Jakob. So etwas Ähnliches kennen wir hier nur aus der skandinavischen Ecke. Ist ja lustig, das gefällt mir!“

Jakob fand es überhaupt nicht komisch, dass die Tippse sich über seinen Namen lustig machte. Aber er protestierte deswegen nicht, schließlich wollte er es sich nicht gleich am Anfang mit dem göttlichen Personal verscherzen.

„So, mein doppelter Jakob, nun schicke ich dich erst einmal rüber zum Petrus und dann sehen wir weiter. Du hast übrigens ein paar Flecken am Kragen, sieht mir aus wie Babybrei.“

„Wir sind hier oben beileibe am Limit angekommen“, empfing ihn der gute Petrus, „das solltest du wissen. Ihr da unten werdet zwar immer älter, trotzdem kommen bei uns täglich mehr Neuzugänge rein. Ich kann deinen Fall erst abends mit dem Allmächtigen durchsprechen, er wird dann entscheiden, wo wir dich unterbringen“, sagte er zu Jakobowsky und kratzte sich dabei nachdenklich am Hinterkopf. „Bleib am besten erst mal hier und mach’s dir mit den anderen Neuankömmlingen im Wartezimmer gemütlich. Ich schicke ein paar Engel vorbei, die können inzwischen ein wenig frohlocken und sich um euch kümmern. Bücher und Magazine liegen auf dem Tisch, Hefte mit süßen Mädels haben wir natürlich auch. Du musst dir also keine Sorgen machen, bis auf den Allmächtigen sind wir hier gar nicht mal so prüde.“

Im Warteraum klimperten zwei Engel hingebungsvoll auf ihrer Harfe. Er mochte die Dudelei nicht. Deshalb nahm sich Jakobowsky gleich ein Sexmagazin und setzte sich in die äußerste Ecke. Er klappte das Cover nach innen. Musste ja nicht gleich jeder sehen, für welche Art von Schriftgut er sich interessierte. Die sexy Fotos im Innenteil beeindruckten ihn gehörig. Er hatte lange auf solche Bilder verzichten müssen, das letzte Jahr im Heim war’s mit seinem Augenlicht rapide schlechter geworden und so konnte er solch bezaubernde Fotos nur noch verschwommen wahrnehmen. Das bereitete mehr Qual als Freude. Das einzige Vergnügen, das ihm blieb, sollten vage Erinnerungen an seine Sturm- und Drangzeit sein. Meist konnte er seine Vorstellungen nicht auskosten, weil er immer sofort im Sessel einschlief. Und wenn er danach aufwachte, dann hatte er die Mädels und seine wilden Erlebnisse mit ihnen wieder vergessen. Dennoch, unser guter Jakob Jakobowsky war sein Leben lang immer ein richtiger Draufgänger gewesen!

Gegen 19 Uhr himmlischer Zeitrechnung, das musste auf Erden etwa so um die Mittagszeit sein, machte Petrus sich bedächtig mit der Aufstellung über die Neuankömmlinge unterm Arm auf den Weg zu seinem Chef. Der Allmächtige kraulte seinen weißen Bart und runzelte nachdenklich die Stirn, nachdem er Petrus’ Listen flüchtig durchblättert hatte.

„Die Aufstellungen der Neuankömmlinge werden auch immer dicker! Täglich Wälzer wie diese Versandhauskataloge, die denen auf der Erde dauernd ins Haus flattern, nur mit viel kleinerer Schrift. Wenn das so weitergeht, dann müssen wir hier oben noch aufstocken. In letzter Zeit kommt einfach zu viel Nachschub aus dem Nahen Osten hier an. Den Yankees sollte man mal gehörig auf die Finger klopfen, machen die doch tatsächlich den ganzen Irak platt. Und das alles nur, um den verrückten Sadam zu schnappen. Wenn ich mich recht erinnere, haben die Monate gebraucht, bis sie ihn kürzlich in einem Erdloch entdeckten. Na ja, irgendwann wird ihm der Prozess gemacht und dann dauert es nicht lange und der steht mit dem Kopf unterm Arm bei uns vor der Pforte und will hereingelassen werden. Den bringen wir dann aber im Chaotenviertel unter, am besten direkt neben Hitler und Stalin, die werden garantiert ganz schnell Freunde. Was muffelst du eigentlich so, Petrus? Du ziehst vielleicht ein Gesicht und hast bisher auch noch kein Wort gesagt.“

„Wird mir alles zu viel, jeden Tag werden es mehr und ich weiß nicht mal, wie ich die alle richtig auflisten soll. Die zerfleischen sich da unten und schaufeln ihre Toten einfach hier rauf. Na, ist doch wahr! Und da, wo man sonst noch einigermaßen human miteinander umgeht, wo nicht jeden Tag ein neuer Krieg ausbricht, da zerfetzen die sich gegenseitig mit ihren aufgedonnerten Kisten. Rauf auf die Autobahn, Augen zu, rechtes Bein möglichst lange durchgedrückt halten und ab durch die Post! Geht manchmal mit schmerzhaften Blessuren ab, manchmal muss gleich eine Holzkiste angefertigt werden. Im ersten Fall kümmert sich unten irgendein Klinikum um die makabren Reste, im zweiten Fall sind wir zuständig und haben den Salat. Mir wird das zu viel, Allmächtiger, entweder greifst du bei denen auf der Erde ein oder ich brauche hier oben eine Hundertschaft an Engeln mehr.“

„Nun mal langsam, Petrus! Das muss ganz genau überdacht werden. Nur, etwas unternehmen muss ich, ist mir schon lange ein Dorn im Auge. Was die da unten sich aber auch alles einfallen lassen, damit früher gestorben wird. Wenn ich nur an die Deutschen denke, deren Regierung sucht permanent nach Mitteln und Wegen, um ihr Volk möglichst lange arbeiten zu lassen. Die sollen so lange schuften, bis sie völlig klapprig geworden sind. Wenn sie endlich ihre Rente beantragen können, sind viele inzwischen so hinüber, dass sie die erste Zahlung nicht mehr erleben. Anstandshalber gibt der letzte Arbeitgeber einen Nachruf raus, in dem der Verschiedene in höchsten Tönen gelobt wird. Komisch, uns werden die Kopien der Todesanzeigen schließlich zugeleitet, unten sterben offensichtlich immer die falschen Leute. Immer nur die besten, liebsten und erfolgreichsten Menschen. Die tun alle so, als würde es auf dem Trabanten nur ehrwürdige Individuen geben. Dabei weißt du genau wie ich, was hier für verkrachte und versoffene Existenzen landen. So kann das wirklich nicht weitergehen, Petrus! Was hältst du davon, wenn wir die Menschen an ihrem Todestag auf die Erde entlassen? Es wäre zwar der umgekehrte, aber für sie und uns der bessere Weg. Außerdem hätten sie an ihrem Leben viel mehr Spaß, weil sie immer jünger würden. Lästige Altersbeschwerden nehmen ab, mit jedem neuen Tag würde das Leben lebenswerter. Irgendwann hätten sie den Namen ihres Arztes vergessen und endeten schließlich in einem erlösenden Orgasmus. Erst danach kämen sie bei uns an, das wäre doch ein toller Abgang von da unten. Und wir wüssten ganz genau, wann einer zu uns kommt, und könnten hier oben natürlich auch viel besser planen. Du solltest nur eine Liste machen, Namen, Tag und Alter, an dem derjenige auf die Erde entlassen würde, eintragen. In einer zweiten Liste würdest du das Ankunftsdatum vermerken. Müsste ja nur noch ausgerechnet werden. So könnten wir präzise vorausdisponieren.“

„Allmächtiger, habe ich das wirklich richtig verstanden? Ihr wollt die Menschen sozusagen an ihrem wirklichen Todestag auf die Welt entlassen, um sie danach erst beim Zeugungsakt hier oben in Empfang zu nehmen?“

„Nun mal ganz langsam, vorläufig ist das nur eine unscharfe Idee. Wäre doch aber genau das, was wir beabsichtigen und was deine Buchführung übersichtlicher machen würde. Wir hätten es einfacher mit unserer Planung und du müsstest nicht dauernd neue Belegungspläne ausarbeiten, um sie mir vorzulegen. Außerdem, probieren geht über studieren. Zeig mir doch noch mal deine Aufstellung.“

Der Allmächtige überblätterte flüchtig die ersten Seiten und brummelte dabei mürrisch in seinen Rauschebart.

„Was ist denn mit dem, Klaus Kaminsky-Hollerbach? Heute Morgen gegen zehn hier eingetroffen. Diese blöden Doppelnamen aber auch immer, kann sich niemand merken, ist außerdem für uns nur noch mehr Schreibkram.“

„Selbstmord, verkrachte Existenz, seit über einem Jahr arbeitslos. Dazu massenhaft Schulden und obendrein wurde sein stockschwuler Sohn vor einer Woche beim Drogenhandel erwischt.“

„Nein, das können wir dem nicht antun. Der ist doch froh, dass er endlich von unten weg ist. Manche trifft es aber auch knüppeldicke. Wie sieht es denn mit ihr hier aus, Lissy Roth? Noch ziemlich jung, wäre nur eine kurze Testphase.“

„Die hat seit über fünf Jahren als Hafennutte angeschafft und wurde heute früh in Hamburg von ihrem Zuhälter abgemurkst.“

„Gewöhn dir endlich mal diese vulgären Ausdrücke ab. Seit Ewigkeiten versuche ich dir das beizubringen. ‚Nutte’, so etwas will ich hier nicht hören. Sie war ein Hamburger Mädel mit lockerem Lebenswandel, die von ihrem Aufpasser umgebracht wurde, so hättest du dich auch ausdrücken können. Also, die Lissy Roth können wir vergessen. Die läuft doch morgen diesem Burschen wieder über den Weg und dann haben wir so etwas wie einen Doppelmord an einer Person, das geht nicht! Ich habe außerdem keine Lust, dauernd das Rotlichtmilieu im Auge zu behalten, da ist doch ständig was los. Ist denn heute keiner drunter, der normal gestorben ist und den wir für unsere Testzwecke gebrauchen könnten?“

„Doch, den hier vielleicht, Jakob Jakobowsky. Der könnte gehen.“

„Wie alt und wie ist er gestorben?“

„Gerade 82 geworden, die letzten Jahre hat er im Altersheim verbracht. Zuletzt ging es rapide abwärts mit ihm. Trotzdem, auf so ganz natürliche Weise ist er scheinbar auch nicht abgetreten. Eine Pflegekraft hat ihn wohl etwas zu hastig mit Brei gefüttert und daran ist er erstickt. Ob sie dabei nachgeholfen hat, der Jakobowsky war wohl kein ganz einfacher Fall, oder ob das wirklich ein Unglück war, wer weiß? Die hatten ordentlich mit ihm zu tun, er war verdammt klapprig, konnte am Ende kaum noch laufen und gucken. Zuletzt wohl auch ziemlich hoher Verschleiß an Windeln. Im Heim ist man nicht unbedingt traurig, dass er abgenibbelt ist.“

„Du meinst bestimmt, weil er verstorben ist. Jakob, das wäre ein Kandidat für unseren Versuch. Probieren wir es einfach mit ihm. Schick den Jakob Jakobowsky auf die Erde zurück und lass ihn sein Leben rückwärts erleben. In genau 82 Jahren kommt er wieder bei uns an. Kannst schon heute für ihn seine Kammer reservieren.“

„Allmächtiger, ich gebe aber zu bedenken, dass Jakobowskys Mitmenschen sich wundern werden, wenn er immer jünger anstelle älter wird.“

„Petrus, da wird dir doch sicher etwas einfallen, oder? Deichsle es wieder mal so, dass man sich letztlich auf dem Erdball damit abfindet. Wir haben in der Richtung doch schon ganz andere Sachen hingebogen und kein Mensch hat sich jemals darüber gewundert. Es gehört schließlich zum göttlichen Bonus, bestimmte Dinge herbeizuführen, die man auf dem Erdball nicht begreift.“

„Stimmt! Wenn man sich unten etwas nicht erklären kann, dann wird das schließlich gerne deiner göttlichen Allwissenheit zugeschrieben. Dafür sorgt dann schon unsere Presseabteilung, ich meine natürlich die Kirche. Klar, so wird sich auch keiner über Jakobs Verjüngung wundern.“

„Einmal im Jahr muss der Jakob bei uns zum Rapport erscheinen und du lässt dir genau berichten, wie alles bei ihm abläuft. Und ich möchte ihn danach natürlich auch sprechen. Nun mach schon und schicke ihn wieder zurück in sein Altersheim.“

Das verbummelte Gebiss

So landete Jakob Jakobowsky wieder sanft in seinem Lieblingssessel auf Zimmer 319 im ‚Abendfrieden’, dem Alten- und Pflegeheim. Vor ihm saß die kratzbürstige Rottwald und versuchte ungeduldig, dem Jakob seine Portion Milchbrei einzuflößen. Sie war in Eile, bis mittags mussten auf ihrer Station alle Alten abgefüttert sein. Als Jakob wieder zu sich kam, wurde ihm ganz schummrig im Kopf und er spuckte der Rottwald in hohem Bogen seinen Brei auf die Bluse. Danach atmete er erleichtert durch und er fühlte sich erheblich besser. Die Rottwald verließ laut fluchend das Zimmer.

„Was ist denn mit dir passiert? Dir wollte doch wohl nicht etwa einer von den Tattergreisen an die Wäsche, oder? Ach du Scheiße, du bist ja ganz vollgekotzt. Wer war das denn?“

Rottwalds Kollegin, die Gaby Neubauer, konnte sich nur schwer das Lachen verkneifen.

„Na, wer wohl? Natürlich wieder mein spezieller Freund, der alte Zausel von 319. Fast dachte ich schon, er sei mir endlich abgekratzt. Aber als ich horchen wollte, ob er noch atmet, da spuckt der mir doch die ganze Ladung auf die Klamotten. So eine verdammte Sauerei, hoffentlich kriege ich den Dreck wieder raus. Wenn die Milch wieder mal einen Stich hatte, sind solche Flecke hartnäckig.“

„Wieso, wurde etwa wieder Milch mit abgelaufenem Verfallsdatum eingekauft?“

„Darauf habe ich nicht geachtet. Aber die Kuhn will doch immer alles geschenkt haben und die Händler sind ja auch nicht blöde. Kann ich schon verstehen, da landen schnell mal abgelaufene Lebensmittel in ihrem Kombi. Letztlich aber auch egal! Von denen“, sie zeigte mit ihrer linken Hand hinter sich auf den Gang, wo die Zimmer lagen, „von den zittrigen Grauköpfen kriegt sowieso keiner mehr was mit. Ob das Zeug angegammelt ist oder nicht, völlig wurscht. Aber wie geht bloß die Kotze aus der Bluse?“

„Nimm heißes Wasser, Margot. Bis das getrocknet ist, kannst du ein T-Shirt von mir haben.“

Jakobowsky döste in seinem Sessel. Der ausgespuckte warme Brei auf dem Pyjama fühlte sich eigentlich ganz angenehm an, wenn’s nur nicht so penetrant gestunken hätte. Milchbrei hasste er ohnehin wie die Pest. Aber sein Lieblingsessen, Schnitzel mit Kartoffelsalat und viel Mayonnaise darin, das gab es nur ganz selten. Gut, man musste das Essen für ihn vorher im Fleischwolf durchdrehen und dann war es danach kaum schmackhafter als matschiger Milchbrei. Wenn er wenigstens einigermaßen gucken könnte, dann würde er im Zimmer nach dem Gebiss suchen. Er war sich sicher, dass die Rottwald seinen Zahnersatz versteckt hatte, natürlich nur um ihn zu ärgern. Für heute war ihr aber ganz sicher die Lust vergangen, Heiminsassen mit säuerlicher Milchpampe zu füttern. Jakobowsky schlug sich vor Schadenfreude auf die Schenkel. Danach rutschte sein Kopf zur Seite und er fiel in einen Tiefschlaf. So merkte Jakob allerdings auch nicht mehr, dass es in seiner Hose ebenfalls angenehm warm wurde.

Unerklärbares fand in der nächsten Zeit bei unserem Protagonisten statt. Jakob fühlte so eine Art Erwachen seines Körpers in sich. Immer nur ein wenig, aber das jeden Tag. Er erklärte sich den Zustand aber mit den Mittelchen, die man ihm unter seinen Brei mischte. Er sabberte auch nicht mehr so häufig, und Jakob versuchte sogar wieder, seine schlaffen Gliedmaßen zu bewegen.

„Was wackeln wir denn bloß andauernd mit unseren Beinen? Wir wollen doch wohl nicht etwa noch in unserem Alter tanzen?“

„Gymnastik, ich will doch nicht einrosten.“

„Na, wir haben doch hoffentlich keine großartigen Pläne mehr, oder? Bis auf die eine ganz große Reise natürlich. Aber dazu reichen auch steife Beine.“

Innerlich wunderte sich die Rottwald über Jakobowskys wundersame Verwandlung. Er fragte neuerdings ungeduldig nach seinem Essen und schluckte, zwar unter Protest, seinen Milchbrei bis auf den letzten Löffel runter. Dabei war sie natürlich immer auf der Hut, dass der Alte sie nicht wieder bespuckte.

„Der von 319 wird mir immer unheimlicher“, berichtete sie der Neubauer, „neulich dachte ich schon, dass ich für ihn den obligatorischen Kranz bestellen müsste. Aber nein, was macht der alte Zausel? Er erholt sich und futtert inzwischen wie ein Scheunendrescher, das vermasselt der knickerigen Kuhn natürlich ihr spärliches Budget. Sie liegt mir wegen des knappen Etats sowieso ständig in den Ohren. Außerdem fängt der Jakobowsky jetzt sogar wieder an zu quatschen.“

„Kenne ich, das ist nur noch mal ein kurzes Aufflackern, bevor der Löffel endgültig abgegeben wird. Du wirst sehen, irgendwann kommst du in sein Zimmer und dein Lieblingspatient hat sich verabschiedet. Kann man unseren Kunden ja eigentlich auch nur wünschen, dass sie kurz und schmerzlos ihren Frieden finden. Nee, nur noch vor mich hinvegetieren, das möchte ich für meinen Teil mal wirklich nicht. Dann lieber ex und hopp, im Schlaf noch einmal tief ausatmen und das war’s dann mit dem Leben.“

Zwar vegetierte Jakob noch weiter vor sich hin, aber mit jedem Tag immer ein bisschen weniger. An seinem 81. Geburtstag spürte er auf einmal wieder seinen linken Zeh, am Donnerstag danach den ganzen Fuß und am Wochenende schien sein Körper zu rumoren. Das Gefühl war gewiss nicht angenehm, so tobte es ihn ihm. Im Sessel schlief Jakob nur noch selten ein. Deshalb bekam er natürlich immer gleich mit, wenn die Rottwald das Zimmer betrat. Sie sah ihn jedes Mal so merkwürdig an. Jakob konnte sich nicht erklären, was sie von ihm wollte. Auch in seinem Kopf, alles durcheinander, wirrer Kram und wilde Gedanken, er schaffte es nicht, sich zu konzentrieren.

„Gaby, du wirst es nicht glauben, was der olle Jakobowsky eben von mir wollte. Das wird ja immer verrückter, ich fasse es nicht.“

„Sag nur nicht, der Alte habe plötzlich Frühlingsgefühle bekommen. Ziemlich optimistisch, unser Opa. Na ja, manchmal gehen mit denen die Pferde durch. An deiner Stelle würde ich mir ab sofort ’ne Hose anziehen, wenn du in sein Zimmer gehst.“

„Quatsch, wo denkst du hin? Der weiß doch sicher nicht mehr, wozu sein Piepmatz, außer um damit zu pinkeln, sonst noch zu gebrauchen ist. Und dann könnte ich mich ja schließlich auch noch wehren. Nee Gaby, er hat nur ein paar Worte gestammelt. Und wenn ich ihn richtig verstanden habe, will er partout keinen Milchbrei mehr.“

„Auch das noch, Hungerstreik im Altersheim! Wäre doch wieder etwas für die Presse. Kannst du dich noch an den alten Riefenstahl erinnern? Wenn ich es richtig im Kopf habe, war der 92, als er von hier abhaute. Die Polizei griff ihn später besoffen vorm Bordell auf.“

„Soweit wird’s mit Jakobowsky nicht kommen, der hat nur Schmacht. Er besteht doch tatsächlich auf festes Essen, Schnitzel mit Kartoffelsalat und massenhaft Mayonnaise will er. Dabei habe ich ihm sein Gebiss weggenommen und jetzt weiß ich aber nicht mehr, wo ich das Ding hingelegt habe. Wenn das rauskommt, kriege ich von der Kuhn eins auf die Mütze.“

„Musst es ja nicht zugeben, hat der Alte eben selbst verbummelt.“

Der Wunsch nach Schnitzel und Kartoffelsalat mit der Mayonnaise ging dem Jakob nicht mehr aus dem Kopf. Je öfter er daran dachte, umso mehr malte er sich eine opulente Mahlzeit aus, und er fügte zum Kartoffelsalat noch gehackte Zwiebeln sowie als weitere Beilage Rotkohl hinzu. Sein Magen knurrte immer erbärmlicher und Jakob sabberte vor Gier. Die bärbeißige Rottwald musste ihm ständig Mundwinkel und sein Kinn abtrocknen.

Jakobowsky schlief nach langer Zeit wieder mal in seinem Sessel ein und er träumte äußerst zufrieden von einem prächtigen Ackergaul, der einen großen Wagen hinter sich herzog. Zwei hübsche Bäuerinnen sammelten von einem Feld Kartoffeln auf und warfen sie auf den Karren. Dabei bück­ten sie sich so tief, dass Jakob lüstern ihre strammen Beine bis hoch zu den Oberschenkeln betrachten konnte. Leider war in dem Bereich von Schlüpfern und Strapsen Schluss mit der herrlich frivolen Aussicht. Beide Bäuerinnen drehten sich öfter zu ihm um und himmelten Jakob an. Dadurch fühlte er sich in seiner männlichen Attraktivität bestätigt und äußerst geschmeichelt. Die zwei Hübschen flirteten so lange mit ihm, bis der Karren mit den aufgesammelten Kartoffeln beladen war. Danach passierte eine Weile überhaupt nichts und Jakobowsky war halbwegs enttäuscht. Eigentlich hätten die bezaubernden Bauernmädel weitermachen können, damit er etwas zu gucken gehabt hätte. Plötzlich kroch eine ziemlich fette Bäuerin, im Gesicht frappierende Ähnlichkeit mit der Rottwald, hinter einem Busch hervor. In ihrer feisten Rechten hielt sie ein Messer. Umständlich setzte sie sich auf einen Kartoffelberg und es dauerte eine Weile, bis sie ihren fetten Hintern endlich an der richtigen Stelle platziert hatte. Sie grinste den verdutzten Jakob an. Die Bäuerin war nur leicht bekleidet und unser Protagonist verdrehte bei ihrem Anblick träumerisch die Augen. Jakobowsky liebte nämlich schon immer etwas dralle Weibsbilder.

„Was ist denn heute bloß wieder los mit uns?“ Die Rottwald räumte gerade Jakobs Zimmer auf, als der in seinem Sessel anfing, unverständliches Zeug zu quatschen, und dabei am ganzen Körper zitterte. „Wir sind ja wie aufgezogen. Möchte nur wissen, was das wieder soll. Na ja, wird wohl jetzt so langsam mit uns zu Ende gehen. Bloß gut, dann bekomme ich wenigstens wegen den verbummelten Zähnen keinen Ärger.“ Sie verließ das Zimmer, um Jakobowsky auf seinem letzten Weg mit sich allein zu lassen. Dabei beobachtete der nur listig seine wohlproportionierte Bäuerin, wie die mit dem viel zu langen Messer ganz geschickt Berge von Kartoffeln schälte. Sie warf die Knollen in einen großen Topf. Jetzt standen auf einmal auch die beiden hübschen Bauernmädel neben ihm. Immer wenn eine Kartoffel im Topf landete, lächelten sie ihn an und hoben die rechte Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger. Was nach Jakobowskys Interpretation sicher heißen sollte, ‚siehst du’ oder ‚bald ist es so weit’. Sie wollten ihn also bekochen, na, endlich gab’s mal keine labbrige Milchpampe! Die Bäuerin hatte inzwischen ein Feuerchen entfacht und sie stellte den großen Pott mit den Kartoffeln darauf. Jakob wunderte sich nur, wo auf einmal das viele Holz herkam. Seine Wohltäterin schnalzte mit der Zunge und grinste ihn an. Dann ging sie zu ihrem Ackergaul und schnitt dem Klepper ein Schnitzelstück aus dem Leib. Das Tier wieherte dabei vor Wonne und zuckelte sodann gemächlich mit dem Karren ab.

Die Bäuerin setzte sich neben das Feuer und steckte sich eine Zigarette an. Dabei summte sie das Kinderlied ‚Eia popeia, was raschelt im Stroh’ und zog den Jakob fest an sich und bettete seinen Kopf an ihren gewaltigen Busen. Dabei streichelte sie über sein ergrautes Resthaar. Jakobowsky folgerte daraus, dass sie jetzt wohl nur eine Pause machte, bis die Kartoffeln gar waren. Solange konnte er ja eigentlich auch mit ihr schmusen. Jakob streckte die Hand nach ihr aus, um sie zu küssen. Aber sie erhob sich und schob ihm ihre verglimmte Kippe zwischen die Lippen. Jakob resignierte nicht gleich, spitzbübisch und mit geilem Unterton fragte er sie, warum sie ihm nicht mehr gebe.

„Ach richtig, ich fettes Dummerchen“, flötete sie, „natürlich, ich wollte dir ja noch die Erbsen dazu kochen. Warte, das haben wir gleich.“

Jakob war aufgrund ihrer recht eigenwilligen Interpretation auf seine lüsternen Wünsche hin doch etwas irritiert. Aber gleich darauf interessierte er sich wieder für die beiden hübschen Bauernmädel. Die standen nämlich auf, schnappten sich einen großen Bastkorb und gingen zu einem wunderschön gewachsenen Zuckererbsenfruchtbaum. Beide pflückten den Baum leer und kochten danach Jakobs Erbsen.

Er hörte zu seiner Freude, wie das Schnitzel in der Pfanne brutzelte. Die Bäuerin drehte es öfter um, damit es nicht anbrannte. Sie schnitt ein ordentliches Stück vom Schnitzel ab, um zu probieren, ob es gut durchgebraten war. Jakobowsky protestierte heftig, sie solle ihm doch gefälligst nicht alles wegfressen. Nach einer Ewigkeit kam sie mit dem Teller und stellte ihm seine Mahlzeit vor die Füße. Mit beiden Händen schaufelte Jakob sein Essen ins Maul, das unnütze Goldbesteck hatte er gleich hinter sich ins Gebüsch geworfen. Als er fertig war, rülpste er laut, und Jakob fühlte sich rundum zufrieden. In Zukunft wollte er zum Essen nur noch zu den Bäuerinnen gehen. Bei schlechtem Wetter würden sie ihn bestimmt mit auf ihren Bauernhof nehmen und dort verwöhnen. Im Heim sollte man in Zukunft die Milchpampe einflößen, wem immer man wollte, ihm bestimmt nicht mehr!

„Jetzt geht’s aber doch rapide abwärts mit unserem Kandidaten von 319“, berichtete die Rottwald ihrer Kollegin während der Frühstückspause, in der sie ihre von zuhause mitgebrachten Brote tauschten. „Vorhin, in seinem Zimmer, hättest du sehen sollen, saß er wieder völlig apathisch im Sessel und brummelte vor sich hin. Als ich nachsah, verdrehte er so ganz merkwürdig die Augen. Ich glaubte zu verstehen, dass er anscheinend wohl zu viel Fleisch und Kartoffeln gegessen habe. Ich lach mich krank, jetzt spinnt er wirklich. Stell dir nur mal vor, die Kuhn würde das mitbekommen. Ich und den mit solchen Sachen füttern, die würde mich deswegen hochkant rausschmeißen.“

Wenige Wochen nach Jakobowskys 81. Geburtstag verschlug es der Kramer, sie war auf der Station vertretungsweise für ihre Kollegin Rottwald eingesprungen, weil die in Rimini ihren Jahresurlaub verbrachte, fast die Sprache. Als sie in sein Zimmer kam, stand er vorm Schrank und wühlte darin rum.

„Aber Opa, was haben wir denn nun schon wieder vor? Wir wollen doch wohl nicht etwa verreisen? Nun aber wieder ganz schnell ab in die Federn. Na, das sind ja ganz neue Sitten!“

Sie brachte Jakob zurück zum Bett und deckte ihn zu.

„Suche mein Gebiss, will endlich wieder kauen“, protestierte er. Die Kramer wunderte sich, weil er einen vollständigen Satz gesprochen hatte. Dabei hatte ihre Kollegin bei der Übergabe vorm Urlaub noch fest und steif behauptet, dass Jakobowsky so gut wie nie sprechen würde.

„War einer an meinem Schrank und hat meine Zähne geklaut. Alles Banditen hier.“

Er versuchte, sich aufzurappeln, was die Kramer zu verhindern wusste.

„Wir bleiben mal schön liegen und sind nicht immer so ungeduldig. Hier laufen keine Banditen durchs Haus, um Zähne zu klauen. Außerdem kriegen wir doch immer unseren leckeren Milchbrei, dafür brauchen wir sowieso keine Beißerchen.“

Damit war das Thema für die Kramer erledigt und sie konnte endlich auf 321 gehen, wo sich der alte Vogelbein heftig darüber beschwert hatte, weil sich niemand um ihn kümmere und aufs Klo setzen wollte. Wahrscheinlich hatte sich die Angelegenheit in der Zwischenzeit von alleine geregelt und sie brauchte ihm nur noch die Windeln wechseln. Als sie aus der Tür ging, tippte Jakobowsky sich an die Stirn und zeigte der Kramer einen Vogel. Sie bekam das zwar nicht mehr mit, dennoch machte es den Jakob glücklich.

Nach zweistündigem Schlaf fühlte er sich so ausgeruht, dass er wieder aufstand und sein Gebiss suchte. Er machte sich Sorgen, dass die Kramer wieder in sein Zimmer kommen könnte. Jakob öffnete vorsichtig seine Tür, um zu sehen, ob jemand auf dem Flur war. Aber überall Ruhe und so konnte er ungestört seine Bude durchwühlen. In der Anrichte neben seinem Waschbecken wurde er fündig. Solch ein Versteck konnte sich eigentlich nur die Rottwald ausdenken. Na, die würde nach ihrem Urlaub was von ihm zu hören bekommen! Mit zittrigen Händen versuchte Jakob, sein Gebiss einzusetzen. Mist, es klappte nicht! Wahrscheinlich hatte die Rottwald mit ihren klobigen Pfoten daran etwas verbogen. Er legte seine Zähne vorsichtig in die Nachttischschublade. Später wollte Jakob es noch einmal versuchen. Er freute sich schon auf das verdutzte Gesicht der Rottwald und besonders darauf, dass man ihm dann endlich feste Nahrung geben müsste. Seit seinem Traum kreisten Jakobs Gedanken nur noch ums Essen. Wobei, so ganz stimmte das auch nicht. Hin und wieder tauchten im Kopf auch die aufreizenden Bäuerinnen auf, zwar selten, aber immer öfter!

Jakobowsky musste mit seinem Gesicht ganz dicht an den Spiegel, um zu begutachten, wie er mit dem eingesetzten Gebiss aussah. Das Ergebnis befriedigte ihn, für sein Alter machte er noch einen recht passablen Eindruck! Zum Glück hatte die Rottwald wenigstens seine Brille nicht versteckt. In den letzten beiden Tagen beschäftigte er sich immer wieder damit, die Zahnprothese einzusetzen. Das war ein ordentliches Stück Arbeit gewesen, und jetzt drückte alles auch noch ein bisschen, aber das war normal. Jakob konnte es kaum erwarten, bis die Rottwald am ersten Arbeitstag nach ihrem Urlaub wieder mit der alten Pampe bei ihm aufkreuzen würde. Und in der Tat, fünf Minuten später wurde die Tür aufgerissen und sie trampelte ins Zimmer. Als sie, braun gebrannt und unnatürlich erblondet vor ihm stand, sah Jakob auf ihrem Tablett sofort diesen Scheißbrei.

„Na, was gucken wir denn so, wir haben doch wohl nicht etwa Sehnsucht gehabt?“

Sie wollte ihm helfen, im Bett aufrecht zu sitzen. Aber Jakobowsky befreite sich aus der Rottwaldschen Umklammerung und rappelte sich ganz alleine hoch. Als er sie dabei mit offenem Mund angrinste, fiel ihr wegen den gefundenen Zähnen zwar ein Stein vom Herzen, aber beinahe auch das Tablett auf den Teppichboden.

„Wer hat uns denn wieder unsere Zähne eingesetzt? Die sind uns doch wohl nicht etwa von alleine nachgewachsen? Ich denke, die Stummel waren verschwunden?“

„Hab’s gefunden und selbst hingekriegt. Und Sie“, er hielt ihr seinen ausgestreckten Zeigefinger vor die Augen, „Sie haben mein Gebiss geklaut und versteckt. Nur um mich zu ärgern und damit ich nichts Anständiges zu essen kriege. Werde mich beschweren und die alte Pampe schlucke ich nicht mehr runter!“

„Nanu, sprechen können wir also auch wieder? Wir haben ja während meines Urlaubs ganz ordentliche Fortschritte gemacht, Donnerwetter! Wir werden wohl immer quicklebendiger, anstelle in die Kiste …“, mitten im Satz brach sie ab, sie war wohl etwas zu weit gegangen. „Ich meine natürlich, dass wir immer aktiver werden, anstelle es in unserem Alter etwas ruhiger angehen zu lassen. Wir müssen nicht andauernd rumwurschteln, machen wir es uns doch bequem und lassen uns fürstlich bedienen. Immerhin ist der Abendfrieden doch das reinste Paradies. Trotzdem, etwas essen sollten wir schon. Lassen wir unsere Beißerchen eben drin, ist auch egal. Aber jetzt sind wir nicht mehr bockig, machen gefälligst schön brav den Mund auf und schlucken das Ganze mit Wonne runter. Mit Zähnen im Mund ist Milchbrei ein besonderer Genuss.“

Der Antrittsbesuch

„Anna, nun leg doch bloß mal die Zigarette zur Seite und sieh lieber nach, wer angekommen ist. Hat doch schließlich schon zweimal gebimmelt!“

Petrus linste übern Brillenrand und musterte mit dezenter Lüsternheit seine himmlische Vorzimmerdame. Sie erhob sich aufreizend lässig von ihrem Hocker und wackelte herrlich mit ihrem Hintern, als sie in Richtung der Eingangspforte entschwand.